Gedankenvernichtung VI



AUS einem tiefen Bedürfnis nach Luft und Stille bin ich an einen entlegenen Ort gefahren, wo Wiesen und Wälder, von Ausflüglern verschont, sich kilometerlang hinziehen über sanft ansteigende Hügel, an denen wie Nester die Dörfer kleben, bestehend aus nur wenigen Höfen, versammelt um die Zwiebeltürme der Kirchen, bis in der Ferne die Farbpalette aus Wiesengrün und Braun der Äcker, Rotgelb der herbstlichen Bäume und dem Zinnober der Dächer eintaucht in ein einziges Blau, welches ein See ist, bevölkert von den weißen Tupfen der Möwen, die am Himmel, jenseits der nahtlosen Grenze, in den wechselnden Figuren der Wolken ihre Entsprechung haben. Hier, wo die Aufwallung von Mut und Hoffnung noch Raum hat, wo alles Geräusch nur dient der Betonung des Friedens, hier stellte ich mir eine Symphonie vor. Nichts störte den Eindruck, doch bei allem, was ich sah, dachte ich zugleich an dessen Beschreibung, so daß ich nicht die Dinge, sondern deren Bezeichnungen vor mir hatte und meine Gefühle die eines Lesenden waren, welcher die Natur, so trefflich ihre Darstellung auch sein mag, nur erleben kann als jene künstliche Welt, die sich erzeugt aus dem Wortschatz. So kam es, daß meine Sehnsucht nach etwas, wofür es keinen Begriff gibt, nicht gestillt, sondern ins Maßlose gesteigert wurde.

UNGLÜCKLICHERWEISE habe ich, kaum zwei Tage nachdem ich mit meiner Nachbarin gewissermaßen private Beziehungen angeknüpft hatte, zum leichteren Einschlafen eine Kriminalgeschichte gelesen, in welcher eine alleinstehende Frau von ihrem Untermieter zwar nicht ermordet, denn das wäre zu einfach, aber durch psychischen Terror so malträtiert wird, daß sich ihr plötzlicher Tod, dessen Begleitumstände im dunkeln bleiben, für den Leser als Folge eines Verbrechens darstellt. Während ich bei früherer Lektüre einschlägiger Werke den Inhalt von der eigenen Person stets hatte trennen können, kam mir diesmal sofort der Gedanke, meine Nachbarin umzubringen. Da half es auch nichts, mir den Unterschied zwischen dem Verhältnis von Nachbarsleuten und dem eines Untermieters zu seiner Zimmerwirtin vor Augen zu halten. Der Gedanke war da und demzufolge seine Verwirklichung unausweichlich. Um mir die Tat, ist sie auch nicht zu verhindern, wenigstens so schwer wie möglich zu machen, habe ich der Nachbarin eine schriftliche Warnung zukommen lassen.

MIT der festen Absicht, mich durch eine kriminelle Handlung, beispielsweise durch das Einschlagen einer Schaufensterscheibe, den Organen der Staatsgewalt auszuliefern, um mir bei der Ausführung meines Mordgedankens das größtmögliche Hindernis in den Weg zu legen, bin ich in das belebteste Viertel der Stadt gefahren, habe aber, obwohl Gelegenheiten in Hülle und Fülle vorhanden waren, von meinem Vorhaben wieder Abstand genommen. Grund meiner Sinnesänderung war die Erkenntnis, daß ich mit einem der von mir ins Auge gefaßten Delikte im günstigsten Falle eine kurze Gefängnisstrafe, meine sofortige und dauerhafte Inhaftierung jedoch nur mit einer Bluttat würde erreichen können, zu deren Vereitelung ich jenes Delikt doch gerade verüben wollte.

DA meine Nachbarin auf die ihr zugesandte Morddrohung keinerlei Reaktionen zeigte, und, um in der Sache, wie auch immer, voranzukommen, habe ich den Entschluß gefaßt, direkten Kontakt mit ihr aufzunehmen. Damit mir, falls sie mein Schreiben noch nicht erhalten hätte, die Möglichkeit eines Rückzugs bliebe, bin ich im Schlafmantel und mit Hausschuhen als Kranker, der um eine Kopfschmerztablette ersuchen möchte, vor ihre Tür getreten, welche mir zu meiner größten Verblüffung von einem Mann in der Uniform eines Postbeamten geöffnet wurde, der mir, nachdem ich mich als Nachbar vorgestellt hatte, mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns die Mitteilung machte, seine Schwester sei zur Kur in den Bergen. Er sehe hier nur gelegentlich nach dem Rechten.

WAR ich gestern noch froh gewesen, in Unkenntnis des Ortes, an welchem sich meine Nachbarin aufhält, ihre Ermordung verschieben und mich bis auf weiteres mit anderen Gedanken befassen zu müssen, von denen ich mir unter Umständen einen Ausweg aus meiner Lage versprechen konnte, so habe ich es mir heute, kaum war ich aufgestanden, nicht verzeihen können, ihren Bruder nach jenem Ort nicht gefragt zu haben. Um das Versäumnis möglichst schnell gutzumachen, bin ich unverzüglich auf die Straße gelaufen und habe auf der dem Haus gegenüberliegenden Seite Posten bezogen, so daß ich den Eingang ständig im Blickfeld hatte. Nachdem ich mehrere Stunden gewartet, jedoch niemanden in einer Postuniform beim Betreten oder Verlassen des Hauses gesehen hatte, ist es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen: Selbstverständlich konnte der Bruder auch in Zivil erscheinen.

GELÄHMT im Zwiespalt zwischen dem Mordgedanken und der Hoffnung, mich vielleicht doch auf andere Art als durch seine Ausführung von ihm befreien zu können, bin ich einer Brandkatastrophe zum Opfer gefallen, deren Ursache trotz eingehender Untersuchungen nicht geklärt werden konnte. Fest steht nur, daß das Feuer, welches nichts von mir übrigließ als einen Haufen verkohlter Knochen, von der Nachbarwohnung seinen Ausgang genommen hatte.

ICH hatte schon Anstalten getroffen, mich für kurze Zeit in einem Hotel einzumieten, um ohne den ständigen Druck einer möglichen Rückkehr der Nachbarin über mein weiteres Vorgehen nachdenken zu können, als das Eintreffen einer Ansichtskarte meine Pläne jählings zunichte machte. Die Abbildung zeigte ein idyllisches Dorf am Fuße bewaldeter Hänge, in welchem ein etwas höher gelegenes Gebäude, offensichtlich ein Sanatorium, besonders auffiel. Auf der Rückseite war die genaue Anschrift zu lesen, darunter ein Gruß und der nicht leicht zu entziffernde, aber doch genügend deutliche Name der Frau, um die seit Tagen meine Gedanken kreisen.

ANSTATT, wie jeder erwartet hätte, meine Nachbarin in ihrem Erholungsort aufzusuchen, habe ich, obwohl ich den Gedanken, dies tun zu müssen, dauernd im Kopfe hatte, meine Abreise vorerst noch aufgeschoben. Mein Los ist besiegelt. Also wozu mich beeilen? Auch nach Verübung der Straftat würde ich, ob in Gefangenschaft oder Freiheit, meinen Gedanken nachhängen, sie, soweit möglich, in die Tat umsetzen und als Erinnerung niederschreiben. Nichts würde sich ändern. Wäre ich an der Realisierung eines Gedankens gehindert, würde ich die Umstände dieser Verhinderung niederschreiben. Auf allen Wegen käme ich doch immer nur zu der einen Erkenntnis, daß Lebensgenuß den Verzicht auf das Denken voraussetzt, was ich aber, da die Möglichkeit eines solchen Verzichts nun schon gedacht war, als völlig ausgeschlossen betrachten mußte. Lieber, so sagte ich mir, will ich den Ort, an dem ich stehe, in einen Garten der Sprache verwandeln.

NACHDEM ich durch meinen Entschluß, nicht zu handeln, die kommenden Ereignisse mehr oder weniger dem Schicksal überlassen und meiner Arbeit damit sozusagen die Grundlage entzogen hatte, ergab es sich ganz von selbst, daß meine Gedanken, die, obwohl ihres Zieles beraubt, die gleichen wie vorher waren, sich auf dem Umweg über die Vergangenheit jener Person zu nähern versuchten, die sich so unverrückbar ins Zentrum meines Interesses geschoben hatte. Leider, so mußte ich bald erkennen, war aus den Bruchstücken meiner Erinnerung ein halbwegs vollständiges Bild der Frau, der ich doch häufig begegnet sein mußte, nur schwer zu gewinnen. War ihre Haarfarbe blond oder braun? Trug sie Make-up? Sah sie jung aus? Nicht einmal, ob sie allein lebte, hätte ich mit letzter Sicherheit sagen können. Ich war zwar immer der Meinung gewesen, daß sie ein Mensch sei, der sich mit einem anderen niemals verbinden könnte, aber wirklich nachgeforscht hatte ich nicht. Kinderlos war sie bestimmt. Vielleicht unterhielt sie lose Beziehungen zu mehreren Männern, die voneinander nichts wußten. Oft hatte ich sie spätabends kommen hören. Manchmal war sie tagelang weg gewesen, was man an der aus dem Briefkasten hervorquellenden Post sehen konnte. Hatte ich mit ihr jemals eine über das Förmliche hinausgehende Unterhaltung? Habe ich ihr erzählt, was ich von Beruf bin? Warum hat sie mir eine Karte geschrieben, woraus, wenn nicht besondere Gründe sie dazu bewogen hatten, auf eine Intensität unseres persönlichen Umgangs zu schließen wäre, von der ich nicht die geringste Ahnung hatte? Mir war die Frau immer gleichgültig gewesen. Nur ein einziges Mal hatte ich mich gefragt, ob ich sie, wenn sie wegzöge, vermissen würde.

HABE ich mir die Nachbarin schon in der mir vertrauten Umgebung nur sehr verschwommen vorstellen können, so war es natürlich noch weitaus schwerer, sie mir in einem Gebirgsdorf zu denken, von welchem ich nichts als den schwachen Eindruck einer sicher schon vor Jahren entstandenen Fotografie zur Verfügung hatte. Vermutlich hätte ich sie als meine Nachbarin dort gar nicht erkennen können, zumal wenn sie, wie anzunehmen, in einer für mich ungewohnten Aufmachung erschienen wäre, etwa in Wanderausrüstung oder mit Sonnenhut, braungebrannt, in Gesellschaft ausgelassener Feriengäste, mit welchen ihr Wesen sich ganz anders dargestellt hätte als bei unseren flüchtigen Begegnungen im Treppenhaus oder Supermarkt, wo ich sie immer nur allein gesehen und als eher verschlossen empfunden hatte. Wer weiß, vielleicht hätte ich sie gar zum Tanz eingeladen, ohne zu merken, daß sie diejenige sei, die ich ermorden wollte.

ALS ich beim Aufundabgehen in meiner Wohnung vor dem Spiegel, der neben dem Kleiderschrank an der Wand hängt, zufällig den Kopf hob, so daß mein Blick auf mich fiel, habe ich mich für einen Moment, nämlich so lange wie ich brauchte, um die Überraschung, mich zu sehen, auf ihre Ursache zurückzuführen, für einen Schauspieler und mein Umhergehen für zu der Rolle gehörend gehalten, die ich zu spielen hatte. Obwohl ich dem Vorfall keine besondere Bedeutung beimaß, brachte er mich auf den Gedanken, daß es möglich sein könnte, aus der Affäre mit meiner Nachbarin wie aus einem Theaterengagement auszusteigen.

DA ich die Ermordung der Nachbarin nun nicht mehr als etwas Unvermeidliches ansehen mußte, habe ich meinen Plan, sie zu besuchen, erneut aufgegriffen, wobei ich mir der Gefährlichkeit eines solchen Besuches durchaus bewußt war. Abgesehen davon, daß der Gedanke, sie umzubringen, immer noch da war, mußte ich damit rechnen, von ihr auf den Brief angesprochen zu werden, in welchem ich die Tat angekündigt und den sie vielleicht durch Nachsendung mittlerweile erhalten hatte. Ob sie ihn nun als ernste Drohung oder als Scherz auffaßte, jedenfalls konnte er für sie nur bedeuten, daß es mein Wunsch war, unser bis dahin rein nachbarliches Verhältnis auf eine völlig neue Grundlage zu stellen, was absolut falsch ist, da doch einzig und allein der Umstand unserer Nachbarschaft dazu geführt hat, daß ich ihr so viel Beachtung schenke. Zöge sie um, würde ich fortan nicht ihr, sondern ihrer Nachfolgerin nach dem Leben trachten, falls es sich bei der neuen Mietpartei überhaupt um eine Person weiblichen Geschlechts handeln würde. Wie, so fragte ich mich, sollte es mir jemals gelingen, ihr den äußerst komplizierten Sachverhalt auseinanderzusetzen, welcher der Grund dafür war, daß ich ihr jenen Brief schreiben mußte? Womit sollte ich unser Gespräch beginnen? Wie ihr verständlich machen, daß zwei so harmlose Begebenheiten wie das Ticken einer Uhr und die Lektüre einer nicht einmal besonders spannenden Kriminalgeschichte sich zu einer Katastrophe verbinden können, die einem Menschen das Leben kostet? Ich sah keine Chance, mit meinen Erklärungen durchzukommen. Da wurde ich durch das Läuten der Türglocke aus meinen Gedanken gerissen. Es war der Bruder. Er fragte, ob ich über seine Schwester, die Nachbarin, irgendwelche Informationen hätte. Sie sei aus dem Hotel, in dem sie für mehrere Wochen ein Zimmer genommen habe, Hals über Kopf ausgezogen, ohne eine neue Adresse zu hinterlassen. Er mache sich Sorgen.

ÜBERWÄLTIGT von dem Drang, mich jemandem mitzuteilen, habe ich der Hausmeisterin, welche zufällig die erste war, die mir über den Weg lief, über meine Einfälle berichtet, von denen ich wie ein Schiff auf sturmgepeitschter See hin und her geworfen, dann wieder in lähmenden Schrecken versetzt, kurz und gut so sehr gepeinigt würde, daß nicht einmal der wie ein Leichentuch über der Stadt liegende Schnee mich beruhigen könne. Nachdem mich die Frau bis zum Ende angehört und durch nichts hatte erkennen lassen, daß mein Bericht sie auch nur im geringsten berührte, sagte sie: "Jesus Maria, reden S' nicht weiter, Sie versündigen sich."

AUSGERECHNET während der allabendlichen Nachrichtensendung des Fernsehens bin ich auf die Idee gekommen, das Fernsehgerät, insbesondere die Fläche, auf der das Bild erscheint, abzustauben. Zufolge meiner durch die Konzentration auf das Wischen geminderten Aufnahmefähigkeit sind mir nur die in der Sendung erwähnten Todesfälle im Gedächtnis geblieben, welche zusammengerechnet eine Summe von exakt fünfhundert ergaben. Was die Zuordnung der Zahlen zu den gemeldeten Ereignissen angeht, hatte ich jedoch einige Schwierigkeiten, obwohl sich gewisse Rückschlüsse von selbst aufdrängten. So konnte ich zum Beispiel getrost davon ausgehen, daß in dem seit Monaten andauernden Grenzkrieg zwischen zwei afrikanischen Staaten mehr als ein Soldat gefallen, nicht aber hundertzwanzig bekannte Filmschauspielerinnen gestorben waren.

NACHDEM ich meine Brille, die ich, so dachte ich, verlegt haben mußte, in der ganzen Wohnung gesucht, jedoch nirgends gefunden hatte, habe ich mich, unsicher, ob ich auch genug sah, um sie überhaupt erkennen zu können, durch einen Griff ins Gesicht davon überzeugt, daß ich sie aufgesetzt hatte. Dann suchte ich weiter.

ZUM erstenmal ist mir an der Konditoreibesitzerin, bei der ich seit Jahren Brot und Gebäck einkaufe, etwas anderes als das stereotype Lächeln, mit dem sie die Kunden bedient, aufgefallen. Zwar hatte sie, als sie mich darauf aufmerksam machte, daß sie mir anstelle des von mir bevorzugten Buttermilchbrotes diesmal nur ein sogenanntes Bauernbrot und statt der mit Zucker bestreuten nur noch glasierte Krapfen anbieten könne, wieder genau jenes Lächeln, das ich so gut an ihr kannte, aber als sie dann beim Einpacken der Ware durch das Abreißen unseres Blickkontakts der Verpflichtung enthoben war, sich freundlich zu zeigen, wurde in ihrem Gesicht eine Erschütterung sichtbar, die ich mir mit dem bloßen Fehlen des Lächelns nicht habe erklären können. Ich wollte mir schon den Vorwurf machen, sie in all den Jahren, die ich sie kenne, nie wirklich angesehen und daher jene Absturzmöglichkeit in ihren Zügen, die ich für etwas hielt, was zu ihrem Wesen gehörte, nicht wahrgenommen zu haben, als eine ihr wohl vertrautere Kundin, welche nach mir den Laden betreten hatte, die Hand über den mit Kuchen überhäuften Verkaufstisch streckte und ihr zum Ableben ihres, wie ich weiß, seit längerem krebskranken Ehemanns kondolierte.

OBWOHL alles dafür spricht, daß ich mich irre, steht für mich außer Zweifel, daß ich heute vormittag gegen zehn Uhr aus der Straßenbahn die Nachbarin beim Telefonieren in einer Telefonzelle gesehen habe. Ihre schwarzen, wie ich vermute, gefärbten Haare, die ich bei aller Vergeßlichkeit doch heller in Erinnerung hatte, fielen ihr offen über die Schultern. Ihr Mund, der durch den Telefonhörer etwas verdeckt war, leuchtete grellrot durch Schminke. Ihre sonst eher farblos wirkenden Augen waren durch Lidschatten und Wimperntusche hervorgehoben. Während sie auf das Gespräch wartete, welches, soviel ich sah, nicht zustande kam, entzündete sie umständlich eine aus dem Mundwinkel herabhängende Zigarette. Daß sie raucht, hätte ich nicht für möglich gehalten. Sie trug keinen Mantel. Wahrscheinlich hatte sie ihn in einem in der Nähe geparkten Auto gelassen, was darauf deuten würde, daß sie nicht allein unterwegs war. Meines Wissens besitzt sie kein Auto. Bekleidet war sie trotz der Kälte mit einem leichten Chiffonrock und einer dazu passenden Bluse, an der in der Höhe der Brust eine Rose prangte. Wäre nicht schon alles Übrige mit dem wenn auch nur bruchstückhaften Bild, das ich von der Nachbarin hatte, unvereinbar gewesen, so hätte spätestens die Rose mich davon überzeugen müssen, daß die Frau, die ich sah, nicht jene sein konnte, die ich in ihr zu erkennen glaubte.

SCHLAFLOS trotz Mitternacht bin ich in einen bis zum frühen Morgen geöffneten Bierkeller gegangen, in welchem eine Blaskapelle zur Unterhaltung der Gäste spielte. Bereits nach dem ersten Stück, der sogenannten Tritsch-Tratsch-Polka, bin ich, eingelullt von dem Gedanken an die Stille zu Hause, so müde geworden, daß ich, ohne einen Schluck getrunken zu haben, das Lokal schnellstens verlassen mußte. Wieder daheim, wo ich sofort zu Bett ging, habe ich aber, da die Stille nun Realität und stattdessen die Blasmusik in meinem Kopf war, erst recht keinen Schlaf gefunden.

TROTZ einer über mich hereingebrochenen Flut von Gedanken verspüre ich kaum noch Lust, etwas aufzuschreiben. Meine Nachbarin hat mich angerufen. Sie wolle mich treffen. Ich war sofort einverstanden, vergaß aber zu fragen, wo sie sich augenblicklich befinde. Nun sitze ich da und warte, daß sie ein zweites Mal anruft.

AUF die durch meine Geldnot veranlaßte Anfrage bei meiner Krankenkasse, ob es möglich wäre, mit den Beitragszahlungen für eine gewisse Zeit auszusetzen, ohne meine Mitgliedschaft aufzugeben, habe ich die Auskunft erhalten, dies sei nur bei längeren Aufenthalten im Ausland gestattet. Da ich mich, solange sich die Nachbarin nicht bei mir meldet, unter keinen Umständen aus meiner Wohnung entferne, werde ich wohl aus der Krankenkasse austreten müssen.

JE länger ich darüber nachdenke, wie ich aus der Situation, in die meine Mordankündigung mich gebracht hat, wieder herauskommen könnte, desto deutlicher zeigt sich: Ich komme nicht darum herum, meiner Nachbarin eine Liebeserklärung zu machen. Einem Verliebten ist selbst noch das Verrückteste zuzutrauen. Sie wird sich geschmeichelt fühlen. Ihretwegen, so wird sie sich sagen, habe ich den Verstand verloren. Jahrelang habe ich nicht gewagt, ihr meine Gefühle zu zeigen, habe sie heimlich vergöttert, bin täglich an ihr vorbeigegangen, ohne mir auch nur das geringste anmerken zu lassen. Welche Qual, wird sie denken, welch tagtägliche Folter! Wie hat er das nur aushalten können? Wie muß er gelitten haben, wenn seine Gedanken sich zuletzt so verwirrten, daß er sogar ein Verbrechen plante? Während ich ihr meine Liebe gestehe, werde ich schon daran denken müssen, wie ich mich aus der soeben angefangenen Bindung wieder befreien könnte. Am besten wäre, sie bliebe kühl. Aber das ist nicht zu erwarten. Vielleicht hat sie schon einen Geliebten. Dann käme sie in Konflikte. Natürlich muß ich die Trennung fordern. Wie sonst wäre mein Rasen glaubhaft? Eine Weile werde ich wohl den Leidenschaftlichen spielen müssen, ein, zwei Monate, länger bestimmt nicht. Nach der ersten Zeit, in der ich mich ganz mit dem reinen Glück ihrer Nähe begnüge, werde ich mit ihr ein paarmal sexuell verkehren. Danach kann das Feuer schon langsam erlöschen, wie üblich, wenn das Ziel erst erreicht ist. Natürlich werde ich mich vom Erkalten meiner Gefühle erschüttert zeigen, werde ankämpfen gegen das Gesetz des Kommens und Gehens, schließlich mich aber dem Schicksal ergeben, vielleicht sie betrügen, den zwischen zwei Frauen Hin- und Hergerissenen mimen. Vor allem muß ich darauf achten, daß mir nichts zustößt. Ein Unfall, eine Krankheit, Invalidität gar, das würde sie nur noch mehr entflammen. Dann lieber gleich tot sein.

ALS wäre es nicht schon genug, meine Tage in der Ungewißheit zubringen zu müssen, wann endlich die Begegnung mit der Nachbarin stattfinden und unser Liebesverhältnis beginnen würde, bin ich nun auch noch darum gebeten worden, ein an sie adressiertes Paket in Verwahrung zu nehmen, welches mich allein durch sein Vorhandensein, nicht etwa, weil ich neugierig wäre, vor die Frage stellt, was wohl darin enthalten sein könnte. Selbstverständlich werde ich mich hüten, es aufzumachen. Muß ich ihr nun schon meinen Mordbrief erklären, würde ich ihr dann auch noch das Öffnen des Paketes begründen müssen, was doch nur auf das Eingeständnis hinauslaufen könnte, daß meine Liebe nicht einmal vor Indiskretionen zurückschreckt. Dies wäre absolut nicht in meinem Sinne. Um die Sache so schnell wie möglich hinter mich bringen zu können, muß ich bestrebt sein, meine Liebesbeweise auf das Maß des unbedingt Nötigen einzuschränken. Ohnehin dauert mir das Ganze schon viel zu lange, zumal meine Lebensmittelvorräte, während ich hier festsitze, zur Neige gehen. Am Ende werde ich gar noch hungern müssen.

WIE ich anhand von untrüglichen Geräuschen, unter anderem dem Trällern eines mir vom Radio her geläufigen Schlagers, habe feststellen können, ist die Nachbarin aus ihrem Urlaub zurückgekommen. Für den Fall, daß sie von ihrer Seite nichts unternimmt, um sich mit mir in Verbindung zu setzen, habe ich beschlossen, ihr morgen früh einen Besuch abzustatten.

NACHDEM ich mir die Worte, die ich der Nachbarin sagen wollte, noch einmal eingeprägt und mich gegen alle möglichen Fragen, die sie mir stellen könnte, gewappnet hatte, bin ich, zugegebenermaßen nicht ohne eine gewisse Erregung, zu ihr hinübergegangen und habe, um über meine Entschlossenheit keinen Zweifel aufkommen zu lassen, dreimal an ihrer Tür geläutet. Sie empfing mich in einem bis zu den Knöcheln reichenden Morgenmantel, welcher, da unterhalb der Taille die Knöpfe fehlten, beim Gehen den Blick auf die Beine freigab. Ihr Haar war hochgesteckt, die Haarfarbe blond, das Gesicht ungeschminkt. Was gleich ins Auge sprang, waren ihre lackierten Zehennägel, die aus den vorne offenen Hausschuhen hervorsahen. Sie schien mich erwartet zu haben. Ohne Umschweife bat sie mich einzutreten. Auf dem einzigen Tisch in dem mit Gegenständen überfüllten, aber nicht unaufgeräumt wirkenden Zimmer, in das sie mich führte, befanden sich zwei Frühstücksgedecke. "Kaffee oder Tee?" fragte sie.  Ich sagte: "Kaffee." Sie hatte sowohl das eine als auch das andere vorbereitet. Das Gebäck war französisch, Brioches und Weißbrot, dazu Marmelade, Honig, etwas Käse zur Auswahl. Bereits während des Einschenkens begann sie von ihrem vorzeitig beendeten Erholungsaufenthalt zu erzählen, welcher sie in keiner Weise befriedigt habe. Die Leute seien ihr, wie sie es ausdrückte, zu hypochondrisch gewesen. Man hätte dort immer nur über Krankheiten gesprochen, obwohl man die Gäste als Kranke im engeren Sinne nicht hätte bezeichnen können. Ihr sei das Ganze vorgekommen wie eine Veranstaltung zur Abtötung der Leidenschaften. Als sie diesen Ausdruck gebrauchte, verlor ich für einen Augenblick so sehr die Kontrolle über mein Denken, daß ich, hätte sie mich in diesem Moment auf den Brief angesprochen, dessentwegen ich hier war, den reinsten Unsinn geredet hätte. Aber sie erwähnte das, was zwischen uns vorlag, mit keiner Silbe. Hätte ich den Brief nicht zufällig auf dem Fensterbrett liegen sehen, und zwar geöffnet, woraus hervorging, daß sie ihn mit Bestimmtheit gelesen hatte, ich wäre allen sonstigen Begebenheiten zum Trotz, welche doch nur durch jenen Brief erklärt werden konnten, der Meinung gewesen, daß sie ihn nicht bekommen hatte.

DEN ganzen Tag und die ganze Nacht habe ich mich mit der Frage herumgeschlagen, wie ich ein weiteres Treffen mit der Nachbarin, welches sie, obwohl nichts zwischen uns gelöst war, weder vorgeschlagen noch, wie es schien, auch nur erwogen hatte, erreichen könnte, ohne den Eindruck zu erwecken, ich legte Wert darauf, mit ihr so etwas wie regelmäßigen Umgang herbeizuführen. Endlich, am späten Nachmittag, ist mir eingefallen, daß ich das Paket abzugeben vergessen hatte. Sofort bin ich zu ihr gegangen, wurde aber diesmal nicht eingelassen. Durch die nur spaltbreit geöffnete Tür nahm sie das Mitgebrachte entgegen, bedankte sich förmlich und war schon wieder für mich verschwunden. Was ich in der Eile erkennen konnte, war, daß ihre Haare jetzt schwarz und ihre Wangen von einem glühenden Rot übergossen waren, von dem ich nicht genau hätte sagen können, ob es von einer inneren Bewegtheit oder von Schminke herrührte. Sicher war ich mir nur, daß sie ihr blondes Haar unter einer Perücke verborgen hatte.

OBWOHL ich meinem Schwager die Bitte, mich für seine Zwillinge als Weihnachtsmann zur Verfügung zu stellen, unmißverständlich abgeschlagen und ihn mit unverhohlenem Zorn um Aufklärung gebeten hatte, wie er ausgerechnet mir so etwas zumuten könne, hat er nicht locker gelassen und seine ganze Überredungskunst aufgewendet, mich umzustimmen. Ich sei, da kinderlos, der einzige in der Familie, der dafür in Frage käme. Man würde mich mit dem Wagen abholen. Wegen der Verkleidung bräuchte ich mir keine Gedanken zu machen, Rauschebart und Zipfelmütze seien vorhanden. Was den Text, den ich zu sprechen hätte, beträfe, so bestünde der aus höchstens drei bis vier Sätzen, die ich, wenn es anders nicht ginge, auch von einem Zettel ablesen könnte. Selbstverständlich wäre ich nach dem Auftritt in meiner Eigenschaft als Onkel zur Weihnachtsgans herzlich eingeladen. Ich hatte die Hoffnung, ohne ernstliche Verstimmung aus der Sache herauszukommen, schon aufgegeben, als sich mein Schwager auf meine in der Not erfundene Ausflucht, ich sei aus psychischen Gründen nicht in der Lage, meine Gestalt zu wechseln, plötzlich einsichtig zeigte und mich sogar um Verzeihung bat, so als hätte er um jene Behinderung wissen müssen.

RATLOS, wie ich die Nachbarin endlich zur Erörterung der zwischen uns offenen Fragen bewegen könnte, bin ich auf die verrückte Idee verfallen, ihr aus Anlaß des Weihnachtsfestes ein kleines Präsent zu machen. Natürlich hat sie sofort erkannt, daß es ein Trick war. Als sie mich, mit einem Christstollen bewaffnet, vor ihrer Tür sah, konnte sie ihren Gesichtsausdruck kaum noch beherrschen. Sie grinste. Ich wollte dem jämmerlichen Schauspiel ein Ende machen und sie kategorisch darum ersuchen, mich nicht länger zum Narren zu halten, da sagte sie, immer noch sichtlich belustigt: "Aber Sie brauchen mir doch keine Geschenke zu machen. Wenn es wegen des Briefes ist, den Sie mir aufgrund einer, wie ich sehe, längst behobenen Verwirrung Ihrer Gefühle geschrieben haben, können Sie unbesorgt sein. Davon hat und wird nie jemand etwas erfahren." Obwohl sie damit die Lächerlichkeit meiner Situation auf die Spitze getrieben hatte, so daß ich mir wie ein begossener Pudel vorkam, mußte ich im Grunde doch froh sein, die Angelegenheit, mit welcher ich mich wochenlang abgequält und deren Regelung ich für weitaus komplizierter gehalten hatte, nunmehr als erledigt betrachten zu können.

IN einem Zustand, auf welchen ich nicht umhinkann, den Begriff der Unzurechnungsfähigkeit anzuwenden, habe ich vor meiner eigenen Schwester, die mich, als wir im Verkehrsgewühl einander erblickten, schon von weitem rufend und gestikulierend auf sich aufmerksam machte, die Flucht ergriffen. Erst nachdem ich ihr um mehrere Ecken entwischt und auf diese Weise wieder an den Ausgangspunkt meiner Flucht gelangt war, wo sie mich, so dachte ich, bestimmt nicht vermuten würde, habe ich mich langsam beruhigen können. Wie es scheint, bin ich aus den Erlebnissen der letzten Tage nicht ganz ohne Schaden hervorgegangen.

ALS ich unter den Gästen einer Geburtstagsparty, auf welcher ich mich nach neuen Themen für meine Arbeit umschauen wollte, völlig unerwartet meine Nachbarin vorfand, habe ich mich, obwohl sich damit meine Gedanken, die gerade mit ihr beschäftigt waren, sozusagen materialisierten, unter dem Vorwand einer plötzlichen Übelkeit bei den Gastgebern empfohlen und bin nach Hause gefahren. Wäre ich dort geblieben, hätte ich mich ein für allemal dazu entschließen müssen, meine Arbeit irgendwelchen Zufällen auszuliefern oder, mit anderen Worten, zu erleben, was zu beschreiben ich nicht die Absicht hatte.

UM den mich unablässig verfolgenden Gedanken an meine Nachbarin wenigstens für eine gewisse Zeit abzuschütteln, habe ich auf dem Fundbüro, wo ich den Verlust meiner Brieftasche melden wollte, mit zwei vom gleichen Schicksal Betroffenen ein Gespräch angefangen, in welchem ich die katastrophalen Folgen meines Verlustes zu verdeutlichen suchte. Da der Gedanke an die Nachbarin, kaum hörte ich auf zu sprechen, sofort wieder da war, mußte ich jeden Versuch meiner Gesprächspartner, zu Wort zu kommen, erbarmungslos unterbinden oder, wenn dies nicht gelang, gleichzeitig weitersprechen. Erst als meine Stimme zunehmend schwächer, schließlich ein vor Heiserkeit kaum noch verständliches Krächzen wurde, haben sich die beiden mehr und mehr durchsetzen können, was jedoch, selbst als ich vollends verstummt war, nicht bedeutete, daß sie sich bei mir nun Gehör verschafften.

KAUM noch in der Lage, mir das Allernötigste für meinen Lebensunterhalt zu besorgen, habe ich jene Person meines Bekanntenkreises, bei der ich die geringste Chance hatte, Geld zu bekommen, darum gebeten, mir mit ein paar hundert Mark auszuhelfen. Einerseits erschien es mir unaufschiebbar, gegen meine finanzielle Misere etwas zu unternehmen, andererseits hatte ich es satt, mich dauernd irgendwelchen Hoffnungen hinzugeben.

DA ich über die Nachbarin nichts zu berichten, sie aber ständig im Kopfe hatte, so daß der Fortgang meiner Arbeit gefährdet war, bin ich in das nächste Café gegangen und habe mir, obwohl ich kein Geld in der Tasche hatte, ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte bringen lassen. Zwar hätte ich über den Verzehr der Torte sowie über das unangenehme Gefühl, welches durch die Tatsache, daß ich sie nicht bezahlen konnte, verursacht wurde, nun allerhand schreiben können, war jedoch zufolge eben jener Zahlungsunfähigkeit daran gehindert, an meine Schreibmaschine zurückzukehren. Um mich bis zur Lösung des Problems, von welcher ich allerdings keine klare Vorstellung hatte, in dem Café aufhalten zu können, habe ich in regelmäßigen Abständen weitere Torten bestellt und auch gegessen, wodurch ich die Aufmerksamkeit des Bedienungspersonals so sehr auf mich lenkte, daß ein heimliches Weggehen immer schwieriger, schließlich unmöglich wurde. Als die Sperrstunde näher rückte, waren die Blicke sowohl des Personals als auch der Gäste nur noch auf mich gerichtet. Die Leute begannen zu tuscheln. Ein spitzes Kichern war hörbar. Mir brach der Schweiß aus. Da betrat meine Nachbarin mit fliegenden Haaren, sichtlich erhitzt, das Kaffeehaus. Ich sprang auf, lief zu dem für meinen Tisch zuständigen Kellnerin, sagte "Die Dame zahlt alles", und war schon draußen.

BEIM Lesen der Berichte über eine von fast allen Zeitungen auf der ersten Seite gemeldeten Autobahnkatastrophe, bei welcher sage und schreibe siebenundneunzig Autos aufeinandergefahren, mindestens achtzehn Menschen getötet und mehr als fünfzig schwer verletzt worden waren, habe ich die Nachbarin endlich vergessen können. Während sich die Zeitungskommentatoren damit begnügten, das Unglück als eine Verkettung von Umständen zu interpretieren, welche bei größerer Vorsicht zu vermeiden gewesen wäre, hatte ich sofort den Gedanken, daß darin die Unvermeidbarkeit menschlicher Selbstvernichtung zum Ausdruck käme.

MEIN Entzücken über ein kleines Erlebnis, das ich an der Haustüre hatte, hat sich, als ich es aufschreiben wollte, in tiefe Schwermut verwandelt. Ich war einer zierlichen Greisin, welche, ungeschickt wie alte Leute oft sind, die Gelegenheit, das von innen durch Knopfdruck geöffnete Tor aufzustoßen, hatte verstreichen lassen, mit meinem Hausschlüssel zu Hilfe gekommen. Als sie sich mit einem Knicks bei mir bedankte, hatte ich in ihr das scheue Mädchen gesehen, das sie als Kind wohl gewesen sein mußte und das nun, als schlösse sich damit der Kreis ihres Lebens, in ihrem Wesen wieder hervortrat. Jetzt, kaum zwei Stunden später, bin ich mir nicht mehr sicher, ob die Person, welcher ich Einlaß verschaffte, tatsächlich jene alte Frau oder ob es nicht vielleicht ein Kind war, in dessen Zügen man schon die Vorboten des Todes erahnen konnte.

MEIN bester Freund, der mir, nachdem er sich seit Monaten nicht mehr gemeldet hatte, zum Jahreswechsel seine Glückwünsche aussprach, erklärte mir auf die Frage, warum er so lange nichts von sich habe hören lassen, er sei wie tot gewesen. Mißerfolg auf der ganzen Linie, eine berufliche Pechsträhne, dazu das Scheitern einer privaten Beziehung, das habe ihn umgeworfen. Nun aber hätte sich mit einem Schlag alles geändert. Eine Frauenbekanntschaft habe die Lebensgeister in ihm wieder wachgerufen. Er würde ins Schwärmen geraten, müßte er das, was er empfinde, in Worte fassen. Übrigens, so fügte er mit geheimnisvollem Unterton noch hinzu, sei mir die Betreffende keine Unbekannte. Als ich ihn aufforderte, sich deutlicher auszudrücken, nannte er den Namen eines kleinen Theaters, von dem ich nur weiß, daß darin hauptsächlich Programme mit kabarettistischem Einschlag geboten werden.

NACH reiflicher Überlegung habe ich mich entschlossen, meine Zurückhaltung gegenüber der Nachbarin aufzugeben. Erstens bin ich, wie sich gezeigt hat, ausschließlich durch Ereignisse, in denen der Tod eine gewisse Rolle spielt, von dem Gedanken an sie abzubringen, so daß früher oder später, würde ich auf meinem Standpunkt beharren, Wiederholungen in meiner Arbeit nicht zu vermeiden wären. Zweitens ist nur schwer einzusehen, weshalb ich einer Sache, die dazu geführt hat, daß ich mir seit Wochen über den Inhalt meiner Aufzeichnungen keine Sorgen zu machen brauche, aus dem Weg gehen sollte.

TROTZ meiner Geldknappheit habe ich das Angebot einer Monatszeitschrift, eine, so wörtlich, spritzige Abhandlung über die Liebe zu schreiben, nicht angenommen, da mir, wie ich nach einigen Schreibversuchen habe erkennen müssen, die zur Behandlung des Themas nötigen Erfahrungen fehlen.

ALS ich, um kurz vor Ladenschluß noch rasch das eine oder andere einzukaufen, die Treppe hinuntereilte, wobei ich, um keine Zeit zu verlieren, Sprünge über mehrere Stufen machte, ist plötzlich der Boden unter mir aufgebrochen, so daß ich in einen Abgrund stürzte, in welchem ich mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich verunglückt wäre, hätte ich mich nicht geistesgegenwärtig zu einem Insekt verkleinert, wodurch ich die Chance hatte, von einem der da und dort gespannten Spinnennetze aufgefangen und vor einem weiteren Absturz bewahrt zu werden. War das Fallen erst einmal aufgehalten, so würde ich, das war meine Hoffnung, schon eine Möglichkeit finden, wie ich der Gefahr, von der Spinne vertilgt zu werden, entrinnen konnte.

ENTSPRECHEND meinem Entschluß, mit der Nachbarin enger in Verbindung zu treten, habe ich ihr ein zweites gemeinsames Frühstück, diesmal jedoch bei mir, vorgeschlagen. Ohne zu zögern hat sie meine Einladung angenommen und ist auch gleich mit herübergekommen, obwohl ich, da ich auf eine so prompte Reaktion nicht gefaßt war, gar nichts Frisches im Hause hatte. Sie sagte, auf das Frühstück käme es ihr nicht an, sie hielte es für an der Zeit, die Vorwände wegzulassen. Da die Grenze der von mir geplanten Vertraulichkeiten damit, wenn nicht schon überschritten, so doch zumindest erreicht war, achtete ich darauf, es in der folgenden Unterhaltung, soweit das an mir lag, beim Austausch von Verbindlichkeiten bewenden zu lassen. Leider habe ich die mir auferlegte Selbstbeschränkung nicht ganz durchhalten können. Als mir die Nachbarin von ihrer ersten Verlobung mit einem Gutsbesitzer erzählte, mit dem sie sich von früh bis spät, wie sie sagte, tödlich gelangweilt habe, erwiderte ich geradezu wütend, dies könne unmöglich der Wahrheit entsprechen. Hätte sie sich tödlich gelangweilt, wäre sie jetzt nicht mehr am Leben. Mit Menschen, die mit Begriffen so leichtfertig um sich werfen, wolle ich nichts zu schaffen haben.

UM einen mit mir von Kind auf befreundeten Maler, der mir in einer Angelegenheit, die viel zu unwichtig ist, als daß ich sie hier näher beschreiben müßte, zu Unrecht inkonsequentes Verhalten vorwarf, nicht zu enttäuschen, habe ich mein Versprechen, ihn mit einem mir bekannten Kunsthändler zusammenzubringen, wieder zurückgenommen. Zwar waren seine Vorwürfe in bezug auf die erwähnte Angelegenheit deshalb nicht weniger unberechtigt, aber falls er mich, wie ich, da ich seinen Hang zu Übertreibungen kenne, ernsthaft vermute, anderen gegenüber ganz allgemein als einen inkonsequenten Menschen bezeichnen sollte, so würde er damit nun nicht mehr ganz unrecht haben.

GEQUÄLT von Gewissensbissen, mich dem Maler gegenüber unfair verhalten zu haben, habe ich meine Nachbarin um eine Unterredung gebeten und ihr in groben Zügen den Fall erläutert. Sie sagte, ich solle mir keine Vorwürfe machen. Das Experiment sei nötig gewesen, um herauszufinden, ob der Maler überhaupt mein Freund sei. Sei er es nicht, so habe durch mein Vorgehen ohnehin nichts zerstört werden können, außer dem beruflichen Weiterkommen des Malers, für welches er meine Unterstützung, da nicht mein Freund, unverdientermaßen beansprucht hätte. Sollte er für mich jedoch tatsächlich echte Freundschaft empfunden haben, so sei diese Freundschaft zwar nun beschädigt, wenn nicht vernichtet, was aber gerade der beste Beweis sei, daß es sie vorher gegeben habe. Durch nichts sei die Existenz einer Sache schlüssiger nachzuweisen als durch ihre Zerstörung. Auf meinen Einwand, daß man doch auch den moralischen Gesichtspunkt beachten müsse, erwiderte die Nachbarin mit einer wegwerfenden Handbewegung: "Ach was, die Moral ist doch immer nur eine Ausrede für die Feigheit vor den Möglichkeiten des Wissens."

WÄHREND eines politischen Streitgesprächs mit einem im Gebrauch von bildhaften Ausdrücken geübten Studenten, den ich aus einer Laune heraus beim Verteilen von Flugzetteln angesprochen und, leichtsinnig wie ich war, auch gleich zum Essen geladen hatte, habe ich mich, als wäre der Student ein Zauberer und ich das Demonstrationsobjekt seines Könnens, jedesmal, wenn er auf mich eine Bezeichnung anwandte, mit der er mich gleichnishaft charakterisieren wollte, in das verwandelt, was er mich nannte. Nannte er mich einen Fuchs, um meine Schläue hervorzuheben, bekam ich Appetit auf ein Hähnchen, nannte er mich einen sturen Bock, wuchsen mir Hörner. Nur als er mich, wohl um mich als heimtückisch hinzustellen, einen Teufel nannte, bin ich zu meinem größten Erstaunen ich selbst geblieben.

EINEN Bestsellerautor, der mir, als ich ihm die Ursachen meiner finanziellen Schwierigkeiten erklären wollte, mit der Bemerkung ins Wort fiel, er könne sich sehr gut in meine Lage hineinversetzen, verstehe mich völlig, sei absolut vertraut mit den Problemen, denen ich gegenüberstünde, habe ich, um ihn den Unterschied zwischen uns beiden nicht ganz vergessen zu lassen, mit einem Kinnhaken zu Boden geschlagen. Wieder auf den Beinen, reichte er mir entgegen meiner Erwartung, er würde nun seinerseits zu einem Schlag ausholen, die Hand zur Versöhnung und sagte, auch er habe sich in einer ähnlichen Situation nur noch durch einen Gewaltakt befreien können.

TROTZ schriftlicher Erledigung meines Erlebnisses mit dem Bestsellerautor ist es mir nicht aus dem Kopf gegangen, so daß ich auf die Idee kam, es der Nachbarin mitzuteilen, wobei ich allerdings, um die Sache für sie interessanter zu machen, mich als das Opfer ausgeben wollte. Nachdem ich mir mit einer Rasierklinge mehrere kleine Wunden beigebracht und mein Hemd durch Risse so sehr beschädigt hatte, daß ich sicher sein konnte, nach der Ursache meiner Verunstaltung befragt zu werden, bin ich zu ihr gegangen. Sie musterte mich von oben bis unten, schwieg eine Weile und sagte schließlich, sie hätte jetzt keine Zeit, sie müsse zur Arbeit.

HABE ich mir den Wunsch, der Nachbarin von der vorgestrigen Schlägerei zu erzählen, noch einigermaßen erklären können, da es sich dabei doch um einen ziemlich schwerwiegenden Vorfall gehandelt hatte, ist es mir hingegen vollkommen unbegreiflich, weshalb ich ihr nun die in Anbetracht meiner zahlreichen Verwandtschaft völlig unerhebliche Geburt eines Neffen glaube anzeigen zu müssen. Natürlich ist es ganz ausgeschlossen, daß ich wegen einer solchen Lappalie zu ihr hinübergehe, zumal ich mir die Enttäuschung einer neuerlichen Abfuhr ersparen möchte. Falls mein Mitteilungsbedürfnis anhalten sollte, werde ich ihr bei Gelegenheit über die sich ansammelnden Ereignisse in einem Aufwasch Bericht erstatten.

DA ich der Nachbarin gegenüber keine unbewiesenen Behauptungen aufstellen möchte, bin ich, als mir ein offenbar Geisteskranker aus einem Fenster eine Handvoll Vogelfutter zuwarf, zu ihm hinaufgegangen und habe gefragt, ob er nicht sehe, daß ich ein Mensch sei, kein Vogel. Er antwortete, daß er Vögel von Menschen sehr wohl unterscheiden könne. Die Vögel seien von Natur aus gute Geschöpfe, während es unter den Menschen kaum einen Guten gebe. Treffe er einen, streue er Vogelfutter, um ihn aus der Menge der Schlechten herauszuheben. Als ich den Mann darauf aufmerksam machte, daß dieses Zeichen nur jemand verstehen könne, der von den Vögeln die gleiche Meinung habe, bedankte er sich für den Hinweis und versprach, sich etwas anderes, Unmißverständliches auszudenken.

UM das Taktgefühl meiner Nachbarin nicht verletzen zu müssen, bin ich, als sich in einem Restaurant zwei Vertreter neben mich setzten, die, einander schlüpfrige Episoden aus ihrem Leben erzählten, an einen anderen Tisch gegangen, was die beiden veranlaßte, mir einige Bemerkungen nachzurufen, in denen sie das, was sie zuvor noch verhüllend ausgedrückt hatten, unzweideutig beim Namen nannten, so daß meine Berichterstattung an die Nachbarin vollends unmöglich wurde.

ALS wären die Erlebnisse, die ich der Nachbarin zu berichten habe, nicht schon ausgefallen genug, bin ich nun auch noch Zeuge einer Exekution geworden, bei welcher das Mißverhältnis zwischen dem Aufwand, mit dem sie durchgeführt wurde, und der Harmlosigkeit des Delinquenten so groß war, daß selbst ich, wäre ich nicht dabei gewesen, sie in das Reich der Träume verwiesen hätte. Eine ganz gewöhnliche Stubenfliege war zum Tod durch Erschießen verurteilt worden. Um sie am Verlassen der Richtstätte zu hindern, hatte man ihr die Flügel sowie sämtliche Gliedmaßen ausgerissen, so daß eigentlich nur ihr Kopf und Rumpf von der Hinrichtung betroffen waren. Oberflächlich betrachtet sah es so aus, als ob die Schüsse ins Leere gefeuert würden. Lediglich am Anlegen der Gewehre und am genauen Zielen war zu erkennen, daß auf etwas Bestimmtes geschossen wurde.

AUSSERSTANDE, meinen Drang, wieder mit der Nachbarin ins Gespräch zu kommen, noch länger im Zaum zu halten, habe ich ihr, da sie jenen Drang wohl sonst nicht verstehen würde, einen Brief geschrieben, in dem steht, was ihr zu sagen ich ohnehin, wenn auch aus anderen Gründen, vorgehabt, im weiteren Verlauf der Ereignisse aber nicht mehr für nötig befunden hatte. Ich schrieb, daß ich sie liebe und daß ich, falls meine Gefühle von ihr nicht erwidert würden, die Wohnung wechseln, möglicherweise sogar in eine andere Stadt ziehen müßte.

WIE erwartet hat mich die Nachbarin nach Erhalt des Briefes umgehend angerufen und für den Abend zu sich gebeten. Überrascht jedoch war ich, als sie mich sofort in das Schlafzimmer führte, wo sie mit einer Geschwindigkeit, die jeden Widerspruch ausschloß, die Kleider abstreifte und sich, nackt wie sie war, in die Mitte des Bettes legte. Den Blick hatte sie abgewendet, das linke Bein etwas angewinkelt, so daß ihre Scham verdeckt war. Ihr blondes Haar lag fächerförmig über das Kissen hin ausgebreitet. Nachdem ich mir die Situation in Gedanken so weit klargemacht hatte, daß ich das durch meinen Brief verursachte Mißverständnis erkennen konnte, bin ich zu der vor mir Liegenden hingegangen, habe ihren Kopf in meine Hände genommen und durch eine leichte Drehung dem übrigen Körper, der mit der Vorderseite nach oben lag, angeglichen. Nun erst sah ich, daß das Gesicht, dessen Ausdruck keinerlei Spuren von Schmerz oder Trauer zeigte, von Tränen überströmt war.

OBWOHL das von mir gewünschte Gespräch mit der Nachbarin nicht stattgefunden, sondern sich unser Beisammensein in völligem Schweigen abgespielt hatte, bin ich nicht ohne ein gewisses Gefühl der Befriedigung von ihr weggegangen, da doch ihr Weinen, welches zweifellos in einem Zusammenhang mit meiner Person stand, es mir ermöglicht, unter dem Vorwand der Besorgnis den privaten Verkehr zwischen uns, ohne aufdringlich zu erscheinen, in Gang zu halten.

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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984  (korrigierte Fassung)