Interview mit Geraldine Chaplin 1971

(in Israel während der Dreharbeiten zu dem Film "Carlos" von Hans W. Geißendörfer)



Stört es Sie, einen so berühmten Namen zu haben?

GERALDINE CHAPLIN: Im Gegenteil, ich bin froh darüber. Ich würde heute Elefanten waschen, hätte ich nicht diesen Namen.

Wieso Elefanten waschen?

CHAPLIN: Ich hatte diesen Job, bevor ich zum Film kam. Ich reinigte die Elefanten in einem Pariser Zirkus.

Waren Sie nicht auch Tänzerin?

CHAPLIN: Doch, eine sehr schlechte. Ich wäre vielleicht als Gruppentänzerin ganz nett weitergekommen.. Aber Solistin wäre ich nie geworden. Als die Ballettcompagnie, zu der ich gehörte, aufgelöst wurde, verschafften mir Freunde die Arbeit beim Zirkus. Ich mußte ja Geld verdienen.

Aber Ihr Vater ist doch ein reicher Mann.

CHAPLIN: Ja, aber ich bin nicht mein Vater.

Sie wollten sein Geld nicht?

CHAPLIN: Nein.

Wie sind Sie zum Film gekommen?

CHAPLIN: Durch meinen Namen. Ich dachte, es müßte doch klappen, als Miss Chaplin beim Film Geld zu verdienen, und es klappte tatsächlich. In meinem ersten Film war Belmondo mein Partner. Es war ein schrecklicher Film. Er hieß "An einem schönen Sommermorgen". Jacques Deray führte Regie. Ich nahm damals alles. Heute bin ich wählerischer geworden. Aber ich mache immer noch schlechte Filme.

Hätten Sie auch mit einem anderen Namen Karriere gemacht?

CHAPLIN: Nein, nie.

Andere Kinder berühmter Leute haben ihren Namen geändert, um sich zu beweisen, daß sie es auch aus eigener Kraft schaffen können.

CHAPLIN: Das finde ich dumm. Das ist, wie wenn man mit einem schönen Gesicht auf die Welt kommt und sagt, ich will nicht nur deshalb beim Film sein, weil ich schön bin, und ein Messer nimmt und das Gesicht zerschneidet. Auch mit einem scheußlichen Gesicht ist man noch lang keine große Schauspielerin.

Haben Sie Angst davor, mit Ihrem Vater verglichen zu werden?

CHAPLIN: Wenn mein Vater bloß ein guter Schauspieler wäre wie Marlon Brando oder Rod Steiger, wäre es schwierig. Man würde mich immer mit ihm vergleichen, das wäre schrecklich. Aber er gehört ja in eine ganz andere Kategorie, er ist ein Genie, irgendwo ganz weit oben ... 

Sie haben durch Ihre Mutter auch einen berühmten Großvater: Eugene O'Neill.

CHAPLIN: Ja, ich würde mich gern für eine gelungene Mischung halten. Aber die Bedeutung der Erbfaktoren ist wissenschaftlich noch nicht erwiesen. Ich wünschte, sie wäre es, dann könnte ich sagen: Seht her, in meinem Blut ist alles drin.

Warum sind Sie Schauspielerin?

CHAPLIN: Weil ich eine stumpfsinnige, träge, vollkommen unkreative Person bin. Ich finde mich überhaupt nicht interessant. Deshalb interpretiere ich gern, was sich andere ausgedacht haben. Ich möchte ein perfektes Instrument sein. Wenn ein Regisseur sagt, jetzt gehst du von da nach da und nimmst das Glas, und dein Gesicht muß ein bißchen trauriger sein, dann bin ich glücklich. Es macht mir Spaß, die Gedanken eines anderen umzusetzen.

Ohne Erklärung?

CHAPLIN: Ja, es genügt, daß ich es fühle. Ich bin keine intellektuelle Person. Ich begreife mit dem Gefühl, nicht durch Worte.

Sie spielen zum erstenmal in einem deutschen Film. Wie ist es dazu gekommen?

CHAPLIN: Ich las das Drehbuch und dachte, ohwei, jetzt haben sie "Hamlet" als Western gemacht, jetzt machen sie "Don Carlos" als Western. Ich wollte Hans gar nicht treffen. Aber dann kam er selbst und fragte, wie ich die Story fände, und ich sagte, ach ja, ich mag sie. Ich wollte nicht grob sein. Dann erklärte er mir den politischen Hintergrund, den ich überhaupt nicht gesehen hatte, und auf einmal gefiel mir die Sache.

Sind Sie eine politische Schauspielerin?

CHAPLIN: Nicht politisch zu sein, ist heute fast ein Verbrechen.

Was für Möglichkeiten haben Sie, Ihr politisches Engagement auszuleben?

CHAPLIN: Ich könnte sagen, ich mache jetzt nur noch politische Filme. Aber wer weiß schon, was ein politischer Film ist, was nicht? Sehen Sie, ich lebe in Spanien, und da ist man ganz automatisch in einen politischen Mikrokosmos verwickelt. Da gibt es zwar keine Parteien, aber es gibt eine große Sache, gegen die alle kämpfen: Das Regime Franco.

Leben Sie dort, weil Ihr Mann, Carlos Saura*, dort lebt?

CHAPLIN: Er ist nicht mein Mann. Wir sind seit fünf Jahren zusammen. Aber geheiratet haben wir nicht. Ich habe schon genug Papiere, ich könnte kein neues mehr unterbringen.

Gut, nicht verheiratet, aber seinetwegen in Spanien.

CHAPLIN: Ja, das hat sich ergeben.

Würden Sie lieber anderswo leben?

CHAPLIN: Manchmal denke ich, es wäre besser, das Land zu verlassen. Man könnte uns das nicht übel nehmen. Aber Carlos sagt, man kann ein System nur von innen bekämpfen. Er ist entschlossen, zu bleiben, obwohl er große Schwierigkeiten mit der Regierung hat. Sein letzter Film war zu den Festspielen nach Venedig, Cannes und Berlin eingeladen. Aber die Regierung ließ ihn nicht raus. Die Themen Sex, Religion und Politik sind verboten. Ich frage mich, was für Filme kann man denn da noch machen? Aschenputtel? Aber nein, da gibt es ja auch eine Liebesgeschichte.

Bewundern Sie, wie sich Jane Fonda** politisch einsetzt?

CHAPLIN: Ja, das finde ich absolut phantastisch. Manche Leute sagen, sie sei nur auf billige Publicity aus. Aber das ist nur eine Ausrede, um sich nicht festlegen zu müssen. Natürlich kann man, wenn man so etwas macht, leicht lächerlich werden. Es genügt nicht zu sagen: Nixon ist Scheiße. Das lesen die Leute und denken, oh Gott, die dumme Pute will auf sich aufmerksam machen. Aber Jane ist nicht lächerlich. Sie hat es geschafft, ernst genommen zu werden. Man respektiert sie.

Was wollte Ihr Vater mit seinen Filmen erreichen?

CHAPLIN: Er war auf seine Weise auch ein sehr politischer Mensch. Man hat ihn lange Zeit nur für einen genialen Clown gehalten. Aber er war viel mehr. Er ist der einzige Mensch, der mit seinen Filmen die Leute auf allen Ebenen ansprach, von den Intellektuellen bis zu den Analphabeten. Seine Filme hatten immer gleichzeitig eine intellektuelle, eine politische, eine romantische und eine rein unterhaltsame Seite.

Was fasziniert sie an ihm am meisten?

CHAPLIN: Seine kolossale Disziplin und Arbeitskraft. Das ist ein Mann, der arbeitet zwölf Stunden am Tag ohne Pause, und er ist zweiundachtzig! Wenn er einen Film macht, arbeitet er mehr als alle anderen, geht heim in der Nacht und macht die Musik, und steht um vier in der Früh auf und geht in den Schneideraum. Sein Grundsatz war immer: Talent ist nichts, Disziplin ist alles.

Aber wie lebt er heute? Sein letzter Film*** entstand vor sechs Jahren.

CHAPLIN: Er hat immer noch Pläne. Es gibt ein Drehbuch, "The Freak", das er realisieren will****. Sein Tag sieht heute genauso aus wie zu der Zeit, als er jung war. Da hat sich wenig geändert. Nach dem Frühstück, um acht Uhr früh, setzt er sich hin, nimmt ein Blatt Papier und einen Bleistift und sagt: Vielleicht schreibe ich den ganzen Tag keine Zeile oder nur ein einziges Wort, aber ich bleibe hier sitzen, bis es Zeit für mich ist, aufzustehen. Das ist abends um sechs. Dann macht er einen Spaziergang. Aber bis sechs Uhr bleibt er sitzen, ohne Mittagessen, und sitzt da und denkt und versucht zu arbeiten und schreibt und zerreißt das Geschriebene wieder und versucht es von neuem, Tag für Tag, Morgen für Morgen. Ich bewundere das. Ich könnte es nicht.

Warum nicht?

CHAPLIN: Ich brauche den Wechsel. Ich mache einen Film, aber dann muß ich wieder eine Zeitlang zu Hause sein, bei den Kindern, und kochen, Geschirr spülen, Betten machen, aufräumen, abschalten, nicht mehr nachdenken müssen. Ich glaube, ich bin das Gegenteil von meinem Vater.

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*)  spanischer Filmregisseur (geb. 1932), der das Regime des Diktators Franco bis zu dessen Tod 1975 bekämpfte

**) Jane Fonda (geb. 1937) engagierte sich ab 1969 gegen den Vietnamkrieg der Amerikaner.

***) "Die Gräfin von Hongkong"

****) Das Projekt "The Freak" konnte Charlie Chaplin, der 1977 starb, nicht mehr verwirklichen.

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Erschienen am  24. Juli 1971 unter der Überschrift "Ich bin das Gegenteil von Charlie" in der Münchner "Abendzeitung"