Interview mit Hans Werner Henze 1973

(während seiner von sozialistischem Engagement geprägten Schaffensphase)



Sie machen neuerdings Musik mit politischem Inhalt.

HANS WERNER HENZE: 0h Gott, die 08/15-Politischen kommen!

Stimmt es nicht?

HENZE: Doch, es stimmt. Aber das wird ja heute immer so oberflächlich betrachtet.

Wie kann man Politik und Musik verbinden?

HENZE: Ich will die Musik aus dem Konzertsaal herausbekommen, um sie in das tägliche Leben zu integrieren, aber nicht in Form von Schnulzen natürlich. So eine Musik muß ja nicht platt sein. Die kann sehr fein sein. Im Augenblick schreibe ich etwas für Kinder, das in Schulen aufgeführt werden soll. Die Kinder sollen das selber spielen. Das Thema ist die entfremdete Arbeit. Das handelt von einem Auto, wie es gebaut wird und wem es gehört. Den Arbeitern, die es bauen, gehört es nicht.*

Wie beurteilen Sie Ihre früheren Werke?

HENZE: Mit Wohlwollen.

Nach der Uraufführung Ihrer Oper "Der junge Lord", hat man Sie als zweiten Lortzing gefeiert.**

HENZE: Das war ein Mißverständnis. Man hat nicht gemerkt, welche kritische Möglichkeiten das Stück enthält. Das ist eine Parabel über die mißlichen Eigenschaften des deutschen Volkes, über seinen Materialismus, nur eben in lustiger Form. Die Kostüme und Bühnenbilder der Uraufführung haben von den Bitternissen, die ich zeigen will, zu sehr abgelenkt. Die Schönheit des Dekors verführte zur Kulinarik.

Soll es nicht schön sein?

HENZE: Doch, Theater soll immer schön sein.

Voriges Jahr haben Sie die Oper in Frankfurt selbst inszeniert.

HENZE: Ja, um Schlimmeres zu verhüten. Für die Münchner Aufführung habe ich dem Regisseur*** schriftlich ein paar Tips zugesandt. Er soll nicht vergessen, daß die Sehnsucht nach dem Höheren und Besseren ökonomische Ursachen hat. Liebe entsteht aus Hunger. Deshalb bin ich vor zwanzig Jahren nach Italien gezogen. Ich liebe den Süden.

Hat Sie damals das Politische schon interessiert?

HENZE: Was es bei mir damals schon gab, war eine bis zur Neurose gehende Form des Antifaschismus. Aber ich hatte noch kein Gegenmodell. Mein Weg ging in die Isolierung, in den Elfenbeinturm. Erst durch andere Menschen habe ich Hilfe bekommen und eine vernünftige Lösung gefunden.

Welchen Menschen?

HENZE: Christian Enzensberger, Gaston Salvatore, Herbert Marcuse... Mit Enzensberger bin ich dann ein Jahr nach Kuba gegangen.

Warum sind Sie zurückgekommen?

HENZE: Weil ich finde, wir haben die Pflicht, in unseren eigenen kulturellen Räumen zu wirken. Das wäre zu einfach, dort hinzugehen, wo der Sozialismus ohnehin schon verwirklicht ist.

Glauben Sie, daß man Ihre Musik in einem sozialistischen Land aufführen würde?

HENZE: In den sozialistischen Ländern richtet sich die Kunstübung nach dem Bewußtsein des ganzen Volkes. Kunst wird dort kollektiv entschieden. Wie weit man gehen kann, hängt davon ab, welchen Stand an technischer Aufnahmefähigkeit die Menschen haben.

Kann ein Künstler seine Intuition so programmieren?

HENZE: Michelangelo, Bach und Mozart haben bewiesen, daß sich die Intuition sehr gut nach dem richten kann, was gebraucht wird. Komponieren ist etwas, das man erlernt wie jeden anderen Beruf, um es dann mit mehr oder weniger Geschick auszuüben. Da ich keine Begabung für das Hobeln von Stühlen habe, komponiere ich. Der Künstler soll sich in einer Gemeinschaft begreifen. Unsere kapitalistische Gesellschaft produziert eine Art von Genie, von dem geradezu diktatorisch verlangt wird, unverständlich zu bleiben. Ich will jetzt nur noch Gebrauchsmusik herstellen.

Mit Ihren letzten Kompositionen ist Ihnen das nicht gelungen.

HENZE: Gehobene Musik für die breite Masse ist bis heute noch nie gelungen. Ich hoffe, ich werde Fortschritte machen. Ich habe soeben einen Liederzyklus**** mit zeitgenössischen Texten beendet. Diese Lieder wird jeder singen können. Auch ein Gedicht von Ho Tschi Minh ist dabei.

Für die Bühne wollen Sie nicht mehr komponieren?

HENZE: Wenn ich den "Tristan" höre, denke ich immer noch, es wäre schön, so etwas zu erschaffen. Aber das sind Rückschläge. Diese Art von Kulinarik ist mir zu unrealistisch. Ich mag das nicht mehr mit diesem Orchester im Graben. Da wird die Musik so fürchterlich psychologisch. Man sitzt im Dunkeln. Der Kapellmeister hebt seine magischen Hände. Weihe breitet sich aus. Das ist eine Veranstaltung, bei der sich das Klassenbewußtsein der Bourgeoisie selber feiert. In so etwas kann ich seit einiger Zeit nicht mehr gehen.

Und in Ihre eigenen Opern?

HENZE: In die kann ich schon gehen. Da wird ja keine Weihestimmung verbreitet, von der sich die feinen Leute berieseln lassen. Da gab es doch jedesmal Pfiffe. Türen wurden zugeschlagen.

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*) Das Projekt einer Kinderoper verwirklichte Henze erst 1980 mit "Pollicino" (zu deutsch: "Däumling")
**) "Der junge Lord" wurde am 7. April 1965 in der Regie von Gustav Rudolf Sellner an der Deutschen Oper Berlin uraufgeführt.
***) Die Münchner Erstaufführung  am 23. März 1973 im Gärtnerplatztheater inszenierte der Intendant des Hauses, Kurt Pscherer.
****) Liederzyklus "Voices", 1973

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Erschienen am 24. März 1973 in der Münchner "Abendzeitung"