Gedankenvernichtung VII



MIT der größten Behutsamkeit habe ich einen Ohrwurm, der mir in meiner von belebter Materie sonst freien Wohnung wie ein letzter Überlebender auf einem von einer kosmischen Katastrophe heimgesuchten Planeten vorkam, in der hohlen Hand zum Fenster getragen und, nachdem ich dieses geöffnet hatte, auf einem Mauervorsprung davonkriechen lassen. Habe ich seine Befreiung zunächst als einen, gemessen an meiner Neigung, jegliches Getier sofort umzubringen, geradezu christlichen Akt der Nächstenliebe betrachten können, welcher auf einer fundamentalen Veränderung meines Wesens beruhen mußte, so ist mir nach einigem Nachdenken klar geworden, daß ich ihn, da draußen die bitterste Kälte herrschte, in einen womöglich viel qualvolleren Tod, als es ein durch mich herbeigeführter gewesen wäre, getrieben hatte.

ALS ich gemäß meiner Vorliebe für morgendliche Spaziergänge durch die um diese Zeit fast menschenleeren Straßen meines Wohnbezirks schlenderte, hat mich ein dem Aussehen nach bereits im Rentenalter befindlicher Herr angesprochen, welcher, wie er mir sagte, aus keinem anderen Grund als dem, mit mir zu sprechen, seine Wohnung verlassen und vor dem Haustor gewartet hatte. Ich sei ihm, wenn er morgens aus dem Fenster schaue, schon des öfteren aufgefallen. Da er aufgrund seiner Kurzsichtigkeit nicht in der Lage sei, mich von weitem an meinem äußeren Erscheinungsbild zu erkennen, habe er sich, um mich, wie es seit langem sein Wunsch sei, eines Tages auf meinem Spaziergang abpassen zu können, gewisse Eigenheiten in der Art meines Gehens auf das genaueste einprägen müssen. Auf meine Frage, was er mir denn so dringend zu sagen hätte, wandte er sich, als wolle er sichergehen, daß niemand lauschte, nach allen Seiten, ergriff meine Hand und stieß in einem Anfall von Wut, unter welchem sein schwächlicher Körper sich zu einer Anspannung versteifte, die mich fürchten ließ, er würde jeden Augenblick platzen, mehrere Sätze hervor, welche zufolge der Erregung, in der sie gesprochen wurden, nur zum Teil zu verstehen waren. Wiederholt war darin von seinem Haß auf die Menschen die Rede, dessen Auswirkungen jedoch durch seine noch größere Verachtung gegen die Menschen verhindert würden. Jedesmal, wenn er hinaus auf die Straße gehe, habe er den Gedanken, den Menschen seinen Haß ins Gesicht zu schleudern, aber dann obsiege doch immer das Gefühl der Verachtung, welches der Ausführung jenes Gedankens im Wege stehe. Letzten Endes verachte er die Menschen zu sehr, um sie hassen zu können. Am schlimmsten aber sei, daß sich dieses Wechselspiel aus Haß und Verachtung unausweichlich auch gegen ihn selber kehre. Würde sein Selbsthaß nicht erstickt durch die Selbstverachtung, hätte er sich längst das Leben genommen. Als ich den Alten fragte, warum er das alles gerade mir erzähle, entlud sich seine Erregung in einem hysterischen Lachen. Ich solle ihm nichts vormachen, brüllte er in die bis auf ein paar erschreckt auffliegende Tauben noch leere Straße, mir ginge es doch genauso.

AUFGRUND einer Empfehlung des in Sachen Film gut bewanderten Tabakwarenverkäufers, bei dem ich seit Jahren Zigaretten und die tägliche Zeitung kaufe, bin ich nach langem zum erstenmal wieder ins Kino gegangen. Da die Vorstellung bereits begonnen hatte, habe ich mich von einer Platzanweiserin, die mit der Taschenlampe vorausging, zu meinem Platz führen lassen. War schon die Tatsache, daß der in Geschmacksfragen keineswegs anspruchsvolle Tabakverkäufer den Film als den besten, den er jemals gesehen habe, bezeichnet hatte, Grund genug anzunehmen, der Saal würde voll sein, so wurde mir durch das Verhalten der Platzanweiserin, die entgegen meinem Wunsch, mich weiter nach hinten zu setzen, darauf bestand, daß ich den auf meiner Eintrittskarte angegebenen Platz einnehme, vollends zur Gewißheit, daß das Kino gut besucht war, obgleich ich das in der Dunkelheit, an welche meine Augen sich erst gewöhnen mußten, nicht überprüfen konnte. Umso größer war mein Erstaunen, als ich in einer durch einen Filmriß entstandenen Pause, in der das Licht angedreht wurde, erkennen mußte, daß außer mir nur noch ein einziger Besucher im Saal war, welcher mir, so als ergäbe sich aus dem Umstand, daß wir alleine waren, die Notwendigkeit, miteinander Kontakt aufzunehmen, mit der Hand Zeichen machte, darunter eines, das ich mir trotz der Deutlichkeit, mit der es gegeben wurde, nicht habe erklären können. Der Mann formte aus Daumen und Zeigefinger eine Art Guckloch, welches er, indem er den Arm ausstreckte, zur Leinwand hochhielt. Dabei verzog sich seine Miene zu einem frivolen Grinsen, wodurch jenes Zeichen um nichts verständlicher wurde. Da ich von nun an in Gedanken ausschließlich damit beschäftigt war, herauszufinden, was mir der Mann hatte sagen wollen, habe ich der Filmhandlung nicht folgen können, so daß die Gesten und Bewegungen der Filmdarsteller wie eine ununterbrochene Aneinanderreihung rätselhafter Zeichen an mir vorüberzogen.

DURCH eine überraschende Geldanweisung in die Lage versetzt, mir den seit langem gehegten Wunsch nach einer Luftveränderung endlich erfüllen zu können, habe ich unverzüglich meinen Koffer gepackt und bin mit dem Zug nach Tirol gefahren. Kaum angekommen, habe ich der Nachbarin eine Ansichtskarte geschrieben, auf welcher der Stadtturm und das Goldene Dachl von Innsbruck vor dem Hintergrund der schneebedeckten Nordkette zu sehen waren. Nachdem ich die Karte, auf der nichts weiter stand als die üblichen Urlaubsgrüße und eine Bemerkung über die Wetterlage, frankiert und in einen Postkasten geworfen hatte, erschien es mir plötzlich ganz sinnlos, mich noch länger in Tirol aufzuhalten. Als wäre der einzige Zweck meiner Reise das Absenden der Karte gewesen, bin ich, ohne den Bahnhof verlassen zu haben, bei der nächstbesten Gelegenheit wieder zurückgefahren.

OBWOHL ich zu einem Wiedersehen mit einer mir von früher bekannten Redaktionssekretärin, die ich auf der Straße getroffen und ein Stück Weges begleitet hatte, nicht die mindeste Lust verspürte, habe ich ihre zum Abschied gemachte Äußerung, man werde bestimmt bald wieder zusammenkommen, dazu genutzt, sie zu einem Faschingsball einzuladen, zu welchem sie, wie ich ausdrücklich betonte, unbedingt kostümiert zu erscheinen hätte. Ich würde sie von zu Hause mit dem Taxi abholen. Hätte ich mich damit begnügt, als Antwort auf jene Äußerung eine entsprechend unverbindliche Bemerkung zu machen, gäbe es für mich keine Möglichkeit, meinen Widerwillen gegen eine neuerliche Begegnung auch nur annähernd so deutlich zum Ausdruck zu bringen wie dadurch, daß ich die Sekretärin in Kostüm und Maske umsonst auf mich warten lasse.

EIN Brief, mit dem ich mich bei einem befreundeten Gynäkologen für die Zusendung seines neuesten Buches, einer Abhandlung über die Prophylaxe bei Gebärmuttergeschwulsten, bedanken wollte, ist mir unter der Hand zu einer den Rahmen eines Dankschreibens in jeder Beziehung sprengenden Lobeshymne geraten, in welcher ich völlig im Widerspruch zu meiner tatsächlichen Meinung das Buch, das ich schon nach wenigen Sätzen gelangweilt ins Regal gestellt hatte, als das spannendste und erregendste rühmte, das ich seit langem gelesen hätte. Da ich mir von einer so übertriebenen Reaktion nicht nur keinerlei Nutzen versprechen konnte, sondern im Gegenteil sogar fürchten mußte, daß sie mein Freund, dem meine Gleichgültigkeit gegenüber medizinischen Problemen bekannt ist, als Verhöhnung empfinden würde, erhob sich die Frage, ob die Ursache für jene Reaktion nicht in etwas ganz anderem als dem Erhalt des Buches zu suchen wäre, an welchem meine Begeisterung sich folglich nur deshalb entzündet hätte, weil ich das wahre Ziel meiner Gefühle aus den Augen verloren habe.

ANDERS als sonst beim Aufheulen der für den Kriegsfall gedachten Alarmsirenen, welches mir trotz vorheriger Bekanntgabe, es handle sich dabei lediglich um eine Kontrollmaßnahme, jedesmal ein gewisses Unbehagen verursacht hatte, bin ich heute völlig gefaßt geblieben, so als wäre der Alarm eine verspätete Warnung für eine längst eingetroffene Katastrophe.

EIN zufälliges Zusammentreffen mit meiner Nachbarin gab mir Gelegenheit, mich zu erkundigen, ob sie meine Grüße aus Innsbruck erhalten habe. Statt zu antworten, fuhr sie mich an, ich solle es hinfort unterlassen, ihr mit Karten, Briefen oder sonstigen Beweisen meiner Aufmerksamkeit auf die Nerven zu fallen. Sie existiere für mich doch nur als Erfindung in meinem Kopf. Darauf erwiderte ich, in diesem Falle müßte auch ich, der ich meine Lebenskraft seit Monaten einzig und allein unserer Verbindung verdanke, mich als meine eigene Erfindung betrachten, was nach logischen Gesichtspunkten unhaltbar wäre, da Schöpfer und Geschöpf nicht dieselbe Person sein könnten. Wäre sie, die Nachbarin, tatsächlich ein Produkt meiner Erfindungsgabe, so würde ich, da ich nur lebe kraft ihres Daseins, früher oder später zu der Erkenntnis kommen, daß ich in Wirklichkeit gar nicht da bin, sofern einer, der nicht da ist, überhaupt noch etwas erkennen könne. Daran müsse man aber jetzt noch nicht denken. Solange es mir gelänge, ihr auf die Nerven zu fallen, bestünde kein Anlaß, den Glauben, daß es mich gibt, aufzugeben.

ZU meiner Verwunderung hat sich durch das unfreundliche Verhalten der Nachbarin, welches, wenn nicht schlechte Laune daran schuld war, einen grundlegenden Wandel ihrer Einstellung mir gegenüber bedeuten würde, meine Gemütslage so sehr gebessert, daß ich zum erstenmal, seit ich hier wohne, die Fenster geputzt und eine Reihe von Gebrauchsgegenständen, darunter das Zahnputzglas und den Mülleimer, gesäubert habe.

UM mein anhaltendes, mir nach wie vor unbegreifliches Wohlbefinden nicht zu gefährden, habe ich mir das Fernsehen, Telefonieren und vor allem das Ausgehen verboten. Da ich auf diese Weise keine neuen Eindrücke gewinnen konnte, geschah es von selbst, daß sich die Erinnerung an mein letztes Gespräch mit der Nachbarin, in dem doch die Ursache für mein Wohlgefühl liegen mußte, wie eine immer wieder von neuem abgespielte Schallplatte in meinem Kopf wiederholte, wodurch mir die Stimmung zunehmend verdorben wurde. Endlich, spätabends, kam mir der erlösende Einfall, die Behauptung der Nachbarin, sie sei meine Erfindung, zur Grundlage eines Romans zu machen, welcher mir die ihr offenbar lästigen Zusammenkünfte ersetzen würde.

ALS ich, froh darüber, meine seit längerem nur noch lustlos fortgeführten Aufzeichnungen vorerst beenden zu können, mit dem Romanschreiben beginnen wollte, hatte ich den für einen Roman völlig unbrauchbaren Gedanken, über die Erlebnisse einer vermeintlich Schwangeren zu berichten, deren Schwangerschaft sich bei der Entbindung als bloße Verdauungsstörung herausstellt, so daß anstatt des erwarteten Säuglings nur ein Haufen Exkremente zum Vorschein kommen.

NOCH unter dem Eindruck des gestrigen Fehlschlags habe ich heute von vornherein darauf verzichtet, mir einen Handlungsfaden zurechtzulegen und mich stattdessen voll und ganz auf meine dichterische Intuition verlassen. Tatsächlich ist mir auf Anhieb eine recht hübsche Metapher gelungen, welche ich aber, da darin anhand des Vergleichs einer erfrorenen Rosenknospe mit dem Erkalten unaufgeblühter Gefühle sozusagen schon das poetische Fazit gezogen wurde, bestenfalls an den Schluß meines Romans stellen könnte.

AM liebsten würde ich meinen Roman mit einer Entführung und anschließenden Vergewaltigung meiner Heldin beginnen lassen. Aber abgesehen davon, daß die Entführung und Vergewaltigung einer Person zu deren Charakterisierung nicht das geringste beiträgt, wüßte ich nicht, wie ich eine andere Lieblingsidee, nämlich die Beschreibung einer Begegnung im Regen, welche mit einem schüchternen Handkuß endet, dann noch realisieren sollte.

DAMIT sich mein Kopf von all den untauglichen Einfallen der letzten Tage erholen und ich vielleicht wieder einmal etwas anderes als das Scheitern meiner Romanversuche beschreiben könnte, bin ich in die Vorstellung eines von der Kritik einhellig gelobten amerikanischen Unterhaltungskünstlers gegangen, habe aber auch dort ununterbrochen an das drohende Mißlingen meines Romans denken müssen. Während der aus Hollywoodfilmen bekannte, deutlich gealterte Entertainer das Publikum zu Lachstürmen hinriß, bin ich die ganze Zeit vollkommen ernst geblieben. Erst nach Ende der Darbietung, an der Garderobe, habe ich über den Satz der Garderobiere, sie habe ihre Füße nicht im Lotto gewonnen, zum erstenmal lachen können, was die Umstehenden, deren Bedarf an Unterhaltung bereits gedeckt war, mit erstaunten, um nicht zu sagen feindseligen Blicken quittierten.

NICHT einmal beim Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau meines Steuerberaters, die ich, als ich mir bei ihrem Mann Rat holen wollte, statt seiner angetroffen und, süchtig nach Ablenkung, gleich im Büro überwältigt hatte, habe ich mein Romanvorhaben vergessen können. Unfähig zum Genuß, sah ich keinen Sinn darin, den Koitus fortzusetzen. Da sich die Frau, welche, nach den Lauten zu urteilen, die sie hervorstieß, bereits auf den sexuellen Höhepunkt zusteuerte, mit solcher Gewalt an mir festklammerte, daß ich mich trotz größter Anstrengung von ihr nicht befreien konnte, war ich gezwungen, sie mit einer Ohrfeige zur Besinnung zu bringen.

OBWOHL es mir in Anbetracht der Erfolglosigkeit meiner Bemühungen, über die Nachbarin einen Roman zu schreiben, äußerst gelegen käme, könnte ich wieder mit ihr in Verbindung treten, bin ich der Bitte des für die Überprüfung der Abzugsschächte zuständigen Kaminkehrers, ihr auszurichten, er würde, da sie heute nicht da sei, morgen noch einmal vorbeischauen, nicht nachgekommen, weil sie das nach allem, was geschehen ist, doch nur für eine List halten könnte, mit der ich versuche, mich aufs neue an sie heranzumachen.

MEINER an Freßsucht leidenden Tante, die mich, vertrauensselig wie nie zuvor, in die Symptome ihres von ihr als krankhaft bezeichneten Lasters eingeweiht hatte, welche darin bestünden, daß sie, ganz gleich, was sie tue, immer nur an das Essen denke, habe ich, damit sie sich mit ihrem Problem nicht so alleine fühle, von meinem ihrem Leiden, wie ich behauptete, durchaus vergleichbaren Drang berichtet, alles Gedachte sofort zu Papier zu bringen. Auf die Hinzufügung meiner Tante, das schlimmste sei, daß sie, sobald sie ihrer Sucht nachgebe und etwas esse, alles wieder erbrechen müsse, sagte ich, genauso gehe es mir mit dem Schreiben. Kaum hätte ich einen Satz geschrieben, fände ich diesen auch schon zum Kotzen.

ALS ich, durch ungewöhnlichen Lärm angelockt, aus dem Fenster schaute, sah ich, wie Möbelpacker Einrichtungsgegenstände der Nachbarin auf einen Transporter luden. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, hat sie mit den Vorbereitungen zu ihrem Auszug begonnen, was bedeuten würde, daß ich sie nur noch kurze Zeit meine Nachbarin nennen dürfte.

NEUGIERIG, was es mit der Ankündigung eines Zirkusunternehmens, ein sogenannter Todesspringer zeige allabendlich seine Künste, für eine Bewandtnis habe, bin ich sofort zum Zirkusplatz hingefahren, habe aber nur noch für den nächsten Tag eine Karte bekommen, so daß ich mich für diesen Abend mit dem Fernsehen begnügen mußte. Nachdem ich den Sender mehrmals gewechselt, mich aber für nichts so recht hatte begeistern können, kam in den Spätnachrichten die Meldung, jener als Todesspringer bekannte Artist sei beim Sprung aus der Zirkuskuppel durch ein Versagen der Sicherheitsvorrichtung tödlich verunglückt. Da es sich bei seinem Auftritt um die zentrale Nummer im Programm des Zirkus gehandelt habe, müßten die Vorstellungen, bis Ersatz gefunden sei, ausfallen. Bereits gelöste Karten würden zurückgenommen.

ANSTATT einem etwa zwölfjährigen Jungen, der mich fragte, wie spät es sei, die gewünschte Auskunft zu geben, bin ich, erfaßt von einem plötzlichen Schrecken, für den ich keine Erklärung hatte, vollkommen stumm geblieben, unfähig, auch nur auf die Uhr zu blicken. Zwar hatte die Frage eine Erinnerung in mir wachgerufen, welche ein kurzes Zögern begreiflich machte, nicht aber die panische Angst, die mich erfüllte und die ich hinsichtlich ihrer Intensität nur als Todesangst hätte bezeichnen können. Ich hatte mich bloß daran erinnert, daß mir, als ich so alt war wie dieser Junge, das Fragen nach der Uhrzeit als einziger gewissermaßen legitimer Kontakt mit fremden Erwachsenen sehr viel bedeutet und ich über das Geschenk einer Armbanduhr zu meiner Firmung keine Freude empfunden hatte, da ich mich von nun an zu jener Frage nicht mehr berechtigt fühlte, außer meine Uhr ging falsch oder blieb stehen, was ich durch nachlässiges Aufziehen, welches in mir jedesmal ein schlechtes Gewissen hervorrief, denn auch gefördert habe. Wie konnte mich eine so harmlose Reminiszenz in solche Verzweiflung stürzen? Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte und auf die Uhr sah, stellte ich fest, sie war stehengeblieben. Der Junge stand immer noch vor mir. Um seine Lippen spielte ein triumphierendes Lächeln. Ich sagte: "Meine Zeit ist wohl abgelaufen."

TROTZ genauer Erinnerung an das Erlebnis mit der Frau meines Steuerberaters habe ich, als sie mir bei meinem zweiten Besuch, vor welchem ich mich der Anwesenheit ihres Mannes telefonisch versichert hatte, mit einem verschwörerischen Lächeln die Tür öffnete, ganz unverbindlich zurücklächeln können, so als wäre unser Kopulationsversuch ein den gesellschaftlichen Umgangsformen angemessener Vorgang gewesen wie etwa die Konversation eines Bankbeamten mit seinem Abteilungsleiter, wenn die beiden in einer Theaterpause am Buffet aufeinandertreffen.

ZUM erstenmal habe ich, obwohl die Ermordung der Nachbarin nur noch bedingt aktuell ist, zumal sie meine Nachbarin bald nicht mehr sein wird, Überlegungen angestellt, auf welche Weise ich jenen Mord überhaupt bewerkstelligen könnte. Das Erwürgen mit einem Schal, einer Krawatte oder ähnlichem Stoffzeug erinnerte mich zu sehr an einen englischen Fernsehkrimi. Sie zu erschlagen wäre mir zu brutal, ganz abgesehen vom unsicheren Ausgang und der Gefahr, durch Krach und Geschrei Tatzeugen herbeizulocken. Um zu einer Schußwaffe zu kommen, müßte ich Polizist sein oder mich auf Beziehungen zur Unterwelt stützen können. Das Vergiften paßt eher zu alten Damen, ein Sturz aus dem Fenster macht zu viel Aufsehen, ein Auto, um sie zu überfahren, besitze ich nicht mehr. Bleibt nur der Tod durch Erstechen, was aber viel leichter gesagt als getan ist. Für einen Roman wäre das der passende Abschluß oder, so dachte ich, der passende Anfang. Der Mörder kniet mit blutbeschmierten Händen vor der Leiche des Opfers und läßt in Gedanken die Ereignisse, die zu seiner Tat führten, an sich vorüberziehen. Indem ich mir vorstellte, mein Thema in einer das ganze Buch ausfüllenden Rückblende abzuhandeln, war ich wieder voll Zuversicht, mit meinem Romanprojekt doch noch voranzukommen.

ALS ich einem zur Behandlung meiner Rückenschmerzen aufgesuchten Bewegungstherapeuten, der mich, während ich unter seiner Anleitung einige gymnastische Übungen machte, mehrmals ermahnte, das Atmen nicht zu vergessen, die Frage stellte, weshalb der Gedanke an das Atmen so wichtig wäre, da es sich doch dabei ohnehin um eine nicht dem Gehirn, sondern sozusagen dem lieben Gott unterworfene Funktion unseres Körpers handle, sonst könnten wir, wenn der Geist es nur wolle, auch ewig leben, erwiderte der bis dahin schon von Berufs wegen äußerste Gelassenheit ausstrahlende Mann mit zornrotem Kopf, dies seien Spitzfindigkeiten. Natürlich könne man mit sprachlichen Haarspaltereien auch das Selbstverständlichste noch in Zweifel ziehen, aber für das Tun wäre dadurch nicht das geringste gewonnen. Er habe in seinem ersten, inzwischen aufgegebenen Beruf als Philosophieprofessor, in welchem er als Autor mehrerer Bücher zu großem Ansehen gelangt sei, erkennen müssen, daß man durch das Reden über die Dinge diese keinen Zentimeter bewegen könne. Sprache sei zwecklos, das Baden in ihr moralisch bedenklich, ein Zeichen des Untergangs. Siechtum habe zu allen Zeiten die Völker befallen, sobald sie ihre Taten durch das Reden verwässert hätten, bis sie schließlich im Sumpf ihrer Worte erstickt seien, niedergetrampelt von den Legionen der stärkeren Rasse. Was, so rief der Therapeut, dessen Rede sich zu emphatischen Höhen emporschwang, wäre der Mensch ohne das Schweigen? Obwohl die Frage zweifellos nicht an mich gerichtet, sondern rhetorisch gemeint war, nutzte ich sie, um in aller Bescheidenheit darauf hinzuweisen, daß die Propagierung des Schweigens ohne Sprache kaum möglich wäre.

MEINE Nachbarin ist, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß man das Namensschild von ihrer Tür entfernt hat, endgültig ausgezogen. Unbegreiflicherweise hat sie ihren Wohnungsschlüssel mit der schriftlich beigefügten Bitte, ihn dem Hausmeister zu geben, bei mir eingeworfen.

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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984