Interview mit Heiner Müller 1987

(als der Dichter, damals Bürger der DDR, noch an die Zukunft des Kommunismus glaubte)



Die Leichen in Ihren Stücken sind nicht mehr zu zählen. Ihre Version von Shakespeares "Titus Andronicus"* geriet zum bluttriefenden Schlachtfest. Die Opfer werden verstümmelt, kastriert, zuletzt aufgegessen. Graut Ihnen manchmal vor dem Abgrund der eigenen Seele?

HEINER MÜLLER: So abgründig ist das gar nicht. Da stecken oft ganz praktische Gesichtspunkte dahinter. Brecht hat die stumme Rolle in der "Mutter Courage" geschrieben, weil er schon im Exil war und die Weigel keine Fremdsprache konnte. Shakespeare wollte einem Knaben, der stotterte, eine Hauptrolle geben. Im elisabethanischen Theater waren die Frauenrollen mit Knaben besetzt. Also ließ er der Lavinia in "Titus Andronicus" gleich zu Anfang die Zunge abhacken, damit der Junge das spielen konnte.

In Ihrer Erzählung "Liebesgeschichte" beschreiben Sie einen Traum, in dem eine Frau mit einem Beil zerlegt wird.

MÜLLER: Das träumt doch jeder. Vielleicht drückt sich da eine bestimmte Angst aus.

Angst vor Frauen?

MÜLLER: Die habe ich eigentlich nicht, auch nicht das Bedürfnis, eine Frau zu beherrschen. Angst wird abgearbeitet, indem man sie träumt. Das Problem des Schriftstellers, überhaupt des Künstlers, ist doch, daß er sein ganzes werktätiges Leben versucht, auf das poetische Niveau seiner Träume zu kommen. Das geht nur, wenn er nicht interpretiert, was er hervorbringt. Ich schreibe mehr, als ich weiß. Ich will nicht nachdenken über das, was ich mache.

Auch nicht über die Folgen?

MÜLLER: Nein, denn ich bin nicht verantwortlich für das, was ich schreibe. Was Verantwortung betrifft, sind Künstler wie Kinder. Es gibt das berühmte Beispiel des "Werther". Für die kleine Selbstmordwelle nach dem Erscheinen des Buches kann man nicht Goethe verantwortlich machen.

Hat sich schon jemand nach dem Lesen eines Ihrer Werke das Leben genommen?

MÜLLER: Nicht nach dem Lesen. Aber nach dem Ansehen einer Aufführung des Stückes "Der Auftrag" in Lyon hat sich ein französischer Theaterkritiker umgebracht, angeblich am selben Abend. Allerdings hatte er sich gerade von seiner Frau getrennt, außerdem war er Kommunist. Das kann eine Rolle spielen.

Sie meinen, das Stück hat seinen Glauben an den Kommunismus erschüttert?

MÜLLER: So ungefähr.

Dann wäre der Glaube schuld.

MÜLLER: Ja, oder die Realität, die sich nicht danach richtet, was Marx gesagt hat.

Ist das nicht auch für Sie eine Enttäuschung?

MÜLLER: Ich weiß nicht, ob ich diesen Glauben je hatte.

Sie erwecken den Eindruck.

MÜLLER: Wodurch?

Indem Sie zum Beispiel die Meinung vertreten, die nicht­sozialistischen Staaten hätten keine politische Zukunft.

MÜLLER: Das stimmt doch. In den westlichen Industrienationen geht es jetzt nur noch darum, einen Zustand zu konservieren, der auf Dauer nicht haltbar ist. Was hier passiert, ist die Emanzipation des Kapitals von der Arbeiterklasse. Damit meine ich die Arbeiter aus den ärmeren Ländern. In der BRD sind es die Gastarbeiter, in den ehemaligen Kolonialmächten die Emigranten aus den früheren Kolonien. Europa kann nur noch auf die Folgen der eigenen Politik reagieren. Arbeitslosigkeit, ökonomische Schwierigkeiten, die Probleme mit der Computerisierung, das alles ist doch nicht lösbar ohne eine globale kommunistische Perspektive.

Gut, aber was geschieht, wenn verwirklicht ist, wonach Sie streben?

MÜLLER: Das wird man sehen.

Laut Marx leben wir dann in einem "Reich der Freiheit". Daß auch Freiheit und Wohlstand die Menschen nicht glücklich machen, kann man gerade in den westlichen Ländern sehr gut studieren.

MÜLLER: Das ist Unsinn, denn frei sind Sie hier nur, weil Sie all jene ausklammern, die es nicht sind. Der Reichtum der kapitalistischen Staaten basiert auf dem Elend der Dritten Welt. Es ist einfach lächerlich, wenn in Afrika die Leute vor Hunger krepieren, während man hier darüber nachdenkt, wie man die landwirtschaftliche Produktion drosseln könnte. Aber eigentlich interessiert es mich gar nicht, über all das zu reden. Solche Gespräche zu führen wird für mich immer schwerer. Ich bin kein Ideologe. Ich benutze den Marxismus als Material, genauso wie ein Stück von Shakespeare oder eine Fahrt mit der Straßenbahn. Das wird eine Form, und die gilt dann. Mich interessiert nur mein Schreiben. Vor zwanzig Jahren habe ich noch über Gott und die Welt reden können und bin mir schlau vorgekommen. Heute komme ich mir nicht mehr so schlau vor.

Vielleicht denken Sie einmal an meine Zukunft, die von diesem Interview abhängt.

MÜLLER: Dann müssen Sie mir noch einen Schnaps besorgen.

Anläßlich einer Diskussion über Postmodernismus 1979 haben Sie von der »Arbeit am Verschwinden des Autors« gesprochen. Wollen Sie sich und Ihre Kollegen zum Schweigen bringen?

MÜLLER: Das habe ich wahrscheinlich gesagt, weil mich das Thema nicht interessierte. Darin kam meine Unlust zum Ausdruck. Die Veranstaltung war für mich eine Möglichkeit, umsonst nach New York zu kommen. Man wollte aber unbedingt von mir eine Rede hören. Also habe ich, damit man den Flug bezahlt, etwas abliefern müssen. Das Problem ist doch immer, daß ein Schriftsteller automatisch lügt, wenn er redet.

Manche in der DDR wären froh, wenn sie überhaupt reden dürften.

MÜLLER: Also ich darf, und ich darf auch reisen, und ich weiß, daß das ein Privileg ist. Aber würde ich darauf verzichten, wäre damit auch niemand geholfen.

Unlängst haben Sie sogar den Nationalpreis der DDR bekommen.

MÜLLER: Das würde ich nicht so verbittert sehen.

Haben Sie das Geld, 60.000 Mark, angelegt?

MÜLLER: Dazu bin ich zu blöd oder zu faul. Ich habe es in den Schrank gelegt und vergessen.

Können Sie verstehen, daß Ihre Landsleute die Reisebeschränkungen als skandalös empfinden?

MÜLLER: Natürlich, und ich tue einiges, um das zu ändern. Aber man muß es auch einmal historisch sehen. Die erste Maßnahme der Französischen Revolution, über die im Konvent beraten wurde, war die Schließung der Grenzen. Damit hat diese sogenannte freie Gesellschaft begonnen. Die Begründung der freien Marktwirtschaft geschah durch Terror. Ich weiß, das klingt jetzt pathetisch, aber ein Gesellschaftsumbruch im Versuchsstadium schafft Prioritäten, die sich von den üblichen unterscheiden.

Ist damit der Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze entschuldigt?

MÜLLER: Das habe ich nicht gesagt.

Es fällt auf, daß Sie sich dazu noch nie geäußert haben.

MÜLLER: Dafür bin ich nicht zuständig. Ich werde hier, nur weil ich ein Schriftsteller aus der DDR bin, immer als Funktionär behandelt. Sie würden doch zum Beispiel Peter Handke nie fragen, was er von österreichischer Politik hält. Was bei mir einzig zählt, ist das Geschriebene. In einem Interview erfinde ich Worte. Deshalb darf man das nicht als authentisch nehmen. Wenn ich schreibe, ist die Sprache schon vorher da. Ich bewege mich in ihr. Ich lasse mich von ihr tragen.

Und wenn die Phantasie Sie im Stich läßt?

MÜLLER: Phantasie habe ich keine, nicht die geringste. Das ist meine Stärke. Denn Phantasie ist etwas sehr Negatives. Menschen mit Phantasie sind dauernd gefährdet durch die Widrigkeiten des wirklichen Lebens. Ich kann mir nichts vorstellen. Ich habe auch keine Ideen. Ich warte, bis etwas an mir vorbeikommt. Es gibt eine Sprache und eine Form. Die Inhalte sind Zufall, bedingt durch bestimmte Grunderfahrungen oder momentane Lebensumstände.

Eine Grunderfahrung, von der Sie schon öfter berichtet haben, war der Verrat an Ihrem Vater. Als er 1933 von SA-Männern verhaftet wurde, haben Sie sich schlafend gestellt.

MÜLLER: Das habe nicht ich als Verrat bezeichnet. Das hat der Interviewer getan, der offenbar psychoanalytisch trainiert war.

In einem späteren Gespräch mit Hellmuth Karasek haben Sie es aber bestätigt.

MÜLLER: Ja, weil es gut klingt. Aber es ist doch Quatsch. Ich habe auch niemals Schuldgefühle entwickelt. Weshalb sollte ich? Ich war vier Jahre alt. Ich hätte nicht helfen können. Trotzdem war es natürlich ein für mein Leben entscheidender Vorgang. Von dem Tag an, als man meinen Vater in ein Konzentrationslager brachte, wurde ich als aussätzig behandelt. Die Nachbarskinder durften nicht mit mir spielen. Daraus erklärt sich wahrscheinlich mein erster Berufswunsch. Ich wollte General werden, um mich zu rächen.

Waren Sie in der Hitlerjugend?

MÜLLER: Ja, ab 1940.

Wie haben Sie es dort ausgehalten?

MÜLLER: Indem ich mich möglichst wenig hervortat. Ich war, da sozialistisch erzogen, politisch gespalten. Was zu Hause geredet wurde, mußte ich vor den Kameraden für mich behalten.

General sind Sie nicht geworden.

MÜLLER: Nein, auch nicht Frauenarzt, was ich eine Zeitlang angestrebt hatte, weil ich dachte, da lernt man leicht Frauen kennen. Als ich merkte, daß solche Ärzte zum großen Teil ältere Patientinnen haben, habe ich mir gesagt, das bringt auch nichts. Ich glaube, mit vierzehn war für mich klar, daß ich Schriftsteller werde. Ich habe sehr früh Theaterstücke gelesen, zunächst Schiller und Hebbel. Bücher, die als links galten, waren beschlagnahmt. Das erste Stück, das ich gesehen habe, war "Wilhelm Tell" in einer Tourneeaufführung, die in einem Dorfgasthaus stattfand. Ich weiß noch, wie sehr es mich kränkte, daß kein Pferd auf die Bühne kam, worauf ich, da es im Text stand, gewartet hatte.

Ein weiteres Schlüsselerlebnis, über das Sie geschrieben haben, war der Selbstmord Ihrer zweiten Frau.**

MÜLLER: Sicher, nur was erklärt das?

In Ihrem Stück "Hamletmaschine" ist Ophelia eine Selbstmörderin, die, wie sie sagt, aufhört, sich umzubringen. Die biographischen Bezüge sind unübersehbar.

MÜLLER: Ist denn das von Belang? Der Selbstmord meiner Frau hatte ursächlich mit mir nichts zu tun. Sie war im Krieg dreimal verschüttet. Ihre Eltern wurden getötet. Sie hat die Leichen in Einzelteilen aus dem Luftschutzkeller geborgen und auf den Friedhof getragen. Daraus ist ein Kriegstrauma entstanden. Das ging nicht weg. Wenn ich so etwas als Motiv verwende, wird es Literatur und existiert nur noch in diesen Texten. Alles andere ist uninteressant. Es zeugt von einem tiefen Kulturverfall, daß man sich heute, statt die Texte zu lesen, nur noch für das interessiert, was dahintersteckt.

Was kann so ein Gespräch anderes sein als der Versuch, Barrikaden beiseite zu räumen?

MÜLLER: Das ist nicht mein Problem. Ich lebe ganz bequem hinter den Barrikaden.

Sind Sie glücklich?

MÜLLER: Jetzt bestimmt nicht.

Wann denn?

MÜLLER: Ich weiß nicht. Wäre ich Bäcker, Ingenieur oder Journalist, dann hätte ich eine Arbeit, die ich von meiner Biographie, meinem Alltag mehr oder weniger trennen könnte. Da ich schreibe, kann ich das nicht. Ich bin sozusagen immer im Dienst. Ich habe nie frei. Vielleicht schließt das die Art von Glücksgefühl aus, die Sie meinen. Andererseits ist es natürlich ein Vorzug, tun zu können, was einem Spaß macht, und dafür auch noch bezahlt zu werden. Die Frage nach dem Glück stelle ich mir überhaupt nicht. Ich bin wahrscheinlich viel primitiver, als man allgemein annimmt. Ich habe keine philosophischen Interessen. Ich will auch nicht wissen, warum das Licht angeht, wenn ich am Schalter drehe. Geht es nicht an, rufe ich einen Elektriker.

Das ist genau die Arbeitsteilung, die Marx abschaffen wollte.

MÜLLER: Ja, es wäre zu wünschen, daß es gelingt. An der These der Aufhebung des Spezialistentums, daß einer sein Leben lang schreibt, ein anderer nichts als Schuhe macht, ist schor was dran. Nur ob es klappt, weiß ich nicht.

Den Gedanken, daß Kunst nicht von einzelnen Genies sondern aus dem Volk kommen sollte, hatte auch Wagner und ist damit eines der größten Genies geworden.

MÜLLER: Das ist der Trick dabei.

Glauben Sie, daß Leidensfähigkeit eine Berufsqualität des Genies ist?

MÜLLER: Nein, um Gottes willen, davon halte ich überhaupt nichts. Darüber müßten Sie mit Reiner Kunze ein Interview führen. Ich glaube, der leidet. Bei mir sind die Probleme das Material meiner Arbeit. Also habe ich keine. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich je depressiv war.

Weil Sie pausenlos schreiben.

MÜLLER: Pausenlos nicht. Wenn es anstrengend wird, höre ich auf. Kunst kann nur ohne Anstrengung entstehen. Das hat schon Thomas Mann richtig erkannt, obwohl ich fürchte, daß sich der ungeheuer angestrengt hat. Mir leuchtet ein, was Brecht über Thomas Mann gesagt hat. Er sagte, es bleibe ein Phänomen, wie es möglich sei, mit so wenig Talent so dicke Bücher zu schreiben.

Das hat auch Dürrenmatt über Grass gesagt.

MÜLLER: Ich weiß. Es ist aber ein Unterschied zwischen einem Dramatiker und einem Romanschriftsteller. Stücke zu schreiben ist eine motorische Tätigkeit. Ich kann zum Beispiel einen Dialog nicht im Sitzen schreiben. Ich muß herumgehen. Ich habe neulich einen Text über Shakespeare gelesen, in dem der Autor sich wundert, wie das Gehirn von Shakespeare das alles aushalten konnte. Aber man schreibt nicht mit dem Kopf. Man schreibt mit den Füßen. Brecht konnte mit Schnupfen nicht schreiben, weil er dann körperlich gehemmt war. Der Wahnsinn ergibt sich aus der Motorik. In mir läuft ein Motor, der braucht manchmal Auslauf. Das ist alles. Weshalb es so ist, frage ich nicht. Da bin ich mit Goethe einig, der formuliert hat, Gott möge ihn davor bewahren, sich selbst zu erkennen.

Wie kann man die Gesellschaft verändern, ohne sich selbst zu kennen?

MÜLLER: Wer sagt denn, daß ich die Gesellschaft verändern möchte? Wenn ich schreibe, möchte ich schreiben, sonst gar nichts, zu welchem Zweck, interessiert mich nicht. Die Sinnfrage ist eine Dekadenzerscheinung. Ich schreibe, um schlafen zu können. Ich habe keine Schlafstörungen, weil ich meine Texte als Schlafmittel benutze. Ich merke mir, was ich geschrieben habe, und wiederhole es in Gedanken, wenn ich einschlafen möchte. Da das mit alten Texten nicht funktioniert, muß ich ab und zu etwas Neues schreiben.

Was tun Sie, wenn Ihnen im Bett etwas einfällt, das Sie noch nicht geschrieben haben?

MÜLLER: Ich merke es mir bis zum Morgen.

Ziemlich riskant.

MÜLLER: Das habe ich auch gedacht, bis ich erkannte, daß man Wichtiges nie vergißt.

Können Sie wütend sein?

MÜLLER: Ja, kann ich.

Worüber?

MÜLLER: Ich erinnere mich an kein Beispiel, aber ich weiß natürlich, daß in mir eine gestaute Aggressivität ist, die ich zum Arbeiten brauche. Die hatte auch Kleist oder Schiller. Das gehört zum Beruf. Anders kann man die Spannung in einem Stück gar nicht halten. Bei Nietzsche steht, Dramatiker seien von Natur böse Menschen. Das ist sicher richtig. Doch kann dieses Böse, solange ich schreibe, nicht zu Entfaltung kommen.

Sonst würden Sie vielleicht von Machtgelüsten ergriffen.

MÜLLER: Wahrscheinlich. Nur werde ich Macht nie besitzen, zum Glück für viele. Wenn ich arbeite, interessiert mich Macht nicht. Alles, was ich brauche, ist eine tragbare Schreibmaschine, die ich überall mitnehmen kann, ohne mir einen Bruch zu heben.

Meinen Sie, Hitler hätte, wäre er Maler geblieben, auf Macht verzichtet?

MÜLLER: Ich nehme es an. Nur war Hitler leider kein guter Maler.

Ist das so wichtig? Entscheidend ist doch die Anerkennung. Wer weiß, wie gut Sie sind.

MÜLLER: Ich bin der beste lebende Dramatiker, gar keine Frage. Das weiß jedes Kind inzwischen.

Ihr Lieblingsautor ist Shakespeare. Sie haben viele seiner Stücke übersetzt, bearbeitet, neu geschrieben. Können Sie diese Vorliebe erklären?

MÜLLER: Ich glaube, er ist mir als Mensch am nächsten. Das habe ich erfahren, als ich mit dem festen Vorsatz, nichts zu verändern, "Wie es euch gefällt" übersetzte. Es war, als arbeitete ich in seinem Körper. Ich bekam ein Gefühl für die Doppelgeschlechtlichkeit, diese Mischung aus Schlangen- und Raubkatzenbewegung in seiner Sprache, in der Dramaturgie seiner Stücke. Seither glaube ich, ihn persönlich zu kennen.

Sind Sie ihm ebenbürtig?

MÜLLER: Nicht unbedingt. Aber das hat auch mit den Umständen zu tun. Shakespeare lebte unter günstigeren Arbeitsbedingungen, als ich sie habe, zunächst aus historischen Gründen. Es war die Umbruchzeit zwischen Mittelalter und Renaissance, eine relativ ruhige Phase. Auch wir leben heute im Umbruch, nur ohne Ruhe. Zum anderen gab es damals kein Kino, kein Fernsehen, auch keine Trennung zwischen höherer und trivialer Kunst. Das Theater war die Unterhaltung sowohl der Gebildeten als auch der Massen Es hatte unter anderem auch die Funktion, die heute Pornofilme und Horrorvideos haben. Die einzigen Vergnügungen, die es daneben noch gab, waren Hinrichtungen und die öffentlichen Irrenanstalten. Um diese Monopolstellung des Theaters beneide ich Shakespeare.

Wollen Sie mit Ihren Stücken Schrecken verbreiten?

MÜLLER: Eigentlich nicht. Das machen die Regisseure. Was mich an den Inszenierungen oft so langweilt, ist, daß sie bloß illustrieren, was schon im Text steht, statt das Geschriebene als Assoziationsmaterial zu benutzen, als eine Art Supernova, zu der sich die Regisseure etwas Eigenes einfallen lassen.

Damit sind sie offenbar überfordert.

MÜLLER: Nicht alle. Die Bochumer Aufführung des "Titus" hat mir gefallen.

War das dort vorgeführte Schlachtengetümmel nicht ein Anachronismus? Kämpfe Mann gegen Mann wird es in nächsten Krieg kaum noch geben.

MÜLLER: Nein, nur kann man ein Raketenduell nicht auf der Bühne zeigen.

Sind Sie im Krieg Soldat gewesen?

MÜLLER: Ich kam 1945 noch zum Reichsarbeitsdienst und mußte auch schießen. Panzer fuhren vorbei, aber bevor wir unsere Panzerfäuste loswerden konnten, waren die schon vorüber. Es war alles völlig diffus. Kurz vor dem Ende bin ich auf der Flucht vor den Russen beschossen worden und habe auch Tieffliegerangriffe erlebt. Das war nicht angenehm.

In einem Interview mit "Theater heute" haben Sie prophezeit, es werde nach dem dritten Weltkrieg noch einen vierten geben, und dies als Geschichtsoptimismus bezeichnet.

MÜLLER: Das ist fünf Jahre her. Das würde ich heute nicht mehr so sagen.

Warum nicht?

MÜLLER: Weil es nicht realistisch ist. Nach einem Atomkrieg wird es keinen weiteren Krieg, sondern vielleicht ein paar Überlebende geben, die auf andere Planeten evakuiert werden könnten. Pläne in dieser Richtung existieren bereits. Man müßte eine Kombination aus Mensch und Maschine entwickeln. Eine gewisse Montage wäre erforderlich.

Beruhigt Sie das?

MÜLLER: Es wird passieren, aber ich muß ja nicht mit.

Was bedeutet für Sie das mögliche Ende der Menschheit?

MÜLLER: Nichts anderes als der eigene Tod, denn wenn ich tot bin, ist für mich die Menschheit zu Ende.

Haben Sie Kinder?

MÜLLER: Ja, drei, aber das ist wirklich ganz unerheblich.

Über Ihre familiären Verhältnisse geben Sie ungern Auskunft.

MÜLLER: Das kommt sowieso alles heraus, sobald der Streit um das Erbe einsetzt.

Werden Ihre Gedanken über die Zukunft nicht von der Sorge um Ihre Kinder beeinflußt?

MÜLLER: Nein.

Als Frau würden Sie anders reden.

MÜLLER: Aber ich bin keine Frau. Die Vaterschaft ist keine natürliche Bindung. Das einzige, was mich an diesem Thema interessiert, ist die Frage, ob nach einem Weltuntergang Informationen bleiben. Die verläßlichsten Informationen sind die poetischen. Deshalb muß ich möglichst dauerhaft schreiben, ganz abgesehen davon, daß meine Stücke in der DDR immer erst fünfzehn Jahre, nachdem sie geschrieben sind, aufgeführt werden. Das ist eine gute Schule. Ich darf keine Wegwerfliteratur produzieren. Sobald man sich darauf einrichtet, daß es keine Nachwelt mehr gibt, gibt es auch keine Qualität mehr.

Meinen Sie, man wird auf dem Mars Heiner Müller lesen?

MÜLLER: Zum Beispiel. Noch besser wäre, man würde mich dort im Theater spielen.

An die Chance, Frieden zu halten, glauben Sie nicht mehr?

MÜLLER: Dazu gibt es von Freud den schönen Satz, etwas mehr Krieg im Frieden, und das Leben wäre ganz angenehm.

Oder von Kafka: Im Frieden kommst du nicht weiter, im Krieg verblutest du.

MÜLLER: Ja, das ist schwierig, das wird man nicht lösen können.

Welche Erwartungen knüpfen Sie an die neue Politik der sowjetischen Führung?

MÜLLER: Für mich ist Gorbatschow bei aller Skepsis die einzige Hoffnung, nicht nur in der Abrüstungsfrage. Wenn er scheitert, ist der Kommunismus für immer erledigt. Widerstände kommen von allen Seiten. Bei uns sträuben sich viele, weil sie um ihre Posten fürchten. Der Westen empfindet ihn als Bedrohung, weil er für machbar hält, was Lenin ursprünglich wollte, die Vereinbarkeit von Freiheit und Gleichheit. Dies wäre die Renaissance einer kommunistischen Alternative. Ob sie gelingt, ist eine andere Frage.

Ist mit Freiheit gemeint, daß jeder tun und lassen kann, was ihm Spaß macht?

MÜLLER: Nein, eine totale Freiheit kann es nicht geben. Zunächst muß man die Freiräume nutzen, die jetzt schon da sind. Jeder Industriearbeiter in der DDR hat mehr praktische Freiheit während der Arbeitszeit als sie ein Arbeiter in der BRD hat.

Gut, aber er will eben das, was er nicht hat, zum Beispiel die Erlaubnis, nach Paris oder Rom zu reisen, vielleicht nur, um freiwillig darauf verzichten zu können.

MÜLLER: Das erreicht er nicht, wenn er nicht die bereits vorhandenen Freiräume ausnutzt.

Woher nehmen Sie diese Gewißheit? Jemand, dem auf einer alkoholfreien Party nach Whisky verlangt, kommt seinem Ziel doch nicht näher, indem er Saft trinkt.

MÜLLER: Das ist nicht der Punkt. Es geht darum, das Mögliche durchzusetzen. Dazu ist erst einmal nötig, daß man über die Verfassung eines Staates Bescheid weiß. Ich kenne Leute in der DDR, die sich einen Sport daraus machen, Gesetzeslücken herauszufinden. Leider sind das zu wenige. Es ist eine sehr deutsche Haltung, die Konfrontation dort anzunehmen, wo sie geboten wird. Der Deutsche sieht den Stier und rennt darauf los, weil er kein ironisches Verhältnis zum Staat hat. Der Staat wird in jedem Fall ernst genommen, so wie es auch eine Voraussetzung für politische Karrieren zu sein scheint, kein Gefühl für die eigene Komik zu haben. Das sieht man bei Helmut Kohl am besten.

Wo liegen die Widerstände, gegen die Sie noch ankämpfen müssen?

MÜLLER: Um Widerstände zu haben, brauche ich nur ein Stück zu schreiben.

Weil es verboten wird?

MÜLLER: Zum Beispiel.

Kennen Sie die Leute, die das entscheiden?

MÜLLER: Nein, denn es gibt kein Gremium, das man namentlich ausmachen könnte. Zuständig ist der Kulturminister. Ab ob er die Stücke liest, weiß ich nicht. Man läßt lesen. Ich glaube, es ist wie in Hollywood. Da weiß man auch nie, warum wann was gemacht wird.

Ende der fünfziger Jahre haben Sie Ihr Stück "Die Korrektur" auf staatlichen Wunsch geändert.

MÜLLER: Das war ein Fehler. Das habe ich getan, weil es sonst nie gespielt worden wäre. Damals dachte ich ganz pragmatisch.

Sie übten Selbstkritik.

MÜLLER: Ja, und ich glaubte sogar, was ich sagte.

Ist ein System wie das kommunistische den Künsten feindlich?

MÜLLER: An sich überhaupt nicht. Niemand wird ernsthaft bestreiten, daß vieles an großer Literatur in diesem Jahrhundert darauf basiert, daß es eine kommunistische Hoffnung gab, die es jetzt vielleicht wieder gibt. Ich meine, man muß von der Welt schon irgend eine Vorstellung haben, um schreiben zu können. Eine positive Grundlage muß da sein. Dante baute auf eine von heute aus gesehen falsche Philosopie. Er war der letzte europäische Dichter, der ein festes theologisches Weltbild hatte, ungeheuer geordnet. Das ist inzwischen veraltet. Aber am Wert seiner Dichtung ändert das gar nichts, wobei es völlig egal ist, ob jemand an die Philosophie glaubt, die er benutzt, oder sie wie Shakespeare nur als Vehikel verwendet. Shakespeare glaubte an nichts, aber er nahm die Philosophie von Montaigne als Konstruktionsgerüst. Ich bezweifle, daß man aus Nihilismus Kunst machen kann. Benn hatte recht, wenn er sagte, alles, was in Europa an Kunst entstanden ist, sei eine Leistung gegen den Nihilismus.

Trifft das auch auf einen Autor wie Thomas Bernhard zu?

MÜLLER: Das glaube ich nicht, denn Bernhard hat nur das System Thomas Bernhard.

Lesen Sie, was er schreibt?

MÜLLER: Ich habe Schwierigkeiten.

Gibt es überhaupt Gegenwartsliteratur, die Sie interessiert?

MÜLLER: Ja, Kriminalromane. Ich finde auch gut, was der Kroetz macht. Nur sein Buch über Nicaragua*** hat mir nicht so gefallen, weil mich nicht interessiert, wann er mit wem wo ins Bett geht. Das war mir zu pubertär.

Die Stücke von Botho Strauß haben Sie als Gemurmel bezeichnet.

MÜLLER: Warum soll einer nicht murmeln?

Vielleicht weil es dann konsequenter wäre zu schweigen.

MÜLLER: Das Schweigen kommt sowieso, wenn man stirbt. Darauf kann sich jeder verlassen. Darüber schreiben dann andere.

Aus Lust an der Katastrophe, wie Sie einmal selbst formulierten.

MÜLLER: Das kann ein Impuls sein.

Auch für Sie?

MÜLLER: Natürlich. Das ist mein wichtigster Antrieb. Sie versuchen, mich niederer Beweggründe zu überführen. Aber ich habe doch gegen solche Beweggründe gar nichts. Mir hat einmal die Frau eines Kulturdezernenten, ich weiß nicht mehr, wo das war, vorgeworfen, was ich schreibe, sei alles so trostlos. Darauf habe ich geantwortet, ich wäre nicht zuständig dafür, sie zu trösten. Darüber war sie verbittert. Ich glaube, sie hatte Eheprobleme.

Darf man von einem Marxisten nicht etwas mehr Nächstenliebe erwarten?

MÜLLER: Nein, ein Marxist ist kein Wohltäter, sondern freut sich zum Beispiel über den Zuwachs der Kriminalitätsrate, weil sich dadurch die Chancen auf eine Revolution erhöhen. Engels war selig, als in Wuppertal die Zahl der Einbrüche und Diebstähle zunahm. Sie dürfen von einem Kommunisten keine Almosen erwarten. Kennen Sie den Witz, in dem Radio Eriwan gefragt wird, ob es im Kommunismus Geld geben werde? Antwort von Radio Eriwan: Die einer sagen ja, die anderen nein. Die dialektische Lösung laute, manche werden Geld haben und manche keines.

Sie machen sich lustig über das, womit es Ihnen eigentlich ernst ist.

MÜLLER: Und damit wären wir wieder bei der Abgründigkeit. Sie wollen mich dauernd entlarven. Das ist der Grund, weshalb Sie dieses Interview machen. Sie richten aus Ihren eigenen Abgrund die Taschenlampe auf jemanden, und wenn dort nichts ist, halten Sie ihn für unseriös. Letzten Endes läuft Ihre Denklinie auf die platonische Ausbürgerung der Dichter hinaus. Platon wünschte sich einen Staat der Philosophen, in dem es Dichter nicht geben sollte.

Weil sie zu dumm sind?

MÜLLER: Genau, das meinte er, und zwar völlig zu Recht. Dummheit ist die Voraussetzung für Dichtung. Dafür bin ich ein gutes Beispiel. Ich habe einfach nicht das Bedürfnis, mir über alles Gedanken zu machen. Vielleicht habe ich zu wenig Angst. Die Philosophie ist ein Angstprodukt, so wie die Religion. Man versucht, Werte zu installieren, wo es gar nicht um Werte geht, sondern um Angst.

Das hat auch Marx getan.

MÜLLER: Gut, aber das interessiert mich auch nur als Privatmann. Für meine Arbeit ist es ohne Bedeutung.

Schreiben Sie Tagebuch?

MÜLLER: Auf die Idee bin ich noch nie gekommen. Jemand, der heute Tagebuch schreibt, lügt sich doch selbst in die Tasche.

Handke hat es sogar herausgegeben.

MÜLLER: Das braucht man ja nicht zu lesen. Können Sie sich Hölderlin als Tagebuchschreiber vorstellen? Undenkbar! Das ist eine Frage des Verhältnisses, das man zur Sprache hat. Ich kann Sprache, wenn ich schreibe, nicht als Instrument der Mitteilung benutzen. Das geht nur, wenn ich spreche.

Wollen Sie noch einen Witz erzählen?

MÜLLER: Mir fällt gerade einer ein, der das Problem, über das wir die ganze Zeit reden, sehr anschaulich darstellt. Steht ein Mann morgens auf, geht ins Badezimmer, sieht in den Spiegel und sagt, kenn ich nicht, wasch ich nicht. Das müßte Sie doch zum Lachen bringen.****

Welche Rolle spielt die Erotik in Ihrem Leben?

MÜLLER: Ich glaube, da bin ich ganz unkompliziert.

Ihren ersten Beischlaf vollzogen Sie 1951, genau an den Tag, an dem Ihr Vater aus Protest gegen Stalin die DDR verließ.

MÜLLER: Ja, das hatte den simplen Grund, daß dadurch das elterliche Schlafzimmer frei war. Eine Frau, die mitgeht, findet man immer.

Ist Liebe wirklich so einfach?

MÜLLER: Bei mir schon. Ich kann die Problematisierung dieses Themas nicht nachvollziehen. Ich komme mir manchmal wie ein Elefant im Porzellanladen vor, wenn ich über die Probleme anderer Männer mit Frauen höre, weil ich, vielleicht aus Mangel an Sensibilität, keinen Sinn dafür habe.

Sind Sie nie von einer Frau, die Sie liebten, betrogen worden?

MÜLLER: Doch, nach dem Krieg. Ich hatte eine Geliebte, die für einen Sack Mehl mit einem anderen Mann ins Bett ging. Da habe ich die Potenz verloren. Ein Mehlsack war mir als Preis zu gering. Es gibt ein frühes Gedicht von Brecht, das ich sehr mag, da heißt es, er schickte sich an, sich zu verwandeln in unbedrohbaren Staub*****. So habe ich es auch gemacht. Ich wurde betrogen und habe mich immunisiert.

Stimmt es, daß Sie Ihre tote Frau ausgraben wollten, um ihre Knochen fühlen zu können?

MÜLLER: Das habe ich in einem Gedicht geschrieben.

Sie haben auch in einem Interview darüber gesprochen.

MÜLLER: Das war gelogen.

Warum sagen Sie so selten die Wahrheit?

MÜLLER: Weil man zur Wahrheit die meiste Phantasie braucht. Ich bin ja kein Dokumentarist. Was ich schreibe, ist immer Dichtung und Wahrheit, eine Mischung aus Dokument und Fiktion. Ich erlebe etwas und bringe es auf eine poetische Formel, um eine Distanz zu schaffen. Wenn ich das später lese, ist es für mich wie der Text eines Toten.

Hatten Sie je Selbstmordgedanken?

MÜLLER: Nein, ich wußte nie, weshalb ich mich umbringen sollte.

Todesangst wäre ein Grund.

MÜLLER: Wieso?

Weil die einzige Erlösung von ihr der Tod ist.

MÜLLER: Überleben ist auch eine Lösung.

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*) Das Stück wurde im Februar 1985 mit dem Titel „Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar“ in der Inszenierung des Autors in Bochum uraufgeführt.

 
**) Inge Müller tötete sich 1966 mit Gas.


***) Franz Xaver Kroetz, „Nicaragua-Tagebuch“, erschienen 1985 im Konkret-Verlag

****) Heiner Müller erzählte noch mehrere Witze, unter anderem diesen: Ein blinder Mann geht mit seinem Blindenhund in ein Kaufhaus, packt das Tier mit beiden Händen am Schwanz und wirbelt es über dem Kopf zweimal im Kreis herum. Ein anderer Kaufhausbesucher stellt ihn empört zur Rede. Der Blinde erwidert: »Man wird sich doch noch umschauen dürfen.«

*****) Aus Brechts „Lied der Mutter über den Heldentod des Feiglings Wessowtschikow“ (geschrieben 1931):

Als er zur Wand ging
Konnte er sterben…
Schickte sich an, bedroht, sich schnell zu verwandeln in
Unbedrohbaren Staub. Und alles
Was noch geschah, vollzog er wie
Abgemachtes, als erfülle er
Einen Vertrag. Und ausgelöscht waren
Ihm im Innern die Wünsche…

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Erschienen am 14. August 1987 unter der Überschrift „Dichter müssen dumm sein“ in der ZEIT

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