Gedankenvernichtung VIII



IM Zusammenhang mit dem Auszug der Nachbarin ist mir eine während meiner Schulzeit mir eigene Besonderheit eingefallen, mit der ich mir im Fach Geometrie sehr geschadet habe. Ich hatte die fixe Idee, daß die zeichnerische Darstellung des Schnittpunktes zweier Parallelen, der, wie man uns sagte, im Unendlichen liege, möglich und also das unendlich Entfernte, wenn man nur die nötige Ausdauer besäße, erreichbar sein müsse, woraus sich ergab, daß ich parallele Gerade über mehrere, an das Schulheft angefügte Zettel hinweg so weit verlängerte, bis sie zufolge einer Ungenauigkeit in der Linienführung, der ich wohl unbewußt etwas nachhalf, wie in einer Dolchspitze zusammentrafen. Nicht einmal in der Oberstufe des Gymnasiums habe ich von dieser Marotte ablassen können, wobei ich allerdings darauf verzichtete, den Schnittpunkt der Parallelen, welcher durch meinen mit den Jahren wachsenden Widerstand gegen den Selbstbetrug in immer größere Ferne rückte, tatsächlich abzubilden. Zuletzt wäre ich dazu auch gar nicht mehr in der Lage gewesen, da ich, um meinen Schulabschluß nicht zu gefährden, so genau zeichnete, daß ich jenen Punkt erst außerhalb des Klassenzimmers, womöglich sogar des Schulgebäudes gefunden hätte. Die kleinen Abweichungen aber blieben, wenn auch von den Lehrern unbemerkt und daher ohne Auswirkung auf meine Note.

NUN, da die Frau, die meine Nachbarin war, nicht mehr hier ist, wird es mir leicht fallen, sie zum Mittelpunkt einer Geschichte zu machen, in der es auf Wahrheit nicht ankommt. Hauptsache, die geschilderten Ereignisse haben Farbe. Selbstverständlich muß es darin auch einen Abschied mit Tränen geben, am besten frühmorgens, vor dem Erwachen der Großstadt, in stahlblauer Dämmerung, wenn die Straßenkehrer in ihren Overalls wie Invasoren von einem fremden Stern aus dem Boden schießen, Betrunkene im letzten Zipfel der Nacht sich verkriechen, Homosexuelle in den öffentlichen Toiletten versuchen, vor der sie verscheuchenden Helle noch einen Liebhaber zu finden, Zeitungsausträger ihre gebündelte Fracht wie Zeitbomben vor die Geschäfte legen, und in den verblassenden Leuchtreklamen das Wort "Ekel" den Illusionen des Tages weicht. Dann steht auf dem Bahnsteig die Frau und hält beide Hände des Mannes, der sich aus dem Abteil beugt. Sie fragt: "Woran denkst du?" Er sagt: "Noch denke ich an unsere Liebe. Aber wenn du in der Ferne nur noch ein Punkt bist, werde ich schon begonnen haben, dich in Gedanken zu töten."

DA ich, um für meinen Roman Zeit zu haben, keine andere Arbeit annehmen, sondern mit dem wenigen, zum Teil geliehenen Geld, das ich besitze, möglichst lange auskommen möchte, bin ich, als ich in der Untergrundbahn einen Gläubiger zu erkennen glaubte, sofort aufgestanden und bei der nächsten Station ausgestiegen. Ich war aber, wie sich zeigte, dem Mann bereits aufgefallen. Er stieg mit mir aus und heftete sich an meine Fersen. Nach einer wilden Verfolgungsjagd über Rolltreppen, vorbei an sich drängenden Menschen, deren Flüche mir in den Ohren schallten, habe ich meine mir aussichtslos erscheinende Flucht abgebrochen und meinen Verfolger an mich herankommen lassen. Obwohl sich herausstellte, daß ich mich in der Person geirrt und also nichts zu befürchten hatte, habe ich, außerstande, die Empfindungen eines Verfolgten so plötzlich abzuschütteln, meine abweisende Haltung nicht aufgegeben. Als mir der Mann meine in der U-Bahn vergessene Aktentasche aushändigen wollte, sagte ich, ich sei nicht deren Besitzer.

WÄRE der Roman, den ich zu schreiben versuche, ein Märchen, könnte, wenn es schon sein muß, daß ein Todesfall an seinem Beginn steht, eine Fee in Erscheinung treten, welche, unsichtbar für den Helden, die Frau, die er im Arm hält, mit Zauberkraft ins Jenseits befördert. Erstens würde dadurch ein Blutbad vermieden, zweitens bestünde die Möglichkeit, die Frau am Schluß des Romans durch einen Kuß ins Leben zurückzuholen.

ALS wollte ich den formalen Spielereien, die mich mit meinem Roman kein Stück weiterbringen, die Krone aufsetzen, bin ich jetzt auch noch auf die Idee verfallen, eine Groteske zu schreiben, in der ein Gewaltverbrecher sich bei seinem schon wehrlosen Opfer unter Wahrung des in zivilisierten Kreisen üblichen Anstands für den Mord, der nun zu geschehen habe, entschuldigt. Es sei ihm höchst peinlich, sich der von ihm hochgeschätzten Person auf so unziemliche Weise nähern zu müssen. Noch nie habe ihn eine Tat so viel Überwindung gekostet. Er könne nur hoffen, daß die Todgeweihte, deren Toleranz er immer bewundert habe, diese auch nun walten lasse.

AUF Ersuchen meines zu Zeiten, als ich noch mit mehreren Umgang pflegte, besten, mittlerweile wohl einzigen Freundes bin ich auf schnellstem Wege zu einem mir von ihm genannten Hotel gefahren, in welchem er sich, wie er sagte, aus Verzweiflung verkrochen habe. Nur ein Gespräch mit mir könne ihm jetzt noch helfen. Der Grund seiner Niedergeschlagenheit sei die Entdeckung, daß ihn seine neue Gefährtin, von der er mir erst vor kurzem berichtet hatte, ausgerechnet mit seinem von ihm über alles geliebten Bruder betrogen habe. Zwar hätten ihm sowohl die Frau als auch der Bruder ausdrücklich versichert, sie seien, während sie miteinander schliefen, stets in Gedanken bei ihm, da sich ihre Leidenschaft nur unter der Voraussetzung, von ihm geliebt zu werden, überhaupt habe entwickeln können. Aber dies hätte, wie er bald habe erkennen müssen, seine Lage nur noch verschlimmert. Übe er Nachsicht, was darauf hinausliefe, daß er den Missetätern seine Zuneigung bewahre, würden sie einander zwangsläufig weiterlieben. Bleibe er unversöhnlich, wäre damit auch nichts gewonnen, da er sich ein Leben ohne die beiden nicht vorstellen könne. Kurzum, er sei mit seiner Weisheit am Ende. Deshalb habe er mich zu sich gebeten. Als ich, nachdem ich im stillen das Problem von allen Seiten beleuchtet hatte, dem Freund erklärte, für eine der beiden geliebten Personen werde er sich entscheiden, der anderen seine Liebe entziehen müssen, fiel er vor mir auf die Knie, verbarg sein Gesicht in den Händen und rief, von heftigem Schluchzen geschüttelt, nun habe er auch noch den letzten der drei ihm auf der Welt wichtigsten Menschen verloren.

OBWOHL ich nicht die Absicht hatte, die Arbeit an meinem Roman, an dessen Gelingen ich kaum noch glaube, erneut aufzunehmen, sind mir, als ich mich, um Korrespondenz zu erledigen, an meinen Schreibtisch setzte, eine Unzahl möglicher Titel eingefallen, welche mich aber, so vielversprechend sie waren, eher verwirrten als daß sie mir einen Hinweis gaben, wovon die Geschichte eigentlich handeln sollte. So habe ich weder mit dem "Mord im Riesenrad" noch der "Annullierung der Totgeburt", um zwei Beispiele zu nennen, etwas anfangen und wie ein Spion angesichts einer nicht zu entschlüsselnden Geheimbotschaft nur den Kopf schütteln können.

S0 sehr ich aufgrund bitterer Erfahrung bestrebt sein muß, einer Begegnung mit meinen neuen Nachbarn, einem jungen Ehepaar, wie ich inzwischen weiß, auszuweichen, komme ich doch nicht darum herum, ihr Vorhandensein zur Kenntnis zu nehmen, zumal sie für laute Marschmusik eine Vorliebe zu haben scheinen. Wenn ich mir überlege, wie viel Übereinstimmung zwischen mir und meiner früheren Nachbarin trotz aller Vorbehalte doch da war, berührt es mich schmerzlich, die Chance ihrer Nähe nicht besser genutzt zu haben.

DER Gedanke, ich könnte versuchen, die neue Adresse meiner ehemaligen Nachbarin herauszubekommen, setzte in mir ein solches Maß an Energie frei, daß ich in einem Gemisch einander ablösender Gefühle, welche ich im einzelnen nicht hätte beschreiben können, förmlich verglühte. Hätte ich nicht zufällig vor einem Stuhl gestanden, auf den ich mich setzen konnte, wäre ich in Ohnmacht gefallen. So aber wartete ich, bis der Aufruhr in meinem Innern verebbt war, tat einen Seufzer und überließ mich, vom Stuhl auf den Boden sinkend, den angenehmen Auswirkungen meiner Erschöpfung.

NUR der Vollständigkeit halber schreibe ich einen Traum auf, in welchem ich mit meiner früheren Nachbarin eine Autofahrt in die nähere Umgebung der Stadt unternommen habe. Kurz vor dem Ziel, einer Dorfgaststätte, in der wir uns stärken wollten, sind wir mit einem Lastkraftwagen zusammengestoßen, dessen Fahrer offensichtlich das Vorfahrtschild nicht beachtet hatte. Als ich, eingeklemmt zwischen Sitzlehne und Lenkrad, die Nachbarin aufforderte, das Kennzeichen des Lastwagens, der einfach weiterfuhr, aufzuschreiben, sah sie mich an, als hätte ich etwas völlig Absurdes geäußert. "Wozu aufschreiben" sagte sie, "wenn ich mir sowieso keine Zahlen merke?"

UM mir die Möglichkeit, die Verbindung mit meiner früheren Nachbarin auf unkomplizierte Art wieder aufzunehmen, für alle Fälle offenzuhalten, habe ich, als meine neuen Nachbarn mich fragten, ob ich ihr einen Gegenstand überbringen könnte, den sie in der Wohnung gefunden hätten, schlankweg behauptet, ich träfe sie täglich. Bei dem Fundstück handelte es sich um einen kleinen Porzellanelefanten, wertlos zwar, zudem beschädigt, aber, so die Nachbarn, man wisse ja, wie schnell manche Leute mit Verdächtigungen bei der Hand seien, am Ende stünde man gar noch als Dieb da. Nachdem ich die Figur an mich genommen und ausdrücklich versprochen hatte, sie unverzüglich bei der Besitzerin abzuliefern, fiel mir ein, daß ich nun jederzeit damit rechnen mußte, als genau das entlarvt zu werden, für das man mich unter keinen Umständen halten sollte, nämlich als ein vor Liebe Verrückter, der selbst vor einem Betrug nicht zurückschreckt, um in den Besitz eines Liebespfands zu gelangen.

AUFS höchste erstaunt über die Mitteilung meines Freundes, er habe in der Handtasche seiner Geliebten ein Notizbuch gefunden, welches unter anderem meine Telefonnummer enthalte, habe ich mich nach dem Namen und Aussehen der Frau erkundigt. Da mir weder das eine noch das andere einen Hinweis gab, um welche Person aus meinem Bekanntenkreis es sich handeln könnte, war für mich klar, daß unser Kontakt, wenn es überhaupt einen gegeben hatte, sehr flüchtig, außerdem rein beruflich gewesen sein mußte. Als ich meinem Freund das erklärte, brach er in Zorn aus. Unter der Telefonnummer, schrie er mich an, sei deutlich ein Wort zu lesen, "Liebe", und etwas tiefer, rot unterstrichen, ein zweites, "Bedrohung".

VERWUNDERT über die große Aufmerksamkeit, die eine mit Kopftuch und Schürze bekleidete Frau mittleren Alters auf sich zog, welche, wie ich es als Knabe bei meiner Mutter, wenn sie die Fenster putzte, oft beobachtet habe, auf dem Fensterbrett stand und auf die Straße herabsah, bin ich in die Menge der Schaulustigen, die sich gebildet hatte, hineingegangen, habe aber über die Ursache des Auflaufs nichts Genaues erfahren können. Die Menschen starrten schweigend nach oben. Zwar war ein gewisses Interesse durchaus erklärlich, da die Frau in schwindelnder Höhe einen Balanceakt vollführte, der über das zum Fensterputzen Nötige ein wenig hinausging, aber daß deshalb, wie es nun tatsächlich geschah, gleich die Polizei geholt und der Platz vor dem Haus von einer Postenkette abgesperrt wurde, erschien mir stark übertrieben. Erst als die Frau, begleitet vom Aufschrei der Menge, in die Tiefe sprang und mit einem dumpfen Ton aufschlug, wurde mir klar, daß ich einer Selbstmörderin zugeschaut hatte.

ZU dem ohnehin schon bedenklichen Umstand, daß ich von meiner früheren Nachbarin träume, ist nun noch hinzugekommen, daß ich sie, auch wenn ich wach bin, dauernd zu sehen glaube. Eine ihr äußerlich entfernt ähnliche Fußgängerin habe ich sogar angesprochen, was ich, abgesehen davon, daß es mich in die peinliche Lage brachte, als jemand dazustehen, der fremden Frauen nachstellt, vor allem deshalb als alarmierend empfinden mußte, weil ich eigentlich gar nicht die Absicht habe, mich der Person, mit der ich die Dame verwechselt hatte, je wieder anzunähern.

ANGEWIDERT von der Art und Weise, in der sich zwei Hausfrauen in der Metzgerei, deren Stammkunde ich bin, über ein Sexualdelikt unterhielten, über welches die Zeitungen in großer Aufmachung berichtet hatten, habe ich auf meinen Einkauf verzichten müssen. Ein wegen mehrerer Lustmorde verurteilter, aus der Haftanstalt entflohener Mann hatte ein Kind überfallen, war aber, als er sein Opfer gerade hatte erstechen wollen, durch das Geräusch eines Pistolenschusses vertrieben worden. In einem in der Nähe befindlichen Haus hatte zufällig zur gleichen Zeit ein homophiler Friseur seinen Freund erschossen, was die eine der beiden Hausfrauen mit der Redensart kommentierte, das Kind müsse einen Schutzengel haben.

AMÜSIERT über das Ausmaß menschlicher Verbohrtheit, hatte ich einen Langstreckenläufer, welcher, da eine rote Ampel ihn aufhielt, gezwungen war, seine Laufbewegung im Stand fortzusetzen, bereits in die Reihe jener mehr oder weniger geistlosen Fitneß-Anbeter eingeordnet, die meinen, dem Schicksal durch körperliches Training einige Jahre abtrotzen zu können, als der Mann plötzlich, und zwar in dem Moment, als die Ampel auf Grün sprang und die übrigen Wartenden sich in Bewegung setzten, seine Glieder zum Stillstand brachte und sich, sichtlich erschöpft, an eine Hauswand lehnte. Um mein Urteil, wenn nötig, zu korrigieren, bin ich auf den von Schweiß Triefenden zugegangen und habe gefragt, weshalb er nun, da die Straße frei sei, nicht weiterlaufe. Bereitwillig gab er mir Auskunft. Er laufe jeden Tag eine bestimmte, immer gleich lange Strecke. Da er wisse, daß er auf seinem Weg mit Behinderungen zu rechnen habe, die dazu führten, daß er das Laufen für eine gewisse Zeit unterbrechen müsse, habe er eine Methode entwickelt, die es ihm ermögliche, die während der im Stehen fortgesetzten Bewegung verbrauchte Energie gedanklich bis auf den Zentimeter genau in jene Wegstrecke umzusetzen, die er in der gleichen Zeit ohne Behinderung zurücklegen würde. Daß er seine Übung diesmal gerade in dem Augenblick, da er freie Bahn gehabt hätte, beendet habe, sei Zufall, wobei er allerdings sagen müsse, daß das Grün, wie ich bei genauerem Hinsehen hätte erkennen können, bereits eine Zehntelsekunde, bevor er innehielt, kam. Nach seiner Umrechnungsmethode entspräche das etwa zwei Metern, die er aber, um nicht mitten auf der Straße umkehren zu müssen, noch auf dem Gehsteig hinter sich gebracht habe. An diesem Punkt seiner Ausführungen warf mir der Mann einen prüfenden Blick zu. Es sei ihm egal, fuhr er fort, daß ihn die Leute für einen Spinner hielten. Die Wahrscheinlichkeit, seine Strecke jemals in ihrer ganzen Länge laufen zu können, sei so gering, daß er, wäre sein Handeln nur von Vernunft bestimmt, seine Hoffnung längst hätte begraben müssen. Was er tue, sei absolut unvernünftig. Er habe dafür keine Erklärung. Trotzdem werde er weitermachen. Einmal hätten nur wenige Schritte gefehlt, und er wäre am Ziel gewesen. Da sei ihm ein anderer Läufer in die Quere gekommen.

VOR einem Wolkenbruch Zuflucht suchend, habe ich mich einigen dem heutigen Tag, Sonntag, entsprechend festlich gekleideten Gläubigen angeschlossen und bin zur Morgenandacht in die nächste Kirche gegangen. Obwohl ich anfangs lediglich vorgehabt hatte, das Ende des Unwetters abzuwarten, bin ich, verdutzt über das seltsame Verhalten des Priesters, welcher auch an Stellen, an denen die Liturgie es nicht vorsah, der Gemeinde den Segen erteilte, bis zum Schluß der Messe geblieben und habe den Mann unter die Lupe genommen. Je länger ich ihn beobachtete, desto klarer wurde erkennbar, daß gewisse äußere Vorgänge mit dem Segnen zusammenhingen, und zwar insofern, als der Geistliche immer dann, wenn ihn etwas erboste und er Gefahr lief, die seinem Amt angemessene Würde vermissen zu lassen, jene mehr oder weniger deutliche Geste machte, welche allerdings von den Kirchenbesuchern nicht weiter beachtet wurde. Als einer der Ministranten ihm eine lange Nase zeigte, zügelte er die schon zur Ohrfeige vorschnellende Rechte. Als eine alte Frau während der Kommunion in lautes Husten ausbrach, verschluckte er den Fluch, zu dem sich seine Lippen bereits geöffnet hatten. Als ein Flugzeug Schallmauer durchbrach, reckte er nicht die Fäuste zum Himmel, sondern gab seinen Segen. Nur ein einziges Mal verlor er die Fassung. Ein Chorknabe furzte, als er gerade das Allerheiligste hochhielt. Da ließ er es fallen.

WÄRE meine frühere Nachbarin jetzt noch da, könnte ich sie fragen, ob ich das Angebot, als Berichterstatter eine Tiefsee-Expedition mitzumachen, von der ich, da im Tauchen ganz unerfahren, wahrscheinlich nicht zurückkehren würde, annehmen oder unter irgendeinem Vorwand, der den wahren Grund, meine Feigheit, verschleiert, ablehnen sollte. Wie ich sie kenne, würde sie mir zur Teilnahme raten, erstens, weil sie ein Mensch ist, der vor nichts, was das Leben bietet, zurückschreckt, zweitens, weil sie, wie unser Verhältnis gezeigt hat, von einer dumpfen Sehnsucht erfüllt ist, sich allem, was nach Tod schmeckt, bedingungslos auszuliefern. Wahrscheinlich ist sie nur weggezogen, damit ich sie um so stärker verfolge.

DARAN gewöhnt, in nahezu jeder Frau, die ich sehe, meine früheren Nachbarin zu erkennen, war ich nicht sehr erstaunt, sie unter den Mitwirkenden einer Fernsehshow zu entdecken, die gerade lief, als ich aus Langeweile den Apparat angestellt hatte. Sie stand an ein Klavier gelehnt und sang lustlos, wie mir schien, ein paar Lieder. Stutzig wurde ich erst, als sie der Conferencier, der den Künstlern nach ihrem Auftritt noch die eine oder andere Frage stellte, mit dem Namen jener Frau ansprach, in deren Notizbuch mein Freund eine mich betreffende Eintragung gefunden hatte.

DA ich, um je wieder einen anderen Gedanken fassen zu können, unbedingt Aufschluß brauchte, welche Person ich nun eigentlich im Fernsehen gesehen hatte, habe ich trotz der bestehenden Unstimmigkeiten bei meinem Freund angerufen. Es meldete sich eine Frauenstimme, die ich sofort als die Stimme meiner früheren Nachbarin identifizierte. Sie sagte mehrere Male: "Hallo, wer ist dort?" Ich preßte den Hörer ans Ohr und wartete, bis sie aufgelegt hatte.

FEST entschlossen, keinen weiteren Gedanken an jene Frau zu verschwenden, die mir, unter welchem Namen auch immer, seit Tagen den Schlaf raubt, bin ich zur Auffrischung einer alten Bekanntschaft nach Wien gefahren, habe aber die Bekannte in ihrer Wohnung nicht angetroffen. Ihr Lebensgefährte, ein gefeierter Violinvirtuose, teilte mir mit, sie befinde sich wegen ständiger Depressionen in einer Nervenklinik, würde sich jedoch sicher freuen, von mir besucht zu werden. Tatsächlich brach die bis zum Skelett abgemagerte Frau, die ich, wäre ich ihr auf der Straße begegnet, für eine Fremde gehalten hätte, in Tränen aus, als sie mich in der Tür stehen sah. Ihr zerwühltes Haar umrahmte eine gespensterhaft weiße Fläche, in der nichts war, das mich an ihre einstige Schönheit erinnert hätte. Sie lag zwischen Kissen auf einem Sofa. Statt einer Begrüßung zeigte sie auf einen Stuhl zu ihren Füßen, auf den ich mich setzte. Dann erzählte sie ihre Geschichte. Sie sei, wie ich wisse, das blühende Leben gewesen, bevor sie den Mann, den sie den Geiger nannte, getroffen habe. Er sei damals als musizierender Bettler umhergezogen. Sie habe ihn aufgelesen. Von da an sei er immer stärker, sie immer schwächer geworden. Er habe sie mit seiner Verzweiflung vergiftet. In kleinen, scheinbar ungefährlichen Mengen habe er ihr das Gift seiner Verzweiflung verabreicht, jeden Tag eine genau bemessene Dosis. In seinen Konzerten, die ihn nun über den ganzen Erdball führten, habe sie immer auf dem gleichen Platz sitzen müssen, auf den, wenn er den Kopf hob, sein Blick fiel. Dieser Blick sei es gewesen, der sie vernichtet habe, nicht die Musik, obwohl er noch heute behaupte, in der Musik liege die Ursache ihrer Erkrankung. Als man sie wegen eines Nervenzusammenbruchs aus einer Konzertprobe mit dem Rettungswagen in die Klinik gefahren habe, sei es ihre einzige Hoffnung gewesen, das Konzert, welches das erste war, dem sie nicht beiwohnen konnte, würde kein Erfolg sein. Es sei aber im Gegenteil der bis dahin größte Erfolg geworden. Die Zeitungen hätten sich vor Lob überschlagen. Zwei Tage später habe sie einen Brief erhalten, in dem stand, nun brauche sie nie mehr zu kommen.

ZURÜCK aus Wien, habe ich mich unverzüglich darangemacht, Informationen über die künstlerische Tätigkeit meiner früheren Nachbarin einzuholen. Alle Wege zu ihr führen über einen Agenten, der, wie ich mich überzeugen konnte, alles daransetzt, sie mit der Aura eines Stars zu umgeben, zu dem vorzudringen nur wenigen Auserwählten vergönnt sei. Interviews gewähre sie äußerst selten. Was sie zu sagen habe, drücke sie in ihrer Kunst aus. Leider bestünde im Augenblick keine Möglichkeit, sie auf der Bühne zu sehen, da sie gerade ein neues Programm vorbereite. Die Premiere sei in zwei Wochen. Der Kartenvorverkauf habe soeben begonnen.

IN Gedanken versunken, über die ich nur sagen kann, daß nichts von dem, was mich gegenwärtig beschäftigt, in ihnen vorkam, bin ich wie ein Hund schnuppernd und schnüffelnd durch die Wohnung gekrochen, was mir erst auffiel, als ich einen Bleistift, der auf dem Boden lag, anstatt mit der Hand mit den Zähnen aufheben wollte.

MIT der ganzen Autorität meines Alters habe ich mich, als ich sah, wie mehrere halbwüchsige Knaben eine weiße, offenbar flugunfähige Taube mit Steinen bewarfen, dazwischengestellt und das Tier vor weiterer Folter, vielleicht sogar vor dem Tod gerettet. Obwohl schon bloße Menschlichkeit meinen Einsatz erfordert hätte, wäre ich, da ich jede persönliche Verwicklung möglichst vermeide, wahrscheinlich nicht eingeschritten, hätte sich in meinem Kopf nicht eine Besonderheit aus der Zeit, als ich das Sprechen lernte, über den Vorgang geschoben, nämlich der durch eine Nachlässigkeit in meiner Spracherziehung entstandene Irrtum, eine weiße Taube grundsätzlich für eine Friedenstaube zu halten, wobei ich als kaum dem Säuglingsalter entwachsenes Kleinkind natürlich nicht wissen konnte, was mit dem Wort "Frieden" gemeint war. Bestand für mich damals der Unterschied zwischen Friedenstauben und gewöhnlichen Tauben lediglich in ihrer Färbung, so war ich nun, da ich die Knaben zurechtwies, von der Überzeugung durchdrungen, mich für das höchste Gut in die Bresche zu werfen.

OBGLEICH für mich feststand, daß ich mir den Auftritt meiner früheren Nachbarin unter keinen Umständen würde entgehen lassen, hat erst ein Plakat, auf dem sie, nahezu unkenntlich, ein Mikrophon umklammert, den Ausschlag gegeben, mir eine Karte zu kaufen. Der Andrang, so die Kartenverkäuferin, halte sich sehr in Grenzen. Billetts in allen Preisklassen seien vorhanden.

DA es mir im Hinblick auf das bevorstehende Zusammentreffen mit meiner früheren Nachbarin, welches mich zu ganz neuen Überlegungen führen könnte, absolut sinnlos erschien, mich vorher noch einer tiefergehenden Beschäftigung, insbesondere der mit mir selbst, hinzugeben, ich aber andererseits auch nicht in völligen Stumpfsinn versinken wollte, habe ich der Einladung eines befreundeten Fernsehjournalisten zu einem Kegelabend Folge geleistet, was für mich nebenbei noch den Nutzen hatte, in meinem eigentlichen Betätigungsfeld wieder Fuß zu fassen. Sportlich ungeübt, wie ich bin, ist mir, als ich zum Wurf ansetzte, die Kegelkugel auf die Zehen gefallen, wovon ich aber, wie ein zufällig anwesender Mediziner durch Abtasten herausfand, nur eine leichte Prellung davontrug. Im Fall eines Bruches hätte ich zum Premierentermin mit einem Gipsfuß erscheinen müssen.

GEWARNT durch den gestrigen Unfall, habe ich von weiteren Unternehmungen vorerst Abstand genommen, woraus sich zwangsläufig ergab, daß die Fragwürdigkeit jeglicher Existenz wieder zum Inhalt meiner Gedanken wurde. Anders als früher wurde ich jedoch diesmal nicht von Panik ergriffen, sondern von Langeweile.

IM Gespräch mit dem Arzt aus der Kegelrunde, den ich zur Begutachtung meiner verletzten Zehe, die etwas schmerzte, aufgesucht hatte, habe ich, um nicht als jemand dazustehen, der selbst zum Kegeln zu dumm ist, als Grund für meine Ungeschicklichkeit angegeben, ich sei mit meinen Gedanken bei einer Frau gewesen, die mir seit Wochen den Kopf verdrehe. Unwillkürlich ist mir bei der Ausschmückung meiner Geschichte, mit der ich zunächst keineswegs auf das Verhältnis mit meiner früheren Nachbarin anspielen wollte, eine Bemerkung herausgerutscht, die es mir geboten erschienen läßt, über den Sinn und Zweck einer Fortsetzung jenes Verhältnisses gründlicher nachzudenken. Ich sagte, was man mit Frauen erlebe, sei unbeschreiblich.

NATÜRLICH kann mit meiner Bemerkung über die Erlebnisse mit Frauen, will man nicht alles, was ich darüber bisher geschrieben habe, als glatten Unfug ansehen, nur ein bestimmter Kreis von Personen gemeint sein, zu dem ich mehr oder weniger intime Beziehungen hatte. Jene Frau, die heute morgen, gerade als ich unter ihrem Fenster vorbeiging, ihr Staubtuch ausschüttelte, so daß dessen Inhalt mir auf den Kopf fiel, ist darin nicht eingeschlossen, obwohl sie, als ich sie in aller Höflichkeit darum ersuchte, doch besser aufzupassen, die im übertragenen Sinne des Wortes unbeschreibliche Frechheit hatte, mir zu erwidern, ihr Schmutz ginge mich einen Dreck an.

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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984 (korrigierte Fassung)