André Müller

MAN LEBT,

WEIL MAN GEBOREN IST

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung durch Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Abschnitte. Das Recht der deutschsprachigen Aufführung oder Sendung ist nur vom Rowohlt Theater Verlag, Hamburger Straße 17, 21465 Reinbek, Tel.: 040 – 72 72 270, Fax: 040 – 72 72 276 zu erwerben. Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt.



Ich bin wahnsinnig erschöpft, weil ich die ganze Nacht nicht geschlafen hab’.

»Ja, wieso denn nicht?«

Das hab’ ich mich auch gefragt. Die einzige Erklärung ist, daß ich Angst vor möglichen Träumen hatte, die vielleicht mit dir zu tun gehabt hätten.

»Gott im Himmel.«

Fällt dir dazu schon was ein?

»Ich hab’ überhaupt keine Angst vor Träumen, weil ich finde, daß man nicht alles wirklich erleben muß. Ich glaub’, ich hab’ die meisten Erlebnisse in meinen Träumen gehabt.«

Schönere als in der Wirklichkeit?

»Kann man so sagen.«

Nachts?

»Nachts oder am Tag. Man stellt sich was vor, ob das in Wirklichkeit passiert oder im Traum, ist egal.«

Du sprichst von Wunschträumen.

»Ja, aber jetzt machen wir zuerst etwas Wirkliches.«

Findest du es unwirklich, daß wir hier sitzen?

»Ja.«

Warum?

»Ich freu’ mich, daß du gekommen bist. Das ist das Wirkliche.«

Aber ich bin gekommen, um ein Interview mit dir zu machen. Das habe ich dir am Telefon gesagt, und du warst einverstanden.

»Ja.«

Es ist vielleicht merkwürdig, die eigene Mutter für eine Zeitung zu Interviewen. Aber warum hast du zugestimmt?

»Ich weiß, daß du immer so Interviews machst mit Leuten, und ich werde dir ehrliche Antworten geben, aber meine Antworten natürlich.«

Ja, klar. Aber du hast gesagt, daß du es unwirklich findest.

»Was heißt unwirklich?«

Das frage ich eben.

»Also da muß ich wirklich an den Handke denken, der sein bestes Buch gemacht hat, indem er über den Tod seiner Mutter geschrieben hat, und als es erschienen war, hat er gesagt, er wird später noch mehr darüber schreiben.«

Genaueres.

»Ja, aber Gott sei Dank hat er das nicht gemacht.«

Warum Gott sei Dank?

»Weil das ihre Sache gewesen ist.«

Du meinst ihren Selbstmord.

»Ja, ich habe sie überhaupt nicht gekannt und nur einmal ein bißchen gehört darüber.«

Du hast das Buch gelesen.

»Ja, und Gott sei Dank hat er nachher darüber nichts mehr geschrieben.«

Erkläre mir, warum du sagst: Gott sei Dank.

»Weil das ihr Problem war, nicht seines.«

Meinst du, er hat sie ausgenutzt, um ein Buch zu schreiben?

»Irgendwie schon.«

Ich weiß jetzt auch nicht, ob ich mich wirklich für dich interessiere oder nur frage, weil ich ein gutes Interview machen will. Stört dich das?

»In keiner Weise.«

Na, was meinst du dann?

»Ich weiß nicht.«

Stört dich die Fotografin?

»Nein, ich finde sie sehr sympathisch.«

Du kennst sie doch gar nicht.

»Nein, aber das ist ganz wichtig«

Mir wäre lieber, du würdest mir eine Antwort geben.

»Auf was?«

Warum du sagst, es stört dich, daß der Handke über den Tod seiner Mutter schreibt, es stört dich aber nicht, daß ich mit dir ein Interview mache.

»Ich hab’ darüber viel nachgedacht.«

Warum hast du getrunken heute?

»Das habe ich überhaupt nicht getan.«

Aber ich merke es doch.

»Ja, das ist dein Problem … Also ich habe viel nachgedacht, warum der Handke dieses Buch geschrieben hat, komischerweise. Wie es herausgekommen ist, hat es mir jemand im Büro auf den Schreibtisch gelegt.«

Ja, der Handke versucht zu ergründen, warum sich seine Mutter das Leben genommen hat.

»Ich habe dir damals gleich gesagt, ich würde mich nie umbringen.«

Warum nicht?

»Weil ich weiß, daß man eines Tages sowieso stirbt, nicht, also das ist doch überhaupt kein Problem.«

Hast du auch während des Krieges nie daran gedacht, es zu tun?

»Nein, niemals.«

Du hast mir einmal erzählt, man trug damals Gift bei sich.

»Ja, das hatte ich.«

Wo trug man das?

»Ich habe es später in einen Teich geschmissen.«

Trug man das in einem Medaillon?

»Nein, ich weiß nicht, irgendwie habe ich es bei mir gehabt. Das hat mir ein Arzt in Deutschland gegeben.«

Was für ein Gift war das?

»Ich weiß nicht, wie es geheißen hat. Ich habe es gehabt. Man konnte sich damit umbringen. Aber ich habe mich nicht damit umgebracht.«

Wann hast du es bekommen?

»Das war 1945, wie ich aus Polen nach Deutschland gekommen bin.«

Hast du es gewollt?

»Nein, ein jüdischer Arzt hat es mir gegeben. Der hat gesagt, du kannst das haben, und wenn du nicht leben willst, dann kannst du das essen, und dann bist du tot, aber ich habe es in den Teich geschmissen.«

Wann?

»In Wien. 1949 bin ich nach Wien gekommen.«

Warum hast du es nach dem Krieg so lange behalten?

»Das weiß ich nicht. Um eine Chance zu haben.«

Eine Chance, dich umzubringen.

»Ja, aber ich habe es nicht getan.«

Nein, aber du hast das Gift, obwohl der Anlaß, aus dem du es bekommen hast, nämlich der Krieg, vorbei war, behalten.

»Ja, das ist ganz interessant. Ich denke eigentlich jetzt erst darüber nach. Ich habe es immer behalten.«

War es ein Gefühl der Freiheit, diesen Ausweg zu haben?

»Ja, ganz sicher, denn ich könnte mich nicht erhängen oder von einem Hochhaus herunterspringen.«

Du wolltest dir die Möglichkeit offenhalten, dich umzubringen.

»Nein, das könnte ich nicht.«

Aber dann sag doch, warum du es so lange behalten hast.

»Das ist mir ein Rätsel, aber eines Tages habe ich es in den Teich geschmissen.«

In einem Brief hast du mir einmal geschrieben, ich wäre nicht der Sinn deines Lebens, aber eine Zeitlang sei ich der Grund dafür gewesen, daß du dich nicht umgebracht hast, weil du ein kleines Kind nicht im Stich lassen wolltest.

»Ja, ganz richtig.«

Aber trotzdem hast du das Gift behalten. Das ist doch ein Widerspruch.

»Was ist da für ein Widerspruch?«

Einerseits sagst du, du hättest dich nie umgebracht, andererseits hast du das Gift behalten.

»Also ich hab’ dieses Gift gar nicht so wichtig genommen.«

Wo hast du es aufbewahrt?

»Irgendwo in der Tasche. Wieso hältst du dieses Gift für so wichtig?«

Ich glaub’, daß das die Leute interessiert.

»Aber das ist überhaupt nicht das Wichtigste in meinem Leben.«

Wo hast du es getragen während des Krieges?

»Während des Krieges hatte ich überhaupt kein Gift.«

Hat man es bekommen, um sich, wenn man vergewaltigt wird, töten zu können?

»Das weiß ich nicht. Ich bin von Polen nach Michendorf gekommen, und da haben sie mir das gegeben für den Fall, daß ich nicht überleben will.«

Aus welchen Gründen nicht überleben? Was war so schwer auszuhalten? Ich will das wissen, ich habe so was ja nie erlebt.

»Um eine Chance zu haben, nicht mitzumachen.«

Wobei?

»In einem Regime. Mir hat sich die Frage dann gar nicht gestellt, denn komischerweise bin ich nie vergewaltigt worden, weder von einem Mann noch von einem Regime. Ich habe mich mit meiner Vorstellung, wie man mit dem Leben fertig wird, einfach durchgesetzt.«

Du bist doch vom Hitler-Regime in gewisser Weise schon vergewaltigt worden.

»Nein, überhaupt nicht.«

Aber dieser Mann hat doch dein Leben sehr stark bestimmt.

»Ja, obwohl ich gar keine Ahnung hatte, daß es den überhaupt gibt.«

Hast du ihn denn nicht wahrgenommen?

»Ich habe überhaupt nicht gewußt, daß es den gibt. Ich war fünfzehn Jahre alt, als er einmarschiert ist, und ich hab’ überhaupt nicht gewußt, daß es den gibt.«

Wo warst du 1938?

»In Graz.«

Und er kam auch nach Graz?

»Ja, und da bin ich hinuntergegangen, ich war immer eine sehr gute Schülerin, und ich bin sehr gern in die Schule gegangen, und da bin ich hinuntergegangen, es war so ein Auflauf da, und ich hatte mich immer geärgert, daß einige Mitschülerinnen auf dem Klassenfoto vor mir gesessen sind, und bin also hinuntergegangen und hab’ gesehen, die standen schon da in weißen Uniformen, weißen Blusen und schwarzen Röcken, und ich war nicht dabei. Da habe ich gedacht, jetzt hast du schon wieder verloren, weil du nicht vorne stehst.«

Waren das Mädchen vom BDM?

»Ja, vom Bund deutscher Mädchen, und ich war wieder mal nicht dabei.«

Du konntest nicht dabei sein, weil dein Vater ein politisch Verfolgter war.

»Ja, aber das habe ich nicht gewußt, bis er aus dem KZ nach Hause gekommen ist. Ich habe nicht gewußt, daß es ein KZ gibt, bis er herausgekommen ist …« (weint)

Aber er muß doch gefehlt haben in der Familie.

»Ja, aber wo er war, wußte ich nicht.«

Wo hätte er denn sein können so lange?

»Ich habe es nicht gewußt.«

Wenn ein Vater sieben Jahre fehlt … (Sie hört nicht auf zu weinen … ) Wir können auch eine Pause machen. Warum erschüttert dich das jetzt so?

»Ich hab’ nicht gewußt, daß es ein KZ gibt. Ich bin die ganze Zeit in Polen gewesen.«

Du warst von der Familie weg.

»Ja.«

Wann bist du nach Polen gekommen?

»Ich war zuerst zum Arbeitsdienst eingezogen 1939 in Ochsenhausen bei Biberach.«

Das war die erste Station.

»Ja, und dann bin ich nach Polen gekommen.«

Was mußte man machen im Arbeitsdienst?

»Nichts, kochen oder Hauswirtschaft oder in den Außendienst gehen.«

Für andere Leute.

»Ja, sicher. Ich bin gekommen von Ochsenhausen nach Odolanow, nach Adelnau, das war schon in Polen. Ich bin in Polen geblieben bis 45.«

War das eine Strafe?

»Nein, das war ganz normal. Für mich war es die Rettung, denn sie hätten mich auch in ein KZ schmeißen können.«

Weißt du, warum sie es nicht getan haben?

»Nein, weiß ich nicht.«

Warum hast du dich für all das nie interessiert, für dein Leben? Weißt du wirklich nicht, warum du nicht ins KZ gekommen bist, und wann der Vater abgeholt wurde?

»Doch, das war in Wien.«

Damals wurden Christlichsoziale, Sozialdemokraten, Monarchisten und Kommunisten verhaftet. 50 000 politische Gefangene gab es damals in Österreich. Dein Vater war einer davon.

»Ja.«

Was war seine Position?

»Das weiß ich nicht.«

Du wirst doch wissen, was er von Beruf war, ich bitte dich.

»Er hat mir immer gesagt, wenn sie dich in der Schule fragen, was dein Vater ist, dann sag, du weißt es nicht. Heute weiß ich, daß er ein engagierter Gewerkschafter war, ein christlichsozialer.«

Landessekretär der christlichen Gewerkschaften war er.

»Ja, du weißt mehr als ich.«

Später ist er dann aufgestiegen.

»Ja, zum Regierungsrat.«

War er Regierungsmitglied?

»Nein, aber er war dann im KZ mit diesen Leuten zusammen, Schuschnigg, Seitz, Olah, Figl …«

In Dachau?

»Ja, unter anderem. Er war in verschiedenen Lagern.«

Das hast du mir nie erzählt.

»Er war ja ein Bauernsohn. Darum konnte er nicht ganz nach oben kommen, weil er keine Schulbildung hatte. Er ist von daheim fortgerannt, ohne auch nur eine Hauptschulbildung zu haben, und dann hat er einmal zu mir gesagt, ich habe alles gelesen von Karl May bis Goethe.«

Darauf war er stolz.

»Ja, ziemlich, aber er konnte nichts werden.«

Hoher Funktionär immerhin.

»Ja, und das war auch der Grund, warum ich nach dem Krieg nach Österreich kam. Er konnte mir eine Stellung verschaffen.«

Hat er mit dir nie über seine Zeit im KZ gesprochen?

»Wir hatten keine besonders gute Beziehung. Aber eine Geschichte hat er mir dann erzählt, die weiß ich noch … (weint) Er hatte Geburtstag, und er war sehr krank im KZ …«

Krebskrank.

»Ja, er hatte alles mögliche, und er hatte Geburtstag, und es gab einen Arzt im KZ, der auch ein Verfolgter war, und der hat ihm seine Brotration zum Geburtstag geschenkt.«

Und das rührt dich zu Tränen.

»Ja.«

Du bist, während du das alles erzählst, sehr erschüttert. Kannst du mir erklären, warum? Hast du deinen Vater so sehr geliebt?

»Irgendwie schon.«

Obwohl er dich, wie du mir einmal geschrieben hast, dauernd verprügelt hat?

»Ja, das war die Hauptsache.«

Das Prügeln.

»Ja.«

Du hast ihn trotzdem geliebt.

»Ja.«

Brauchst du ein Taschentuch?

»Entsetzlich, ich habe ihn trotz allem sehr gern gehabt.«

Warum bist du verprügelt worden?

»Ach, weil ich ein entsetzliches Kind gewesen bin.«

Was hast du angestellt?

»Ach, was hab’ ich in meinem Leben nicht alles aufgeführt …«

Wofür bist du geprügelt worden vom Vater?

»Also zum Beispiel dafür: Meine Mutter ist gestorben …«

Als du fünf warst.

»Ja, zirka, dann hat mein Vater eine neue Mutter geheiratet, ich weiß überhaupt nicht, warum ich gegen die etwas hatte, weil ich habe ja zu meiner richtigen Mutter gar keine besondere Beziehung gehabt, also da bin ich hingegangen … Das erzähle ich, damit ihr eine schöne Geschichte kriegt …«

Das ist nett.

»Da bin ich zu einem Standl gegangen und habe mir irgendetwas gekauft auf dem Schulweg und hab’ gesagt, na, meine neue Mama wird das schon zahlen. Irgendwann war das dem Standl zu viel, und da hat die Standlfrau bei meiner Familie nachgefragt, na, wann wird das bezahlt. Ich hab’ mir jeden Morgen dort Orangen oder irgendetwas gekauft. Dafür hat mich mein Vater halb … »

Halbtot geprügelt.

»Na, net halbtot.«

Aber das wolltest du sagen.

»Na ja, es wär’ mir beinahe außig’rutscht, aber es stimmt net, weil er hat mich ja nur so lange prügeln können, bis die Rute kaputt war.«

Also die war Gott sei Dank früher kaputt als du.

»Aber sicher, denn ich hab’ ja überlebt, wie du siehst.«

Hast du die Orangen gekauft aus Haß gegen die Stiefmutter, oder weil du sie haben wolltest?

»Das weiß ich nicht. Ich hab’ ja mit meiner richtigen Mutter gar nichts zu tun gehabt.«

Stiefmütter mag man ja nie.

»Ja, aber dazu muß ich gleich sagen, meine Stiefmutter mag ich im nachhinein schon.«

Sie ist ja dann bald gestorben.

»Ja, aber ich schätze sie.«

Du redest von deiner dich zu Tränen rührenden Liebe zu deinem Vater, gleichzeitig sagst du, er hat dich halbtot geprügelt.

»Da muß ich dir gleich erzählen, wie er gestorben ist, da hab’ ich nämlich überhaupt nicht geweint. Das war ein grauenhaftes Ereignis.«

1955.

»Ja, aber zwei Jahre später bin ich dann mal zu dem Friedhof gefahren, und da hab’ ich gedacht, jetzt ist er gestorben …«

Jetzt fangst schon wieder zu heulen an. Immer wenn du an diesen Mann, der dich halbtot geschlagen hat, denken mußt …

»Wieso, ich heul’ ja überhaupt nicht.«

Aber du bist nahe daran. Ich versuche es halt zu verhindern, weil es ungerechtfertigt ist, wenn du es nicht begründest.

»Also, ich begründe dir das. Er ist also gestorben, hab’ ich gedacht, der einzige Mensch, der über mich alles weiß, der mich gekannt hat von Anfang an, lebt nicht mehr.«

Danach kam die Einsamkeit.

»Ja, es war niemand mehr da, der wußte, wie ich geboren bin, das habe ich entsetzlich gefunden.«

Und du hast ihm nichts übelgenommen?

»Nein, ich habe ihm nicht einmal übelgenommen, daß er mich dauernd verprügelt hat.«

Immerhin hast du daraus die Lehre gezogen, mich nicht zu verprügeln, was dir eh schwer gelungen wäre als Frau.

»Ich habe dich nie verprügelt.«

Nein, und du hast mir geschrieben, das war deine Konsequenz aus den Erfahrungen mit deinem Vater. Also hast du doch offenbar abgelehnt, was er tat.

»Ja, das ist richtig. Ich hätte das nie gemacht. Als wir nach Wien gekommen sind, hast du einmal in seiner Wohnung die Wände bekritzelt, sowas macht ein Kind schon, und ich habe ihm verboten, dich dafür zu bestrafen. Das war meine einzige Auseinandersetzung mit ihm. Er hat gesagt, wenn du weiter das Kind so erziehst, dann wird es einmal ein Verbrecher.«

Vielleicht hat er recht gehabt.

»Nein, wieso? Du bist kein Verbrecher geworden. Ich hab’ zu ihm gesagt, nein, er wird kein Verbrecher.«

Warst du dir völlig sicher?

»Ja, da war ich mir völlig sicher.«

Warum?

»Weil einer kein Verbrecher ist, der eine Wand bekritzelt.«

Gut, aber ich möchte wissen, warum du so sicher warst, daß aus mir kein Verbrecher wird. Hast du gemeint, daß du darauf einen Einfluß hast?

»Nein.«

Warum warst du dann sicher?

»Weil man immer die Hoffnung hat, daß die eigenen Kinder keine Verbrecher werden.«

Die Hoffnung.

»Ja.«

Du hast aber nicht gesagt, ich hoffe, er wird kein Verbrecher, sondern, ich bin mir sicher.

»Ja, ich hab’ das gewußt.«

Warum?

»Das weiß ich nicht.«

Weil ich aus deinem Fleisch und Blut bin und du dich für einen guten Menschen hältst?

»Bestimmt nicht.«

Eigentlich bin ich ein fremder Mensch für dich.

»Ja, richtig, ganz richtig, eigentlich. Natürlich hat man da gar keine Chance als Mutter.«

Gott sei Dank.

»Ich bin sicher, was du aus deinem Leben gemacht hast, ist deine Sache. Meine einzige Sache war, daß ich dich auf die Welt gebracht hab’.«

Das war vielleicht sträflich.

»Wieso?« (lacht)

Wie waren die Umstände meiner Geburt? Erzähle mir das.

»Darüber möchte ich nicht …«

Aber das ist ein zentrales Thema. Ich möchte jetzt endlich wissen, wie ich entstanden bin.

»André, das kann ich dir wirklich einmal erzählen, aber wenn wir alleine sind.«

Hast du Hemmungen, weil das Tonband läuft?

»Nein.«

Dann erzähl’ mal.

»Du willst wissen, wie du auf die Welt gekommen bist?«

Ja, das will ich wissen.

»Also, eines Tages kam der Herr Monsieur Rouanet nach Michendorf …«

Was war der? Woher kam der?

»Der kam aus einem Strafgefangenenlager in Polen. Sie mußten, wenn sie gefangen wurden, versuchen, zu fliehen.«

Sie wollten es.

»Ja, und ihm ist das zweimal mißlungen, anscheinend, und so kam er in ein Strafgefangenenlager im Osten, und wie die Russen gekommen sind, haben sie diese Leute befreit, da kam er nach Michendorf, nicht alleine, es waren noch mehr Ex-Gefangene, alles Franzosen, die sind nach Michendorf gekommen und wurden von der Bäurin, bei der, ich wohnte, auch aufgenommen. Wir haben ihnen zu essen gegeben.«

Warum haben sie gerade dort Halt gemacht?

»Weil sie was zu essen bekommen haben.«

Das war ein Bauernhof, auf dem auch du zufällig beschäftigt warst.

»Ich war dort, und die sind auch dort geblieben.«

Wie ging es weiter?

»Ja, dann sind die anderen weggezogen, und er ist geblieben.«

Mein Vater.

»Ja.«

Deinetwegen?

»Das weiß ich nicht.«

Hat er sich in dich verliebt?

»Vor allem hat die Bäurin großen Wert darauf gelegt, daß er bleibt, weil doch dort Russen waren.«

Als Schutz gegen die Russen.

»Ja, obwohl …«

Damit die Russen die Frauen in Ruhe lassen.

»Ja, aber mich hat kein Russe je vergewaltigt.«

Du hast mir einmal erzählt, einer hat es versucht.

»Ja, ganz richtig, aber davor hat mich ein anderer Russe bewahrt, den vergeß ich nie, der hätte seinen eigenen Landsmann umgebracht, nur um mich davor zu bewahren.«

Wie kam es dazu? Beim Spazierengehen?

»Um Himmels willen, in Michendorf haben die Russen geherrscht, und man war mittendrin, und der hat mich haben wollen, und dann ist dieser andere Russe, den vergesse ich nie, gekommen, der hätte den umgebracht, nur um mich zu beschützen.«

Kamen die Russen in euer Haus?

»Die haben doch dort gewohnt, das war ein wunderschönes Haus, da haben die gewohnt, wir haben im Keller gewohnt, die Russen oben.«

Ja, wie ging das vor sich? Überfiel dich der auf der Treppe?

»Wer?«

Der Russe.

»Nein, wir mußten, um Gottes willen, i waß net … Daß man des alles no amal derzöhlen muaß …«

Tut mir leid, es ist nötig.

»Wir mußten denen das Badewasser bereiten, ich weiß nicht, ob sich das heute noch einer vorstellen kann.«

Wenn du es gut erzählst, schon.

»Wir mußten das Bad bereiten und haben uns so scheußlich wie möglich gemacht. Ich war damals einigermaßen schön und mußte dem das Badewasser bereiten.«

Ihr habt euch verunstaltet.

»Ja, die Mädchen, damit man möglichst scheußlich aussah.«

In welcher Form? Habt ihr euch das Gesicht verschmiert?

»Ja, um möglichst scheußlich auszusehen, aber ich mußte dem das Badewasser bereiten, und da wollte der eben mit mir etwas machen.«

Im Badezimmer?

»Na, da war ka Badezimmer, sondern a Badewann’ in der Gegend, im Freien. Warum interessiert dich das so? Das wichtigste ist, daß einer gekommen ist, das werd’ ich dem nie vergessen, das war einer von dieser Siegermacht sozusagen, der hat dann vor meinem Zimmer geschlafen, damit mir niemand was tut.«

Der andere Russe.

»Ja, der hat gesagt, er hat auch eine Tochter.«

Auf russisch?

»Ja, sicher.«

Wie hast du denn das verstanden?

»Man kann in allen Sprachen miteinander reden. Er hat gesagt, er hat auch eine Tochter, und er würde nicht wollen, daß der so was passiert …« (weint)

Immer wenn dir Gutes widerfahren ist, rührt dich das so, daß du weinst. Gehst du davon aus, man verdient das nicht, obwohl es doch das Selbstverständlichste ist, daß man einer Frau, die in Gefahr ist, zu Hilfe kommt?

»Ja, ich bin trotzdem dankbar.«

Weil du es für die Ausnahme hältst und meinst, die Menschen sind an sich Ungeheuer?

»Nein, überhaupt nicht. Zu mir sind die Menschen immer sehr nachsichtig gewesen. Ich bin ihnen dankbar.«

Das stimmt nicht. In deinen Briefen klingt auch eine große Verachtung durch, zum Beispiel gegenüber Hundebesitzern, die du am liebsten abstechen würdest.

»Ja, die …«

Die Selbstzufriedenen.

»Ja.«

Die haßt du doch.

»Nein, die hasse ich nicht, sondern ich bewundere sie, weil sie immer so sicher sind, so selbstsicher. Ich zweifle ständig an mir.«

Kannst du dir vorstellen, Böses zu tun?

»Umbringen könnte ich niemand.«

Warum weißt du das?

»Ich hab’ es erlebt im Krieg. Ich hatte eine Waffe, und ich habe gelernt, damit umzugehen, aber ich habe mich entschieden mit achtzehn, neunzehn, daß mein Leben nicht mehr wert ist als das eines anderen.«

Du hattest eine Waffe?

»Ja, ich habe Eierhandgranaten bei mir getragen, ich habe eine Pistole gehabt, ich habe Munition gehabt, ich habe gelernt, wie man aus einer bestimmten Entfernung auf jemanden schießen muß, damit man ihn umbringt.«

Warum bekamen die Frauen Handgranaten?

»Damit man sich verteidigen kann, wenn die Russen kommen.«

Bist du je in dieser Situation gewesen?

»Natürlich, aber ich habe mich nicht verteidigt.«

Wie hast du dann überlebt?

»Das war ein Glücksfall.«

Es wurde geschossen.

»Na sicher.«

Und du hast gewartet, ob du getroffen wirst.

»Ja, ganz sicher. Ich habe mir damals gedacht, du wirst keinen umbringen, denn dein Leben ist nicht mehr wert als das eines anderen.«

Bist du in Deckung gegangen?

»Gar nicht. Ich bin weitergegangen.«

Im Kugelhagel?

»Im Kugelhagel, und zufällig hat mich keiner getroffen.«

Das klingt ja jetzt furchtbar edel.

»Ja, aber so war es.«

Du bist zu Fuß von Polen bis fast nach Berlin gegangen.

»Ja, aber das war kein großes Problem. Es sind ja damals alle vom Osten nach Westen gegangen. Die deutschen Soldaten waren schon vorher geflohen. Hinter uns waren die Russen.«

Und die Fliehenden hatten Waffen?

»Ja, die hat man auch oft gefunden. In den verlassenen Lagern konnte man alles finden. Ich hab’ dort zum Beispiel zum erstenmal so amerikanisches Fleisch gesehen in Dosen. Dort konntest du alles finden, in diesen zerschossenen Lagern.«

Du hast mir einmal erzählt, der Vergewaltigung seist du nur deshalb entgangen, weil du gesagt hast, dein Leben sei dir egal, da hätte der Russe die Lust verloren.

»Na, auf jeden Fall ist dann der andere Russe gekommen, der hätte seinen eigenen Landsmann erschossen.«

Glaubst du, daß man durch Passivität etwas erreichen kann?

»Das weiß ich nicht, ehrlich gesagt, aber daß es möglich ist, durch Inaktivität zu siegen, das glaube ich schon. Heute weiß ich, daß das nicht immer geht, aber es ist eine Möglichkeit.«

Gegen Hitler durfte man nicht nur passiv sein.

»Nein, bestimmt nicht.«

Du hast oft erlebt, daß Frauen Männern ausgeliefert sind aufgrund ihrer Schwäche und ihres Geschlechts. Hast du dir jemals gewünscht, ein Mann zu sein?

»Nein, überhaupt nicht. Ich hatte wirklich sehr schöne Erlebnisse, weil ich eine Frau bin.«

Welche?

»Viele.«

Sag doch mal, worin liegt der Vorteil für dich, eine Frau zu sein?

»Daß man geliebt wird.«

Du meinst, als Frau wird man mehr geliebt?

»Des waß i net. So was hab’ ich mir nie überlegt.«

Die Feministinnen haben sich das sehr überlegt.

»Also wie diese Feministinnen auf den Plan getreten sind, habe ich mir gedacht, was für ein Blödsinn, ich will nicht gleichberechtigt sein, sondern ich will es besser haben.«

Du meinst, die Männer haben es auch nicht gut.

»Natürlich nicht. Ich hätte zum Beispiel nie darauf verzichten wollen, daß mir ein Mann die Tür aufmacht oder mir in den Mantel hilft.«

Darauf kann ich verzichten.

»Na, ich nicht.«

In einem Brief hast du mir einmal geschrieben: Ich war immer die Unterlegene.

»Kannst froh sein, daß ich alles wegschmeiße, was ich geschrieben habe.«

Ich habe es nicht weggeschmissen.

»Leider.«

Hier ist es. Lieber Sohn, schreibst du, ich bin gerade am Ende meiner Philosophie, ich verliere ständig in der Auseinandersetzung mit meiner Umwelt, ich werde böse und rachsüchtig, die Biester können alles besser als ich, Nudelsuppe kochen, Fenster putzen, Männer becircen, Kinder erziehen, nur eines ist ihnen nicht gelungen, einen solchen Sohn zu bekomment, am Ende habe ich doch gewonnen.

»Also gut.«

Was ist dazu zu sagen?

»Daß du es hättest wegschmeißen sollen, entsetzlich.«

Warum?

»Ich schmeiße alles weg, was du schreibst.«

Weil es dich nicht interessiert.

»Nein, weil ich denke, wenn ich nächstes Jahr oder in zehn Jahren sterbe …«

Soll das eine Drohung sein?

»… mußt du den ganzen Käse nicht wegtransportieren.«

Dauernd sagst du, daß du bald sterben wirst.

»Nein.«

Und dann lebst du ewig.

»Bestimmt nicht.«

Du hast mir einmal erzählt, du hättest überlegt, ob du dich umbringen sollst, damit ich frei bin.

»Das habe ich bestimmt nicht erzählt.«

Du verdrängst alles.

»Nein, aber ich bin gar nicht imstande, mich umzubringen.«

Mir hast du trotzdem damit gedroht.

»Wie sich die Mutter vom Handke umgebracht hat, hab’ ich dir gleich gesagt, das kann ich nicht.«

Vorher, ich glaub’, ich war neunzehn, hast du mir geschrieben, du würdest dir nie verzeihen, mich geboren zu haben, weil ich ja andauernd sterben wollte.

»Heute bin ich davon überzeugt, daß ich das beste Kind der Welt auf die Welt gebracht hab’.«

Das hilft mir überhaupt nichts.

»Sicher, du mußt mit dir allein fertig werden.«

Deine Hauptbeschäftigung im Krieg war es, zu überleben.

»Ja, ich bin von Osten nach Westen gegangen und hab’ geschaut, daß ich was zum essen und zum anziehen bekommen hab’. Es war mein Problem zu überleben.«

Das war das Problem aller zu dieser Zeit. Man kam gar nicht auf die Idee, sich nach dem Sinn des Lebens zu fragen.

»Nein.«

Aber ich hab’ mich das schon gefragt.

»Du willst immer nur, daß es um dich geht. Du willst wissen, warum du auf die Welt gekommen bist. Also gut, ich habe dich bekommen, und in Michendorf war ein Arzt, weil ja viele Frauen … Ich bin zwar nicht gerade vergewaltigt worden von deinem Vater, aber fast, und da hat der Arzt gesagt, wenn du nicht willst, brauchst du das Kind nicht bekommen, du sagst mir, daß ein Russe dich vergewaltigt hat, und dann machen wir eine Abtreibung. Aber ich hab’ gesagt, das will ich nicht, ich weiß nicht warum, wahrscheinlich weil ich so katholisch erzogen war, ich hab’ gesagt, nein, und das ganze Dorf hat sich gefreut und das Kind wirklich gern gehabt …« (weint)

Das rührt dich jetzt wieder.

»Ja.«

An mich hast du dabei überhaupt nicht gedacht, ob es für ein Kind unter solchen Umständen gut ist, geboren zu werden. Da könnte ja ich jetzt heulen. Findest du es heroisch, nicht abzutreiben?

»Nein, aber wenn alle abtreiben, wären heute weniger Leut’ auf der Welt.«

Das wäre ja wunderbar. Es gibt eh zu viele.

»Das ist richtig, weil sie ja eh schon über den Erdkreis purzeln. Das ist ganz richtig.«

Ich unterstelle dir glatt, du hast das für dich getan.

»Ja, ganz sicher.«

Ganz egoistisch. Du wolltest ein Kind haben. Aus welchem Grund?

»Des waß i net.«

Na, jetzt denk einmal nach. Hattest du Hoffnungen?

»Ja, nicht allein zu sein. Das war ganz sicher ein Grund.«

Du wolltest einen Ersatz für den Mann, meinen Vater, der dich verlassen hat.

»Na, einen Ersatz für den sicher nicht.«

Auf den hast du leicht verzichtet?

»Ja.«

Hast du ihn nicht geliebt?

»Nein.«

Nie?

»Nie.«

Du wolltest aber mit ihm nach Frankreich gehen.

»Na ja, wir sind bis zur Grenze gegangen, nach Magdeburg, aber ich hatte keine Chance, da hinüberzukommen in die britische Zone.«

Wußtest du schon, daß du schwanger warst?

»Ja, sicher, aber ich hätte in so ein Lager müssen, bis man hätte nachweisen können, wer ich bin, ich hatte ja keine Papiere, die hatten sie mir geklaut, wie ich von Osten nach Westen gegangen bin. Da habe ich mir gedacht, ich möchte das Kind nicht im Lager kriegen, und bin zurückgegangen nach Michendorf.«

Du wärst aber nach Frankreich gegangen, wenn es leichter gewesen wäre.

»Wenn es einfach gewesen wäre, ja, aber es war nicht einfach, also bin ich zurückgegangen nach Michendorf.«

Warum hattest du überhaupt mit dem Gedanken gespielt, mit einem ungeliebter Mann mitzugehen?

»Damit das Kind ein ordentliches Zuhause hat.«

Einen Vater.

»Ja.«

Was war er denn von Beruf?

»Versicherungsbeamter. Vielleicht ist er es noch. Ich weiß nicht einmal, ob er gestorben ist.«

Du weißt nicht, ob er noch lebt?

»Nein.«

Du hast vorher gesagt, du seist bei meiner Zeugung fast vergewaltigt worden.

»Ja, aber darüber möchte ich wirklich nicht sprechen.«

Hat mein Vater dich überredet?

»Das nicht.«

Was ist denn so heikel daran, das zu erzählen? Ich finde das eine Rücksichtslosigkeit mir gegenüber. Ich hab’ doch ein Recht darauf, zu erfahren, wie ich entstanden bin. Du bildest dir ganz schön viel ein auf deine Geheimnisse, und du bist in deiner Geheimnistuerei ziemlich brutal, denn ich habe über mich dadurch Null Ahnung, und das stellst du dann noch als edel hin. Dabei ist es eine Lieblosigkeit mir gegenüber, daß du mir das bis heute verschwiegen hast. Du hast dich immer geweigert, mir das zu erzählen. Aber ich habe ein Recht darauf. Du wirst mir doch sagen können, wie ich entstanden bin, ob das im Heu war, auf dem Klo, im Krankenhaus, ob dich der Mann einfach genommen hat, ob du Spaß dabei hattest …

»Auch dieser Mann hat ein Recht.«

Ach was, der ist dir doch scheißegal, lüg nicht. Ob der lebt oder tot ist, was der denkt, ist dir doch immer egal gewesen. Der weiß doch gar nichts. Rede dich nicht auf den Mann heraus.

»Mach ich doch gar nicht.«

Gut, dann erzähle mir, wie ich entstanden bin. Wenn ich dieses Leben schon verabscheue, will ich zumindest den Anfang wissen.

»Also wenn ich mir vorstelle, ich wäre jemals auf die Idee gekommen, meine Eltern, die ja Gott sei Dank alle gestorben sind, zu fragen, wie ich entstanden bin …«

Du hast es ja gewußt, die waren ja verheiratet, das war ein Ehepaar, die haben wahrscheinlich im Bett miteinander geschlafen.

»Wieso? Wer weiß, was die gemacht haben.«

Immerhin ist es naheliegend. Die haben sich wohl geliebt.

»Also, ich habe mit deinem Vater geschlafen, und er hat gesagt, ich möchte, wenn wir ein Mädchen bekommen, daß es so schön ist wie du, und wenn wir einen Sohn bekommen, daß er so tüchtig ist.«

Das ist ja keine Vergewaltigung.

»Nein, wir haben einander auch nicht vergewaltigt.«

Warum sagst du dann, er habe dich fast vergewaltigt?

»Na, was hast du dir vorgestellt?«

Du erzählst eine harmlose Geschichte, bei der du gut dastehst, und ich weiß noch immer nichts.

»Na, es war so, wenn ich mit ihm nicht geschlafen hätte, wäre ein anderes Mädchen von ihm vergewaltigt worden.«

Das wußtest du.

»Das wußte ich, ja.«

Hast du mit dem Mädchen gesprochen?

»Na, sicher.«

Das muß doch furchtbar für dich gewesen sein.

»Wieso?«

Du wußtest, der wollte eigentlich eine andere. War die schöner als du?

»Nein, die war schiacher und dicker.«

Warum wollte er die?

»Des waß i net. Die Männer waren doch in diesen Kriegswirren damals …«

Wie Schweine.

»Na, das möcht’ ich nicht sagen. Sie waren einfach ohne Kontrolle.«

Also die andere wollte er eigentlich.

»Ja, und die ist lange Wege mit mir gegangen …« (weint)

Sie war deine Freundin.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie das damals gewesen ist.«

Darum will ich’s ja wissen. Darum frage ich dich.

»Die Männer sind wie die Wilden herumgerannt.«

Und deine Freundin hat dich gebeten.

»Ja, und ich habe versucht, ihr zu helfen.«

Wie?

»Ich hab’ zu ihr gesagt, verschwind.«

Da stand mein Vater daneben?

»Nein, aber er hat in dem Haus gewohnt.«

Du hast dich als Ersatz angeboten?

»So kann man es auch nicht sagen.«

Warst du noch Jungfrau damals, mit zweiundzwanzig?

»Na sicher.«

Also bin ich entstanden bei deiner Entjungferung.

»Ja.«

Warum hast du so spät erst mit einem Mann geschlafen?

»Na, ich hab’ überhaupt keine Lust gehabt.«

Du hattest andere Sorgen.

»Ganz sicher.«

War es schmerzvoll? Beim ersten Mal tut es ja meistens weh.

»Also, paß auf, über meinen Sex schreibst du nichts in der Zeitung, überhaupt nichts, das kannst mit wem anderen machen, aber ganz bestimmt nicht mit mir.«

Was ist denn dabei? Willst du in die Geschichte eingehen als Heilige?

»Nein, aber ich red’ über solche Sachen überhaupt nie.«

Das war mein Unglück. Ich hab’ dich auch nie einen Mann küssen sehen, obwohl du einen Freund gehabt hast nach meinem Vater. Du warst für mich ein geschlechtsloses Wesen. Ich hab’ mir als Kind gedacht, du bist die Jungfrau Maria und ich bin der Jesus. Das hat mich total überfordert.

»Das ist aber dein Problem.«

Natürlich.

»Das kannst mir nicht vorwerfen bis an mein Lebensende.«

Nein, aber fragen kann ich. Hast du es toll gefunden, dich vor mir so zu beherrschen?

»Blödsinn.«

Du machst ja noch jetzt ein Geheimnis daraus.

»Aus was?«

Aus deinem Liebesleben.

»Das geht dich sozusagen überhaupt nichts an.«

Das finde ich schlimm. Ich hätte mich beinahe umgebracht, verstehst du? Das ist eine ganz dumme Einstellung von dir. Du hast dich mir gegenüber immer als eine Heilige dargestellt. In Briefen habe ich dich Madonna genannt. Ich war dir ja ausgeliefert.

»Wieso bist du mir ausgeliefert?«

Als Kind ist man den Eltern doch ausgeliefert. Ich hab’ ja niemanden sonst gehabt außer dir. Wieso ist es so fürchterlich; über Sex zu reden?

»Das ist überhaupt nicht fürchterlich.«

Ich frage dich, ob es lustvoll war, mit meinem Vater zu schlafen.

»Na ja, net besonders.«

Hast du Sexualität je als lustvoll empfunden?

»Ja, sicher.«

Später?

»Ja.«

Hätte ja sein können, daß für immer ein Abscheu bleibt.

»Nicht im geringsten.«

Hast du eine Vorstellung, warum ich davon nie etwas mitgekriegt habe?

»Nein, ich meine, erzählen andere Eltern davon?«

Bei anderen sieht man es ja, daß sie sich lieben. Die schlafen im Nebenzimmer.

»Ja, das war natürlich bei uns nicht drin.«

Aber du hattest den Fred, deinen Freund.

»Wir haben auf dich Rücksicht genommen.«

Du meintest, es würde mir schaden, wenn ich sehe, daß ihr euch liebt?

»Ja, aber ich glaube, jetzt sind wir bei deinen Problemen und nicht bei meinen.«

Ist das verboten? Ich werde doch fragen dürfen. Warum hast du gemeint, es sei rücksichtsvoll, einem Kind das nicht zu zeigen? Bist du so erzogen worden?

»Ganz sicher. Ich bin katholisch erzogen worden, und obwohl ich heute keiner Kirche mehr angehöre, denke ich immer noch, wenn ich etwas Schlechtes mache, der liebe Gott sieht das. Ich habe Angst irgendwie.«

Vor Bestrafung?

»Ja, das ist eine Erziehung, die sicher nicht richtig ist. Obwohl ich sage, es gibt keinen Gott, habe ich Angst vor ihm. Ich denke, der sieht das alles und hört das alles.»

Und er erlaubt keine Lust? Belohnt wird das Leiden?

»Ja, richtig, das ist ganz richtig.»

Immer, wenn du Lust empfunden hast, hast du gedacht, das sieht er nicht gern.

»Ja, richtig, davon kommt man nicht so ohne weiteres los.«

Dein Vater hat dir zum ersten Geburtstag geschrieben, als du noch nicht einmal sprechen konntest: Bleibe stets brav, mach uns, deiner Mutter und mir, damit Freude, lerne früh den Kampf des Lebens kennen, sei ihm immer gewachsen, dazu brauchst du Grundsätze, diese bietet dir unsere Religion …

»Ja, entsetzlich, wenn man sich das heute vorstellt. Ich würde einem Kind das nie sagen.»

Aber solche Sätze gibt es auch heute noch. Brauchst dir nur den Papst anzuschauen.

»Um Gottes willen, erinnere mich nicht an den. Der fährt die ganze Zeit in der Welt spazieren. Den hätten sie hinter dem Eisernen Vorhang einsperren sollen. Das ist der Mensch, der am meisten spazieren fährt auf der Welt.«

Ist das ein Fehler?

»Es hat Päpste gegeben, die sind im Vatikan gesessen und haben nachgedacht und etwas Gescheites zustande gebracht. Einer, der dauernd reist, hat doch gar keine Zeit, nachzudenken. Aber ich möchte mich dazu nicht äußern. Der jetzige Papst hat doch nichts zustande gebracht, außer daß er gesagt hat, jeder soll so viele Kinder wie möglich kriegen.«

Daran hast du dich ja gehalten.

»Nein.«

Du hast nicht abgetrieben.

»Doch, ich hab’ später abgetrieben.«

Ach, wann war denn das?

»Das sollte man eigentlich gar nicht sagen. Das darfst du nicht schreiben.«

Warum hast du abgetrieben?

»Ja, weil es unmöglich war, noch ein zweites Kind zu ernähren.«

War das in den fünfziger Jahren?

»Ja.«

War es damals schwer, abzutreiben?

»Ja, das war echt schwierig, weil das in so einer Hexenküche passierte, illegal, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

Erzähle.

»Ich bin zu einer Freundin gegangen, die kannte so einen Arzt, eigentlich war es noch keiner, sondern der war nur Student, der hat das gemacht. Zum Glück ist es gut ausgegangen.«

Hast du moralische Bedenken gehabt?

»Nein, damals nicht mehr, denn der Katholizismus hat mir in dieser Situation überhaupt nicht geholfen. Das Problem war, daß das sehr teuer war, 5000 Schilling, und ich hab’ damals vielleicht tausend netto verdient im Monat.«

Also du hast meinetwegen abgetrieben, hast es schwer gehabt, hast Opfer gebracht, und der, für den du das alles getan hast, kam dauernd und sagte, er will nicht leben. Wie bist du damit fertig geworden?

»Komischerweise habe ich das nicht als besonders empfunden. Ein Mensch kommt auf die Welt, er muß selber schaun, wie er mit seinem Leben zurande kommt. Das ist nicht meine Sache.«

Aber du hast das schon ziemlich tragisch genommen, denn du hast mir geschrieben, du würdest dir nie verzeihen, mich geboren, man könnte auch sagen, mich nicht abgetrieben zu haben.

»Komischerweise hab’ ich das völlig vergessen.«

Darum erinnere ich dich daran.

»Aber ich weiß ganz genau, wie ich in Michendorf war, an den Doktor kann ich mich noch erinnern, das war so ein netter, älterer Herr, und der hat gesagt, willst oder willst nicht, und ich hab’ gesagt, ja, ich will.«

Ich versteh’ immer noch nicht, warum.

»Ja, dann frag’ tausend Mütter, warum sie abtreiben und nicht abtreiben.«

Na, ich frag’ nur die eine.

»Warum ich es einmal gemacht habe und einmal nicht.«

Um nicht allein zu sein.

»Ganz sicher, ja. Es war einfach für mich damals unmöglich, dich abzutreiben.«

Liebt man das Kind schon im Bauch?

»Ja, sicher.«

Hast du dir gedacht, da bekomme ich etwas ganz Tolles?

»Damit habe ich mich gar nicht auseinandergesetzt.«

Wie hast du dir gewünscht, daß ich werde?

»Ich hab’ mir gewünscht einen Sohn, blond und mit blauen Augen.«

Sollte der lieb zu dir sein?

»Das war mir vollkommen wurscht.«

Das stimmt nicht.

»Wieso?«

Man ist, wenn man keinen Mann hat, schon liebesbedürftig als Mutter.

»Natürlich, das kann ich gar nicht bestreiten.«

Aber ich war ja sehr bald nicht mehr lieb. Du hast verlangt, daß ich dich küsse, und ich hab’ das verweigert.

»Weiß ich gar nicht.«

Dein Gedächtnis ist wie ein Sieb.

»Ist doch gut. Man vergißt, was man nicht wissen will.«

Das ist lebensfeindlich, so wenig interessiert zu sein an den Dingen.

»Wieso? Ich lebe sehr gern.«

Du interessierst dich aber nicht für dein Lebens Du reist mehr als der Papst. Zum Denken kommst du so nie.

»So a Bledsinn, weil i amal heuer in Rußland war.«

In Ungarn warst auch.

»Na und?«

Du hast mir einmal gesagt, im Krieg war es leichter, weil man nicht zum Nachdenken gekommen ist.

»Ja, weil man zu tun hatte, wie man von Ost nach West oder zu einem Stück Brot gekommen ist, und das war ganz sicher leichter als wenn man vollgefressen dasitzt und nachdenken muß, wozu man lebt.«

Oder, wozu man gefressen hat.

»Ja.«

Diese Situation hat deine Generation nie erlebt, dazusitzen und nachzudenken.

»Nein, wir waren damit beschäftigt, Häuser zu bauen, den Schutt wegzuräumen, Wohnungen einzurichten. Jetzt ist das alles da. Was sollt ihr jetzt machen, oder die, die noch nach dir kommen?«

Ich konnte ja lernen, zu denken.

»Ja, aber das konnten nicht alle.«

Das ist sowieso besser, denn dann kommt man nicht auf die Idee, daß es zum Beispiel erniedrigend ist, das Gute zu wollen, wissend, daß es das Böse auch geben muß.

»Ja, weil man sonst gar nicht wüßte, was das Gute überhaupt ist.

Also war Hitler nötig?

»Heute denke ich über so etwas nach.«

Der Hitler hat übrigens seine Mutter heiß und innig geliebt.

»Das ist ja kein Argument für Gut oder Böse, ob einer seine Mutter liebt oder haßt. Ich hab’ mich mit dem Hitler überhaupt nicht beschäftigt, komischerweise.«

Ja, das ist wirklich komisch.

»Ja, weil er in meinem Leben und in meiner Generation eine wichtige Rolle spielte. Aber ich war ja in Polen.«

Hast du ihn im Radio gehört?

»Nein, ich habe, das sollte ich vielleicht auch einmal sagen, bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr niemals Zeitung gelesen, niemals Radio gehört, nur ein paar Bücher in der Schule bekommen. In unserer Familie war das so, der Papa hat ein Radio gehabt in seinem Zimmer, aber wir Kinder haben nicht hören dürfen.«

Hat der Vater mit euch über Politik gesprochen?

»Nein, er hat gesagt, wenn sie dich in der Schule fragen, was dein Vater von Beruf ist, dann sagst du, du weißt es nicht, entsetzlich, und ich habe es tatsächlich erst viel später gewußt.«

Warum hat er nicht gewollt, daß du redest?

»Vielleicht hat er sich geniert, obwohl er doch eine tolle Karriere machte.«

Nach welchen Grundsätzen bist du erzogen worden?

»Ich sollte eine sein, die hart ist und alles schafft und alles überwindet und über nichts weint.«

Das Weinen holst du jetzt nach.

»Ich hab’ schon immer geweint.«

Ich hab’ dich nie weinen sehen.

»Blödsinn. Wenn ich ein schönes Kinderlied höre, muß ich schon heulen.«

Heute.

»Ja, damals sollte ich stark sein, ein Mensch, der alles packt.«

Eine richtige Kindheit hattest du nicht.

»Nein, weil ich die Älteste der Geschwister war, da sagte man, du mußt nachgeben, weil du die Gescheiteste bist.«

Du solltest bescheiden sein.

»Ja.«

Man sagte, belohnt wirst du im Jenseits dafür.

»Ja, aber nachdem ich nicht mehr dran glaube …«

Hast du völlig umsonst gelitten.

»Ja, aber richtig schen hat’s ja kaner.«

Warum bist du nach dem Krieg zur SPÖ gegangen, also Sozialistin geworden?

»Das kann ich dir erzählen. Ich hab’ zum erstenmal gewählt in meinem Leben in Ostdeutschland. Ich hatte keine Papiere. Aber sie haben mir geglaubt. Es waren damals ja alle Deutsche. Ich war auch deutsch in dieser Zeit. Es war die erste Wahl, und ich habe nicht die Kommunisten gewählt, sondern es hat so eine Gruppe gegeben, die haben Liberale geheißen, die haben wir gewählt.«

Warum?

»Weil wir gegen die Kommunisten waren.«

Kannst du mir das erklären? War es, weil du unter Hitler antikommunistisch beeinflußt warst?

»Nein, das hatte nicht diesen Grund, sondern die Frau, bei der ich wohnte, war gegen die Kommunisten. Die hat Propaganda gemacht, daß man die Kommunisten nicht wählen soll.«

Und du hast es nachgemacht, ohne zu überlegen?

»Man war schon bis zu einem gewissen Grad gegen die Russen.«

Weil sie sich den Deutschen gegenüber brutal verhalten haben?

»Ja, nicht unbedingt gegen mich, aber sie waren brutal, ganz bestimmt.«

Und die Franzosen waren das nicht.

»Na ja, das waren fünf Stück.«

In Österreich bist du dann zu den Sozialisten gegangen.

»Ja, mein Vater hatte mir eine Stellung besorgt, weil er das Recht hatte als Schadensersatz für seine Zeit im KZ, und dann sollte ich zu den Christlichsozialen gehen, zur ÖVP, wo er war, aber ich habe gedacht, das ist nicht das richtige, ich habe mich dafür eingesetzt, daß alle eine Bildung bekommen. Ich habe alles getan, damit du auf die Universität gehen kannst. Ich wollte verhindern, daß es eine Ungleichheit gibt und daß nur der, der Geld hat, eine Chance bekommt.«

Ich werde so müde im Kopf.

»Gemma essen.«

Ich kann nicht mehr.

»Gemma ins Beisl.«

Aber mir fehlt noch so viel.

An dieser Stelle habe ich das Tonband für eine Zeit ausgeschaltet. Wir sind in ein Wirtshaus in der Nähe gegangen. Die Mutter bestellte ein Wiener Schnitzel. Ich weiß nicht mehr, was ich gegessen habe. Die Fotografin trank nur Kaffee. Während des Essens habe ich das Band wieder eingeschaltet.

Du hast mich immer gehaßt, weil ich nicht so geworden bin, wie du dir das vorgestellt hattest.

»Ich habe mir immer gewünscht, daß du glücklich bist.«

Ja, aber nur, weil du dich vor den Leuten geniert hast, wenn ich unglücklich war, weil du als alleinstehende Mutter dann dagestanden bist als eine, die ihr Kind nicht richtig erziehen kann.

»Du bist nach wie vor ein ungezogenes Kind.«

Ich bin überhaupt kein Kind, und ich bin viel klüger als du inzwischen. Ich hab’ mich vorbereitet auf dieses Interview.

»Soll ich deshalb kopfstehen?«

Die Fotografin: »Liebt ihr euch eigentlich? Das ist mir noch nicht ganz klar.«

Die Mutter: »Aber natürlich. Wir lieben uns heiß und innig, wenn wir weit auseinander sind.«

Ich liebe dich nicht. Du hast immer nur wollen, daß ich deinen Idealen entspreche, daß ich lieb zu dir bin, brav, angepaßt, keine Skandale mache. Du hast dich ja dauernd für mich geniert vor den Leuten.

»Darf ich jetzt auch etwas sagen? Ich liebe dich heiß und innig, aber wenn du da bist, könnte ich dauernd streiten. Wenn du fort bist, möchte ich, du wärest hier.«

Ja, weil du dir, wenn ich fort bin, dein Bild machen kannst, dem ich nicht entspreche, dein Idealbild.

»Kann sein.«

Die Fotografin: »Haben Sie sich eigentlich Sorgen gemacht, weil er nicht leben wollte?«

Die Mutter: »Nein.«

Sie hat sich geniert, weil ich mich umbringen wollte. Ich hab’ ja einen Versuch gemacht und bin in die Klinik gekommen.

»Ja, ich bin mit dir hingefahren.«

Meinen Geburtstag habe ich nie als Festtag empfunden.

»Ja, deshalb hab’ ich dir letztes Jahr eh nicht mehr gratuliert.«

Die Fotografin: »Erinnert er Sie an den Vater?«

Die Mutter: »Nein, überhaupt nicht.«

Was gefiel dir an dem überhaupt?

»Nichts, und du schaust ihm auch gar nicht ähnlich.«

Ich hab’ meine Kindheit als antike Tragödie empfunden. Deshalb bin ich so gern ins Theater gegangen. In der Oper hab’ ich mich ausgelebt.

»Du findest sozusagen nichts Positives.«

Nein, ich bin lebensfeindlich.

»Aha.«

Das einzige Positive für mich war die Kunst. Die Kunst war die Rettung, Dostojewskij, Rilke, Beethoven, Verdi …

»Die Musik hab’ ich dir beigebracht.«

Na, nicht beigebracht. Du bist nicht einmal ins Konzert mitgegangen.

»Also war alles Dreck, was ich gemacht hab’.«

Ich werte das gar nicht.

»Soll ich mich umbringen deshalb?«

Nein, reden.

»Mit mir hat auch keiner geredet.«

Frag’ mich einmal was über mich. Gibt es eine Frage, die du mir stellen möchtest?

»Hast du mich gern?«

Das hat ja wieder mit mir nichts zu tun, mit meinem Leben. Da siehst du einmal, wie schwer es ist, Fragen zu stellen. Wenn das die einzige Frage ist, dann sage ich, nein, weil sie mir auf die Nerven geht. Warum fragst du mich nicht, warum ich als Kind so gern in die Oper gegangen bin?

»Ich hab’ dir ermöglicht, in die Oper zu gehen.«

Ja, aber du bist nicht mitgegangen.

»Weil ich nichts zum Anziehen hatte.«

Du hast mir auch ermöglicht, zu essen, aber du hast nicht mitgegessen, sondern bist daneben gesessen und hast mir zugeschaut.

»Das ist übertrieben, aber wir hatten wirklich sehr wenig Geld.«

Ich hätte mich gefreut, wenn du die Hälfte von mir gegessen hättest, statt dich zu opfern.

»Hätte ich dich sollen verhungern lassen, zum Teufel noch mal? Ich hab’ dir ermöglicht zu essen und in die Oper zu gehen.«

Erwartest du Dank dafür?

»Nein, nichts.«

Warum betonst du es dann?

»Du redest davon, nicht ich. Mich kannst vergessen.«

Ich rede davon, daß es mir lieber gewesen wäre, dich lustvoll zu sehen, dich lieben zu sehen, essen, genießen. Du hast ja auch keine Bücher gelesen.

»Aber ich hab’ sie für dich gekauft.«

Ich hätte mir gewünscht, das du sie auch gelesen hättest.

»Wie du auf die Universität gegangen bist, habe ich alle Geschichtsbücher gelesen. Nur weil du sie lesen mußtest, hab’ auch ich sie gelesen. Aber du bist ständig nur darauf aus, einen schlechten Menschen aus mir zu machen.«

Jeder hat Schlechtes und Gutes.

»Ja, natürlich.«

Du hast mir einmal geschrieben, mit den Nazis hättest du schon allein deshalb nicht mitlaufen können, weil dein Vater im Konzentrationslager war. Mich würde interessieren, ob du dem Hitler nachgelaufen wärst, wenn deine Eltern Nazis gewesen wären.

»Bestimmt nicht. Dem Hitler wäre ich nie nachgelaufen.«

Was macht dich so sicher?

»Dazu hat mich der Kafka gemacht. Ich habe seine Bücher gelesen, ich weiß gar nicht mehr, wie sie geheißen haben …«

So viele gibt’s ja nicht, Das Schloß, Der Prozeß, die Erzählungen …

»Also ich hab’ das gelesen, und dann hab’ ich mir gedacht, du mußt dreimal nein sagen, dann nachdenken und dann erst zustimmen vielleicht.«

Du hattest ja gar nicht die Gelegenheit, zuzustimmen.

»Wem?«

Dem Hitler. Eine Nationalsozialistin hättest du gar nicht werden können aufgrund deines Vaters.

»Doch, ich hätte es werden können.«

Wie denn?

»Das weiß ich nicht.«

Mir sind die Leute lieber, die sich zum Bösen für fähig halten. Die, die sagen, daß sie zum Bösen niemals imstande wären, die tun es dann.

»Ja, ich weiß ganz sicher, daß ich nicht weiß, wozu ich imstande bin.«

Eben.

»Aber ich weiß genau, wozu ich nicht imstande war, denn das habe ich ausprobiert.«

Du meinst, du warst nicht imstande, zu töten.

»Ja, denn ich hatte meine Eiergranaten, meine Pistole, meine Munition, aber ich habe sie den Männern geschenkt, die von Michendorf nach Potsdam abkommandiert worden sind, die hatten fast keine Waffen mehr. Ich habe sie ihnen geschenkt. Ich habe sie nicht verwendet.«

Wie erklärst du dir Menschen, die töten können?

»Ich verurteile sie nicht. Aber ich habe mit achtzehn Jahren gewußt, und das weiß ich bis heute, daß mein Leben nicht mehr wert ist als das eines anderen.«

Das nehme ich dir einfach nicht ab.

»Das kannst du ruhig tun. Ich bin von Polen nach Michendorf gegangen, bewaffnet, ich hätte jeden niederknallen können, der mir entgegengekommen ist.«

Du stellst dich immer so edel dar. Mich hast du einmal als Satan bezeichnet.

»Daran kann ich mich nicht erinnern.«

Du kannst dich an nichts erinnern, was ein schlechteres Licht auf dich wirft.

»Ich möchte jetzt noch ein Achtel gespritzt.«

Kannst du dir vorstellen, einen Menschen zu hassen?

»Sicher.«

Wen?

»Da fällt mir, ehrlich gesagt, jetzt keiner ein.«

Denk nach.

»Ich denke gerade, könnt’ ich vielleicht den Hitler hassen oder den Stalin oder den Mao Tse Tung? Aber net amal das könnte ich.«

In deinen Briefen schreibst du oft das Wort »hassen«.

»Ja, die Selbstzufriedenen hasse ich.«

Und die Auffälligen.

»Nein.«

Du hast mir einmal geschrieben, die Juden sollten sich weniger auffällig benehmen, dann würden sie nicht so verfolgt.

»Also, mach’ jetzt ja keine Antisemitin aus mir, weil ich frag’ keinen Menschen, wer oder was er ist.«

Aber wenn einer kommt und es laut hinausruft, sagst du, er ist selbst an seinem Verderben schuld.

»Nein.«

Du hast mir geschrieben, du hättest den Waldheim zwar nicht gewählt, aber die Juden täten mit ihrem auffälligen Benehmen alles dazu, daß man sie nicht übersehen könnte.

»Das ist ja nicht antisemitisch.«

Die können sich doch darstellen, so laut sie wollen.

»Ja, sicher, aber sie sollen auch die anderen sich darstellen lassen.«

Tun sie das nicht?

»Nein, denn wieso bringen sie die Araber um?«

Das ist jetzt eine schwierige Frage, weil die Juden zu einem Staat geworden sind. Aber du hast deinen Satz über das Stillhalten auf die Juden in Wien bezogen

»Dann nehme ich das jetzt zurück.«

Hat es vielleicht mit deiner Erziehung zu tun? Du bist ja zum Stillhalten erzogen worden.

»Man muß von seinem zehnten bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr seine Meinung auch einmal ändern dürfen. Man kann einen nicht festlegen auf alles, was er vor dreißig Jahren gesagt oder geschrieben hat.«

Du hast im Dritten Reich gelernt stillzuhalten, weil reden gefährlich war.

»Ja, man hat mir gesagt, halte den Mund und höre zu. Das hat sich irgendwie festgesetzt. Es war aber für unsere Familie sehr wichtig.«

Damals, klar, und dadurch hast später nie mehr den Mut gefunden, dich unter Leuten hervorzutun.

»Ja, das kommt aus dieser Zeit, wo es wichtig war, sich zurückzuhalten.«

Heute erschrickst du, wenn sich jemand auffällig benimmt, obwohl es nicht mehr gefährlich ist.

»Das kann sein.«

Ich war dann für dich das Horrorkind.

»Nein.«

Ich war laut, hatte keine Grundsätze, keine Religion.

»Das hat mich nicht gestört, obwohl es für dich vielleicht leichter gewesen wäre, wenn ich dir etwas vermittelt hätte. Einer, der von vornherein weiß, wohin er gehört, hat es leichter. Da ich keinen Glauben hatte, hast du auch keinen heute. Ich hab’ dir auch nie gesagt, was richtig und falsch ist.«

Moralisch?

»Ja.«

Vielleicht hatte das damit zu tun, daß du die Grundsätze in deiner Familie als beengend empfunden hattest.

»Ja, das glaube ich. Aber ich bin heute trotzdem der Überzeugung, man sollte den Kindern sagen, ob sie evangelisch oder katholisch sind, damit sie eine Grundlage haben.«

Wenn ich dich gefragt habe, warum ich leben soll, hast du gesagt, weil ich geboren bin. Das stimmt natürlich …

»Ja, aber es ist keine Hilfe. Ich würde das heute nicht mehr so machen.«

In dem Buch Muttersöhne von Pilgrim*, das ich dir mitgebracht habe, wird die These vertreten, daß Söhne ohne Väter, da sie in der Kindheit nur eine Frau als Identifikationsfigur haben, ihr Geschlecht später hassen und deshalb zerstörerisch werden. Als Beispiele werden Nero, Hitler und Stalin genannt. Interessiert dich das?

»Ich hab’ über den Nero oft nachgedacht, vielleicht mehr als über dich.«

Wahrscheinlich gibt es wirklich eine zerstörerische Ader in mir, die ich jetzt versuche, in Kunst umzuwandeln. Vor zehn Jahren hätte ich vielleicht auf den Atomknopf gedrückt.

»Siehst du, das hätte ich nie getan.«

Du nicht, natürlich.

»Ja, aber nicht, weil ich eine Heilige bin, sondern weil ich danach kein Bedürfnis habe.«

Das ist kein Bedürfnis.

»Doch, das ist schon ein Bedürfnis, auf den Atomknopf zu drücken, um damit berühmt zu werden.«

Berühmt wird man nicht, weil ja dann gar nichts mehr übrig bleibt.

»Das sind Dinge, die für mich ganz unvorstellbar sind.«

Darum muß man ja fragen. Das Unvorstellbare muß man aufhellen durch Fragen. Wo das Unvorstellbare beginnt, hört deine Neugier auf, anstatt anzufangen.

»Ja, wenn jemand sagt, er könnte auf den Atomknopf drücken, hört mein Verständnis auf.«

Aber wenn ich das wäre, der dir doch ziemlich nahe steht, würde es dich dann nicht interessieren, warum ich so bin?

»Fast nicht.«

Das ist hart. Das nennst du Liebe.

»Ich würde sagen, meine Liebe hört auf, wenn jemand die Welt mit einem Knopfdruck in die Luft sprengen will.«

Darum tut er es dann.

»Du würdest das sicher nicht machen.«

Die Mutter vom Hitler hat sich auch nicht vorstellen können, daß ihr Sohn sechs Millionen Juden vergast.

»Du bist ja hoffentlich net der Hitler.«

Nein, ich hab’ einen anderen Weg gefunden.

»Meine Liebe zu dir würde auch dann nicht aufhören, wenn du der Hitler wärst.«

Jetzt widersprichst du dir.

»Die würde nie aufhören.« (schluchzt)

Du trinkst zuviel. Du bist ja jetzt nicht mehr ganz bei Verstand.

»Ich kenn’ nicht einmal den Namen der Fotografin.«

Die Fotografin: »Gabriela.«

Die Mutter: »Was machen Sie beruflich?«

Na, fotografieren, das hast ja inzwischen gemerkt.

»Wir lernen uns jetzt ohne dich kennen.«

Wenn du mich ausschalten willst, muß sie gehen.

»Wieso?«

Weil mir dieses Interview so gelingen muß, daß es dann in der ZEIT erscheint.

»Geht es um Geld?«

Ja, auch.

»Ich zahle dir alles, wenn nichts erscheint.«

Für dich interessiert man sich sowieso nicht bei der Zeitung.

»Also um was geht es jetzt?«

Ich muß einen Dialog zustande bringen, der für die ZEIT interessant genug ist, obwohl du keine Berühmtheit bist.

»Aber die Welt besteht doch in Wirklichkeit aus gewöhnlichen Leuten.«

Ja, aber nicht in der Zeitung.

»Ich glaube nicht, daß ich von öffentlichem Interesse bin.«

Eben.

»Außer, wenn wir in Österreich Wahlen haben, dann geh’ ich hin.«

Ist das nicht schlimm, daß man in der Demokratie nur so ein Stimmvieh ist?

»Es gibt ja noch mehr Frau Müllers. In der Summe ergibt das was.«

Du hast also schon das Gefühl, an der Politik mitzuwirken?

»Ja, sicher. Ich gehe grundsätzlich zu jeder Wahl.«

Was hattest du als junges Mädchen für berufliche Wünsche?

»Ich wollte Chemie studieren. Ich hatte in Deutschland auch die Chance dazu nach dem Krieg. Aber mein Vater hat mich nach Wien geholt.«

Hast du versucht, in der SPÖ aufzusteigen?

»Ich war Vertrauensmann bei der Krankenkassa, wo ich gearbeitet hab’. Ich habe schon angestrebt, mitzumachen, aber mit meiner Sprache.«

Bist du froh, auf der Welt zu sein?

»Ja, das finde ich wahnsinnig guat, ich bin glücklich darüber.«

Auch wenn du siehst, wieviel Furchtbares geschieht?

»Ja, trotzdem. Natürlich möchte ich vieles ändern. Aber ich hab’ keine Chance, was zu ändern. Ich hab’ nur die eine Chance, nicht das zu machen, was die anderen machen. Ich werde keinen erschießen.«

Dafür ist es jetzt eh zu spät.

»Kannst du etwas ändern?«

Nein.

»Na, siehst du.«

Ich bin sowieso Fatalist.

»Na, das ist leiwand.«

Ich könnte dir das auch philosophisch begründen.

»Und was macht dann die Welt damit?«

Nichts, man redet halt, und man kann es dann drucken.

Die Fotografin: »Ich möchte noch einen Kaffee.«

Deshalb müssen Sie ja nicht das Gespräch unterbrechen.

Die Mutter: »Mit Milch?«

Es geht jetzt nicht mehr mit Ihnen, Sie müssen gehen.

Die Fotografin: »Ich verstehe.«

Warum trinken Sie dann noch Ihren Kaffee?

»Gut, ich gehe sofort.«

Die Mutter: »Das ist aber arg. Das tut mir jetzt leid.«

Dir tut aber nicht leid, wenn mein Interview scheitert.

»Ich zahle dir alles.«

Dein Geld kannst du behalten. Ich will, daß es gelingt. Ich strampel mich ab, rede mir die Seele aus dem Leib … Wenn das nichts wird, hat sie auch ihre Fotos umsonst gemacht … (Die Fotografin geht.)

»Frag’ mich was.«

Ich bin zu erschöpft.

»Gemma a bissel spazieren.«

Ich bin froh, daß wir alleine sind. Jetzt kann ich es dir ja sagen, ich hatte furchtbare Angst vor dieser Begegnung.

»Mit mir?«

Ja.

»Was willst du wissen?«

Du hast gesagt, du freust dich, daß ich gekommen bin. Kannst du mir das begründen?

»Das ist nicht zu begründen.«

Warum hast du getrunken?

»Ich hab’ nicht getrunken.«

Ich merke es doch, weil du dann viel sentimentaler bist und dir dauernd die Tränen kommen.

»Ich weine aus unerfindlichen Gründen.«

Ich zitiere aus einem Brief von dir. Du fragst: »Hältst du es für möglich, daß es Menschen gibt, die sich vollkommen gleichen? Wenn nicht, kann völlige Übereinstimmung nur durch die Selbstaufgabe des einen zustande kommen.«

Das hast du geschrieben. Da klingt Pessimismus durch.

»Ja, einer will sich verwirklichen, und einer muß da sein, der ihm das möglich macht.«

Kann man sich nicht in der Mitte treffen?

»Das glaube ich nicht.«

Hast du das erfahren?

»Ich habe die Erfahrung gemacht, daß immer einer reden will und der andere zuhören muß. Das hat man mir auch so beigebracht, ich muß zuhören, die anderen reden, und ich habe kein großes Problem damit. Nur manchmal im Leben habe ich mir gedacht, daß auch mir einmal jemand zuhören müßte.«

Meinst du nicht, daß man sich das erkämpfen muß?

»Ja, das sollte man, aber wenn man die Älteste von sechs Geschwistern ist, noch dazu in der Nazizeit, der man beigebracht hat, daß man besser still ist und schweigt, damit keiner gefährdet wird, dann gibt es eigentlich gar keinen Ausweg mehr.«

Gut, daß du das endlich sagst.

»Ich kann halt nicht schreiben.« (weint)

Du hast mir viele Briefe geschrieben. Einmal hast du mir von deinem Vater geschrieben, er habe, als er aus dem KZ kam, gesagt, er hätte nun alle Höhen und Tiefen durchlebt, er danke Gott, daß sein Leben nicht nur so verronnen sei.

»Ja, das hat er gesagt. Ich habe mit ihm nicht sehr viel geredet. Außer mich zu verprügeln, hat er nicht viel mit mir zu tun gehabt. Aber das hat er mir wirklich gesagt.«

Was waren die Höhen und Tiefen in deinem Leben? Was war das Schrecklichste?

»Das Schrecklichste, ganz komisch, war, wie ich von Osten nach Westen gegangen bin, ich hatte nur meine Tasche, in der waren meine Papiere und ein paar Bilder, also wie ich das alles verloren hab’. Das hat mir jemand gestohlen und ich hab’ gedacht, jetzt kannst du nicht mehr beweisen, daß du auf der Welt bist.«

Du existiertest nicht mehr.

»Ich war nicht mehr da.«

Und was war das Schönste?

»Das Schönste war, wie du auf die Welt gekommen bist. Ich hab’ mir, als ich schwanger war, einen Sohn gewünscht, weil ich dachte, ein unehelicher Sohn hat es leichter als eine Tochter, und dann wollte ich, daß du blaue Augen und blonde Haare hast.«

Ich bin plötzlich so müde.

»Du bist ja mehr fertig als ich.«

Zahlen bitte!

»Gehen wir jetzt?«

Ja, morgen vormittag komme ich noch einmal.

Bis zu dieser Stelle waren etwa dreieinhalb Stunden vergangen. Am 16. Juni habe ich meine Mutter wieder getroffen, diesmal allein. Ich war nun entspannter. Ich hatte nachts schlafen können.

Ich hab’ noch ein paar Fragen.

»Ich finde das Ganze gruselig.«

Das Interview?

»Ja, ich habe keine Sekunde diese Fotografin vergessen können und das Klicken und den schwarzen Apparat, ich meine das Tonband. Vielleicht können andere, die das gewöhnt sind, es besser ertragen, wenn dauernd Blitzlichter auf sie gerichtet sind.«

Blitzlichter waren ja keine.

»Nein, aber ein gewöhnlicher Mensch wie ich ist so etwas nicht gewöhnt. Ich habe die meiste Angst vor einer Intensivstation, mich sollen sie ja nicht, auch nicht in zehn Jahren, an hundert Schläuche hängen, aber so bin ich mir gestern vorgekommen, so habe ich mich gefühlt, vollkommen hilflos, ausgeliefert, entsetzlich.«

Gut, daß du es sagst.

»Ich habe gedacht, Gott im Himmel, wie wehrt man sich?«

Indem man es ausspricht.

»Ja, aber man muß ja nachdenken zuerst. Am Abend hab’ ich gedacht, du hättest dich wehren können und sagen, lassen wir es. Aber während es geschieht, ist man ausgeliefert.«

Was hast du dir vorgestellt?

»Ich hatte nicht gedacht, daß es so hart ist.«

Anders erfährt man ja nichts.

»Ich hatte ständig Lust, nett zu sein.«

Da entsteht nichts.

»Gut, da entsteht nichts, aber man muß doch nett sein, wenn man Lust dazu hat, oder darf man das nicht?«

Wenn ich in den Interviews nur nett zu den Leuten bin, erfahre ich nichts.

»Entsetzlich.«

Ich hab’ mit der Fotografin gestern noch telefoniert. Die sagte, daß du dauernd behauptest, das Leben sei schön, aber was du ausstrahlst, sei nicht, daß du das Leben so herrlich findest.

»Natürlich finde ich nicht alles wunderbar, was passiert, aber ich kann ja nichts ändern. Ich kann nicht die Atombombe und die Kriege verhindern, und weil ich das nicht kann, muß ich mich distanzieren, sonst müßte man sich wirklich das Leben nehmen. Man bekommt heute so viele Informationen. Der Wald stirbt, weiß der Teufel. Früher war es leichter, weil man einen begrenzten Horizont gehabt hat.«

Jetzt redest du ganz anders als gestern. Wieso hast du Phasen, in denen du mit einer Hartnäckigkeit sondergleichen darauf beharrst, das Leben sei wunderbar?

»Weil ich es möchte. Ich möchte nicht ganz so verzweifelt sein. Ich möchte ein schönes Leben haben.«

Das bekommst du nicht, indem du deine Gefühle verleugnest.

»Aber wie soll man es anders machen?«

Indem man über seine Verzweiflung spricht. Wenn du immer sagst, es geht dir gut, und in Wirklichkeit geht es dir schlecht, geht es dir nur immer schlechter.

»Komischerweise geht es mir aber wirklich nicht immer schlecht.«

Aber manchmal, doch du sprichst nicht darüber.

»Wozu soll ich darüber sprechen?«

Damit es dir danach besser geht, weil es befreiend wirkt. Glaubst du nicht, daß das Sprechen befreiend wirkt?

»Doch, das glaub’ ich schon, aber wenn man dazu erzogen ist, nicht zu sprechen, fällt einem das schwer. Ich hab’ eine Freundin, die redet ununterbrochen. Ich habe da gar keine Chance, auch nur einen Satz zu sagen. Die braucht das einfach.«

Aber du auch.

»Nein, ich höre zu, was die redet.«

Du weißt ja nicht, ob die sich freuen würde, wenn du sie mal unterbrichst …

»Bestimmt nicht. Das habe ich dreißig Jahre vergeblich versucht.«

Dann ist es die falsche Freundin. Du kannst doch nicht alles hinunterschlucken.

»Vielleicht habe ich Angst.

Was droht, wenn du redest?

»Na, heute ist es egal, aber im Dritten Reich durfte man zum Beispiel nicht reden, weil sonst die Nazis gekommen wären und einen ins KZ gebracht hätten.«

Weil überall Spitzel saßen?

»Ja, man hat keinem einzigen trauen können.«

Hast du den Hitlergruß mitgemacht?

»Ja, sicher. Im Arbeitsdienst mußte man morgens antreten, da wurde die Hakenkreuzfahne in die Höhe gezogen, und jeder mußte den Hitlergruß machen.«

Was hast du dabei empfunden?

»Ich war völlig dagegen.«

Warum? Du wußtest ja nichts.

»Nein, aber wie der Hitler in Graz einmarschiert ist, habe ich mir das angeschaut, und wie ich nach Hause gekommen bin, hat mich meine Stiefmutter gefragt, wo hast du dich wieder herumgetrieben, und hat mir ein paar Watschen versetzt und gesagt, während du weg warst, haben sie deinen Vater geholt. Da hab’ ich angefangen, über Politik nachzudenken.«

Du hast gesagt, daß sie ihn in Wien abgeholt haben.

»Zum erstenmal in Graz. Dann haben sie ihn freigelassen und in Wien wieder verhaftet wegen seiner politischen Tätigkeit. Aber das wußte ich nicht. Ich wußte nur, auf dem Grab meiner richtigen Mutter stand ›Gewerkschaftssekretärsgattin‹. Sonst wußte ich nichts.«

Wie alt wurde die?

»Keine dreißig.«

Woran starb sie?

»Ich glaub’, sie war lungenkrank.«

Hast du an sie eine Erinnerung?

»Ich hab’ komischerweise an sie nur eine einzige Erinnerung, und ich weiß nicht einmal, ob man mir das später erzählt hat, ich war ja erst vier Jahre alt, aber eines stimmt sicher, sie konnte wunderschön nähen und hat mir das auch als Kind beigebracht, und ich kann mich erinnern, daß sie im Bett gelegen ist und mir, weil ich etwas nicht so schön genäht hatte, auf den Kopf gehauen hat, und irgend jemand hat dann gesagt, hau’ sie nicht auf den Kopf, davon werden die Kinder dumm. Das ist die einzige Erinnerung an meine Mutter. Danach ist sie gestorben, da haben sie meinen Bruder und mich aus dem Bett geholt, wir haben damals ein Dienstmädchen gehabt, das hat uns angezogen und ins Schlafzimmer der Eltern geführt, und mein Vater hat Taschentücher aus dem Kasten geholt, an das kann ich mich noch genau erinnern, und hat gesagt, die Mama ist tot, und ich habe gedacht, jetzt muß man weinen, mir war aber gar nicht nach Weinen zumute, ich hatte, so scheint es, keine besondere Beziehung zu meiner Mutter. Aber ich habe das Taschentuch genommen und habe geheult.«

Es ist dir gelungen, das vorzutäuschen?

»Ja, weil der Vater geheult hat und die anderen rundherum. Beim Begräbnis bin ich dann nicht gewesen.«

Wie lang war der Zwischenraum, bis er wieder geheiratet hat?

»Zwei oder drei Jahre. Dazwischen haben wir eine Hausgehilfin gehabt. Wie er wieder geheiratet hat, bin ich schon in die Schule gegangen, und obwohl ich nicht die geringste Bindung zu meiner richtigen Mutter hatte, habe ich alles aufgeführt, um meiner Stiefmutter das Leben zur Hölle zu machen, anfangs, später nicht mehr.«

Wahrscheinlich hat sie ihre richtigen Kinder, deine Stiefgeschwister, mehr liebgehabt.

»Das weiß ich nicht. Sie hat jedenfalls verhindert, daß ich ins Konzentrationslager gekommen bin.«

Wie?

»Sie hat mich adoptiert, das war nötig.«

Wieso?

»Diese Dinge sind mir noch heute ein Rätsel. Sie hat uns, meinen Bruder und mich, wie ihre eigenen Kinder nach Deutschland geholt, das war eine richtige Odyssee. Vorher hatte sie sich von meinem Vater, der ins KZ gekommen ist, scheiden lassen. 1949 haben sie wieder geheiratet. Inzwischen war sie mit einem anderen zusammen gewesen.«

Mit wem?

»Der hat Schnauz geheißen, das war ein Mistviech, der war während der Nazizeit beim Militär.«

War der ein Nazi?

»Ganz sicher. Dadurch waren wir wahrscheinlich geschützt. Nach dem Krieg war er dann keiner mehr.«

Hast du zu dem »Vater« gesagt?

»Nein, Julius hat der geheißen, Julius Schnauz, ein Miestviech.«

Warum?

»Er hat meine Stiefmutter geheiratet, er hat das erzwungen, er war ein Freund meines Vaters. Später ist er in die nationalsozialistische Partei eingetreten.«

Wußte dein Vater, daß die Mutter den geheiratet hatte?

»Ich wußte ja nicht einmal, daß er im KZ war.«

Ich begreife nicht, daß du so wenig neugierig warst, das herauszubekommen.

»Was hätte ich machen sollen?«

Fragen.

»Das kann man heute leicht sagen, wenn man nie in so einem Staat gelebt hat. Heute kann jeder hingehen und sagen, Herr Vranitzky, warum sagen Sie das?«

Aber es muß dich doch gewundert haben, daß du auf einmal eine Uniform tragen mußtest und die Hand zum Hitlergruß heben. Hast du nicht wissen wollen, warum das so war?

»Doch, aber man hat mir befohlen, den Mund zu halten.«

Auch später hast du so vieles hingenommen, ohne Fragen zu stellen.

Ich habe dir depressive Gedichte geschrieben, habe dauernd gedroht, mich umzubringen, habe nicht leben wollen. Hast du dir das erklären können?

»Nein, das war mir vollkommen unverständlich, denn ich weiß, daß man sowieso einmal stirbt, und ich bin neugierig auf das Leben. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen, daß sich einer umbringen will. Ich habe ja eher Angst vor dem Sterben.«

Aber es ist doch lebendiger, wißbegierig zu sein, wenn man was nicht versteht.

»Du meinst, dahinterzukommen?«

Ja, noch dazu, wenn es dein eigenes Leben betrifft, deinen Vater, dein Kind. Es geschehen Dinge, die du nicht begreifst, aber du stellst keine Fragen. Ich wollte mich umbringen, und du hast nicht gefragt, warum ich unglücklich bin. Hat man dir verboten, zu fragen?

»Wer hätte mir das verbieten sollen? Ich glaube, mit mir hat sich überhaupt niemand besonders beschäftigt. Man hat mir beigebracht, du darfst nicht stehlen, du darfst nicht lügen. Damit hat sich die Sache.«

Kannst du dir heute erklären, warum es Leute gibt, die Drogen nehmen, nicht leben wollen, verzweifelt sind?

»Ja, weil es solche gibt wie mich, die sich nicht trauen, zu fragen, vor lauter Angst, daß dann auf sie etwas zukommt, das sie nicht verstehen oder nicht aushalten eventuell.«

Du hast doch so viel ausgehalten im Leben.

»Ich bin ganz sicher, daß ich manchmal zu feige war, zu feig, um zu fragen.«

Deine Angst war größer als deine Wißbegier.

»Ja, das kann man, glaube ich, sagen. Ich bedaure das. Heute würde ich fragen, aber heute bin ich fast siebenundsechzig.«

Wahrscheinlich bin ich deshalb zum Berufsfrager geworden, als Gegenreaktion gegen die Angst. Du hast ja nicht nur Schwierigkeiten, zu fragen, sondern fürchtest dich auch, gefragt zu werden.

»Das ist richtig, ganz sicher.«

Zu mir hast du, wenn ich von Selbstmord sprach, immer gesagt: Mach kein Theater!

»Na ja, da würde ich heute auch vorsichtiger sein, bevor ich so etwas sage, weil ich inzwischen weiß, daß der Unterschied zwischen Theater und Wirklichkeit gar nicht so groß ist.«

Ich hab’ dir ein Buch mitgebracht. Der Autor heißt Cioran. Es heißt Vom Nachteil, geboren zu sein.

»Entsetzlich.«

Du kennst doch den Thomas Bernhard. Es gibt Leute, die das Leben als sinnlos empfinden und lächerlich. Dann stellt man sich die Frage, warum das so ist. Der H.C. Artmann hat einmal zu mir gesagt: Schuld ist die Gottheit.

»Also, ich würde nie einen Gott anklagen. Dazu bin ich nicht gläubig genug. Ich mache ihn weder verantwortlich für das Schlechte noch für das Gute.«

Meinst du, man kann auch leben, ohne glücklich zu sein?

»Ja, natürlich kann man das. Glaubst du, daß ich andauernd happy bin?«

Nein, aber du sagst es nie.

»Das braucht man nicht sagen.«

Zu mir hast du immer gesagt, das einzige, was du dir wünschst, ist, daß ich glücklich bin. Das ist eine unglaubliche Forderung.

»Ich glaube, daß du das falsch verstehst. Ich meine nicht, man soll alles rosarot sehen und dauernd happy sein, sondern nur, man soll das Leben irgendwie akzeptieren, mit Weinen und Lachen.«

Das Leben akzeptiert man, indem man lebt.

»Indem man sich nicht umbringt.«

Ja, nicht indem man dauernd sagt, wie gut’s einem geht.

»Ich mein’, ich bin nicht glücklich in deinem rosaroten Sinn, aber ich freu’ mich zum Beispiel, wenn ich was Schreckliches überstanden hab’.«

Was denn?

»Gott im Himmel, da kann ich dir mal was erzählen. Ich habe schon so viele Menschen sterben gesehen erstens, und zweitens vermißt, ich hatte unendliche Schmerzen. Die sind im Krieg gefallen, meine Mitschüler zum Beispiel, alle, mit denen bin ich in die Schule gegangen, und dann sind sie hintereinander im Krieg gefallen, mein Vater, meine Mütter, weiß der Teufel, und da habe ich immer gedacht, Gott, die sind tot, die Schmerzen mußt allein du aushalten.«

Hat dir die Hoffnung geholfen?

»Na, ganz sicher.«

Hoffnung worauf?

»Daß ich es überstehe, die Hoffnung wird immer größer, je mehr man überstanden hat, zum Beispiel die Hoffnung, daß es keinen Krieg mehr gibt, wenn man einen schon überstanden hat.«

Kannst du Menschen verstehen, die Krieg faszinierend finden?

»Ganz sicher nicht. Mich hat er fast umgebracht. Das hat mich ganz sicher geprägt. Ich habe nachts geschrien, da hab’ ich schon hier gewohnt, oder wenn ich mit Bekannten auf Reisen war.«

Die haben dir das erzählt?

»Ja, die haben gesagt, hörst, du schreist in der Nacht, was zum Teufel hast du erlebt in diesem Krieg, und dann hat meine Stiefschwester zu mir gesagt, hörst, irgendwann mußt du den Krieg doch vergessen. Aber das kann ich nicht.«

Was hast du geträumt?

»Ich hab’ geträumt, wie diese Panzer über die Trecks gefahren sind, all diese entsetzlichen Sachen, über die Flüchtlingszüge, die Pferdewagen. Die sind einfach über die Menschen drübergefahren, und die waren dann tot, manche waren halbtot, da hab’ ich immer gedacht, ich muß das vergessen, aber dann hab’ ich in einem Buch gelesen, das braucht man nicht zu vergessen, man muß nur damit leben können, man muß lernen, damit zu leben.«

Und das kannst du inzwischen?

»Ja, ich hab’ gedacht, das ist nun einmal so, und wenn einer mich schreien hört, wird er das aushalten müssen. Ich hab’ es auch ausgehalten. Man muß im Leben ein paar Schmerzen aushalten können.«

Aber dazu braucht man doch ein Motiv.

»Nein, da hilft einem der Überlebenswille. Bis zu einem gewissen Grad ist der Mensch auch nur ein Viech. Jetzt kannst du fragen, was mich von einer Kuh unterscheidet.«