André Müller
MAN LEBT,
WEIL MAN GEBOREN IST
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Aufführung durch
Berufs- und Laienbühnen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung und Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Abschnitte. Das Recht der deutschsprachigen
Aufführung oder Sendung ist nur vom Rowohlt Theater Verlag, Hamburger Straße
17, 21465 Reinbek, Tel.: 040 – 72 72 270, Fax: 040 – 72 72 276 zu erwerben.
Den Bühnen und Vereinen gegenüber als Manuskript gedruckt.
Ich bin wahnsinnig erschöpft, weil ich die ganze Nacht nicht geschlafen hab’.
»Ja, wieso denn nicht?«
Das hab’ ich mich auch
gefragt. Die einzige Erklärung ist, daß ich Angst vor möglichen Träumen hatte,
die vielleicht mit dir zu tun gehabt hätten.
»Gott im Himmel.«
Fällt dir dazu schon was
ein?
»Ich hab’ überhaupt keine
Angst vor Träumen, weil ich finde, daß man nicht alles wirklich erleben muß.
Ich glaub’, ich hab’ die meisten Erlebnisse in meinen Träumen gehabt.«
Schönere als in der
Wirklichkeit?
»Kann man so sagen.«
Nachts?
»Nachts oder am Tag. Man
stellt sich was vor, ob das in Wirklichkeit passiert oder im Traum, ist egal.«
Du sprichst von
Wunschträumen.
»Ja, aber jetzt machen wir
zuerst etwas Wirkliches.«
Findest du es unwirklich,
daß wir hier sitzen?
»Ja.«
Warum?
»Ich freu’ mich, daß du
gekommen bist. Das ist das Wirkliche.«
Aber ich bin gekommen, um
ein Interview mit dir zu machen. Das habe ich dir am Telefon gesagt, und du
warst einverstanden.
»Ja.«
Es ist vielleicht
merkwürdig, die eigene Mutter für eine Zeitung zu Interviewen. Aber warum hast
du zugestimmt?
»Ich weiß, daß du immer so
Interviews machst mit Leuten, und ich werde dir ehrliche Antworten geben, aber
meine Antworten natürlich.«
Ja, klar. Aber du hast
gesagt, daß du es unwirklich findest.
»Was heißt unwirklich?«
Das frage ich eben.
»Also da muß ich wirklich
an den Handke denken, der sein bestes Buch gemacht hat, indem er über den Tod
seiner Mutter geschrieben hat, und als es erschienen war, hat er gesagt, er
wird später noch mehr darüber schreiben.«
Genaueres.
»Ja, aber Gott sei Dank
hat er das nicht gemacht.«
Warum Gott sei Dank?
»Weil das ihre Sache
gewesen ist.«
Du meinst ihren
Selbstmord.
»Ja, ich habe sie
überhaupt nicht gekannt und nur einmal ein bißchen gehört darüber.«
Du hast das Buch gelesen.
»Ja, und Gott sei Dank hat
er nachher darüber nichts mehr geschrieben.«
Erkläre mir, warum du
sagst: Gott sei Dank.
»Weil das ihr Problem war,
nicht seines.«
Meinst du, er hat sie
ausgenutzt, um ein Buch zu schreiben?
»Irgendwie schon.«
Ich weiß jetzt auch nicht,
ob ich mich wirklich für dich interessiere oder nur frage, weil ich ein gutes
Interview machen will. Stört dich das?
»In keiner Weise.«
Na, was meinst du dann?
»Ich weiß nicht.«
Stört dich die Fotografin?
»Nein, ich finde sie sehr
sympathisch.«
Du kennst sie doch gar
nicht.
»Nein, aber das ist ganz
wichtig«
Mir wäre lieber, du
würdest mir eine Antwort geben.
»Auf was?«
Warum du sagst, es stört
dich, daß der Handke über den Tod seiner Mutter schreibt, es stört dich aber
nicht, daß ich mit dir ein Interview mache.
»Ich hab’ darüber viel
nachgedacht.«
Warum hast du getrunken
heute?
»Das habe ich überhaupt
nicht getan.«
Aber ich merke es doch.
»Ja, das ist dein Problem
… Also ich habe viel nachgedacht, warum der Handke dieses Buch geschrieben hat,
komischerweise. Wie es herausgekommen ist, hat es mir jemand im Büro auf den
Schreibtisch gelegt.«
Ja, der Handke versucht zu
ergründen, warum sich seine Mutter das Leben genommen hat.
»Ich habe dir damals
gleich gesagt, ich würde mich nie umbringen.«
Warum nicht?
»Weil ich weiß, daß man
eines Tages sowieso stirbt, nicht, also das ist doch überhaupt kein Problem.«
Hast du auch während des
Krieges nie daran gedacht, es zu tun?
»Nein, niemals.«
Du hast mir einmal
erzählt, man trug damals Gift bei sich.
»Ja, das hatte ich.«
Wo trug man das?
»Ich habe es später in
einen Teich geschmissen.«
Trug man das in einem
Medaillon?
»Nein, ich weiß nicht,
irgendwie habe ich es bei mir gehabt. Das hat mir ein Arzt in Deutschland
gegeben.«
Was für ein Gift war das?
»Ich weiß nicht, wie es
geheißen hat. Ich habe es gehabt. Man konnte sich damit umbringen. Aber ich
habe mich nicht damit umgebracht.«
Wann hast du es bekommen?
»Das war 1945, wie ich aus
Polen nach Deutschland gekommen bin.«
Hast du es gewollt?
»Nein, ein jüdischer Arzt
hat es mir gegeben. Der hat gesagt, du kannst das haben, und wenn du nicht
leben willst, dann kannst du das essen, und dann bist du tot, aber ich habe es
in den Teich geschmissen.«
Wann?
»In Wien. 1949 bin ich
nach Wien gekommen.«
Warum hast du es nach dem
Krieg so lange behalten?
»Das weiß ich nicht. Um
eine Chance zu haben.«
Eine Chance, dich
umzubringen.
»Ja, aber ich habe es
nicht getan.«
Nein, aber du hast das
Gift, obwohl der Anlaß, aus dem du es bekommen hast, nämlich der Krieg, vorbei
war, behalten.
»Ja, das ist ganz
interessant. Ich denke eigentlich jetzt erst darüber nach. Ich habe es immer
behalten.«
War es ein Gefühl der
Freiheit, diesen Ausweg zu haben?
»Ja, ganz sicher, denn ich
könnte mich nicht erhängen oder von einem Hochhaus herunterspringen.«
Du wolltest dir die
Möglichkeit offenhalten, dich umzubringen.
»Nein, das könnte ich
nicht.«
Aber dann sag doch, warum
du es so lange behalten hast.
»Das ist mir ein Rätsel,
aber eines Tages habe ich es in den Teich geschmissen.«
In einem Brief hast du mir
einmal geschrieben, ich wäre nicht der Sinn deines Lebens, aber eine Zeitlang
sei ich der Grund dafür gewesen, daß du dich nicht umgebracht hast, weil du ein
kleines Kind nicht im Stich lassen wolltest.
»Ja, ganz richtig.«
Aber trotzdem hast du das
Gift behalten. Das ist doch ein Widerspruch.
»Was ist da für ein
Widerspruch?«
Einerseits sagst du, du
hättest dich nie umgebracht, andererseits hast du das Gift behalten.
»Also ich hab’ dieses Gift
gar nicht so wichtig genommen.«
Wo hast du es aufbewahrt?
»Irgendwo in der Tasche.
Wieso hältst du dieses Gift für so wichtig?«
Ich glaub’, daß das die
Leute interessiert.
»Aber das ist überhaupt
nicht das Wichtigste in meinem Leben.«
Wo hast du es getragen
während des Krieges?
»Während des Krieges hatte
ich überhaupt kein Gift.«
Hat man es bekommen, um
sich, wenn man vergewaltigt wird, töten zu können?
»Das weiß ich nicht. Ich
bin von Polen nach Michendorf gekommen, und da haben sie mir das gegeben für
den Fall, daß ich nicht überleben will.«
Aus welchen Gründen nicht
überleben? Was war so schwer auszuhalten? Ich will das wissen, ich habe so was
ja nie erlebt.
»Um eine Chance zu haben,
nicht mitzumachen.«
Wobei?
»In einem Regime. Mir hat
sich die Frage dann gar nicht gestellt, denn komischerweise bin ich nie
vergewaltigt worden, weder von einem Mann noch von einem Regime. Ich habe mich
mit meiner Vorstellung, wie man mit dem Leben fertig wird, einfach
durchgesetzt.«
Du bist doch vom
Hitler-Regime in gewisser Weise schon vergewaltigt worden.
»Nein, überhaupt nicht.«
Aber dieser Mann hat doch
dein Leben sehr stark bestimmt.
»Ja,
obwohl ich gar
keine Ahnung hatte, daß es den überhaupt gibt.«
Hast du ihn denn nicht
wahrgenommen?
»Ich habe überhaupt nicht
gewußt, daß es den gibt. Ich war fünfzehn Jahre alt, als er einmarschiert ist,
und ich hab’ überhaupt nicht gewußt, daß es den gibt.«
Wo warst du 1938?
»In Graz.«
Und er kam auch nach Graz?
»Ja, und da bin ich
hinuntergegangen, ich war immer eine sehr gute Schülerin, und ich bin sehr gern
in die Schule gegangen, und da bin ich hinuntergegangen, es war so ein Auflauf
da, und ich hatte mich immer geärgert, daß einige Mitschülerinnen auf dem
Klassenfoto vor mir gesessen sind, und bin also hinuntergegangen und hab’
gesehen, die standen schon da in weißen Uniformen, weißen Blusen und schwarzen
Röcken, und ich war nicht dabei. Da habe ich gedacht, jetzt hast du schon
wieder verloren, weil du nicht vorne stehst.«
Waren das Mädchen vom BDM?
»Ja,
vom Bund
deutscher Mädchen, und ich war wieder mal nicht dabei.«
Du konntest nicht dabei
sein, weil dein Vater ein politisch Verfolgter war.
»Ja, aber das habe ich
nicht gewußt, bis er aus dem KZ nach Hause gekommen ist. Ich habe nicht gewußt,
daß es ein KZ gibt, bis er herausgekommen ist …«
(weint)
Aber er muß doch gefehlt
haben in der Familie.
»Ja, aber wo er war, wußte
ich nicht.«
Wo hätte er denn sein
können so lange?
»Ich habe es nicht gewußt.«
Wenn ein Vater sieben
Jahre fehlt …
(Sie hört nicht auf zu weinen … ) Wir können auch eine
Pause machen. Warum erschüttert dich das jetzt so?
»Ich hab’ nicht gewußt,
daß es ein KZ gibt. Ich bin die ganze Zeit in Polen gewesen.«
Du warst von der Familie
weg.
»Ja.«
Wann bist du nach Polen
gekommen?
»Ich war zuerst zum
Arbeitsdienst eingezogen 1939 in Ochsenhausen bei Biberach.«
Das war die erste Station.
»Ja, und dann bin ich nach
Polen gekommen.«
Was mußte man machen im
Arbeitsdienst?
»Nichts, kochen oder
Hauswirtschaft oder in den Außendienst gehen.«
Für andere Leute.
»Ja, sicher. Ich bin
gekommen von Ochsenhausen nach Odolanow, nach Adelnau, das war schon in Polen.
Ich bin in Polen geblieben bis 45.«
War das eine Strafe?
»Nein, das war ganz
normal. Für mich war es die Rettung, denn sie hätten mich auch in ein KZ
schmeißen können.«
Weißt du, warum sie es
nicht getan haben?
»Nein, weiß ich nicht.«
Warum hast du dich für all
das nie interessiert, für dein Leben? Weißt du wirklich nicht, warum du nicht ins
KZ gekommen bist, und wann der Vater abgeholt wurde?
»Doch, das war in Wien.«
Damals wurden
Christlichsoziale, Sozialdemokraten, Monarchisten und Kommunisten verhaftet. 50
000 politische Gefangene gab es damals in Österreich. Dein Vater war einer
davon.
»Ja.«
Was war seine Position?
»Das weiß ich nicht.«
Du wirst doch wissen, was
er von Beruf war, ich bitte dich.
»Er hat mir immer gesagt,
wenn sie dich in der Schule fragen, was dein Vater ist, dann sag, du weißt es nicht.
Heute weiß ich, daß er ein engagierter Gewerkschafter war, ein
christlichsozialer.«
Landessekretär der
christlichen Gewerkschaften war er.
»Ja, du weißt mehr als
ich.«
Später ist er dann
aufgestiegen.
»Ja, zum Regierungsrat.«
War er Regierungsmitglied?
»Nein, aber er war dann im
KZ mit diesen Leuten zusammen, Schuschnigg, Seitz, Olah, Figl …«
In Dachau?
»Ja, unter anderem. Er war
in verschiedenen Lagern.«
Das hast du mir nie
erzählt.
»Er war ja ein Bauernsohn.
Darum konnte er nicht ganz nach oben kommen, weil er keine Schulbildung hatte.
Er ist von daheim fortgerannt, ohne auch nur eine Hauptschulbildung zu haben,
und dann hat er einmal zu mir gesagt, ich habe alles gelesen von Karl May bis
Goethe.«
Darauf war er stolz.
»Ja, ziemlich, aber er
konnte nichts werden.«
Hoher Funktionär immerhin.
»Ja, und das war auch der
Grund, warum ich nach dem Krieg nach Österreich kam. Er konnte mir eine
Stellung verschaffen.«
Hat er mit dir nie über
seine Zeit im KZ gesprochen?
»Wir hatten keine
besonders gute Beziehung. Aber eine Geschichte hat er mir dann erzählt, die
weiß ich noch …
(weint) Er hatte Geburtstag, und er war sehr krank im KZ
…«
Krebskrank.
»Ja, er hatte alles
mögliche, und er hatte Geburtstag, und es gab einen Arzt im KZ, der auch ein
Verfolgter war, und der hat ihm seine Brotration zum Geburtstag geschenkt.«
Und das rührt dich zu
Tränen.
»Ja.«
Du bist, während du das
alles erzählst, sehr erschüttert. Kannst du mir erklären, warum? Hast du deinen
Vater so sehr geliebt?
»Irgendwie schon.«
Obwohl er dich, wie du mir
einmal geschrieben hast, dauernd verprügelt hat?
»Ja, das war die
Hauptsache.«
Das Prügeln.
»Ja.«
Du hast ihn trotzdem
geliebt.
»Ja.«
Brauchst du ein
Taschentuch?
»Entsetzlich, ich habe ihn
trotz allem sehr gern gehabt.«
Warum bist du verprügelt
worden?
»Ach, weil ich ein
entsetzliches Kind gewesen bin.«
Was hast du angestellt?
»Ach, was hab’ ich in
meinem Leben nicht alles aufgeführt …«
Wofür bist du geprügelt
worden vom Vater?
»Also zum Beispiel dafür:
Meine Mutter ist gestorben …«
Als du fünf warst.
»Ja, zirka, dann hat mein
Vater eine neue Mutter geheiratet, ich weiß überhaupt nicht, warum ich gegen
die etwas hatte, weil ich habe ja zu meiner richtigen Mutter gar keine
besondere Beziehung gehabt, also da bin ich hingegangen … Das erzähle ich,
damit ihr eine schöne Geschichte kriegt …«
Das ist nett.
»Da bin ich zu einem
Standl gegangen und habe mir irgendetwas gekauft auf dem Schulweg und hab’
gesagt, na, meine neue Mama wird das schon zahlen. Irgendwann war das dem
Standl zu viel, und da hat die Standlfrau bei meiner Familie nachgefragt, na,
wann wird das bezahlt. Ich hab’ mir jeden Morgen dort Orangen oder irgendetwas
gekauft. Dafür hat mich mein Vater halb … »
Halbtot geprügelt.
»Na, net halbtot.«
Aber das wolltest du
sagen.
»Na ja, es wär’ mir
beinahe außig’rutscht, aber es stimmt net, weil er hat mich ja nur so lange
prügeln können, bis die Rute kaputt war.«
Also die war Gott sei Dank
früher kaputt als du.
»Aber sicher, denn ich
hab’ ja überlebt, wie du siehst.«
Hast du die Orangen
gekauft aus Haß gegen die Stiefmutter, oder weil du sie haben wolltest?
»Das weiß ich nicht. Ich
hab’ ja mit meiner richtigen Mutter gar nichts zu tun gehabt.«
Stiefmütter mag man ja
nie.
»Ja, aber dazu muß ich
gleich sagen, meine Stiefmutter mag ich im nachhinein schon.«
Sie ist ja dann bald
gestorben.
»Ja, aber ich schätze
sie.«
Du redest von deiner dich
zu Tränen rührenden Liebe zu deinem Vater, gleichzeitig sagst du, er hat dich
halbtot geprügelt.
»Da muß ich dir gleich
erzählen, wie er gestorben ist, da hab’ ich nämlich überhaupt nicht geweint.
Das war ein grauenhaftes Ereignis.«
1955.
»Ja, aber zwei Jahre
später bin ich dann mal zu dem Friedhof gefahren, und da hab’ ich gedacht,
jetzt ist er gestorben …«
Jetzt fangst schon wieder
zu heulen an. Immer wenn du an diesen Mann, der dich halbtot geschlagen hat,
denken mußt …
»Wieso, ich heul’ ja
überhaupt nicht.«
Aber du bist nahe daran.
Ich versuche es halt zu verhindern, weil es ungerechtfertigt ist, wenn du es
nicht begründest.
»Also, ich begründe dir
das. Er ist also gestorben, hab’ ich gedacht, der einzige Mensch, der über mich
alles weiß, der mich gekannt hat von Anfang an, lebt nicht mehr.«
Danach kam die Einsamkeit.
»Ja, es war niemand mehr
da, der wußte, wie ich geboren bin, das habe ich entsetzlich gefunden.«
Und du hast ihm nichts
übelgenommen?
»Nein, ich habe ihm nicht
einmal übelgenommen, daß er mich dauernd verprügelt hat.«
Immerhin hast du daraus
die Lehre gezogen, mich nicht zu verprügeln, was dir eh schwer gelungen wäre
als Frau.
»Ich habe dich nie
verprügelt.«
Nein, und du hast mir
geschrieben, das war deine Konsequenz aus den Erfahrungen mit deinem Vater.
Also hast du doch offenbar abgelehnt, was er tat.
»Ja, das ist richtig. Ich
hätte das nie gemacht. Als wir nach Wien gekommen sind, hast du einmal in
seiner Wohnung die Wände bekritzelt, sowas macht ein Kind schon, und ich habe
ihm verboten, dich dafür zu bestrafen. Das war meine einzige Auseinandersetzung
mit ihm. Er hat gesagt, wenn du weiter das Kind so erziehst, dann wird es
einmal ein Verbrecher.«
Vielleicht hat er recht
gehabt.
»Nein, wieso? Du bist kein
Verbrecher geworden. Ich hab’ zu ihm gesagt, nein, er wird kein Verbrecher.«
Warst du dir völlig
sicher?
»Ja, da war ich mir völlig
sicher.«
Warum?
»Weil einer kein
Verbrecher ist, der eine Wand bekritzelt.«
Gut, aber ich möchte
wissen, warum du so sicher warst, daß aus mir kein Verbrecher wird. Hast du
gemeint, daß du darauf einen Einfluß hast?
»Nein.«
Warum warst du dann
sicher?
»Weil man immer die
Hoffnung hat, daß die eigenen Kinder keine Verbrecher werden.«
Die Hoffnung.
»Ja.«
Du hast aber nicht gesagt,
ich hoffe, er wird kein Verbrecher, sondern, ich bin mir sicher.
»Ja, ich hab’ das gewußt.«
Warum?
»Das weiß ich nicht.«
Weil ich aus deinem
Fleisch und Blut bin und du dich für einen guten Menschen hältst?
»Bestimmt nicht.«
Eigentlich bin ich ein
fremder Mensch für dich.
»Ja, richtig, ganz
richtig, eigentlich. Natürlich hat man da gar keine Chance als Mutter.«
Gott sei Dank.
»Ich bin sicher, was du
aus deinem Leben gemacht hast, ist deine Sache. Meine einzige Sache war, daß
ich dich auf die Welt gebracht hab’.«
Das war vielleicht
sträflich.
»Wieso?«
(lacht)
Wie waren die Umstände
meiner Geburt? Erzähle mir das.
»Darüber möchte ich nicht
…«
Aber das ist ein zentrales
Thema. Ich möchte jetzt endlich wissen, wie ich entstanden bin.
»André, das kann ich dir
wirklich einmal erzählen, aber wenn wir alleine sind.«
Hast du Hemmungen, weil
das Tonband läuft?
»Nein.«
Dann erzähl’ mal.
»Du willst wissen, wie du
auf die Welt gekommen bist?«
Ja, das will ich wissen.
»Also, eines Tages kam der
Herr Monsieur Rouanet nach Michendorf …«
Was war der? Woher kam
der?
»Der kam aus einem
Strafgefangenenlager in Polen. Sie mußten, wenn sie gefangen wurden, versuchen,
zu fliehen.«
Sie wollten es.
»Ja, und ihm ist das
zweimal mißlungen, anscheinend, und so kam er in ein Strafgefangenenlager im
Osten, und wie die Russen gekommen sind, haben sie diese Leute befreit, da kam
er nach Michendorf, nicht alleine, es waren noch mehr Ex-Gefangene, alles
Franzosen, die sind nach Michendorf gekommen und wurden von der Bäurin, bei
der, ich wohnte, auch aufgenommen. Wir haben ihnen zu essen gegeben.«
Warum haben sie gerade
dort Halt gemacht?
»Weil sie was zu essen
bekommen haben.«
Das war ein Bauernhof, auf
dem auch du zufällig beschäftigt warst.
»Ich war dort, und die
sind auch dort geblieben.«
Wie ging es weiter?
»Ja, dann sind die anderen
weggezogen, und er ist geblieben.«
Mein Vater.
»Ja.«
Deinetwegen?
»Das weiß ich nicht.«
Hat er sich in dich
verliebt?
»Vor allem hat die Bäurin
großen Wert darauf gelegt, daß er bleibt, weil doch dort Russen waren.«
Als Schutz gegen die
Russen.
»Ja, obwohl …«
Damit die Russen die
Frauen in Ruhe lassen.
»Ja, aber mich hat kein
Russe je vergewaltigt.«
Du hast mir einmal
erzählt, einer hat es versucht.
»Ja, ganz richtig, aber
davor hat mich ein anderer Russe bewahrt, den vergeß ich nie, der hätte seinen
eigenen Landsmann umgebracht, nur um mich davor zu bewahren.«
Wie kam es dazu? Beim
Spazierengehen?
»Um Himmels willen, in
Michendorf haben die Russen geherrscht, und man war mittendrin, und der hat
mich haben wollen, und dann ist dieser andere Russe, den vergesse ich nie,
gekommen, der hätte den umgebracht, nur um mich zu beschützen.«
Kamen die Russen in euer
Haus?
»Die haben doch dort
gewohnt, das war ein wunderschönes Haus, da haben die gewohnt, wir haben im
Keller gewohnt, die Russen oben.«
Ja, wie ging das vor sich?
Überfiel dich der auf der Treppe?
»Wer?«
Der Russe.
»Nein, wir mußten, um
Gottes willen, i waß net … Daß man des alles no amal derzöhlen muaß …«
Tut mir leid, es ist
nötig.
»Wir mußten denen das
Badewasser bereiten, ich weiß nicht, ob sich das heute noch einer vorstellen
kann.«
Wenn du es gut erzählst,
schon.
»Wir mußten das Bad
bereiten und haben uns so scheußlich wie möglich gemacht. Ich war damals
einigermaßen schön und mußte dem das Badewasser bereiten.«
Ihr habt euch
verunstaltet.
»Ja, die Mädchen, damit
man möglichst scheußlich aussah.«
In welcher Form? Habt ihr
euch das Gesicht verschmiert?
»Ja, um möglichst
scheußlich auszusehen, aber ich mußte dem das Badewasser bereiten, und da
wollte der eben mit mir etwas machen.«
Im Badezimmer?
»Na, da war ka Badezimmer,
sondern a Badewann’ in der Gegend, im Freien. Warum interessiert dich das so?
Das wichtigste ist, daß einer gekommen ist, das werd’ ich dem nie vergessen,
das war einer von dieser Siegermacht sozusagen, der hat dann vor meinem Zimmer
geschlafen, damit mir niemand was tut.«
Der andere Russe.
»Ja, der hat gesagt, er
hat auch eine Tochter.«
Auf russisch?
»Ja, sicher.«
Wie hast du denn das
verstanden?
»Man kann in allen
Sprachen miteinander reden. Er hat gesagt, er hat auch eine Tochter, und er
würde nicht wollen, daß der so was passiert …«
(weint)
Immer wenn dir Gutes
widerfahren ist, rührt dich das so, daß du weinst. Gehst du davon aus, man
verdient das nicht, obwohl es doch das Selbstverständlichste ist, daß man einer
Frau, die in Gefahr ist, zu Hilfe kommt?
»Ja, ich bin trotzdem
dankbar.«
Weil du es für die
Ausnahme hältst und meinst, die Menschen sind an sich Ungeheuer?
»Nein, überhaupt nicht. Zu
mir sind die Menschen immer sehr nachsichtig gewesen. Ich bin ihnen dankbar.«
Das stimmt nicht. In
deinen Briefen klingt auch eine große Verachtung durch, zum Beispiel gegenüber
Hundebesitzern, die du am liebsten abstechen würdest.
»Ja, die …«
Die Selbstzufriedenen.
»Ja.«
Die haßt du doch.
»Nein, die hasse ich
nicht, sondern ich bewundere sie, weil sie immer so sicher sind, so
selbstsicher. Ich zweifle ständig an mir.«
Kannst du dir vorstellen,
Böses zu tun?
»Umbringen könnte ich
niemand.«
Warum weißt du das?
»Ich hab’ es erlebt im
Krieg. Ich hatte eine Waffe, und ich habe gelernt, damit umzugehen, aber ich
habe mich entschieden mit achtzehn, neunzehn, daß mein Leben nicht mehr wert
ist als das eines anderen.«
Du hattest eine Waffe?
»Ja, ich habe
Eierhandgranaten bei mir getragen, ich habe eine Pistole gehabt, ich habe
Munition gehabt, ich habe gelernt, wie man aus einer bestimmten Entfernung auf
jemanden schießen muß, damit man ihn umbringt.«
Warum bekamen die Frauen
Handgranaten?
»Damit man sich
verteidigen kann, wenn die Russen kommen.«
Bist du je in dieser
Situation gewesen?
»Natürlich, aber ich habe
mich nicht verteidigt.«
Wie hast du dann überlebt?
»Das war ein Glücksfall.«
Es wurde geschossen.
»Na sicher.«
Und du hast gewartet, ob
du getroffen wirst.
»Ja, ganz sicher. Ich habe
mir damals gedacht, du wirst keinen umbringen, denn dein Leben ist nicht mehr
wert als das eines anderen.«
Bist du in Deckung
gegangen?
»Gar nicht. Ich bin
weitergegangen.«
Im Kugelhagel?
»Im Kugelhagel, und
zufällig hat mich keiner getroffen.«
Das klingt ja jetzt furchtbar
edel.
»Ja, aber so war es.«
Du bist zu Fuß von Polen
bis fast nach Berlin gegangen.
»Ja, aber das war kein
großes Problem. Es sind ja damals alle vom Osten nach Westen gegangen. Die
deutschen Soldaten waren schon vorher geflohen. Hinter uns waren die Russen.«
Und die Fliehenden hatten
Waffen?
»Ja, die hat man auch oft
gefunden. In den verlassenen Lagern konnte man alles finden. Ich hab’ dort zum
Beispiel zum erstenmal so amerikanisches Fleisch gesehen in Dosen. Dort
konntest du alles finden, in diesen zerschossenen Lagern.«
Du hast mir einmal
erzählt, der Vergewaltigung seist du nur deshalb entgangen, weil du gesagt
hast, dein Leben sei dir egal, da hätte der Russe die Lust verloren.
»Na, auf jeden Fall ist
dann der andere Russe gekommen, der hätte seinen eigenen Landsmann erschossen.«
Glaubst du, daß man durch
Passivität etwas erreichen kann?
»Das weiß ich nicht,
ehrlich gesagt, aber daß es möglich ist, durch Inaktivität zu siegen, das
glaube ich schon. Heute weiß ich, daß das nicht immer geht, aber es ist eine
Möglichkeit.«
Gegen Hitler durfte man
nicht nur passiv sein.
»Nein, bestimmt nicht.«
Du hast oft erlebt, daß
Frauen Männern ausgeliefert sind aufgrund ihrer Schwäche und ihres Geschlechts.
Hast du dir jemals gewünscht, ein Mann zu sein?
»Nein, überhaupt nicht.
Ich hatte wirklich sehr schöne Erlebnisse, weil ich eine Frau bin.«
Welche?
»Viele.«
Sag doch mal, worin liegt
der Vorteil für dich, eine Frau zu sein?
»Daß man geliebt wird.«
Du meinst, als Frau wird
man mehr geliebt?
»Des waß i net. So was
hab’ ich mir nie überlegt.«
Die Feministinnen haben
sich das sehr überlegt.
»Also wie diese
Feministinnen auf den Plan getreten sind, habe ich mir gedacht, was für ein
Blödsinn, ich will nicht gleichberechtigt sein, sondern ich will es besser
haben.«
Du meinst, die Männer
haben es auch nicht gut.
»Natürlich nicht. Ich
hätte zum Beispiel nie darauf verzichten wollen, daß mir ein Mann die Tür
aufmacht oder mir in den Mantel hilft.«
Darauf kann ich
verzichten.
»Na, ich nicht.«
In einem Brief hast du mir
einmal geschrieben: Ich war immer die Unterlegene.
»Kannst froh sein, daß ich
alles wegschmeiße, was ich geschrieben habe.«
Ich habe es nicht
weggeschmissen.
»Leider.«
Hier ist es. Lieber Sohn,
schreibst du, ich bin gerade am Ende meiner Philosophie, ich verliere ständig
in der Auseinandersetzung mit meiner Umwelt, ich werde böse und rachsüchtig,
die Biester können alles besser als ich, Nudelsuppe kochen, Fenster putzen,
Männer becircen, Kinder erziehen, nur eines ist ihnen nicht gelungen, einen
solchen Sohn zu bekomment, am Ende habe ich doch gewonnen.
»Also gut.«
Was ist dazu zu sagen?
»Daß du es hättest
wegschmeißen sollen, entsetzlich.«
Warum?
»Ich schmeiße alles weg,
was du schreibst.«
Weil es dich nicht
interessiert.
»Nein, weil ich denke,
wenn ich nächstes Jahr oder in zehn Jahren sterbe …«
Soll das eine Drohung
sein?
»… mußt du den ganzen Käse
nicht wegtransportieren.«
Dauernd sagst du, daß du
bald sterben wirst.
»Nein.«
Und dann lebst du ewig.
»Bestimmt nicht.«
Du hast mir einmal
erzählt, du hättest überlegt, ob du dich umbringen sollst, damit ich frei bin.
»Das habe ich bestimmt
nicht erzählt.«
Du verdrängst alles.
»Nein, aber ich bin gar
nicht imstande, mich umzubringen.«
Mir hast du trotzdem damit
gedroht.
»Wie sich die Mutter vom
Handke umgebracht hat, hab’ ich dir gleich gesagt, das kann ich nicht.«
Vorher, ich glaub’, ich
war neunzehn, hast du mir geschrieben, du würdest dir nie verzeihen, mich
geboren zu haben, weil ich ja andauernd sterben wollte.
»Heute bin ich davon
überzeugt, daß ich das beste Kind der Welt auf die Welt gebracht hab’.«
Das hilft mir überhaupt
nichts.
»Sicher, du mußt mit dir
allein fertig werden.«
Deine Hauptbeschäftigung
im Krieg war es, zu überleben.
»Ja, ich bin von Osten
nach Westen gegangen und hab’ geschaut, daß ich was zum essen und zum anziehen
bekommen hab’. Es war mein Problem zu überleben.«
Das war das Problem aller
zu dieser Zeit. Man kam gar nicht auf die Idee, sich nach dem Sinn des Lebens
zu fragen.
»Nein.«
Aber ich hab’ mich das
schon gefragt.
»Du willst immer nur, daß
es um dich geht. Du willst wissen, warum du auf die Welt gekommen bist. Also
gut, ich habe dich bekommen, und in Michendorf war ein Arzt, weil ja viele
Frauen … Ich bin zwar nicht gerade vergewaltigt worden von deinem Vater, aber
fast, und da hat der Arzt gesagt, wenn du nicht willst, brauchst du das Kind
nicht bekommen, du sagst mir, daß ein Russe dich vergewaltigt hat, und dann
machen wir eine Abtreibung. Aber ich hab’ gesagt, das will ich nicht, ich weiß
nicht warum, wahrscheinlich weil ich so katholisch erzogen war, ich hab’
gesagt, nein, und das ganze Dorf hat sich gefreut und das Kind wirklich gern
gehabt …«
(weint)
Das rührt dich jetzt
wieder.
»Ja.«
An mich hast du dabei
überhaupt nicht gedacht, ob es für ein Kind unter solchen Umständen gut ist,
geboren zu werden. Da könnte ja ich jetzt heulen. Findest du es heroisch, nicht
abzutreiben?
»Nein, aber wenn alle
abtreiben, wären heute weniger Leut’ auf der Welt.«
Das wäre ja wunderbar. Es
gibt eh zu viele.
»Das ist richtig, weil sie
ja eh schon über den Erdkreis purzeln. Das ist ganz richtig.«
Ich unterstelle dir glatt,
du hast das für dich getan.
»Ja
, ganz sicher.«
Ganz egoistisch. Du
wolltest ein Kind haben. Aus welchem Grund?
»Des waß i net.«
Na, jetzt denk einmal
nach. Hattest du Hoffnungen?
»Ja, nicht allein zu sein.
Das war ganz sicher ein Grund.«
Du wolltest einen Ersatz
für den Mann, meinen Vater, der dich verlassen hat.
»Na, einen Ersatz für den
sicher nicht.«
Auf den hast du leicht
verzichtet?
»Ja.«
Hast du ihn nicht geliebt?
»Nein.«
Nie?
»Nie.«
Du wolltest aber mit ihm
nach Frankreich gehen.
»Na ja, wir sind bis zur
Grenze gegangen, nach Magdeburg, aber ich hatte keine Chance, da
hinüberzukommen in die britische Zone.«
Wußtest du schon, daß du
schwanger warst?
»Ja,
sicher, aber
ich hätte in so ein Lager müssen, bis man hätte nachweisen können, wer ich bin,
ich hatte ja keine Papiere, die hatten sie mir geklaut, wie ich von Osten nach
Westen gegangen bin. Da habe ich mir gedacht, ich möchte das Kind nicht im
Lager kriegen, und bin zurückgegangen nach Michendorf.«
Du wärst aber nach
Frankreich gegangen, wenn es leichter gewesen wäre.
»Wenn es einfach gewesen
wäre, ja, aber es war nicht einfach, also bin ich zurückgegangen nach
Michendorf.«
Warum hattest du überhaupt
mit dem Gedanken gespielt, mit einem ungeliebter Mann mitzugehen?
»Damit das Kind ein
ordentliches Zuhause hat.«
Einen Vater.
»Ja.«
Was war er denn von Beruf?
»Versicherungsbeamter.
Vielleicht ist er es noch. Ich weiß nicht einmal, ob er gestorben ist.«
Du weißt nicht, ob er noch
lebt?
»Nein.«
Du hast vorher gesagt, du
seist bei meiner Zeugung fast vergewaltigt worden.
»Ja, aber darüber möchte
ich wirklich nicht sprechen.«
Hat mein Vater dich überredet?
»Das nicht.«
Was ist denn so heikel
daran, das zu erzählen? Ich finde das eine Rücksichtslosigkeit mir gegenüber.
Ich hab’ doch ein Recht darauf, zu erfahren, wie ich entstanden bin. Du bildest
dir ganz schön viel ein auf deine Geheimnisse, und du bist in deiner
Geheimnistuerei ziemlich brutal, denn ich habe über mich dadurch Null Ahnung,
und das stellst du dann noch als edel hin. Dabei ist es eine Lieblosigkeit mir
gegenüber, daß du mir das bis heute verschwiegen hast. Du hast dich immer
geweigert, mir das zu erzählen. Aber ich habe ein Recht darauf. Du wirst mir
doch sagen können, wie ich entstanden bin, ob das im Heu war, auf dem Klo, im
Krankenhaus, ob dich der Mann einfach genommen hat, ob du Spaß dabei hattest …
»Auch dieser Mann hat ein
Recht.«
Ach was, der ist dir doch
scheißegal, lüg nicht. Ob der lebt oder tot ist, was der denkt, ist dir doch
immer egal gewesen. Der weiß doch gar nichts. Rede dich nicht auf den Mann
heraus.
»Mach ich doch gar nicht.«
Gut, dann erzähle mir, wie
ich entstanden bin. Wenn ich dieses Leben schon verabscheue, will ich zumindest
den Anfang wissen.
»Also wenn ich mir
vorstelle, ich wäre jemals auf die Idee gekommen, meine Eltern, die ja Gott sei
Dank alle gestorben sind, zu fragen, wie ich entstanden bin …«
Du hast es ja gewußt, die
waren ja verheiratet, das war ein Ehepaar, die haben wahrscheinlich im Bett
miteinander geschlafen.
»Wieso? Wer weiß, was die
gemacht haben.«
Immerhin ist es
naheliegend. Die haben sich wohl geliebt.
»Also, ich habe mit deinem
Vater geschlafen, und er hat gesagt, ich möchte, wenn wir ein Mädchen bekommen,
daß es so schön ist wie du, und wenn wir einen Sohn bekommen, daß er so tüchtig
ist.«
Das ist ja keine
Vergewaltigung.
»Nein, wir haben einander
auch nicht vergewaltigt.«
Warum sagst du dann, er
habe dich fast vergewaltigt?
»Na, was hast du dir
vorgestellt?«
Du erzählst eine harmlose
Geschichte, bei der du gut dastehst, und ich weiß noch immer nichts.
»Na, es war so, wenn ich
mit ihm nicht geschlafen hätte, wäre ein anderes Mädchen von ihm vergewaltigt
worden.«
Das wußtest du.
»Das wußte ich, ja.«
Hast du mit dem Mädchen
gesprochen?
»Na, sicher.«
Das muß doch furchtbar für
dich gewesen sein.
»Wieso?«
Du wußtest, der wollte
eigentlich eine andere. War die schöner als du?
»Nein, die war schiacher
und dicker.«
Warum wollte er die?
»Des waß i net. Die Männer
waren doch in diesen Kriegswirren damals …«
Wie Schweine.
»Na, das möcht’ ich nicht
sagen. Sie waren einfach ohne Kontrolle.«
Also die andere wollte er
eigentlich.
»Ja
, und die ist
lange Wege mit mir gegangen …«
(weint)
Sie war deine Freundin.
»Du kannst dir nicht
vorstellen, wie das damals gewesen ist.«
Darum will ich’s ja
wissen. Darum frage ich dich.
»Die Männer sind wie die
Wilden herumgerannt.«
Und deine Freundin hat
dich gebeten.
»Ja, und ich habe
versucht, ihr zu helfen.«
Wie?
»Ich hab’ zu ihr gesagt,
verschwind.«
Da stand mein Vater
daneben?
»Nein, aber er hat in dem
Haus gewohnt.«
Du hast dich als Ersatz
angeboten?
»So kann man es auch nicht
sagen.«
Warst du noch Jungfrau
damals, mit zweiundzwanzig?
»Na
sicher.«
Also bin ich entstanden
bei deiner Entjungferung.
»Ja.«
Warum hast du so spät erst
mit einem Mann geschlafen?
»Na, ich hab’ überhaupt
keine Lust gehabt.«
Du hattest andere Sorgen.
»Ganz sicher.«
War es schmerzvoll? Beim
ersten Mal tut es ja meistens weh.
»Also, paß auf, über
meinen Sex schreibst du nichts in der Zeitung, überhaupt nichts, das kannst mit
wem anderen machen, aber ganz bestimmt nicht mit mir.«
Was ist denn dabei? Willst
du in die Geschichte eingehen als Heilige?
»Nein, aber ich red’ über
solche Sachen überhaupt nie.«
Das war mein Unglück. Ich
hab’ dich auch nie einen Mann küssen sehen, obwohl du einen Freund gehabt hast
nach meinem Vater. Du warst für mich ein geschlechtsloses Wesen. Ich hab’ mir
als Kind gedacht, du bist die Jungfrau Maria und ich bin der Jesus. Das hat
mich total überfordert.
»Das ist aber dein
Problem.«
Natürlich.
»Das kannst mir nicht
vorwerfen bis an mein Lebensende.«
Nein, aber fragen kann
ich. Hast du es toll gefunden, dich vor mir so zu beherrschen?
»Blödsinn.«
Du machst ja noch jetzt
ein Geheimnis daraus.
»Aus was?«
Aus deinem Liebesleben.
»Das geht dich sozusagen
überhaupt nichts an.«
Das finde ich schlimm. Ich
hätte mich beinahe umgebracht, verstehst du? Das ist eine ganz dumme
Einstellung von dir. Du hast dich mir gegenüber immer als eine Heilige
dargestellt. In Briefen habe ich dich Madonna genannt. Ich war dir ja
ausgeliefert.
»Wieso bist du mir
ausgeliefert?«
Als Kind ist man den
Eltern doch ausgeliefert. Ich hab’ ja niemanden sonst gehabt außer dir. Wieso
ist es so fürchterlich; über Sex zu reden?
»Das ist überhaupt nicht
fürchterlich.«
Ich frage dich, ob es
lustvoll war, mit meinem Vater zu schlafen.
»Na ja, net besonders.«
Hast du Sexualität je als
lustvoll empfunden?
»Ja,
sicher.«
Später?
»Ja.«
Hätte ja sein können, daß
für immer ein Abscheu bleibt.
»Nicht im geringsten.«
Hast du eine Vorstellung,
warum ich davon nie etwas mitgekriegt habe?
»Nein, ich meine, erzählen
andere Eltern davon?«
Bei anderen sieht man es
ja, daß sie sich lieben. Die schlafen im Nebenzimmer.
»Ja,
das war
natürlich bei uns nicht drin.«
Aber du hattest den Fred,
deinen Freund.
»Wir haben auf dich
Rücksicht genommen.«
Du meintest, es würde mir
schaden, wenn ich sehe, daß ihr euch liebt?
»Ja, aber ich glaube,
jetzt sind wir bei deinen Problemen und nicht bei meinen.«
Ist das verboten? Ich
werde doch fragen dürfen. Warum hast du gemeint, es sei rücksichtsvoll, einem
Kind das nicht zu zeigen? Bist du so erzogen worden?
»Ganz sicher. Ich bin
katholisch erzogen worden, und obwohl ich heute keiner Kirche mehr angehöre,
denke ich immer noch, wenn ich etwas Schlechtes mache, der liebe Gott sieht
das. Ich habe Angst irgendwie.«
Vor Bestrafung?
»Ja, das ist eine
Erziehung, die sicher nicht richtig ist. Obwohl ich sage, es gibt keinen Gott,
habe ich Angst vor ihm. Ich denke, der sieht das alles und hört das alles.»
Und er erlaubt keine Lust?
Belohnt wird das Leiden?
»Ja, richtig, das ist ganz
richtig.»
Immer, wenn du Lust
empfunden hast, hast du gedacht, das sieht er nicht gern.
»Ja, richtig, davon kommt
man nicht so ohne weiteres los.«
Dein Vater hat dir zum
ersten Geburtstag geschrieben, als du noch nicht einmal sprechen konntest:
Bleibe stets brav, mach uns, deiner Mutter und mir, damit Freude, lerne früh
den Kampf des Lebens kennen, sei ihm immer gewachsen, dazu brauchst du
Grundsätze, diese bietet dir unsere Religion …
»Ja, entsetzlich, wenn man
sich das heute vorstellt. Ich würde einem Kind das nie sagen.»
Aber solche Sätze gibt es
auch heute noch. Brauchst dir nur den Papst anzuschauen.
»Um Gottes willen,
erinnere mich nicht an den. Der fährt die ganze Zeit in der Welt spazieren. Den
hätten sie hinter dem Eisernen Vorhang einsperren sollen. Das ist der Mensch,
der am meisten spazieren fährt auf der Welt.«
Ist das ein Fehler?
»Es hat Päpste gegeben,
die sind im Vatikan gesessen und haben nachgedacht und etwas Gescheites
zustande gebracht. Einer, der dauernd reist, hat doch gar keine Zeit,
nachzudenken. Aber ich möchte mich dazu nicht äußern. Der jetzige Papst hat
doch nichts zustande gebracht, außer daß er gesagt hat, jeder soll so viele
Kinder wie möglich kriegen.«
Daran hast du dich ja
gehalten.
»Nein.«
Du hast nicht abgetrieben.
»Doch, ich hab’ später
abgetrieben.«
Ach, wann war denn das?
»Das sollte man eigentlich
gar nicht sagen. Das darfst du nicht schreiben.«
Warum hast du abgetrieben?
»Ja, weil es unmöglich
war, noch ein zweites Kind zu ernähren.«
War das in den fünfziger
Jahren?
»Ja.«
War es damals schwer, abzutreiben?
»Ja, das war echt
schwierig, weil das in so einer Hexenküche passierte, illegal, das kannst du
dir gar nicht vorstellen.«
Erzähle.
»Ich bin zu einer Freundin
gegangen, die kannte so einen Arzt, eigentlich war es noch keiner, sondern der
war nur Student, der hat das gemacht. Zum Glück ist es gut ausgegangen.«
Hast du moralische
Bedenken gehabt?
»Nein, damals nicht mehr,
denn der Katholizismus hat mir in dieser Situation überhaupt nicht geholfen.
Das Problem war, daß das sehr teuer war, 5000 Schilling, und ich hab’ damals
vielleicht tausend netto verdient im Monat.«
Also du hast meinetwegen
abgetrieben, hast es schwer gehabt, hast Opfer gebracht, und der, für den du
das alles getan hast, kam dauernd und sagte, er will nicht leben. Wie bist du
damit fertig geworden?
»Komischerweise habe ich
das nicht als besonders empfunden. Ein Mensch kommt auf die Welt, er muß selber
schaun, wie er mit seinem Leben zurande kommt. Das ist nicht meine Sache.«
Aber du hast das schon
ziemlich tragisch genommen, denn du hast mir geschrieben, du würdest dir nie
verzeihen, mich geboren, man könnte auch sagen, mich nicht abgetrieben zu
haben.
»Komischerweise hab’ ich
das völlig vergessen.«
Darum erinnere ich dich
daran.
»Aber ich weiß ganz genau,
wie ich in Michendorf war, an den Doktor kann ich mich noch erinnern, das war
so ein netter, älterer Herr, und der hat gesagt, willst oder willst nicht, und
ich hab’ gesagt, ja, ich will.«
Ich versteh’ immer noch
nicht, warum.
»Ja,
dann frag’
tausend Mütter, warum sie abtreiben und nicht abtreiben.«
Na, ich frag’ nur die
eine.
»Warum ich es einmal
gemacht habe und einmal nicht.«
Um nicht allein zu sein.
»Ganz sicher, ja. Es war
einfach für mich damals unmöglich, dich abzutreiben.«
Liebt man das Kind schon
im Bauch?
»Ja, sicher.«
Hast du dir gedacht, da
bekomme ich etwas ganz Tolles?
»Damit habe ich mich gar
nicht auseinandergesetzt.«
Wie hast du dir gewünscht,
daß ich werde?
»Ich hab’ mir gewünscht
einen Sohn, blond und mit blauen Augen.«
Sollte der lieb zu dir
sein?
»Das war mir vollkommen
wurscht.«
Das stimmt nicht.
»Wieso?«
Man ist, wenn man keinen
Mann hat, schon liebesbedürftig als Mutter.
»Natürlich, das kann ich
gar nicht bestreiten.«
Aber ich war ja sehr bald
nicht mehr lieb. Du hast verlangt, daß ich dich küsse, und ich hab’ das
verweigert.
»Weiß ich gar nicht.«
Dein Gedächtnis ist wie
ein Sieb.
»Ist doch gut. Man
vergißt, was man nicht wissen will.«
Das ist lebensfeindlich,
so wenig interessiert zu sein an den Dingen.
»Wieso? Ich lebe sehr
gern.«
Du interessierst dich aber
nicht für dein Lebens Du reist mehr als der Papst. Zum Denken kommst du so nie.
»So a Bledsinn, weil i
amal heuer in Rußland war.«
In Ungarn warst auch.
»Na und?«
Du hast mir einmal gesagt,
im Krieg war es leichter, weil man nicht zum Nachdenken gekommen ist.
»Ja,
weil man zu
tun hatte, wie man von Ost nach West oder zu einem Stück Brot gekommen ist, und
das war ganz sicher leichter als wenn man vollgefressen dasitzt und nachdenken
muß, wozu man lebt.«
Oder, wozu man gefressen
hat.
»Ja.«
Diese Situation hat deine
Generation nie erlebt, dazusitzen und nachzudenken.
»Nein, wir waren damit
beschäftigt, Häuser zu bauen, den Schutt wegzuräumen, Wohnungen einzurichten.
Jetzt ist das alles da. Was sollt ihr jetzt machen, oder die, die noch nach dir
kommen?«
Ich konnte ja lernen, zu
denken.
»Ja, aber das konnten
nicht alle.«
Das ist sowieso besser,
denn dann kommt man nicht auf die Idee, daß es zum Beispiel erniedrigend ist,
das Gute zu wollen, wissend, daß es das Böse auch geben muß.
»Ja, weil man sonst gar
nicht wüßte, was das Gute überhaupt ist.
Also war Hitler nötig?
»Heute denke ich über so
etwas nach.«
Der Hitler hat übrigens
seine Mutter heiß und innig geliebt.
»Das ist ja kein Argument
für Gut oder Böse, ob einer seine Mutter liebt oder haßt. Ich hab’ mich mit dem
Hitler überhaupt nicht beschäftigt, komischerweise.«
Ja, das ist wirklich
komisch.
»Ja, weil er in meinem
Leben und in meiner Generation eine wichtige Rolle spielte. Aber ich war ja in
Polen.«
Hast du ihn im Radio
gehört?
»Nein, ich habe, das
sollte ich vielleicht auch einmal sagen, bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr
niemals Zeitung gelesen, niemals Radio gehört, nur ein paar Bücher in der
Schule bekommen. In unserer Familie war das so, der Papa hat ein Radio gehabt
in seinem Zimmer, aber wir Kinder haben nicht hören dürfen.«
Hat der Vater mit euch
über Politik gesprochen?
»Nein, er hat gesagt, wenn
sie dich in der Schule fragen, was dein Vater von Beruf ist, dann sagst du, du
weißt es nicht, entsetzlich, und ich habe es tatsächlich erst viel später
gewußt.«
Warum hat er nicht
gewollt, daß du redest?
»Vielleicht hat er sich
geniert, obwohl er doch eine tolle Karriere machte.«
Nach welchen Grundsätzen
bist du erzogen worden?
»Ich sollte eine sein, die
hart ist und alles schafft und alles überwindet und über nichts weint.«
Das Weinen holst du jetzt
nach.
»Ich hab’ schon immer
geweint.«
Ich hab’ dich nie weinen
sehen.
»Blödsinn. Wenn ich ein
schönes Kinderlied höre, muß ich schon heulen.«
Heute.
»Ja,
damals sollte
ich stark sein, ein Mensch, der alles packt.«
Eine richtige Kindheit
hattest du nicht.
»Nein, weil ich die
Älteste der Geschwister war, da sagte man, du mußt nachgeben, weil du die
Gescheiteste bist.«
Du solltest bescheiden
sein.
»Ja.«
Man sagte, belohnt wirst
du im Jenseits dafür.
»Ja, aber nachdem ich
nicht mehr dran glaube …«
Hast du völlig umsonst
gelitten.
»Ja, aber richtig schen
hat’s ja kaner.«
Warum bist du nach dem
Krieg zur SPÖ gegangen, also Sozialistin geworden?
»Das kann ich dir erzählen.
Ich hab’ zum erstenmal gewählt in meinem Leben in Ostdeutschland. Ich hatte
keine Papiere. Aber sie haben mir geglaubt. Es waren damals ja alle Deutsche.
Ich war auch deutsch in dieser Zeit. Es war die erste Wahl, und ich habe nicht
die Kommunisten gewählt, sondern es hat so eine Gruppe gegeben, die haben
Liberale geheißen, die haben wir gewählt.«
Warum?
»Weil wir gegen die
Kommunisten waren.«
Kannst du mir das
erklären? War es, weil du unter Hitler antikommunistisch beeinflußt warst?
»Nein, das hatte nicht
diesen Grund, sondern die Frau, bei der ich wohnte, war gegen die Kommunisten.
Die hat Propaganda gemacht, daß man die Kommunisten nicht wählen soll.«
Und du hast es
nachgemacht, ohne zu überlegen?
»Man war schon bis zu
einem gewissen Grad gegen die Russen.«
Weil sie sich den
Deutschen gegenüber brutal verhalten haben?
»Ja, nicht unbedingt gegen
mich, aber sie waren brutal, ganz bestimmt.«
Und die Franzosen waren
das nicht.
»Na ja, das waren fünf
Stück.«
In Österreich bist du dann
zu den Sozialisten gegangen.
»Ja, mein Vater hatte mir
eine Stellung besorgt, weil er das Recht hatte als Schadensersatz für seine
Zeit im KZ, und dann sollte ich zu den Christlichsozialen gehen, zur ÖVP, wo er
war, aber ich habe gedacht, das ist nicht das richtige, ich habe mich dafür
eingesetzt, daß alle eine Bildung bekommen. Ich habe alles getan, damit du auf
die Universität gehen kannst. Ich wollte verhindern, daß es eine Ungleichheit
gibt und daß nur der, der Geld hat, eine Chance bekommt.«
Ich werde so müde im Kopf.
»Gemma essen.«
Ich kann nicht mehr.
»Gemma ins Beisl.«
Aber mir fehlt noch so
viel.
An dieser Stelle habe
ich das Tonband für eine Zeit ausgeschaltet. Wir sind in ein Wirtshaus in der
Nähe gegangen. Die Mutter bestellte ein Wiener Schnitzel. Ich weiß nicht mehr,
was ich gegessen habe. Die Fotografin trank nur Kaffee. Während des Essens habe
ich das Band wieder eingeschaltet.
Du hast mich immer gehaßt,
weil ich nicht so geworden bin, wie du dir das vorgestellt hattest.
»Ich habe mir immer
gewünscht, daß du glücklich bist.«
Ja, aber nur, weil du dich
vor den Leuten geniert hast, wenn ich unglücklich war, weil du als
alleinstehende Mutter dann dagestanden bist als eine, die ihr Kind nicht
richtig erziehen kann.
»Du bist nach wie vor ein
ungezogenes Kind.«
Ich bin überhaupt kein
Kind, und ich bin viel klüger als du inzwischen. Ich hab’ mich vorbereitet auf
dieses Interview.
»Soll ich deshalb
kopfstehen?«
Die Fotografin:
»Liebt ihr euch eigentlich? Das ist mir noch nicht
ganz klar.«
Die Mutter:
»Aber natürlich. Wir lieben uns heiß und innig, wenn
wir weit auseinander sind.«
Ich liebe dich nicht. Du
hast immer nur wollen, daß ich deinen Idealen entspreche, daß ich lieb zu dir
bin, brav, angepaßt, keine Skandale mache. Du hast dich ja dauernd für mich
geniert vor den Leuten.
»Darf ich jetzt auch etwas
sagen? Ich liebe dich heiß und innig, aber wenn du da bist, könnte ich dauernd
streiten. Wenn du fort bist, möchte ich, du wärest hier.«
Ja,
weil du dir,
wenn ich fort bin, dein Bild machen kannst, dem ich nicht entspreche, dein
Idealbild.
»Kann sein.«
Die Fotografin:
»Haben Sie sich eigentlich Sorgen gemacht, weil er
nicht leben wollte?«
Die Mutter:
»Nein.«
Sie hat sich geniert, weil
ich mich umbringen wollte. Ich hab’ ja einen Versuch gemacht und bin in die
Klinik gekommen.
»Ja,
ich bin mit
dir hingefahren.«
Meinen Geburtstag habe ich
nie als Festtag empfunden.
»Ja, deshalb hab’ ich dir
letztes Jahr eh nicht mehr gratuliert.«
Die Fotografin:
»Erinnert er Sie an den Vater?«
Die Mutter:
»Nein, überhaupt nicht.«
Was gefiel dir an dem
überhaupt?
»Nichts, und du schaust
ihm auch gar nicht ähnlich.«
Ich hab’ meine Kindheit
als antike Tragödie empfunden. Deshalb bin ich so gern ins Theater gegangen. In
der Oper hab’ ich mich ausgelebt.
»Du findest sozusagen
nichts Positives.«
Nein, ich bin
lebensfeindlich.
»Aha.«
Das einzige Positive für
mich war die Kunst. Die Kunst war die Rettung, Dostojewskij, Rilke, Beethoven,
Verdi …
»Die Musik hab’ ich dir
beigebracht.«
Na, nicht beigebracht. Du
bist nicht einmal ins Konzert mitgegangen.
»Also war alles Dreck, was
ich gemacht hab’.«
Ich werte das gar nicht.
»Soll ich mich umbringen
deshalb?«
Nein, reden.
»Mit mir hat auch keiner
geredet.«
Frag’ mich einmal was über
mich. Gibt es eine Frage, die du mir stellen möchtest?
»Hast du mich gern?«
Das hat ja wieder mit mir
nichts zu tun, mit meinem Leben. Da siehst du einmal, wie schwer es ist, Fragen
zu stellen. Wenn das die einzige Frage ist, dann sage ich, nein, weil sie mir
auf die Nerven geht. Warum fragst du mich nicht, warum ich als Kind so gern in
die Oper gegangen bin?
»Ich hab’ dir ermöglicht,
in die Oper zu gehen.«
Ja, aber du bist nicht
mitgegangen.
»Weil ich nichts zum
Anziehen hatte.«
Du hast mir auch
ermöglicht, zu essen, aber du hast nicht mitgegessen, sondern bist daneben
gesessen und hast mir zugeschaut.
»Das ist übertrieben, aber
wir hatten wirklich sehr wenig Geld.«
Ich hätte mich gefreut,
wenn du die Hälfte von mir gegessen hättest, statt dich zu opfern.
»Hätte ich dich sollen
verhungern lassen, zum Teufel noch mal? Ich hab’ dir ermöglicht zu essen und in
die Oper zu gehen.«
Erwartest du Dank dafür?
»Nein, nichts.«
Warum betonst du es dann?
»Du redest davon, nicht
ich. Mich kannst vergessen.«
Ich rede davon, daß es mir
lieber gewesen wäre, dich lustvoll zu sehen, dich lieben zu sehen, essen,
genießen. Du hast ja auch keine Bücher gelesen.
»Aber ich hab’ sie für
dich gekauft.«
Ich hätte mir gewünscht,
das du sie auch gelesen hättest.
»Wie du auf die Universität
gegangen bist, habe ich alle Geschichtsbücher gelesen. Nur weil du sie lesen
mußtest, hab’ auch ich sie gelesen. Aber du bist ständig nur darauf aus, einen
schlechten Menschen aus mir zu machen.«
Jeder hat Schlechtes und
Gutes.
»Ja, natürlich.«
Du hast mir einmal
geschrieben, mit den Nazis hättest du schon allein deshalb nicht mitlaufen
können, weil dein Vater im Konzentrationslager war. Mich würde interessieren,
ob du dem Hitler nachgelaufen wärst, wenn deine Eltern Nazis gewesen wären.
»Bestimmt nicht. Dem
Hitler wäre ich nie nachgelaufen.«
Was macht dich so sicher?
»Dazu hat mich der Kafka
gemacht. Ich habe seine Bücher gelesen, ich weiß gar nicht mehr, wie sie
geheißen haben …«
So viele gibt’s ja nicht,
Das
Schloß, Der Prozeß, die Erzählungen …
»Also ich hab’ das
gelesen, und dann hab’ ich mir gedacht, du mußt dreimal nein sagen, dann
nachdenken und dann erst zustimmen vielleicht.«
Du hattest ja gar nicht
die Gelegenheit, zuzustimmen.
»Wem?«
Dem Hitler. Eine
Nationalsozialistin hättest du gar nicht werden können aufgrund deines Vaters.
»Doch, ich hätte es werden
können.«
Wie denn?
»Das weiß ich nicht.«
Mir sind die Leute lieber,
die sich zum Bösen für fähig halten. Die, die sagen, daß sie zum Bösen niemals
imstande wären, die tun es dann.
»Ja, ich weiß ganz sicher,
daß ich nicht weiß, wozu ich imstande bin.«
Eben.
»Aber ich weiß genau, wozu
ich nicht imstande war, denn das habe ich ausprobiert.«
Du meinst, du warst nicht
imstande, zu töten.
»Ja, denn ich hatte meine
Eiergranaten, meine Pistole, meine Munition, aber ich habe sie den Männern
geschenkt, die von Michendorf nach Potsdam abkommandiert worden sind, die
hatten fast keine Waffen mehr. Ich habe sie ihnen geschenkt. Ich habe sie nicht
verwendet.«
Wie erklärst du dir
Menschen, die töten können?
»Ich verurteile sie nicht.
Aber ich habe mit achtzehn Jahren gewußt, und das weiß ich bis heute, daß mein
Leben nicht mehr wert ist als das eines anderen.«
Das nehme ich dir einfach
nicht ab.
»Das kannst du ruhig tun.
Ich bin von Polen nach Michendorf gegangen, bewaffnet, ich hätte jeden
niederknallen können, der mir entgegengekommen ist.«
Du stellst dich immer so
edel dar. Mich hast du einmal als Satan bezeichnet.
»Daran kann ich mich nicht
erinnern.«
Du kannst dich an nichts
erinnern, was ein schlechteres Licht auf dich wirft.
»Ich möchte jetzt noch ein
Achtel gespritzt.«
Kannst du dir vorstellen,
einen Menschen zu hassen?
»Sicher.«
Wen?
»Da fällt mir, ehrlich
gesagt, jetzt keiner ein.«
Denk nach.
»Ich denke gerade, könnt’
ich vielleicht den Hitler hassen oder den Stalin oder den Mao Tse Tung? Aber
net amal das könnte ich.«
In deinen Briefen
schreibst du oft das Wort »hassen«.
»Ja,
die
Selbstzufriedenen hasse ich.«
Und die Auffälligen.
»Nein.«
Du hast mir einmal
geschrieben, die Juden sollten sich weniger auffällig benehmen, dann würden sie
nicht so verfolgt.
»Also, mach’ jetzt ja
keine Antisemitin aus mir, weil ich frag’ keinen Menschen, wer oder was er
ist.«
Aber wenn einer kommt und
es laut hinausruft, sagst du, er ist selbst an seinem Verderben schuld.
»Nein.«
Du hast mir geschrieben,
du hättest den Waldheim zwar nicht gewählt, aber die Juden täten mit ihrem
auffälligen Benehmen alles dazu, daß man sie nicht übersehen könnte.
»Das ist ja nicht antisemitisch.«
Die können sich doch
darstellen, so laut sie wollen.
»Ja, sicher, aber sie
sollen auch die anderen sich darstellen lassen.«
Tun sie das nicht?
»Nein, denn wieso bringen
sie die Araber um?«
Das ist jetzt eine
schwierige Frage, weil die Juden zu einem Staat geworden sind. Aber du hast
deinen Satz über das Stillhalten auf die Juden in Wien bezogen
»Dann nehme ich das jetzt
zurück.«
Hat es vielleicht mit
deiner Erziehung zu tun? Du bist ja zum Stillhalten erzogen worden.
»Man muß von seinem
zehnten bis zu seinem siebzigsten Lebensjahr seine Meinung auch einmal ändern
dürfen. Man kann einen nicht festlegen auf alles, was er vor dreißig Jahren
gesagt oder geschrieben hat.«
Du hast im Dritten Reich
gelernt stillzuhalten, weil reden gefährlich war.
»Ja, man hat mir gesagt,
halte den Mund und höre zu. Das hat sich irgendwie festgesetzt. Es war aber für
unsere Familie sehr wichtig.«
Damals, klar, und dadurch
hast später nie mehr den Mut gefunden, dich unter Leuten hervorzutun.
»Ja, das kommt aus dieser Zeit,
wo es wichtig war, sich zurückzuhalten.«
Heute erschrickst du, wenn
sich jemand auffällig benimmt, obwohl es nicht mehr gefährlich ist.
»Das kann sein.«
Ich war dann für dich das
Horrorkind.
»Nein.«
Ich war laut, hatte keine
Grundsätze, keine Religion.
»Das hat mich nicht
gestört, obwohl es für dich vielleicht leichter gewesen wäre, wenn ich dir
etwas vermittelt hätte. Einer, der von vornherein weiß, wohin er gehört, hat es
leichter. Da ich keinen Glauben hatte, hast du auch keinen heute. Ich hab’ dir
auch nie gesagt, was richtig und falsch ist.«
Moralisch?
»Ja.«
Vielleicht hatte das damit
zu tun, daß du die Grundsätze in deiner Familie als beengend empfunden hattest.
»Ja, das glaube ich. Aber
ich bin heute trotzdem der Überzeugung, man sollte den Kindern sagen, ob sie
evangelisch oder katholisch sind, damit sie eine Grundlage haben.«
Wenn ich dich gefragt
habe, warum ich leben soll, hast du gesagt, weil ich geboren bin. Das stimmt
natürlich …
»Ja, aber es ist keine
Hilfe. Ich würde das heute nicht mehr so machen.«
In dem Buch
Muttersöhne von Pilgrim*, das ich dir mitgebracht habe, wird die These vertreten, daß
Söhne ohne Väter, da sie in der Kindheit nur eine Frau als Identifikationsfigur
haben, ihr Geschlecht später hassen und deshalb zerstörerisch werden. Als
Beispiele werden Nero, Hitler und Stalin genannt. Interessiert dich das?
»Ich hab’ über den Nero
oft nachgedacht, vielleicht mehr als über dich.«
Wahrscheinlich gibt es
wirklich eine zerstörerische Ader in mir, die ich jetzt versuche, in Kunst umzuwandeln.
Vor zehn Jahren hätte ich vielleicht auf den Atomknopf gedrückt.
»Siehst du, das hätte ich
nie getan.«
Du nicht, natürlich.
»Ja, aber nicht, weil ich
eine Heilige bin, sondern weil ich danach kein Bedürfnis habe.«
Das ist kein Bedürfnis.
»Doch, das ist schon ein
Bedürfnis, auf den Atomknopf zu drücken, um damit berühmt zu werden.«
Berühmt wird man nicht,
weil ja dann gar nichts mehr übrig bleibt.
»Das sind Dinge, die für
mich ganz unvorstellbar sind.«
Darum muß man ja fragen.
Das Unvorstellbare muß man aufhellen durch Fragen. Wo das Unvorstellbare
beginnt, hört deine Neugier auf, anstatt anzufangen.
»Ja, wenn jemand sagt, er
könnte auf den Atomknopf drücken, hört mein Verständnis auf.«
Aber wenn
ich das
wäre, der dir doch ziemlich nahe steht, würde es dich dann nicht interessieren,
warum ich so bin?
»Fast nicht.«
Das ist hart. Das nennst
du Liebe.
»Ich würde sagen, meine
Liebe hört auf, wenn jemand die Welt mit einem Knopfdruck in die Luft sprengen
will.«
Darum tut er es dann.
»Du würdest das sicher
nicht machen.«
Die Mutter vom Hitler hat
sich auch nicht vorstellen können, daß ihr Sohn sechs Millionen Juden vergast.
»Du bist ja hoffentlich
net der Hitler.«
Nein, ich hab’ einen
anderen Weg gefunden.
»Meine Liebe zu dir würde
auch dann nicht aufhören, wenn du der Hitler wärst.«
Jetzt widersprichst du
dir.
»Die würde nie aufhören.«
(schluchzt)
Du trinkst zuviel. Du bist
ja jetzt nicht mehr ganz bei Verstand.
»Ich kenn’ nicht einmal
den Namen der Fotografin.«
Die Fotografin:
»Gabriela.«
Die Mutter:
»Was machen Sie beruflich?«
Na, fotografieren, das
hast ja inzwischen gemerkt.
»Wir lernen uns jetzt ohne
dich kennen.«
Wenn du mich ausschalten
willst, muß sie gehen.
»Wieso?«
Weil mir dieses Interview
so gelingen muß, daß es dann in der ZEIT erscheint.
»Geht es um Geld?«
Ja, auch.
»Ich zahle dir alles, wenn
nichts erscheint.«
Für dich interessiert man
sich sowieso nicht bei der Zeitung.
»Also um was geht es
jetzt?«
Ich muß einen Dialog
zustande bringen, der für die ZEIT interessant genug ist, obwohl du keine
Berühmtheit bist.
»Aber die Welt besteht
doch in Wirklichkeit aus gewöhnlichen Leuten.«
Ja, aber nicht in der
Zeitung.
»Ich glaube nicht, daß ich
von öffentlichem Interesse bin.«
Eben.
»Außer, wenn wir in Österreich
Wahlen haben, dann geh’ ich hin.«
Ist das nicht schlimm, daß
man in der Demokratie nur so ein Stimmvieh ist?
»Es gibt ja noch mehr Frau
Müllers. In der Summe ergibt das was.«
Du hast also schon das
Gefühl, an der Politik mitzuwirken?
»Ja, sicher. Ich gehe
grundsätzlich zu jeder Wahl.«
Was hattest du als junges
Mädchen für berufliche Wünsche?
»Ich wollte Chemie
studieren. Ich hatte in Deutschland auch die Chance dazu nach dem Krieg. Aber
mein Vater hat mich nach Wien geholt.«
Hast du versucht, in der
SPÖ aufzusteigen?
»Ich war Vertrauensmann
bei der Krankenkassa, wo ich gearbeitet hab’. Ich habe schon angestrebt,
mitzumachen, aber mit meiner Sprache.«
Bist du froh, auf der Welt
zu sein?
»Ja, das finde ich
wahnsinnig guat, ich bin glücklich darüber.«
Auch wenn du siehst,
wieviel Furchtbares geschieht?
»Ja, trotzdem. Natürlich
möchte ich vieles ändern. Aber ich hab’ keine Chance, was zu ändern. Ich hab’
nur die eine Chance, nicht das zu machen, was die anderen machen. Ich werde
keinen erschießen.«
Dafür ist es jetzt eh zu
spät.
»Kannst
du etwas
ändern?«
Nein.
»Na, siehst du.«
Ich bin sowieso Fatalist.
»Na, das ist leiwand.«
Ich könnte dir das auch
philosophisch begründen.
»Und was macht dann die
Welt damit?«
Nichts, man redet halt,
und man kann es dann drucken.
Die Fotografin:
»Ich möchte noch einen Kaffee.«
Deshalb müssen Sie ja
nicht das Gespräch unterbrechen.
Die Mutter:
»Mit Milch?«
Es geht jetzt nicht mehr
mit Ihnen, Sie müssen gehen.
Die Fotografin:
»Ich verstehe.«
Warum trinken Sie dann
noch Ihren Kaffee?
»Gut, ich gehe sofort.«
Die Mutter:
»Das ist aber arg. Das tut mir jetzt leid.«
Dir tut aber nicht leid,
wenn mein Interview scheitert.
»Ich zahle dir alles.«
Dein Geld kannst du
behalten. Ich will, daß es gelingt. Ich strampel mich ab, rede mir die Seele
aus dem Leib … Wenn das nichts wird, hat sie auch ihre Fotos umsonst gemacht …
(Die
Fotografin geht.)
»Frag’ mich was.«
Ich bin zu erschöpft.
»Gemma a bissel
spazieren.«
Ich bin froh, daß wir
alleine sind. Jetzt kann ich es dir ja sagen, ich hatte furchtbare Angst vor
dieser Begegnung.
»Mit mir?«
Ja.
»Was willst du wissen?«
Du hast gesagt, du freust
dich, daß ich gekommen bin. Kannst du mir das begründen?
»Das ist nicht zu
begründen.«
Warum hast du getrunken?
»Ich hab’ nicht
getrunken.«
Ich merke es doch, weil du
dann viel sentimentaler bist und dir dauernd die Tränen kommen.
»Ich weine aus
unerfindlichen Gründen.«
Ich zitiere aus einem
Brief von dir. Du fragst: »Hältst du es für möglich, daß es Menschen gibt, die
sich vollkommen gleichen? Wenn nicht, kann völlige Übereinstimmung nur durch
die Selbstaufgabe des einen zustande kommen.«
Das hast du geschrieben.
Da klingt Pessimismus durch.
»Ja,
einer will
sich verwirklichen, und einer muß da sein, der ihm das möglich macht.«
Kann man sich nicht in der
Mitte treffen?
»Das glaube ich nicht.«
Hast du das erfahren?
»Ich habe die Erfahrung
gemacht, daß immer einer reden will und der andere zuhören muß. Das hat man mir
auch so beigebracht, ich muß zuhören, die anderen reden, und ich habe kein
großes Problem damit. Nur manchmal im Leben habe ich mir gedacht, daß auch mir
einmal jemand zuhören müßte.«
Meinst du nicht, daß man
sich das erkämpfen muß?
»Ja, das sollte man, aber
wenn man die Älteste von sechs Geschwistern ist, noch dazu in der Nazizeit, der
man beigebracht hat, daß man besser still ist und schweigt, damit keiner
gefährdet wird, dann gibt es eigentlich gar keinen Ausweg mehr.«
Gut, daß du das endlich
sagst.
»Ich kann halt nicht
schreiben.«
(weint)
Du hast mir viele Briefe
geschrieben. Einmal hast du mir von deinem Vater geschrieben, er habe, als er
aus dem KZ kam, gesagt, er hätte nun alle Höhen und Tiefen durchlebt, er danke
Gott, daß sein Leben nicht nur so verronnen sei.
»Ja, das hat er gesagt.
Ich habe mit ihm nicht sehr viel geredet. Außer mich zu verprügeln, hat er
nicht viel mit mir zu tun gehabt. Aber das hat er mir wirklich gesagt.«
Was waren die Höhen und
Tiefen in deinem Leben? Was war das Schrecklichste?
»Das Schrecklichste, ganz
komisch, war, wie ich von Osten nach Westen gegangen bin, ich hatte nur meine
Tasche, in der waren meine Papiere und ein paar Bilder, also wie ich das alles
verloren hab’. Das hat mir jemand gestohlen und ich hab’ gedacht, jetzt kannst
du nicht mehr beweisen, daß du auf der Welt bist.«
Du existiertest nicht
mehr.
»Ich war nicht mehr da.«
Und was war das Schönste?
»Das Schönste war, wie du
auf die Welt gekommen bist. Ich hab’ mir, als ich schwanger war, einen Sohn
gewünscht, weil ich dachte, ein unehelicher Sohn hat es leichter als eine
Tochter, und dann wollte ich, daß du blaue Augen und blonde Haare hast.«
Ich bin plötzlich so müde.
»Du bist ja mehr fertig
als ich.«
Zahlen bitte!
»Gehen wir jetzt?«
Ja, morgen vormittag komme
ich noch einmal.
Bis zu dieser Stelle
waren etwa dreieinhalb Stunden vergangen. Am 16. Juni habe ich meine Mutter
wieder getroffen, diesmal allein. Ich war nun entspannter. Ich hatte nachts
schlafen können.
Ich hab’ noch ein paar
Fragen.
»Ich finde das Ganze
gruselig.«
Das Interview?
»Ja, ich habe keine
Sekunde diese Fotografin vergessen können und das Klicken und den schwarzen
Apparat, ich meine das Tonband. Vielleicht können andere, die das gewöhnt sind,
es besser ertragen, wenn dauernd Blitzlichter auf sie gerichtet sind.«
Blitzlichter waren ja
keine.
»Nein, aber ein
gewöhnlicher Mensch wie ich ist so etwas nicht gewöhnt. Ich habe die meiste
Angst vor einer Intensivstation, mich sollen sie ja nicht, auch nicht in zehn
Jahren, an hundert Schläuche hängen, aber so bin ich mir gestern vorgekommen,
so habe ich mich gefühlt, vollkommen hilflos, ausgeliefert, entsetzlich.«
Gut, daß du es sagst.
»Ich habe gedacht, Gott im
Himmel, wie wehrt man sich?«
Indem man es ausspricht.
»Ja, aber man muß ja
nachdenken zuerst. Am Abend hab’ ich gedacht, du hättest dich wehren können und
sagen, lassen wir es. Aber während es geschieht, ist man ausgeliefert.«
Was hast du dir
vorgestellt?
»Ich hatte nicht gedacht,
daß es so hart ist.«
Anders erfährt man ja
nichts.
»Ich hatte ständig Lust,
nett zu sein.«
Da entsteht nichts.
»Gut, da entsteht nichts,
aber man muß doch nett sein, wenn man Lust dazu hat, oder darf man das nicht?«
Wenn ich in den Interviews
nur nett zu den Leuten bin, erfahre ich nichts.
»Entsetzlich.«
Ich hab’ mit der
Fotografin gestern noch telefoniert. Die sagte, daß du dauernd behauptest, das
Leben sei schön, aber was du ausstrahlst, sei nicht, daß du das Leben so
herrlich findest.
»Natürlich finde ich nicht
alles wunderbar, was passiert, aber ich kann ja nichts ändern. Ich kann nicht
die Atombombe und die Kriege verhindern, und weil ich das nicht kann, muß ich
mich distanzieren, sonst müßte man sich wirklich das Leben nehmen. Man bekommt
heute so viele Informationen. Der Wald stirbt, weiß der Teufel. Früher war es
leichter, weil man einen begrenzten Horizont gehabt hat.«
Jetzt redest du ganz
anders als gestern. Wieso hast du Phasen, in denen du mit einer Hartnäckigkeit
sondergleichen darauf beharrst, das Leben sei wunderbar?
»Weil ich es möchte. Ich
möchte nicht ganz so verzweifelt sein. Ich möchte ein schönes Leben haben.«
Das bekommst du nicht,
indem du deine Gefühle verleugnest.
»Aber wie soll man es
anders machen?«
Indem man über seine
Verzweiflung spricht. Wenn du immer sagst, es geht dir gut, und in Wirklichkeit
geht es dir schlecht, geht es dir nur immer schlechter.
»Komischerweise geht es
mir aber wirklich nicht immer schlecht.«
Aber manchmal, doch du
sprichst nicht darüber.
»Wozu soll ich darüber
sprechen?«
Damit es dir danach besser
geht, weil es befreiend wirkt. Glaubst du nicht, daß das Sprechen befreiend
wirkt?
»Doch, das glaub’ ich
schon, aber wenn man dazu erzogen ist, nicht zu sprechen, fällt einem das
schwer. Ich hab’ eine Freundin, die redet ununterbrochen. Ich habe da gar keine
Chance, auch nur einen Satz zu sagen. Die braucht das einfach.«
Aber du auch.
»Nein, ich höre zu, was
die redet.«
Du weißt ja nicht, ob die
sich freuen würde, wenn du sie mal unterbrichst …
»Bestimmt nicht. Das habe
ich dreißig Jahre vergeblich versucht.«
Dann ist es die falsche
Freundin. Du kannst doch nicht alles hinunterschlucken.
»Vielleicht habe ich
Angst.
Was droht, wenn du redest?
»Na, heute ist es egal,
aber im Dritten Reich durfte man zum Beispiel nicht reden, weil sonst die Nazis
gekommen wären und einen ins KZ gebracht hätten.«
Weil überall Spitzel
saßen?
»Ja, man hat keinem
einzigen trauen können.«
Hast du den Hitlergruß
mitgemacht?
»Ja, sicher. Im
Arbeitsdienst mußte man morgens antreten, da wurde die Hakenkreuzfahne in die
Höhe gezogen, und jeder mußte den Hitlergruß machen.«
Was hast du dabei
empfunden?
»Ich war völlig dagegen.«
Warum? Du wußtest ja
nichts.
»Nein, aber wie der Hitler
in Graz einmarschiert ist, habe ich mir das angeschaut, und wie ich nach Hause
gekommen bin, hat mich meine Stiefmutter gefragt, wo hast du dich wieder
herumgetrieben, und hat mir ein paar Watschen versetzt und gesagt, während du
weg warst, haben sie deinen Vater geholt. Da hab’ ich angefangen, über Politik
nachzudenken.«
Du hast gesagt, daß sie
ihn in Wien abgeholt haben.
»Zum erstenmal in Graz.
Dann haben sie ihn freigelassen und in Wien wieder verhaftet wegen seiner
politischen Tätigkeit. Aber das wußte ich nicht. Ich wußte nur, auf dem Grab
meiner richtigen Mutter stand ›Gewerkschaftssekretärsgattin‹. Sonst wußte ich
nichts.«
Wie alt wurde die?
»Keine dreißig.«
Woran starb sie?
»Ich glaub’, sie war
lungenkrank.«
Hast du an sie eine
Erinnerung?
»Ich hab’ komischerweise
an sie nur eine einzige Erinnerung, und ich weiß nicht einmal, ob man mir das
später erzählt hat, ich war ja erst vier Jahre alt, aber eines stimmt sicher,
sie konnte wunderschön nähen und hat mir das auch als Kind beigebracht, und ich
kann mich erinnern, daß sie im Bett gelegen ist und mir, weil ich etwas nicht
so schön genäht hatte, auf den Kopf gehauen hat, und irgend jemand hat dann
gesagt, hau’ sie nicht auf den Kopf, davon werden die Kinder dumm. Das ist die
einzige Erinnerung an meine Mutter. Danach ist sie gestorben, da haben sie
meinen Bruder und mich aus dem Bett geholt, wir haben damals ein Dienstmädchen
gehabt, das hat uns angezogen und ins Schlafzimmer der Eltern geführt, und mein
Vater hat Taschentücher aus dem Kasten geholt, an das kann ich mich noch genau
erinnern, und hat gesagt, die Mama ist tot, und ich habe gedacht, jetzt muß man
weinen, mir war aber gar nicht nach Weinen zumute, ich hatte, so scheint es,
keine besondere Beziehung zu meiner Mutter. Aber ich habe das Taschentuch
genommen und habe geheult.«
Es ist dir gelungen, das
vorzutäuschen?
»Ja,
weil der Vater
geheult hat und die anderen rundherum. Beim Begräbnis bin ich dann nicht
gewesen.«
Wie lang war der
Zwischenraum, bis er wieder geheiratet hat?
»Zwei oder drei Jahre.
Dazwischen haben wir eine Hausgehilfin gehabt. Wie er wieder geheiratet hat,
bin ich schon in die Schule gegangen, und obwohl ich nicht die geringste
Bindung zu meiner richtigen Mutter hatte, habe ich alles aufgeführt, um meiner
Stiefmutter das Leben zur Hölle zu machen, anfangs, später nicht mehr.«
Wahrscheinlich hat sie
ihre richtigen Kinder, deine Stiefgeschwister, mehr liebgehabt.
»Das weiß ich nicht. Sie
hat jedenfalls verhindert, daß ich ins Konzentrationslager gekommen bin.«
Wie?
»Sie hat mich adoptiert,
das war nötig.«
Wieso?
»Diese Dinge sind mir noch
heute ein Rätsel. Sie hat uns, meinen Bruder und mich, wie ihre eigenen Kinder
nach Deutschland geholt, das war eine richtige Odyssee. Vorher hatte sie sich
von meinem Vater, der ins KZ gekommen ist, scheiden lassen. 1949 haben sie
wieder geheiratet. Inzwischen war sie mit einem anderen zusammen gewesen.«
Mit wem?
»Der hat Schnauz geheißen,
das war ein Mistviech, der war während der Nazizeit beim Militär.«
War der ein Nazi?
»Ganz sicher. Dadurch
waren wir wahrscheinlich geschützt. Nach dem Krieg war er dann keiner mehr.«
Hast du zu dem »Vater«
gesagt?
»Nein, Julius hat der
geheißen, Julius Schnauz, ein Miestviech.«
Warum?
»Er hat meine Stiefmutter
geheiratet, er hat das erzwungen, er war ein Freund meines Vaters. Später ist
er in die nationalsozialistische Partei eingetreten.«
Wußte dein Vater, daß die
Mutter den geheiratet hatte?
»Ich wußte ja nicht
einmal, daß er im KZ war.«
Ich begreife nicht, daß du
so wenig neugierig warst, das herauszubekommen.
»Was hätte ich machen
sollen?«
Fragen.
»Das kann man heute leicht
sagen, wenn man nie in so einem Staat gelebt hat. Heute kann jeder hingehen und
sagen, Herr Vranitzky, warum sagen Sie das?«
Aber es muß dich doch
gewundert haben, daß du auf einmal eine Uniform tragen mußtest und die Hand zum
Hitlergruß heben. Hast du nicht wissen wollen, warum das so war?
»Doch, aber man hat mir
befohlen, den Mund zu halten.«
Auch später hast du so
vieles hingenommen, ohne Fragen zu stellen.
Ich habe dir depressive
Gedichte geschrieben, habe dauernd gedroht, mich umzubringen, habe nicht leben
wollen. Hast du dir das erklären können?
»Nein, das war mir
vollkommen unverständlich, denn ich weiß, daß man sowieso einmal stirbt, und
ich bin neugierig auf das Leben. Deshalb kann ich überhaupt nicht verstehen,
daß sich einer umbringen will. Ich habe ja eher Angst vor dem Sterben.«
Aber es ist doch
lebendiger, wißbegierig zu sein, wenn man was nicht versteht.
»Du meinst,
dahinterzukommen?«
Ja,
noch dazu, wenn
es dein eigenes Leben betrifft, deinen Vater, dein Kind. Es geschehen Dinge,
die du nicht begreifst, aber du stellst keine Fragen. Ich wollte mich
umbringen, und du hast nicht gefragt, warum ich unglücklich bin. Hat man dir
verboten, zu fragen?
»Wer hätte mir das
verbieten sollen? Ich glaube, mit mir hat sich überhaupt niemand besonders
beschäftigt. Man hat mir beigebracht, du darfst nicht stehlen, du darfst nicht
lügen. Damit hat sich die Sache.«
Kannst du dir heute
erklären, warum es Leute gibt, die Drogen nehmen, nicht leben wollen,
verzweifelt sind?
»Ja, weil es solche gibt
wie mich, die sich nicht trauen, zu fragen, vor lauter Angst, daß dann auf sie
etwas zukommt, das sie nicht verstehen oder nicht aushalten eventuell.«
Du hast doch so viel
ausgehalten im Leben.
»Ich bin ganz sicher, daß
ich manchmal zu feige war, zu feig, um zu fragen.«
Deine Angst war größer als
deine Wißbegier.
»Ja, das kann man, glaube
ich, sagen. Ich bedaure das. Heute würde ich fragen, aber heute bin ich fast
siebenundsechzig.«
Wahrscheinlich bin ich
deshalb zum Berufsfrager geworden, als Gegenreaktion gegen die Angst. Du hast
ja nicht nur Schwierigkeiten, zu fragen, sondern fürchtest dich auch, gefragt
zu werden.
»Das ist richtig, ganz
sicher.«
Zu mir hast du, wenn ich
von Selbstmord sprach, immer gesagt: Mach kein Theater!
»Na ja, da würde ich heute
auch vorsichtiger sein, bevor ich so etwas sage, weil ich inzwischen weiß, daß
der Unterschied zwischen Theater und Wirklichkeit gar nicht so groß ist.«
Ich hab’ dir ein Buch
mitgebracht. Der Autor heißt Cioran. Es heißt
Vom Nachteil, geboren zu sein.
»Entsetzlich.«
Du kennst doch den Thomas
Bernhard. Es gibt Leute, die das Leben als sinnlos empfinden und lächerlich.
Dann stellt man sich die Frage, warum das so ist. Der H.C. Artmann hat einmal
zu mir gesagt: Schuld ist die Gottheit.
»Also, ich würde nie einen
Gott anklagen. Dazu bin ich nicht gläubig genug. Ich mache ihn weder
verantwortlich für das Schlechte noch für das Gute.«
Meinst du, man kann auch
leben, ohne glücklich zu sein?
»Ja, natürlich kann man
das. Glaubst du, daß ich andauernd happy bin?«
Nein, aber du sagst es
nie.
»Das braucht man nicht
sagen.«
Zu mir hast du immer
gesagt, das einzige, was du dir wünschst, ist, daß ich glücklich bin. Das ist
eine unglaubliche Forderung.
»Ich glaube, daß du das
falsch verstehst. Ich meine nicht, man soll alles rosarot sehen und dauernd
happy sein, sondern nur, man soll das Leben irgendwie akzeptieren, mit Weinen
und Lachen.«
Das Leben akzeptiert man,
indem man lebt.
»Indem man sich nicht
umbringt.«
Ja, nicht indem man
dauernd sagt, wie gut’s einem geht.
»Ich mein’, ich bin nicht
glücklich in deinem rosaroten Sinn, aber ich freu’ mich zum Beispiel, wenn ich
was Schreckliches überstanden hab’.«
Was denn?
»Gott im Himmel, da kann
ich dir mal was erzählen. Ich habe schon so viele Menschen sterben gesehen
erstens, und zweitens vermißt, ich hatte unendliche Schmerzen. Die sind im
Krieg gefallen, meine Mitschüler zum Beispiel, alle, mit denen bin ich in die
Schule gegangen, und dann sind sie hintereinander im Krieg gefallen, mein
Vater, meine Mütter, weiß der Teufel, und da habe ich immer gedacht, Gott, die
sind tot, die Schmerzen mußt allein du aushalten.«
Hat dir die Hoffnung
geholfen?
»Na, ganz sicher.«
Hoffnung worauf?
»Daß ich es überstehe, die
Hoffnung wird immer größer, je mehr man überstanden hat, zum Beispiel die
Hoffnung, daß es keinen Krieg mehr gibt, wenn man einen schon überstanden hat.«
Kannst du Menschen
verstehen, die Krieg faszinierend finden?
»Ganz sicher nicht. Mich
hat er fast umgebracht. Das hat mich ganz sicher geprägt. Ich habe nachts
geschrien, da hab’ ich schon hier gewohnt, oder wenn ich mit Bekannten auf
Reisen war.«
Die haben dir das erzählt?
»Ja, die haben gesagt,
hörst, du schreist in der Nacht, was zum Teufel hast du erlebt in diesem Krieg,
und dann hat meine Stiefschwester zu mir gesagt, hörst, irgendwann mußt du den
Krieg doch vergessen. Aber das kann ich nicht.«
Was hast du geträumt?
»Ich hab’ geträumt, wie
diese Panzer über die Trecks gefahren sind, all diese entsetzlichen Sachen,
über die Flüchtlingszüge, die Pferdewagen. Die sind einfach über die Menschen
drübergefahren, und die waren dann tot, manche waren halbtot, da hab’ ich immer
gedacht, ich muß das vergessen, aber dann hab’ ich in einem Buch gelesen, das
braucht man nicht zu vergessen, man muß nur damit leben können, man muß lernen,
damit zu leben.«
Und das kannst du
inzwischen?
»Ja, ich hab’ gedacht, das
ist nun einmal so, und wenn einer mich schreien hört, wird er das aushalten
müssen. Ich hab’ es auch ausgehalten. Man muß im Leben ein paar Schmerzen
aushalten können.«
Aber dazu braucht man doch
ein Motiv.
»Nein, da hilft einem der
Überlebenswille. Bis zu einem gewissen Grad ist der Mensch auch nur ein Viech.
Jetzt kannst du fragen, was mich von einer Kuh unterscheidet.«