Interview mit Gerta Müller, meiner Mutter, 1989

(in der für die Veröffentlichung im Feuilleton der "Zeit" gekürzten Fassung)



Du bist die erste nicht prominente Person, mit der ich ein Interview führe. Hältst du dich für bedeutend genug, öffentliches Interesse zu wecken?

"Nein, überhaupt nicht."

Warum hast du dann zugestimmt?

"Weil ich mich freu', wenn du kommst."

Ich möchte mit dir über dein Unglück sprechen.

"Unglücklich bin ich nicht."

Grund dazu hättest du. Deine Mutter* starb, als du fünf warst. Dein Vater** verschwand im KZ. Der Mann, von dem du ein Kind bekamst, ließ dich im Stich.


"Ich finde mein Leben trotzdem ganz wunderbar. Ich möchte nicht tauschen. Mir sind Menschen, die nicht leben wollen, vollkommen unverständlich. Als sich die Mutter vom Handke umgebracht hat, hab' ich dir gleich gesagt, das kann ich nicht."

Dachtest du, ich wünschte, daß du es tätest?


"Nein."

Im Traum habe ich dich früher oft tot gesehen.

"Entsetzlich!"

Ich habe dir auch darüber geschrieben.

"Deine Briefe habe ich weggeschmissen. Ich schmeiße nach einer Zeit alles weg."

Weil es dich nicht interessiert.

"Nein, weil ich dir die Arbeit ersparen will, wenn ich gestorben bin."

Hast du dein Testament gemacht?

"Ja, es liegt in der Schreibtischlade. Du erbst alles, was ich besitze."

Du hast sowieso nichts.

"Nicht viel. Aber wenn kein Testament da ist, machen die Behörden einen Haufen Theater."

Um das Begräbnis?

"Nein, das brauchst du nicht zu bezahlen. Ich habe dafür gespart."

Du hast für dein eigenes Begräbnis gespart?***

"Ja, sicher. Wenn ich sterbe, soll das nicht dein finanzieller Ruin sein."

Wo willst du denn liegen?

"Mich kannst hinlegen, wohin du willst. Meine Freundin sagt immer, wenn wir auf einen Friedhof gehen, der schön gelegen ist: Was für eine herrliche Aussicht! Darauf sage ich: Du Trampel, wenn du tot bist, siehst du doch nichts mehr."

Auf Friedhöfen hast du dich immer schon wohl gefühlt.

"Jetzt nicht mehr. Vor kurzem war ich auf dem Wiener Zentralfriedhof. Plötzlich stehen zwei Männer vor mir, als wären sie einem Grab entstiegen, und fragen: Sind Sie von hier? Darauf bin ich wie eine Verrückte zum Ausgang gerannt. Ich dachte, die wollten wissen, ob ich schon tot bin."

Hast du Angst vor dem Sterben?

"Ja, obwohl es ein Unsinn ist. Denn wenn's nicht weh tut, ist es egal, wann man stirbt. Den Schmerz haben die Überlebenden. Ich hab' schon so viele Menschen sterben gesehen. Immer wenn jemand gestorben ist, den ich vermisse, denke ich, der ist tot, der spürt nichts mehr, den Schmerz mußt nur du aushalten."

Woran starb deine Mutter?

"Sie war lungenkrank. Ich erinnere mich, daß mich das Dienstmädchen nachts aus dem Bett geholt hat. Ich wurde angezogen und ins Schlafzimmer der Eltern geführt. Mein Vater nahm aus dem Schrank mehrere Taschentücher und sagte: Die Mamma ist tot. Ich dachte, jetzt mußt du weinen. Mir war aber nicht nach Weinen zumute."

Weil du zu klein warst, um zu begreifen, was Tod bedeutet.


"Erstens das, zweitens hatte ich kein besonderes Verhältnis zu meiner Mutter. Ich weiß nur, daß sie gut nähen konnte, und daß sie mir das beibringen wollte. Einmal hat sie mir, weil ich so ungeschickt war, auf den Kopf gehauen. Da hat meine Tante gesagt, das tut man nicht, davon werden die Kinder dumm."

Ist das die einzige Erinnerung an deine Mutter?

"Ja, komisch. Ich kann mich nicht erinnern, daß mich mal jemand gestreichelt hätte."

Wie war das Verhältnis zu deinem Vater?

"Von dem hab' ich nur Prügel bekommen."

Wofür?

"Ich hab' mir zum Beispiel, als er wieder geheiratet hatte, auf dem Schulweg etwas gekauft, Obst, Schokolade, und zum Verkäufer gesagt, meine neue Mamma wird schon bezahlen. Dafür hat mich mein Vater halb totgeprügelt, das heißt, er hat mich so lange geschlagen, bis die Rute kaputt war."

Hast du dich nicht gewehrt?

"Nein, ich hab' es ihm nicht einmal übelgenommen. Ich hab' mich gegen ihn nur einmal gewehrt. Das war nach dem Krieg. Du hattest in seiner Wohnung die Wände bekritzelt. Er wollte dich schlagen. Das habe ich ihm verboten. Er sagte, dein Kind wird ein Verbrecher, wenn du es so weitererziehst. Ich habe geantwortet: Nein, es wird kein Verbrecher."

Warum warst du so sicher?

"Weil Eltern immer hoffen, daß ihre Kinder keine Verbrecher werden."

Hoffen heißt ja nicht wissen.

"Das stimmt, und ich würde das auch jetzt nicht mehr sagen. Eigentlich hat man als Mutter gar keine Chance. Es ist ein Irrtum, zu glauben, daß man etwas beeinflussen könnte. Im Grunde sind einem die eigenen Kinder ganz fremd, und das ist gut so."

Nach welchen Grundsätzen bist du erzogen worden?

"Man hat gesagt, du darfst nicht stehlen, du darfst nicht lügen, der liebe Gott hört und sieht alles. Davon bin ich bis heute nicht losgekommen. Obwohl ich sage, es gibt keinen Gott, habe ich Angst vor ihm."

Angst vor Bestrafung?


"Ja, sicher."

Aber du hast doch nichts Böses getan.

"Gelogen habe ich schon."

Meinst du, Gott sieht es gern, wenn man es gut hat im Leben?

"Nein, belohnt wird das Leiden. Aber da ich an ihn nicht mehr glaube und auch keiner Kirche mehr angehöre ..." 

... hast du völlig umsonst gelitten.

"Na ja, richtig schön hat's ja keiner. Man lebt nicht nur, um glücklich zu sein. Als mein Vater aus dem KZ kam, hat er gesagt, er habe nun alle Höhen und Tiefen durchlebt, er danke Gott, daß sein Leben nicht nur so verronnen sei."

Warst du dabei, als er verhaftet wurde?

"Nein, das war so: Der Hitler ist in Österreich einmarschiert. Wir wohnten damals in Graz. Ich bin auf die Straße gegangen und hab' mir das angeschaut. Als ich nach Hause kam, hat mir meine Stiefmutter ein paar Watschen versetzt und gesagt: Während du fort warst, haben sie deinen Vater geholt. Warum, wußte ich nicht."

Du wußtest nicht, daß er gegen die Nazis war?

"Nein, ich wußte nicht einmal, welchen Beruf er hatte. Er war christlicher Gewerkschafter, zuletzt Regierungsrat. Aber das habe ich erst viel später erfahren. Wenn man mich in der Schule fragte, was er von Beruf sei, mußte ich sagen: Das weiß ich nicht."

Hast du nicht versucht, es herauszufinden?

"Wie hätte ich denn das tun sollen? Mit Kindern wurde über so etwas nicht gesprochen. Ich durfte auch nicht Radio hören oder Zeitung lesen. Mir hat man gesagt, sei still, frag nicht und rede mit niemandem, sonst werfen sie dich auch ins Gefängnis. Das Wort Konzentrationslager habe ich zum erstenmal nach dem Krieg gehört, als der Vater aus Dachau zurückkam."

Er war in Dachau?

"Ja, und in anderen Lagern. Soviel habe ich schließlich herausbekommen."

Hat er dir nichts erzählt?

"Er hat nur eine einzige Geschichte erzählt. Ein Mitgefangener hatte ihm zum Geburtstag seine Brotration überlassen. Da hat ihn ein Aufseher gezwungen, den eigenen Kot auf das Brot zu schmieren und es zu essen. Das hat er erzählt."

Du weinst.

"Ich hätte nicht für möglich gehalten, daß Menschen zu so etwas fähig sind."

Sie sind zu noch Schlimmerem fähig.

"Ich weiß, und ich frage mich oft, was mich dazu bringen könnte, etwas so Böses zu tun. Gefährdet ist jeder. Ich beneide die Leute, die immer so selbstsicher sind, zu wissen, wozu sie imstande wären und wozu nicht. Ich weiß nur, daß ich nicht imstande bin, jemanden umzubringen."

Hast du es ausprobiert?

"Ich war bis 1945 in verschiedenen Arbeitslagern, zuletzt in Polen. Als die Russen kamen, hat man uns Handgranaten und Pistolen gegeben, damit wir uns verteidigen konnten. Ich habe diese Waffen bei mir getragen, aber ich habe sie nicht benutzt."

Obwohl du bedroht warst?

"Ja, sicher. Ich bin zu Fuß von Polen nach Potsdam gegangen. Von allen Seiten wurde geschossen. Ich hätte zurückschießen können. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe mich damals entschieden, daß mein Leben nicht mehr wert als das Leben eines anderen ist."

Du hast dich aufgegeben.

"Nein, ich habe geglaubt, daß man auch durch Passivität siegen kann. Das glaube ich heute noch. Andere haben jeden niedergeknallt, der ihnen entgegenkam, und sind trotzdem erschossen worden."

Du hattest Glück.

"Ja, mich hat zufällig keiner getroffen."

Kannst du Menschen verstehen, die Krieg faszinierend finden?

"Nein, denn mich hat er fast umgebracht. Bekannte, mit denen ich auf Reisen im selben Zimmer schlafe, sagen, daß ich nachts manchmal schreie. Ich sehe im Traum die von Panzern überfahrenen Pferdewagen der Flüchtlingstrecks. Menschen, die im Weg waren, wurden einfach niedergewalzt. Manche waren dann tot, manche halbtot. Im Straßengraben lagen die Leichen. Ich habe mir oft gedacht, ich muß das vergessen. Ich kann es nicht. In mir hat dieser Krieg nicht aufgehört mit dem Frieden."

Trotzdem sagst du, dein Leben war wunderbar.


"Ja, weil ich es möchte. Ich möchte ein schönes Leben haben. Ich möchte nicht ganz so verzweifelt sein."

Das erreichst du nicht, indem du deine Gefühle verleugnest.

"Aber so bin ich erzogen worden. Man zeigt nicht, wenn's einem schlecht geht. Man hält den Mund. Man hört zu, wenn andere reden. Man ist stark. Man weint nicht."

Das Weinen holst du jetzt nach.

"Nein, ich hab' auch früher geweint. Wenn ich ein schönes Kinderlied höre, muß ich schon heulen."

Du heulst, und du trinkst.

"Das geht dich sozusagen überhaupt nichts an."

Führst du ein Tagebuch?

"Ich hab' immer wieder versucht, eines anzufangen. Aber ich kann nicht schreiben. Wenn ich lese, was ich geschrieben habe, kommen mir die vielen Wörter unnötig vor. Man kann nur beschreiben, was man für wichtig hält. Ich halte mich nicht für wichtig."

In einem deiner wenigen Briefe an mich hast du geschrieben: "Ich verliere ständig in der Auseinandersetzung mit mei­ner Umwelt. Die anderen können alles besser als ich, Nu­delsuppe kochen, Fenster putzen, Männer becircen, Kinder erziehen ... "

"Gott im Himmel, warum hast du diesen Käse nicht weggeschmissen?"

Es geht noch weiter. "Nur eines", so schreibst du, "ist ihnen nicht gelungen, einen solchen Sohn zu bekommen. Am Ende habe ich doch noch gewonnen."

"Das tust du aber nicht in die Zeitung."

Schämst du dich, mich geboren zu haben?

"Im Gegenteil, das war vielleicht das einzig Wichtige in meinem Leben."

Wie furchtbar!

"Wieso?"

Weil ich mich schon als Kind dauernd umbringen wollte.

"Das ist nicht mein Problem. Ein Mensch kommt auf die Welt. Er muß selber schauen, wie er zu Rande kommt."

Hast du dir um mich keine Sorgen gemacht?

"Natürlich hab' ich mir Sorgen gemacht. Aber was hätte ich tun sollen?"

Du hättest mich fragen können, warum ich nicht leben wollte.

"Das hab' ich mich offenbar nicht getraut. Dazu war ich zu feige. Ich hatte Angst vor dem, was ich erfahren hätte, denn ich hätte es nicht verstanden. Im Krieg war man ständig damit beschäftigt gewesen, zu überleben, und nun kamst du und wolltest wissen, wozu du auf der Welt bist. Diese Frage hatte sich mir nie gestellt. In gewissem Sinn ist das Leben in Notzeiten leichter. Man kommt nicht zum Denken."

Wann hast du meinen Vater kennengelernt? ****

"Kurz nach Kriegsende. Er war Franzose. Er kam aus einem deutschen Gefangenenlager nach Michendorf.***** Die Familie, bei der ich wohnte, gewährte ihm Unterkunft."

Liebtest du ihn?

"Nein."

Es ist verrückt, aber ich weiß bis heute nicht, wie ich entstanden bin.


"Das wirst du auch jetzt nicht erfahren."

Hast du freiwillig mit ihm geschlafen?

"Darüber will ich nicht sprechen."

Hat er dich vergewaltigt?

"Er hätte es bei einem anderen Mädchen getan, wenn ich nicht gewesen wäre."

Du hast dich als Ersatz angeboten?

"Dieses Mädchen hatte mich darum gebeten. Die Männer sind doch damals wie die Wilden herumgerannt. Die waren einfach ohne Kontrolle. Wir haben uns so häßlich wie möglich gemacht, das Gesicht verschmiert, die Haare zerzaust. Aber es hat nichts genützt. Als ich schwanger wurde, hat mich der Dorfarzt gefragt: Willst du das Kind, oder willst du es nicht? Ich habe gesagt: Ja, ich will. Ich hätte auch abtreiben können."

Soll ich jetzt dankbar sein?

"Nein, überhaupt nicht. Denn ich habe das sicher für mich getan. Wenn andere Frauen blöd daherreden und sagen, sie bekommen ein Kind um des Kindes willen, macht mich das wütend. Ich bin der Ansicht, man tut alles nur für sich selbst."

Welchen Vorteil hatte es, unter den schwierigen Umständen, die damals herrschten, ein Kind zu haben?

"Wahrscheinlich wollte ich nicht alleine sein."

Hast du gehofft, du würdest von mir die lang entbehrte Liebe bekommen?

"Ehrlich gesagt, ja."

Das war eine vergebliche Hoffnung.

"Wieso? Du warst ein sehr liebes Kind."

Anfangs vielleicht. Später hast du mich "Teufel" und "Satan" genannt.

"Daran kann ich mich nicht erinnern."

Wenn ich von Selbstmord sprach, hast du gesagt: "Mach kein Theater!"

"Da wäre ich heute vorsichtiger, weil ich inzwischen weiß, daß der Unterschied zwischen Wirklichkeit und Theater nicht groß ist."

Könntest du einem Kind heute erklären, was der Sinn seines Lebens ist?

"Nein. Man lebt, weil man geboren ist. Bis zu einem gewissen Grad ist der Mensch auch nur ein Viech. Ich habe viel überstanden im Leben, aber ich kann nicht sagen, woher ich die Kraft nahm. Man hat einen tierischen Überlebenstrieb. Jetzt fragst du vielleicht, was mich von einer Kuh unterscheidet."

Eine Kuh weiß nicht, was gut und was böse ist.

"Im Grunde weiß ich das auch nicht."

Welche Bedeutung hat Kunst für dich?

"Ich höre Musik. Ich lese Bücher. Dem Kafka habe ich zu verdanken, daß ich einem Hitler nicht hinterherrennen konnte, weil ich immer denke, du mußt dreimal nein sagen, wenn jemand von dir etwas will, dann überlegen, dann zustimmen vielleicht. Ich bin ein ständig zweifelnder Mensch. Ich bewundere Leute, die nie an sich zweifeln, sondern einfach nur leben und wie in Trance alles richtig machen."

Deine Bewunderung ist in Wahrheit Verachtung.

"Nein, denn ich glaube tatsächlich, es ist gescheiter, nicht nachzudenken. Wenn man nachdenkt, bekommt man nur Schwierigkeiten. Was soll ein Arbeiter in einer Chemiefabrik tun, wenn er dahinterkommt, daß die Fabrik schlechte Luft erzeugt und seine Kinder vergiftet? Er müßte dafür kämpfen, daß sie geschlossen wird. Dann hätte er keine Arbeit, und seine Kinder würden verhungern. Also denkt er lieber nicht nach. Wenn man alles zu Ende denkt, entsteht ein Chaos im Hirn."

Das heißt, die Blöden sind besser dran.

"Ja, das habe ich schon immer gesagt."

Eine deprimierende Einsicht.

"Warum deprimierend?"

Weil es erniedrigend ist, über eine Fähigkeit zu verfügen, die man nicht anwenden darf.

"Erniedrigend im Vergleich zu wem? Ich kann mich nur niedrig fühlen, wenn etwas anderes höher ist. Höher als der Mensch ist nur Gott, und mit dem will ich mich nicht vergleichen."

Weil es zum Wahnsinn führt.

"Nein, weil ich mir einen Gott nicht vorstellen kann."

Denkst du manchmal, du könntest überschnappen?

"Bestimmt nicht!"

Redest du mit dir selbst?

"Ja, wenn ich allein bin. Ich rede auch mit dem Fernseher, wenn eine Talkshow ist."

So fängt es an.


"Das glaube ich nicht. Aber du kannst ganz beruhigt sein. Ich habe mich schon fürs Altersheim angemeldet. Wenn ich nicht mehr Fenster putzen und einkaufen kann, ist für mich dort ein Platz frei."

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*) Meine Großmutter Christine Müller, geborene Pichler (1898 - 1928)
**) Mein Großvater Johann Müller, verstorben 1956
***) Die Mutter war zum Zeitpunkt des Interviews 65 Jahre alt.
****) André Rouanet, von Beruf Rechtsanwalt, die Lebensdaten sind mir unbekannt
*****) Michendorf bei Potsdam in der früheren DDR

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Erschienen am 29. September 1989 in der ZEIT