Besuch bei H. C. Artmann 1978



Poesie, das war für H. C. Artmann immer schon mehr als nur Dichten. Ein weltfremder Schreibmaschinentipper im Dachstübchen ist er niemals gewesen. Fast die Hälfte seiner Gedichte, die zum Berühmtesten gehören, das es an moderner Lyrik im deutschen Sprachraum gibt, hat er aus Schlamperei weggeworfen. Wenn ihm der Papierhaufen auf seinem Schreibtisch zu groß wird, nimmt er das Ganze und schmeißt es zum Fenster hinaus. In Malmö, wo er, weil in eine Schwedin verliebt, eine Zeitlang wohnte, hat nach seinem Auszug der Hausmeister den Großteil des dort entstandenen Oeuvres vernichtet. Artmann weint dem Verlorenen keine Träne nach. Geschrieben ist geschrieben. Was mit seiner Dichtung geschieht, ist dem Österreicher auf gut wienerisch "wurscht". Daß dennoch im Frankfurter Suhrkamp Verlag eine fünfhundert Seiten starke Anthologie seines lyrischen Werkes zustande kam, ist dem Zufall und vor allem Konrad Bayer zu danken, einem Wiener Dichterkollegen, der das auf verstreute Zettel Geschriebene für die Nachwelt gerettet hat. 1964 nahm sich Bayer, erst zweiunddreißigjährig, mit einem Gashahn das Leben. Doch da war Artmanns Ruhm schon gefestigt. Sechs Jahre zuvor hatte er unter dem Titel "med ana schwoazzn dintn" eine Sammlung von Mundartgedichten herausgegeben, die heute zum Lehrstoff der österreichischen Oberschulen gehören.

Aber, wie gesagt, das Schreiben ist dem Hans Carl Artmann, von Freunden seit jeher H. C. genannt, nie die Hauptsache gewesen. Noch bevor von ihm eine einzige Zeile gedruckt war, propagierte er schon das "poetische Handeln". Gemeint ist die Kunst, zu leben, das französische "savoir vivre". In seinem letzten Prosabuch "Nachrichten aus Nord und Süd" schreibt Artmann: "Meine Heimat ist das Bett." Die längste Zeit des Jahres verbringt er mit Dösen. Seiner dritten Frau Rosa ist unbegreiflich, wie er das aushält, ohne an Langeweile zu sterben. Voll Staunen erzählt sie, daß ihr Mann während der Skiweltmeisterschaften täglich vierzehn Stunden lang vor dem Fernsehapparat sitzen konnte und kein einziges Rennen verpaßte, nicht einmal Langlauf. Artmann macht aus seiner Natur kein Geheimnis: "Ich bin ein faules Schwein. Ich schreibe nur, wenn es sein muß."

Dieses "Muß" passiert immer dann, wenn sich in ihm so viel Verzweiflung angehäuft hat, daß er selbst mit Valium 10 nachts nicht mehr schlafen kann. "Dann kommen die Gedanken, die Grübeleien, die schrecklichen Träume." Artmann träumt seit Jahrzehnten immer das gleiche: Krieg, Flucht, Überleben. 1945 wurden ihm an der Ostfront die Beine durchschossen. Seither ist er zu fünfundfünfzig Prozent kriegsversehrt und bekommt dafür vom Staat fünfhundert Schilling Rente im Monat. Die Verwundung hat er sich selbst zuzuschreiben. Während sich die deutsche Infanterie in den Schützengräben verschanzte, stürmte er viel zu früh auf den Feind los. Aber so ist es in seinem Leben immer gewesen. Wenn er Angst hat, rennt er nach vorn. Jörg Drews, Literaturkritiker der "Süddeutschen Zeitung" und einer der besten Artmann-Kenner in Deutschland, nennt es "die Flucht vor sich selbst". H. C. läßt es gelten. Was andere über ihn sagen, entlockt ihm höchstens ein Achselzucken. In seinen "Nachrichten aus Nord und Süd" steht der Satz: "Bitte bitte sagt mir doch, wer ich bin, damit ich mich wenigstens in Zukunft danach richten kann."

Er hat in diesem Buch zum erstenmal über sich selbst geschrieben. Aber Artmann wäre nicht Artmann, wenn nicht auch hier, im Bericht seines Lebens, die Phantasie die Hauptrolle spielte. Die Wirklichkeit interessiert ihn nicht, "denn die ist sowieso da". Nicht einmal über die einfachsten Daten seiner Biographie will er Auskunft geben. In der großen "Brockhaus Enzyklopädie" steht noch heute ein falsches Geburtsjahr. Artmann ist nicht 1924, sondern drei Jahre früher geboren. Als Geburtsort gab er lange Zeit einen auf keiner Landkarte verzeichneten Ort "Sankt Achaz im Walde von Österreich" an. Tatsächlich ist er in Breitensee, einem Vorort von Wien, aufgewachsen. Sein Vater war Schuhmachermeister und sprach neben Deutsch fließend Tschechisch, was im Sohn schon sehr früh die Wurzeln zu einem später ausufernden Sprachen-Tick legte. H. C. beherrscht an die dreißig fremde Idiome, darunter Arabisch, Bretonisch, Estnisch, Irisch, Türkisch, Huzulisch und Vedisch. Daß er sie auch versteht, ist damit nicht gesagt. So wie er seiner Vergangenheit ständig davonläuft, so flieht er auch vor der Bedeutung der Wörter. Sprache ist für ihn eine Art Droge. Was das von ihm Geschriebene bedeutet, weiß er nicht und will er nicht wissen: "Ich stricke mit Worten. Was herauskommt, ist Zufall." Daß seine Literatur  zunehmend als Ausdruck von Panik und Einsamkeit ausgelegt wird, verwirrt ihn. Denn wo bleibt da sein lange gehegtes Image vom Lebenskünstler, der dauernd in der weiten Welt unterwegs ist und dem die Mädchen scharenweise zu Füßen liegen?

Artmann ist nicht, was er scheint, aber was ist er? 1973 zeigte ihn das ZDF in einem Porträt beim Whisky-Trinken und Philosophieren in Irland. Man hatte für die Sendung eigens die Staatslimousine des verstorbenen Konrad Adenauer gemietet. H. C. fand das nicht passend. Noch nie ist er, außer für's Fernsehen, im Auto gereist. Wenn das Fernweh ihn packt, schwingt er sich auf sein Moped und fährt zehn Stunden lang ununterbrochen in Richtung Süden. Er muß den Wind auf den Wangen spüren und den freien Himmel über sich haben. Wäre er ein Ritter im Mittelalter, er würde von einer Burg zur anderen reiten und den Damen seine Aufwartung machen. Seine Sehnsucht ist rückwärts gerichtet. "Ich bin ein Endzeitler", sagt er. Doch manchmal sieht es so aus, als hätte er auch das Ende verpaßt, ein hoffnungslos verspäteter Don Quixote, ein Clown ohne Zirkus.

Sechs Kinder hat er gezeugt mit sechs verschiedenen Frauen. Geblieben ist er nur selten. Mit vierzig schloß er die erste Ehe, aber drei Monate später war er schon wieder geschieden. Die Kinder ließ er den Müttern. "Die hatten ja Geld." Als ihn vor kurzem seine erwachsene Tochter besuchte, erschrak er. Sie war im selben Alter wie jene Kindfrauen, die er als Geliebte bevorzugt. Seine Methode, sie einzufangen, ist einfach. Er macht eine Lesung und lädt die weiblichen Fans anschließend "zum Diskutieren" in die nächstgelegene Kneipe. Dort prüft er sie auf Jugend und Geist. Der Geist ist weniger wichtig. Eine Flasche Wein, ein gepflegter Beischlaf, und für Hans Carl Artmann ist die Welt wieder in Ordnung. Ist erst einmal die Melancholie hinuntergespült, kann sich der Dichter über ganz alltägliche Dinge ärgern, zum Beispiel über die heute gebräuchlichen Nylonstrumpfhosen als Liebestöter. Was ihn reizt: schöne weiße Unterwäsche und Strapse aus Seide. Aber wie lange noch? "Vor dem Altwerden habe ich keine Angst", sagt er, "aber die Mathematik dabei, die stört mich." Mit vierzig konnte er noch seine Jahre verdoppeln, mit siebenundfünfzig wäre diese Rechnung makaber. Die Tage, als er dem Günter Grass beim Twisttanzen in Berlin die Mädchen ausspannte, sind längst vergangen. Ein Fünfzeiler, den er damals im Überschwang auf das Blatt warf, hinterläßt in ihm heute einen bitteren Nachgeschmack:

wenn ich,
ein mann ohne stern,
mit meinen Puppen erfriere, wer schmeißt mir
eine rose zu?

Artmann, der Immergrüne, ist nachdenklich geworden. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Die Wirklichkeit hat ihn eingeholt. "Es ist ja im Grunde nicht falsch, das mit der Verzweiflung", sagt er, "aber was soll ich denn machen? Ich bin einfach zu feige, um durch mein Leben noch einmal durchzusteigen." Lieber kurvt er auf seinem Zweirad wie ein Verrückter über die Salzburger Wiesen, in denen sein Haus steht. Gleich nebenan beginnt das Dorf "Himmelreich", als wäre des Dichters schwarzer Humor hier tätig gewesen. In dem Haus, kaum einen Kilometer von der bayerisch-österreichischen Grenze entfernt, wohnt er mit seiner Frau Rosa, einer Steirerin, die für jeden Zank gut ist, und der gemeinsamen Tochter Griseldis, einem Kind, süß zum Anbeißen, dem er, so steht es geschrieben, seine Phantasie vermacht hat. Es ist das erstemal, daß er so etwas wie ein Familienleben versucht. Artmann als Vater? Man will es nicht glauben. Und doch: Als sich Griseldis kürzlich beim Waschen ihres Teddybären am kochend heißen Wasser verbrühte, war das "der größte Schock" seines Lebens. Er hat an diesen blonden Engel den ganzen Wust seiner unausgetragenen Ängste verschenkt. Wenn dem Kind was passiert, sagt er, bringt er sich um.

Ja, Artmann ist nachdenklich geworden. Aber die Sucht, zu entkommen, die sich als Lust zum Abenteuer maskiert, hat ihn noch nicht aus den Fängen gelassen. Wenn die Unruhe ihn juckt, besteigt er sein Fahrzeug und macht sich auf den Weg in die amourösen Gefilde einer siebzehnjährigen Salzburgerin, der er als Gegenleistung für die ihm erwiesenen Dienste erlaubt, sich als Muse zu fühlen. Bei der Heimfahrt fällt ihm dann dazu nichts anderes ein als "Musen mit Busen". Das sind so die Sprüche, mit denen er in seinen besten Momenten die Seiten füllt. Wieder zu Hause, stellt er Wein auf den Tisch und legt für Griseldis schottische Tanzmusik auf den Plattenteller. Ehefrau Rosa ist aus Protest gegen das Alleinsein ins Kino gegangen, vielleicht aber auch in eine Diskothek, wo sie bei jungen Verehrern als Schriftstellergattin Bewunderung einheimst. Solange H. C. das Kind hüten muß, weiß sie wenigstens, daß er nicht fremdgeht. Aber Artmann ist sich längst selbst fremd geworden. Gesprächig vom Alkohol, gesteht er die Katastrophe seines gegenwärtigen Zustands: "Manchmal, vor dem Einschlafen, höre ich Stimmen, und dann fürchte ich, ich könnte wahnsinnig werden." Und dann schluckt er wieder eine oder zwei seiner grünen Tablettchen und hofft, daß ihm beim Aufwachen die Sonne ins Gesicht scheint. "Denn wenn das Wetter schön ist, geht es mir gut."

Mehr will er schon nicht mehr. Das Wort "Glück" hat er aus seinem Sprachschatz gestrichen. Er hätte, würde sich sein Leben nun plötzlich in ein angenehmes verwandeln, "zuviel Angst vor dem Sterben". Das Angenehmste, was er sich vorstellen kann, wäre Reichtum, weil er den bisher noch nie gehabt hat. In den fünfziger Jahren lebte er von Arbeitslosenunterstützung und heimlichen Nebenverdiensten als Postbote und Theaterkomparse. Der Öffentlichkeit war er damals zwar noch nicht als Dichter, aber durch Prügeleien mit Polizisten bekannt, die Schlagzeilen machten. Artmann, sonst ein Mensch, der keiner Fliege etwas zuleide tut, hat eine unüberwindliche Aversion gegen die österreichische Polizei, die sich besonders dann zeigt, wenn er einen Rausch hat. Denn im Rausch wird er euphorisch. "Und wenn mich in meiner Euphorie jemand stört, werde ich wild." Drei Jahre lang mußte er wegen einer drohenden Gefängnisstrafe sein Heimatland meiden. Die letzte Auseinandersetzung mit den Staatsorganen hatte er 1970 in Klagenfurt. Anwohner des städtischen Eisschützenplatzes, auf dem der Schriftsteller mit zwanzig Freunden ein Trinkgelage abhielt, hatten die Polizei gerufen. Artmann empfing die Beamten mit dem Satz: "Ich bin ein Karatekämpfer. Wenn ihr wollt, fliegt ihr in den Kanal." Eine Massenschlägerei war die Folge. H. C. und seine Kumpanen wurden in Haft genommen. Als sich jedoch herausstellte, mit welcher Berühmtheit man es zu tun hatte, ließ man ihn laufen.

1974 bekam er den mit 14.000 Mark dotierten "großen österreichischen Staatspreis" für Literatur. Seither machen die Ordnungshüter um ihn einen Bogen. Das Genie genießt Narrenfreiheit. Artmann darf sich heute ganz offen als einen "reinen Anarchisten" bezeichnen. Man weiß: Mit Mord und Totschlag hat das in seinem Fall nichts zu tun. Als er voriges Jahr einer Maus, die ihm mit ihrem Geknabber die Nachtruhe raubte, den Garaus machte, war er darüber im nachhinein so entsetzt, daß er sich tags darauf eine Katze kaufte. "Die Katze", so Artmann, "frißt zwar jetzt unsere Mäuse, aber dafür scheißt sie das ganze Haus voll." Es gibt, das hat er erkennen müssen, für nichts eine Lösung. Alles ist relativ. "Der eine schwört auf Schmalz, der zweite schwimmt in Butter, der dritte reibt sich Olio Sasso ins Blondhaar." Artmann ist, solange ihn sein Witz nicht verläßt, mit seinem Dasein zufrieden.

Ein paar Freunde, mit denen er das eine und andere Glas kippt, ein warmer Ofen im Winter, eine kühle Brise im Sommer, das reicht ihm. Die höheren Ideale sind ihm zwischen Stalingrad und Salzburg abhanden gekommen. "Irgend etwas hat uns das Rückgrat beschädigt", schreibt er. "Aber was soll's! Es hätte noch viel schlimmer kommen können." Er ist Pazifist, das versteht sich, er will seine Ruhe haben. Politisch hat er sich nie betätigt, weder rechts noch links noch in der Mitte. Die einzige Wahl, an der er je teilnahm, war die österreichische Volksabstimmung gegen Atomkraft. Bruno Kreisky, sein Bundeskanzler, ist ihm, "seit er sich wie ein Kaiser aufführt", unsympathisch geworden. Aber das kann sich ändern. Auch den Franz Josef Strauß konnte er lange nicht leiden, bis es sich einmal ergab, daß die beiden einander zuprosteten. Sogar mit Göring, sagt er, hätte er einen heben können. Artmanns Grenze zum Haß verläuft alkoholisch. Wäre er in Uganda und besäße eine Pistole, er würde "den Idi Amin über den Haufen schießen", aber auch das nur, solange es nicht dazu kommt, daß ihn der Diktator zum Zechen einlädt. Gegen solche Freundlichkeit ist er machtlos.

Es gibt nur einen Ort, wo Artmann grundsätzlich nicht trinkt: an seinem Schreibtisch. Die Wirkung jedoch ist die gleiche. Seine letzten Bücher haben etwas Besoffenes. Ohne Punkt und Komma in durchgehender Kleinschreibung ergießt sich der Text über die Seiten. Ein Wort gibt das andere. Wie ein Franz Liszt auf der Schreibmaschine sprudelt der Dichter die Silben hervor: "ich bin ein engel der dämmerung meine knochen sind aus mark und mein mark aus knochen streng bin ich aber ungerecht mir ist zu trauen wie einer gewürzgurke aus dem supermarkt ich bin ein göttlicher gott und ein gottlicher göthe und ein anzen banzen tanzengruber der modernen mundartliteratur aus artmannpuchheim und keiner glaubt mir daß ich in sankt nachsatz am walde geboren sei unschuldig in die welt geschleudert um schuld um schuld auf mein dach zu laden daß die schindeln krachen ein schwindler aus überschwang ein schwunghafter becherschwenker ein schwankhafter schwänkeschwätzer ein bücherschwitzer ein schwicherbützer ein bi ba butzenmann der im eigenen hause herumgaustert und sich selbst mit seinen eigenen schatten erschreckt ... " So geht das weiter, ein endloser Bandwurm. Nicht der Kopf hat es diktiert, sondern der Bauch. Ein Tippfehler genügt schon, um Artmann auf ganz neue Gedanken zu bringen. Er wirft sich hinein in die Sprache, getrieben vom Dämon seiner Buchstabenkombinationen. Nach Sinn und Zweck des Ganzen soll man nicht fragen. Artmann: "Was dem einen sein Blatt fürs Poem, ist dem anderen sein Wisch für den Po."

So einfach ist das. Und doch: Als literarischer Hanswurst, als Sprachfex und launiger Equilibrist will er nicht gelten. Unverstanden fühlt er sich, aber zur Deutlichkeit ist er zu mutlos. Als sich eine junge Soziologin ernsthaft mit ihm unterhalten wollte, um herauszubekommen, was es mit seiner angeblichen Freiheit denn auf sich habe, zuckte er mit den Achseln und sagte: "Komm, Mädel, trinken wir lieber etwas zusammen." Ernsthaftigkeit findet er kitschig. "Als Österreicher zeigt man nicht, daß man mit dem Leben nicht fertig wird, das findet man peinlich. Da macht man lieber den Wurschtl."  Doch die Tarnkappe des Gauklers ist löchrig geworden. Als ihn die Schriftstellerin Karin Struck auf der Frankfurter Buchmesse erblickte, fand sie sein Äußeres so bestürzend, daß sie ihn fragte, ob er denn krank sei. Artmann: "Die dachte, ich hätte Krebs oder so was." Aber nein, Krebs hat er nicht, nur Ischias manchmal oder "seelisches Rheuma".

Die Mär vom epikureischen Genießer und lebenslustigen Draufgänger, die man ihm angehängt hat, hält einer Überprüfung nicht stand. Sie ist genauso legendenhaft wie das, was Artmanns Geschichten erzählen. Im Nachwort zu dem Gedichtband "Über die Liebe und die Lasterhaftigkeit" feiert ihn Elisabeth Borchert als einen, der sich "über alles ernstgemeinte Ernste und schöngedachte Schöne hinwegsetzt, respektlos und lustvoll, ausschweifend und süchtig". Doch im Kern dieser Lust nistet die Angst vor dem Ende. Jede Zeile, die Artmann geschrieben hat, birgt die Gefahren eines Salto mortale in sich. Er hat im Krieg gelernt, mit der Gefahr zu leben. Heute käme er ohne sie nicht mehr aus. Er braucht den Seiltanz und den drohenden Absturz. Seine Leitbilder sind die Selbstmörder und die Verrückten unter den Dichtern: Kleist, Hölderlin, nicht Goethe, nicht Schiller.

Das klassische Weimar wäre ihm ein Greuel gewesen, so wie er heute den PEN-Club verabscheut. Als sich 1973 gegen das Wiener PEN-Zentrum in Graz ein eigener Verein bildete, wählte man Artmann zum Präsidenten. "Es kann doch nicht sein", sagte er damals, "daß jeder, der irgendein Buch herausgebracht hat, und wenn es der größte Schmarrn ist, in so einen Club hineindarf. Es bißchen elitär muß man doch sein, wenn es um Kunst geht." Die Abspaltung erzeugte ziemlichen Wirbel. Heinrich Böll plädierte dafür, den Grazer Club in den internationalen PEN aufzunehmen, Peter Handke schickte seine Zustimmung schriftlich. Aber lange hielt es Artmann auch bei den Sektierern nicht aus. Mittlerweile hat er sein Amt wieder abgegeben: "Die Leute sind mir zu spießig geworden."

Er paßt eben nirgends hinein, außer in sein eigenes Ego, ein ewiger Einzelgänger, der die Freiheit wie ein Schneckenhaus mit sich herumträgt, ein Robinson Crusoe, ein Träumer auf verlorenem Posten. "Warum bin ich gerade so, wie ich bin?" fragt er sich manchmal. "Warum nicht anders?" Und er gibt sich gleich selbst die Antwort: "Schuld ist die Gottheit."

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Erschienen am 21. September 1979 im ZEIT-Magazin