MIT der größten Behutsamkeit habe ich einen Ohrwurm, der mir in meiner von belebter
Materie sonst freien Wohnung wie ein letzter Überlebender auf einem von einer
kosmischen Katastrophe heimgesuchten Planeten vorkam, in der hohlen Hand zum
Fenster getragen und, nachdem ich dieses geöffnet hatte, auf einem Mauervorsprung
davonkriechen lassen. Habe ich seine Befreiung zunächst als einen, gemessen
an meiner Neigung, jegliches Getier sofort umzubringen, geradezu christlichen
Akt der Nächstenliebe betrachten können, welcher auf einer fundamentalen Veränderung
meines Wesens beruhen mußte, so ist mir nach einigem Nachdenken klar geworden,
daß ich ihn, da draußen die bitterste Kälte herrschte, in einen womöglich viel
qualvolleren Tod, als es ein durch mich herbeigeführter gewesen wäre, getrieben
hatte.
ALS ich gemäß meiner Vorliebe für morgendliche Spaziergänge durch die um diese
Zeit fast menschenleeren Straßen meines Wohnbezirks schlenderte, hat mich ein
dem Aussehen nach bereits im Rentenalter befindlicher Herr angesprochen, welcher,
wie er mir sagte, aus keinem anderen Grund als dem, mit mir zu sprechen, seine
Wohnung verlassen und vor dem Haustor gewartet hatte. Ich sei ihm, wenn er morgens
aus dem Fenster schaue, schon des öfteren aufgefallen. Da er aufgrund seiner
Kurzsichtigkeit nicht in der Lage sei, mich von weitem an meinem äußeren Erscheinungsbild
zu erkennen, habe er sich, um mich, wie es seit langem sein Wunsch sei, eines
Tages auf meinem Spaziergang abpassen zu können, gewisse Eigenheiten in der
Art meines Gehens auf das genaueste einprägen müssen. Auf meine Frage, was er
mir denn so dringend zu sagen hätte, wandte er sich, als wolle er sichergehen,
daß niemand lauschte, nach allen Seiten, ergriff meine Hand und stieß in einem
Anfall von Wut, unter welchem sein schwächlicher Körper sich zu einer Anspannung
versteifte, die mich fürchten ließ, er würde jeden Augenblick platzen, mehrere
Sätze hervor, welche zufolge der Erregung, in der sie gesprochen wurden, nur
zum Teil zu verstehen waren. Wiederholt war darin von seinem Haß auf die Menschen
die Rede, dessen Auswirkungen jedoch durch seine noch größere Verachtung gegen
die Menschen verhindert würden. Jedesmal, wenn er hinaus auf die Straße gehe,
habe er den Gedanken, den Menschen seinen Haß ins Gesicht zu schleudern, aber
dann obsiege doch immer das Gefühl der Verachtung, welches der Ausführung jenes
Gedankens im Wege stehe. Letzten Endes verachte er die Menschen zu sehr, um
sie hassen zu können. Am schlimmsten aber sei, daß sich dieses Wechselspiel
aus Haß und Verachtung unausweichlich auch gegen ihn selber kehre. Würde sein
Selbsthaß nicht erstickt durch die Selbstverachtung, hätte er sich längst das
Leben genommen. Als ich den Alten fragte, warum er das alles gerade mir erzähle,
entlud sich seine Erregung in einem hysterischen Lachen. Ich solle ihm nichts
vormachen, brüllte er in die bis auf ein paar erschreckt auffliegende Tauben
noch leere Straße, mir ginge es doch genauso.
AUFGRUND einer Empfehlung des in Sachen Film gut bewanderten Tabakwarenverkäufers,
bei dem ich seit Jahren Zigaretten und die tägliche Zeitung kaufe, bin ich nach
langem zum erstenmal wieder ins Kino gegangen. Da die Vorstellung bereits begonnen
hatte, habe ich mich von einer Platzanweiserin, die mit der Taschenlampe vorausging,
zu meinem Platz führen lassen. War schon die Tatsache, daß der in Geschmacksfragen
keineswegs anspruchsvolle Tabakverkäufer den Film als den besten, den er jemals
gesehen habe, bezeichnet hatte, Grund genug anzunehmen, der Saal würde voll
sein, so wurde mir durch das Verhalten der Platzanweiserin, die entgegen meinem
Wunsch, mich weiter nach hinten zu setzen, darauf bestand, daß ich den auf meiner
Eintrittskarte angegebenen Platz einnehme, vollends zur Gewißheit, daß das Kino
gut besucht war, obgleich ich das in der Dunkelheit, an welche meine Augen sich
erst gewöhnen mußten, nicht überprüfen konnte. Umso größer war mein Erstaunen,
als ich in einer durch einen Filmriß entstandenen Pause, in der das Licht angedreht
wurde, erkennen mußte, daß außer mir nur noch ein einziger Besucher im Saal
war, welcher mir, so als ergäbe sich aus dem Umstand, daß wir alleine waren,
die Notwendigkeit, miteinander Kontakt aufzunehmen, mit der Hand Zeichen machte,
darunter eines, das ich mir trotz der Deutlichkeit, mit der es gegeben wurde,
nicht habe erklären können. Der Mann formte aus Daumen und Zeigefinger eine
Art Guckloch, welches er, indem er den Arm ausstreckte, zur Leinwand hochhielt.
Dabei verzog sich seine Miene zu einem frivolen Grinsen, wodurch jenes Zeichen
um nichts verständlicher wurde. Da ich von nun an in Gedanken ausschließlich
damit beschäftigt war, herauszufinden, was mir der Mann hatte sagen wollen,
habe ich der Filmhandlung nicht folgen können, so daß die Gesten und Bewegungen
der Filmdarsteller wie eine ununterbrochene Aneinanderreihung rätselhafter Zeichen
an mir vorüberzogen.
DURCH eine überraschende Geldanweisung in die Lage versetzt, mir den seit langem
gehegten Wunsch nach einer Luftveränderung endlich erfüllen zu können, habe
ich unverzüglich meinen Koffer gepackt und bin mit dem Zug nach Tirol gefahren.
Kaum angekommen, habe ich der Nachbarin eine Ansichtskarte geschrieben, auf
welcher der Stadtturm und das Goldene Dachl von Innsbruck vor dem Hintergrund
der schneebedeckten Nordkette zu sehen waren. Nachdem ich die Karte, auf der
nichts weiter stand als die üblichen Urlaubsgrüße und eine Bemerkung über die
Wetterlage, frankiert und in einen Postkasten geworfen hatte, erschien es mir
plötzlich ganz sinnlos, mich noch länger in Tirol aufzuhalten. Als wäre der
einzige Zweck meiner Reise das Absenden der Karte gewesen, bin ich, ohne den
Bahnhof verlassen zu haben, bei der nächstbesten Gelegenheit wieder zurückgefahren.
OBWOHL ich zu einem Wiedersehen mit einer mir von früher bekannten Redaktionssekretärin,
die ich auf der Straße getroffen und ein Stück Weges begleitet hatte, nicht
die mindeste Lust verspürte, habe ich ihre zum Abschied gemachte Äußerung, man
werde bestimmt bald wieder zusammenkommen, dazu genutzt, sie zu einem Faschingsball
einzuladen, zu welchem sie, wie ich ausdrücklich betonte, unbedingt kostümiert
zu erscheinen hätte. Ich würde sie von zu Hause mit dem Taxi abholen. Hätte
ich mich damit begnügt, als Antwort auf jene Äußerung eine entsprechend unverbindliche
Bemerkung zu machen, gäbe es für mich keine Möglichkeit, meinen Widerwillen
gegen eine neuerliche Begegnung auch nur annähernd so deutlich zum Ausdruck
zu bringen wie dadurch, daß ich die Sekretärin in Kostüm und Maske umsonst auf
mich warten lasse.
EIN Brief, mit dem ich mich bei einem befreundeten Gynäkologen für die Zusendung
seines neuesten Buches, einer Abhandlung über die Prophylaxe bei Gebärmuttergeschwulsten,
bedanken wollte, ist mir unter der Hand zu einer den Rahmen eines Dankschreibens
in jeder Beziehung sprengenden Lobeshymne geraten, in welcher ich völlig im
Widerspruch zu meiner tatsächlichen Meinung das Buch, das ich schon nach wenigen
Sätzen gelangweilt ins Regal gestellt hatte, als das spannendste und erregendste
rühmte, das ich seit langem gelesen hätte. Da ich mir von einer so übertriebenen
Reaktion nicht nur keinerlei Nutzen versprechen konnte, sondern im Gegenteil
sogar fürchten mußte, daß sie mein Freund, dem meine Gleichgültigkeit gegenüber
medizinischen Problemen bekannt ist, als Verhöhnung empfinden würde, erhob sich
die Frage, ob die Ursache für jene Reaktion nicht in etwas ganz anderem als
dem Erhalt des Buches zu suchen wäre, an welchem meine Begeisterung sich folglich
nur deshalb entzündet hätte, weil ich das wahre Ziel meiner Gefühle aus den
Augen verloren habe.
ANDERS als sonst beim Aufheulen der für den Kriegsfall gedachten Alarmsirenen,
welches mir trotz vorheriger Bekanntgabe, es handle sich dabei lediglich um
eine Kontrollmaßnahme, jedesmal ein gewisses Unbehagen verursacht hatte, bin
ich heute völlig gefaßt geblieben, so als wäre der Alarm eine verspätete Warnung
für eine längst eingetroffene Katastrophe.
EIN zufälliges Zusammentreffen mit meiner Nachbarin gab mir Gelegenheit, mich
zu erkundigen, ob sie meine Grüße aus Innsbruck erhalten habe. Statt zu antworten,
fuhr sie mich an, ich solle es hinfort unterlassen, ihr mit Karten, Briefen
oder sonstigen Beweisen meiner Aufmerksamkeit auf die Nerven zu fallen. Sie
existiere für mich doch nur als Erfindung in meinem Kopf. Darauf erwiderte ich,
in diesem Falle müßte auch ich, der ich meine Lebenskraft seit Monaten einzig
und allein unserer Verbindung verdanke, mich als meine eigene Erfindung betrachten,
was nach logischen Gesichtspunkten unhaltbar wäre, da Schöpfer und Geschöpf
nicht dieselbe Person sein könnten. Wäre sie, die Nachbarin, tatsächlich ein
Produkt meiner Erfindungsgabe, so würde ich, da ich nur lebe kraft ihres Daseins,
früher oder später zu der Erkenntnis kommen, daß ich in Wirklichkeit gar nicht
da bin, sofern einer, der nicht da ist, überhaupt noch etwas erkennen könne.
Daran müsse man aber jetzt noch nicht denken. Solange es mir gelänge, ihr auf
die Nerven zu fallen, bestünde kein Anlaß, den Glauben, daß es mich gibt, aufzugeben.
ZU meiner Verwunderung hat sich durch das unfreundliche Verhalten der Nachbarin,
welches, wenn nicht schlechte Laune daran schuld war, einen grundlegenden Wandel
ihrer Einstellung mir gegenüber bedeuten würde, meine Gemütslage so sehr gebessert,
daß ich zum erstenmal, seit ich hier wohne, die Fenster geputzt und eine Reihe
von Gebrauchsgegenständen, darunter das Zahnputzglas und den Mülleimer, gesäubert
habe.
UM mein anhaltendes, mir nach wie vor unbegreifliches Wohlbefinden nicht zu
gefährden, habe ich mir das Fernsehen, Telefonieren und vor allem das Ausgehen
verboten. Da ich auf diese Weise keine neuen Eindrücke gewinnen konnte, geschah
es von selbst, daß sich die Erinnerung an mein letztes Gespräch mit der Nachbarin,
in dem doch die Ursache für mein Wohlgefühl liegen mußte, wie eine immer wieder
von neuem abgespielte Schallplatte in meinem Kopf wiederholte, wodurch mir die
Stimmung zunehmend verdorben wurde. Endlich, spätabends, kam mir der erlösende
Einfall, die Behauptung der Nachbarin, sie sei meine Erfindung, zur Grundlage
eines Romans zu machen, welcher mir die ihr offenbar lästigen Zusammenkünfte
ersetzen würde.
ALS ich, froh darüber, meine seit längerem nur noch lustlos fortgeführten Aufzeichnungen
vorerst beenden zu können, mit dem Romanschreiben beginnen wollte, hatte ich
den für einen Roman völlig unbrauchbaren Gedanken, über die Erlebnisse einer
vermeintlich Schwangeren zu berichten, deren Schwangerschaft sich bei der Entbindung
als bloße Verdauungsstörung herausstellt, so daß anstatt des erwarteten Säuglings
nur ein Haufen Exkremente zum Vorschein kommen.
NOCH unter dem Eindruck des gestrigen Fehlschlags habe ich heute von vornherein
darauf verzichtet, mir einen Handlungsfaden zurechtzulegen und mich stattdessen
voll und ganz auf meine dichterische Intuition verlassen. Tatsächlich ist mir
auf Anhieb eine recht hübsche Metapher gelungen, welche ich aber, da darin anhand
des Vergleichs einer erfrorenen Rosenknospe mit dem Erkalten unaufgeblühter
Gefühle sozusagen schon das poetische Fazit gezogen wurde, bestenfalls an den
Schluß meines Romans stellen könnte.
AM liebsten würde ich meinen Roman mit einer Entführung und anschließenden Vergewaltigung
meiner Heldin beginnen lassen. Aber abgesehen davon, daß die Entführung und
Vergewaltigung einer Person zu deren Charakterisierung nicht das geringste beiträgt,
wüßte ich nicht, wie ich eine andere Lieblingsidee, nämlich die Beschreibung
einer Begegnung im Regen, welche mit einem schüchternen Handkuß endet, dann
noch realisieren sollte.
DAMIT sich mein Kopf von all den untauglichen Einfallen der letzten Tage erholen
und ich vielleicht wieder einmal etwas anderes als das Scheitern meiner Romanversuche
beschreiben könnte, bin ich in die Vorstellung eines von der Kritik einhellig
gelobten amerikanischen Unterhaltungskünstlers gegangen, habe aber auch dort
ununterbrochen an das drohende Mißlingen meines Romans denken müssen. Während
der aus Hollywoodfilmen bekannte, deutlich gealterte Entertainer das Publikum
zu Lachstürmen hinriß, bin ich die ganze Zeit vollkommen ernst geblieben. Erst
nach Ende der Darbietung, an der Garderobe, habe ich über den Satz der Garderobiere,
sie habe ihre Füße nicht im Lotto gewonnen, zum erstenmal lachen können, was
die Umstehenden, deren Bedarf an Unterhaltung bereits gedeckt war, mit erstaunten,
um nicht zu sagen feindseligen Blicken quittierten.
NICHT einmal beim Geschlechtsverkehr mit der Ehefrau meines Steuerberaters,
die ich, als ich mir bei ihrem Mann Rat holen wollte, statt seiner angetroffen
und, süchtig nach Ablenkung, gleich im Büro überwältigt hatte, habe ich mein
Romanvorhaben vergessen können. Unfähig zum Genuß, sah ich keinen Sinn darin,
den Koitus fortzusetzen. Da sich die Frau, welche, nach den Lauten zu urteilen,
die sie hervorstieß, bereits auf den sexuellen Höhepunkt zusteuerte, mit solcher
Gewalt an mir festklammerte, daß ich mich trotz größter Anstrengung von ihr
nicht befreien konnte, war ich gezwungen, sie mit einer Ohrfeige zur Besinnung
zu bringen.
OBWOHL es mir in Anbetracht der Erfolglosigkeit meiner Bemühungen, über die
Nachbarin einen Roman zu schreiben, äußerst gelegen käme, könnte ich wieder
mit ihr in Verbindung treten, bin ich der Bitte des für die Überprüfung der
Abzugsschächte zuständigen Kaminkehrers, ihr auszurichten, er würde, da sie
heute nicht da sei, morgen noch einmal vorbeischauen, nicht nachgekommen, weil
sie das nach allem, was geschehen ist, doch nur für eine List halten könnte,
mit der ich versuche, mich aufs neue an sie heranzumachen.
MEINER an Freßsucht leidenden Tante, die mich, vertrauensselig wie nie zuvor,
in die Symptome ihres von ihr als krankhaft bezeichneten Lasters eingeweiht
hatte, welche darin bestünden, daß sie, ganz gleich, was sie tue, immer nur
an das Essen denke, habe ich, damit sie sich mit ihrem Problem nicht so alleine
fühle, von meinem ihrem Leiden, wie ich behauptete, durchaus vergleichbaren
Drang berichtet, alles Gedachte sofort zu Papier zu bringen. Auf die Hinzufügung
meiner Tante, das schlimmste sei, daß sie, sobald sie ihrer Sucht nachgebe und
etwas esse, alles wieder erbrechen müsse, sagte ich, genauso gehe es mir mit
dem Schreiben. Kaum hätte ich einen Satz geschrieben, fände ich diesen auch
schon zum Kotzen.
ALS ich, durch ungewöhnlichen Lärm angelockt, aus dem Fenster schaute, sah ich,
wie Möbelpacker Einrichtungsgegenstände der Nachbarin auf einen Transporter
luden. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, hat sie mit den Vorbereitungen zu ihrem
Auszug begonnen, was bedeuten würde, daß ich sie nur noch kurze Zeit meine Nachbarin
nennen dürfte.
NEUGIERIG, was es mit der Ankündigung eines Zirkusunternehmens, ein sogenannter
Todesspringer zeige allabendlich seine Künste, für eine Bewandtnis habe, bin
ich sofort zum Zirkusplatz hingefahren, habe aber nur noch für den nächsten
Tag eine Karte bekommen, so daß ich mich für diesen Abend mit dem Fernsehen
begnügen mußte. Nachdem ich den Sender mehrmals gewechselt, mich aber für nichts
so recht hatte begeistern können, kam in den Spätnachrichten die Meldung, jener
als Todesspringer bekannte Artist sei beim Sprung aus der Zirkuskuppel durch
ein Versagen der Sicherheitsvorrichtung tödlich verunglückt. Da es sich bei
seinem Auftritt um die zentrale Nummer im Programm des Zirkus gehandelt habe,
müßten die Vorstellungen, bis Ersatz gefunden sei, ausfallen. Bereits gelöste
Karten würden zurückgenommen.
ANSTATT einem etwa zwölfjährigen Jungen, der mich fragte, wie spät es sei, die
gewünschte Auskunft zu geben, bin ich, erfaßt von einem plötzlichen Schrecken,
für den ich keine Erklärung hatte, vollkommen stumm geblieben, unfähig, auch
nur auf die Uhr zu blicken. Zwar hatte die Frage eine Erinnerung in mir wachgerufen,
welche ein kurzes Zögern begreiflich machte, nicht aber die panische Angst,
die mich erfüllte und die ich hinsichtlich ihrer Intensität nur als Todesangst
hätte bezeichnen können. Ich hatte mich bloß daran erinnert, daß mir, als ich
so alt war wie dieser Junge, das Fragen nach der Uhrzeit als einziger gewissermaßen
legitimer Kontakt mit fremden Erwachsenen sehr viel bedeutet und ich über das
Geschenk einer Armbanduhr zu meiner Firmung keine Freude empfunden hatte, da
ich mich von nun an zu jener Frage nicht mehr berechtigt fühlte, außer meine
Uhr ging falsch oder blieb stehen, was ich durch nachlässiges Aufziehen, welches
in mir jedesmal ein schlechtes Gewissen hervorrief, denn auch gefördert habe.
Wie konnte mich eine so harmlose Reminiszenz in solche Verzweiflung stürzen?
Als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte und auf die Uhr sah, stellte
ich fest, sie war stehengeblieben. Der Junge stand immer noch vor mir. Um seine
Lippen spielte ein triumphierendes Lächeln. Ich sagte: "Meine Zeit ist
wohl abgelaufen."
TROTZ genauer Erinnerung an das Erlebnis mit der Frau meines Steuerberaters
habe ich, als sie mir bei meinem zweiten Besuch, vor welchem ich mich der Anwesenheit
ihres Mannes telefonisch versichert hatte, mit einem verschwörerischen Lächeln
die Tür öffnete, ganz unverbindlich zurücklächeln können, so als wäre unser
Kopulationsversuch ein den gesellschaftlichen Umgangsformen angemessener Vorgang
gewesen wie etwa die Konversation eines Bankbeamten mit seinem Abteilungsleiter,
wenn die beiden in einer Theaterpause am Buffet aufeinandertreffen.
ZUM erstenmal habe ich, obwohl die Ermordung der Nachbarin nur noch bedingt
aktuell ist, zumal sie meine Nachbarin bald nicht mehr sein wird, Überlegungen
angestellt, auf welche Weise ich jenen Mord überhaupt bewerkstelligen könnte.
Das Erwürgen mit einem Schal, einer Krawatte oder ähnlichem Stoffzeug erinnerte
mich zu sehr an einen englischen Fernsehkrimi. Sie zu erschlagen wäre mir zu
brutal, ganz abgesehen vom unsicheren Ausgang und der Gefahr, durch Krach und
Geschrei Tatzeugen herbeizulocken. Um zu einer Schußwaffe zu kommen, müßte ich
Polizist sein oder mich auf Beziehungen zur Unterwelt stützen können. Das Vergiften
paßt eher zu alten Damen, ein Sturz aus dem Fenster macht zu viel Aufsehen,
ein Auto, um sie zu überfahren, besitze ich nicht mehr. Bleibt nur der Tod durch
Erstechen, was aber viel leichter gesagt als getan ist. Für einen Roman wäre
das der passende Abschluß oder, so dachte ich, der passende Anfang. Der Mörder
kniet mit blutbeschmierten Händen vor der Leiche des Opfers und läßt in Gedanken
die Ereignisse, die zu seiner Tat führten, an sich vorüberziehen. Indem ich
mir vorstellte, mein Thema in einer das ganze Buch ausfüllenden Rückblende abzuhandeln,
war ich wieder voll Zuversicht, mit meinem Romanprojekt doch noch voranzukommen.
ALS ich einem zur Behandlung meiner Rückenschmerzen aufgesuchten Bewegungstherapeuten,
der mich, während ich unter seiner Anleitung einige gymnastische Übungen machte,
mehrmals ermahnte, das Atmen nicht zu vergessen, die Frage stellte, weshalb
der Gedanke an das Atmen so wichtig wäre, da es sich doch dabei ohnehin um eine
nicht dem Gehirn, sondern sozusagen dem lieben Gott unterworfene Funktion unseres
Körpers handle, sonst könnten wir, wenn der Geist es nur wolle, auch ewig leben,
erwiderte der bis dahin schon von Berufs wegen äußerste Gelassenheit ausstrahlende
Mann mit zornrotem Kopf, dies seien Spitzfindigkeiten. Natürlich könne man mit
sprachlichen Haarspaltereien auch das Selbstverständlichste noch in Zweifel
ziehen, aber für das Tun wäre dadurch nicht das geringste gewonnen. Er habe
in seinem ersten, inzwischen aufgegebenen Beruf als Philosophieprofessor, in
welchem er als Autor mehrerer Bücher zu großem Ansehen gelangt sei, erkennen
müssen, daß man durch das Reden über die Dinge diese keinen Zentimeter bewegen
könne. Sprache sei zwecklos, das Baden in ihr moralisch bedenklich, ein Zeichen
des Untergangs. Siechtum habe zu allen Zeiten die Völker befallen, sobald sie
ihre Taten durch das Reden verwässert hätten, bis sie schließlich im Sumpf ihrer
Worte erstickt seien, niedergetrampelt von den Legionen der stärkeren Rasse.
Was, so rief der Therapeut, dessen Rede sich zu emphatischen Höhen emporschwang,
wäre der Mensch ohne das Schweigen? Obwohl die Frage zweifellos nicht an mich
gerichtet, sondern rhetorisch gemeint war, nutzte ich sie, um in aller Bescheidenheit
darauf hinzuweisen, daß die Propagierung des Schweigens ohne Sprache kaum möglich
wäre.
MEINE Nachbarin ist, wie aus der Tatsache hervorgeht, daß man das Namensschild
von ihrer Tür entfernt hat, endgültig ausgezogen. Unbegreiflicherweise hat sie
ihren Wohnungsschlüssel mit der schriftlich beigefügten Bitte, ihn dem Hausmeister
zu geben, bei mir eingeworfen.
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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984