Gedankenvernichtung V



VERANLASST durch eine unter dem heutigen Datum gemachte Eintragung in meinem Terminkalender, derzufolge ich mich zu einer bestimmten Stunde am Grab eines vor einigen Jahren verstorbenen Freundes einfinden sollte, bin ich, obwohl ich mich an Sinn und Zweck jener Eintragung nicht mehr erinnern konnte, auf den Friedhof gegangen und habe pünktlich zum angegebenen Zeitpunkt vor der Grabstätte Aufstellung genommen. Da weder ein äußeres Ereignis noch meine gedanklichen Anstrengungen irgendeinen Hinweis ergaben, weshalb ich mir den Grabbesuch ausgerechnet für diesen Tag und diese Uhrzeit vorgemerkt hatte, habe ich es für nutzlos erachtet, mich noch länger mit der Sache auseinanderzusetzen, und bin, um auf andere Gedanken zu kommen, in einen Biergarten gefahren, wo ich ganz im Gegensatz zur dort herrschenden Stimmung von einem Gefühl tiefster Trauer ergriffen wurde, welches mich, wäre ich nicht kurz zuvor auf dem Friedhof gewesen, erneut vor das Problem gestellt hätte, der Ursache für etwas ganz und gar Unbegreifliches auf die Spur kommen zu müssen.

DIE Tatsache, über dem Bett einer Prostituierten, die ich auf eine Annonce hin aufgesucht hatte, genau die gleiche Abbildung vorzufinden, welche über meinem Schreibtisch an der Wand hängt, stürzte mich in solche Verwirrung, daß ich während des gesamten Zeitraums, für den ich die Dirne gemietet hatte, außerstande war, einen auch nur halbwegs vernünftigen Gedanken zu fassen. Erst als ich in der Schublade des Nachttischs, die ich in meiner Zerstreutheit geöffnet hatte, eine dort aufbewahrte Pistole entdeckte, welche ich zweckentsprechend zum Schießen verwenden wollte, bin ich, vermutlich durch den Aufschrei der gerade im Ankleiden begriffenen Prostituierten, wieder zu mir gekommen und habe die Gleichheit der Bilder als einen ganz alltäglichen Zufall betrachten können. Wie mir die Dirne, nachdem ich sie durch Darlegung des Sachverhalts einigermaßen besänftigt hatte, glaubhaft erklärte, hatte ich mich vor dem Zwischenfall mit der Waffe völlig normal verhalten.

MEINE Angst, während einer Hochzeitsfeier, bei der ich als Trauzeuge fungieren sollte, durch einen nicht zur Sache gehörenden Gedanken zu irgendwelchen dem Anlaß unangemessenen Bemerkungen oder gar Handlungen verleitet zu werden, hatte das Maß des Erträglichen schon fast überschritten, als mir vor dem Spiegel, in dem ich mein Äußeres ein letztes Mal überprüfen wollte, die Idee kam, meine Geisteskraft für die Dauer der Feierlichkeiten ausschließlich darauf zu verwenden, mir der Vergänglichkeit allen Lebens bewußt zu bleiben. Meinem Plan lag die Überlegung zugrunde, daß ich durch die ununterbrochene Vergegenwärtigung des Todesgedankens vor allen anderen Gedanken, die sich einschleichen könnten, geschützt sein würde. Ganz beruhigt bin ich auf die Hochzeit gegangen, habe aber beim Anblick der Braut, welche ich vor ihrer Verehelichung mehrmals gesehen und als vollkommen reizlos empfunden hatte, total den Verstand verloren, so daß ich, hätte ich mich nicht anhand meines vorschriftsmäßig mitgeführten Reisepasses meiner Identität vergewissern können, nicht einmal in der Lage gewesen wäre, meine Personalien anzugeben.

DIE einer zufällig wiedergetroffenen Urlaubsbekanntschaft aus reiner Gewohnheit gestellte Frage nach dem Befinden brachte mich auf den Gedanken, daß ich, stellte man mir diese Frage, nicht das geringste zu sagen wüßte. Abgelenkt durch jenen Gedanken, habe ich die überraschend ausführliche Antwort der Befragten nicht mitbekommen, so daß ich, als sie plötzlich zu weinen anfing, über die Ursachen ihres Gefühlsausbruches keinerlei Informationen hatte. Obwohl mir somit jegliche Grundlage fehlte, auf welche meine Anteilnahme sich hätte stützen können, wurde ich augenblicklich von solchem Mitleid ergriffen, daß ich mich, um die Selbstbeherrschung nicht zu verlieren, unverzüglich habe entfernen und die Frau sich selbst überlassen müssen.

MEINE anfängliche Befriedigung über den beim Durchsehen der Post aufgetauchten Gedanken, mich bei Gelegenheit wieder einmal zu verlieben, um durch die damit verbundene Festlegung auf ein bestimmtes Thema meine Arbeit zumindest für einige Zeit gegen nicht kontrollierbare Einflüsse von außen zu schützen, hat sich, als ich die zur Realisierung meines Vorhabens nötigen Kontakte herstellen wollte, zunehmend in Bedrückung verwandelt, so daß ich, da mir in solcher Verfassung das einem Verliebten entsprechende Auftreten nicht mehr gelingen konnte, von der weiteren Verfolgung meines Gedankens habe absehen müssen. Ursache meiner Gemütsveränderung war die zunächst vage, schließlich in aller Deutlichkeit sich aufdrängende Einsicht, daß ich mir durch den Vorsatz, zu lieben, die Chancen auf einen Erfolg, der doch eine gewisse Schicksalsergebenheit, um nicht zu sagen Passivität voraussetzt, schon im vorhinein so gut wie verdorben hatte. Falls es mir nicht irgendwann glücken sollte, den unheilvollen Gedanken aus meinem Gedächtnis zu streichen, wird nur ein Gehirnschaden mich davor bewahren können, den Rest meines Lebens ohne jede Hoffnung auf Liebe zubringen zu müssen.

FROH über jede Abwechslung, die mir in der verfahrenen Situation, in der ich mit meiner Arbeit stecke, ein wenig Entspannung verspricht, habe ich mich ohne Zögern bereit gefunden, einer japanischen Journalistin, der man mich als Kenner des geistigen Klimas hierzulande empfohlen hatte, bei der Besichtigung bayerischer Baudenkmäler Gesellschaft zu leisten. Um eine private Annäherung von vornherein auszuschließen, habe ich einen mir befreundeten Fotografen darum gebeten, die Zusammenkunft, die ich ihm gegenüber als berufsbedingt ausgab, im Bild festzuhalten. Es ist aber zu dieser Zusammenkunft dann gar nicht gekommen. Nachdem ich einen Treffpunkt festgelegt und sowohl die Japanerin als auch den Fotografen dorthin bestellt hatte, wurde ich von einem plötzlichen Einfall so sehr in Beschlag genommen, daß ich versäumte, rechtzeitig aufzubrechen. Obwohl ich nach einer halsbrecherischen Autofahrt nur um wenige Minuten zu spät am Ort der Verabredung ankam, ist von den beiden weit und breit nichts zu sehen gewesen. Da ich nicht davon ausgehen konnte, daß sie bei einer so geringfügigen Verspätung mit meinem Kommen nicht mehr gerechnet hatten, habe ich annehmen müssen, daß mein Freund, dessen Charakterlosigkeit, wenn es um die Eroberung einer Frau geht, allgemein bekannt ist, sich unter Vortäuschung falscher Tatsachen, beispielsweise indem er sich mit meinem Namen vorstellte, in das Vertrauen der Journalistin eingeschlichen und sich mit ihr, statt auf mich zu warten, aus dem Staub gemacht hatte. Schuld an meinem Zuspätkommen war der Gedanke gewesen, daß zur Beschreibung einer Liebesbeziehung das Liebeserlebnis nicht unbedingt nötig wäre, sondern daß es bereits genügen würde, die zu einer solchen Beziehung passenden Handlungen auszuführen.

ALS mich während der Verhandlungen über meine eventuelle Anstellung bei einer Wochenzeitung die angesichts der äußerst zögernden Haltung meiner Verhandlungspartner völlig unangebrachte Lust überkam, lauthals herauszuplatzen, habe ich mich, um nicht unangenehm aufzufallen, so lange zurückgehalten, bis sich durch eine scherzhafte Bemerkung eines der anwesenden Redakteure die Gelegenheit bot, meinem Drang ohne Risiko nachzugeben. Es ist aber zufolge der schon zu lange andauernden Unterdrückung meines Bedürfnisses nur noch so etwas wie ein Eselsschrei aus mir herausgekommen, welcher mir weitaus mehr Mißbilligung eintrug, als ein zur Unzeit ausgestoßenes Lachen verursacht hätte.

ZU meinem größten Entsetzen habe ich mich, als ich vor einem Hagelschauer in die nächste Toreinfahrt flüchten wollte, in einen Betonpfeiler verwandelt, so daß ich mich nicht von der Stelle bewegen konnte. Zwar haben mir die Hagelkörner, unter denen sich auch einige tote Vögel befanden, nun nichts mehr anhaben können, aber das war, gemessen am Preis, den ich zu zahlen hatte, nämlich dem vermutlich bleibenden Verlust meiner Bewegungsfreiheit, ein kaum ins Gewicht fallender Vorteil. Hinzu kam, daß ich nicht einmal wußte, für welches noch zu errichtende Bauwerk ich als Stütze herhalten sollte.

NACHDEM es mir endlich gelungen war, meinen halbwüchsigen Neffen, für den ich nach dem frühen Ableben des Vaters eine gewisse Verantwortung trage, anhand von Fakten, gegen die er nichts vorbringen konnte, zu überzeugen, daß es sich bei einer mir aus leidvoller Erfahrung bekannten Dame, der er sichtlich verfallen war, um eine höchst zweifelhafte Erscheinung handle, ist der Junge von seinem Sitz aufgesprungen und hat die folgenden Worte auf mich herabgeschleudert: "Ich werde sie trotz allem lieben bis in den Tod." Noch am Abend desselben Tages brachte der Rundfunk die Meldung, besagte Dame, eine international erfolgreiche Diseuse, sei bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.

ENTGEGEN meinen Erwartungen haben sich die Teilnehmer einer Diskussionsveranstaltung, nachdem ich, um in die Runde etwas Leben hineinzubringen, eine Reihe völlig unsinniger Standpunkte vertreten hatte, mit einer einzigen Ausnahme auf meine Seite geschlagen, so daß im weiteren Verlauf des Abends von allen bis auf diesen einen nur noch der blühendste Unsinn geredet wurde. Da ich das Gesagte nicht einfach wieder zurücknehmen konnte, andererseits aufgrund der Tatsache, die damit beabsichtigte Wirkung erreicht zu haben, auch keine Veranlassung hatte, den Blödsinn noch länger fortzusetzen, habe ich mich nicht mehr zu Wort gemeldet, sondern mich uneingeschränkt der Beobachtung jenes mir bis dahin noch nie begegneten Menschen gewidmet, der, ohne es zu wissen, aussprach, was ich im Innersten fühlte und dachte. Als ich nach Ende der Veranstaltung, zutiefst berührt von der Verwandtschaft unserer Seelen, auf ihn zuging, um ihm meine Verbundenheit auszudrücken, hat er mich, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte, mit der Faust ins Gesicht geschlagen, wodurch er seinen durch die zuvor gemachten Äußerungen ohnehin schon beschädigten Ruf endgültig ruinierte.

OBWOHL ich, als mich auf einem Presseempfang einer der Gäste in ein Gespräch über die Schwierigkeiten des Journalistenberufes verwickeln wollte, kein Hehl daraus machte, daß ich dem Thema nicht das geringste Interesse entgegenbrächte, hat sich der Mann von seinem Vorhaben nicht abbringen lassen und mir in aller Ausführlichkeit von einem Problem berichtet, das ihm in letzter Zeit besonders zu schaffen mache. Jedesmal, wenn er sich zur Ausarbeitung einer Idee an den Schreibtisch setze, sei die Idee, die er eben noch ganz deutlich im Kopf gehabt habe, plötzlich nicht mehr vorhanden. Kaum verlasse er aber den Schreibtisch, werde er von neuen, den ersten Einfall noch übertreffenden Ideen geradezu überfallen, an die er sich jedoch, sobald er sie schriftlich festhalten wolle, nicht mehr erinnern könne. Sei er früher zufolge seines Ideenreichtums ein lebensfroher, vor Geist förmlich sprühender Mensch gewesen, so fühle er sich heute, da er am Schreibtisch tagtäglich sein Versagen erleben müsse, als ein von seinen Ideen wie von einer Krankheit Verfolgter. Auf meine Frage, weshalb er, wenn dies so sei, nicht auf das Niederschreiben seiner Ideen verzichte, sagte der Mann, auf diese Idee sei er noch nie gekommen.

UNSCHLÜSSIG, ob ich mir die banale Tatsache des ersten, für die Jahreszeit etwas verfrühten Schneefalls notieren sollte, bin ich von einer Lawine zweifellos äußerst tiefsinniger, mir jedoch völlig unverständlicher Gedanken ergriffen worden, unter der ich, hätte ich mich nicht am Anblick der verschneiten Straßen und Plätze festhalten können, mit Gewißheit erfroren wäre.

IM Gegensatz zu der im Nachruf auf einen Romanschriftsteller aufgestellten Behauptung, über die Todesursache ließe sich Genaueres noch nicht sagen, habe ich mir das Sterben des Schriftstellers, der an seinem letzten Werk, einer Liebesgeschichte, zehn Jahre gearbeitet, aber kein Ende gefunden hatte, sehr gut erklären können.

UNGEACHTET der überzeugenden Argumente, die mich dazu bewogen hatten, den Abschluß einer Lebensversicherung ins Auge zu fassen, habe ich, als mich während eines Kontaktgesprächs der Versicherungsbeamte darum ersuchte, etwas lauter zu sprechen, die Unterhaltung kurzerhand abgebrochen und meinen Plan ein für allemal aufgegeben. Mir war plötzlich klar geworden, daß ich den Gedanken, mich zu versichern, was auch immer für einen solchen Schritt sprechen mochte, im Grunde seit jeher verabscheut hatte. Dem über die Wirkung seiner Äußerung sichtlich bestürzten Beamten habe ich noch den Rat gegeben, er solle sich nicht lange den Kopf zerbrechen, er sei seiner Aufgabe, mir bei meiner Entscheidung zu helfen, bestens gerecht geworden.

NACHDEM ich mich, um das Geheimnis einer, wie mir schien, schicksalhaften Begebenheit nicht zu zerstören, über Wochen hin deren Beschreibung enthalten hatte, hat sich die Angelegenheit durch einen vergleichsweise eher trivialen Vorgang überraschend von selbst erledigt. Mir ist, als ich, melancholisch gestimmt, einen Spaziergang durch den herbstlichen Wald machen wollte, der Kot einer Krähe aufs Haupt gefallen. Wochen zuvor hatte ich in ähnlicher Stimmung ein rotledernes Portemonnaie, das auf dem Weg lag, an mich genommen, welches, nach dem Inhalt zu schließen, einem mir vom Sehen bekannten Mädchen aus meiner Nachbarschaft gehören mußte.

NOCH bevor ich, nachdem ich beim Überqueren der Straße eine rote Ampel mißachtet hatte, auf die Vorhaltungen einer älteren Passantin etwas erwidern konnte, hat schon ein Mann im ungefähr gleichen Alter für mich Partei ergriffen, so daß ich, obwohl Urheber der Auseinandersetzung, auf deren Inhalt keinerlei Einfluß hatte. Während die Frau auf der unbedingten Einhaltung der Verkehrsvorschriften beharrte, plädierte der Mann für die Abschaffung sowohl der Ampeln als auch der Autos. Mit letzterem war die Frau, die, wie sich herausstellte, bei einem Unfall eine nie ausgeheilte Beinverletzung erlitten hatte, voll und ganz einverstanden. Da die Ansichten nun nicht mehr so weit auseinanderlagen, einigte man sich auf die Verurteilung sämtlicher in neuerer Zeit erzielten Errungenschaften, zu denen ich in gewissem Sinne auch mich selbst zählen mußte.

OBWOHL die Vorbereitungen für einen chirurgischen Eingriff, der mich aller Sorgen entheben sollte, seit langem getroffen waren, hat man die Operation im letzten Moment immer wieder hinausgeschoben, bis ich schließlich die Geduld verloren und das Mobiliar meines Krankenzimmers zertrümmert habe. Nachdem ich eine Beruhigungsspritze bekommen und mich wieder einigermaßen gefangen hatte, wurde mir mitgeteilt, eine Operation sei, da ich mich bester Gesundheit erfreue, absolut überflüssig, meine Entlassung allerdings aus Gründen, die man mir nach dem soeben Vorgefallenen wohl nicht näher erläutern müsse, vorläufig ausgeschlossen. Übrigens, so wurde hinzugefügt, handle es sich auch bei den anderen Patienten um vollkommen gesunde Menschen.

ALS ich mich in einem Antiquitätenladen nach einem Geburtstagsgeschenk für meine Großmutter, etwa einer Haarspange, Brosche oder dergleichen, umsehen wollte, hat mich der Inhaber des Ladens, dem gegenüber ich mein Anliegen unmißverständlich geäußert hatte, auf einen mittelalterlichen Flügelaltar hingewiesen, den er mir zu besonders günstigen Bedingungen anbieten könne. Auf meine Erklärung, daß das Stück, egal wie preiswert, meine finanziellen Möglichkeiten weit übersteige, ist der Mann, um mich, wie er sagte, zu widerlegen, mit dem Preis immer weiter heruntergegangen, bis die von ihm genannte Summe einen solchen Tiefpunkt erreichte, daß ich, obwohl ich für einen Flügelaltar keine Verwendung habe, das Angebot einfach nicht habe ausschlagen können. Nachdem ich bezahlt und mit dem Händler vereinbart hatte, die Ware bis auf weiteres im Laden stehen zu lassen, zog er mich etwas beiseite und raunte mir zu, für nächste Woche habe ihm sein Lieferant aus derselben Stilepoche einen Beichtstuhl versprochen.

DA ich mir nicht erklären konnte, weshalb es mich zu mitternächtlicher Stunde aus meiner Wohnung ins Freie trieb, habe ich ein vor Jahren für eine Faschingsveranstaltung gekauftes Kardinalskostüm angezogen und bin in solchem Aufzug durch die bis auf ein paar zwielichtige Gestalten wie ausgestorbene Stadt geschlendert. Hätte mich jemand gefragt, was ich so spät noch auf der Straße zu suchen habe, hätte ich, da man gemeinhin keinen Unterschied zwischen der Tracht eines Kardinals und der eines gewöhnlichen Pfarrers macht, ganz ungeniert sagen können, ich sei zu einer Letzten Ölung gerufen worden.

ZUFOLGE des seit Tagen sich wiederholenden Geräuschs von heftigem Schluchzen, welches aus der Nachbarwohnung zu mir herüberdringt, hatte ich den Gedanken, daß umgekehrt von mir nach drüben, wenn überhaupt etwas, dann höchstens die Anschläge auf meiner Schreibmaschine zu hören seien, ganz gleich, ob ich nun das Telefonbuch abschreibe oder mein Testament aufsetze.

DURCH die Ereignisse der letzten Wochen daran gewöhnt, die Dinge hinzunehmen, so wie sie sind, habe ich mich über eine Einladung zu meiner Beerdigung  kaum noch verwundern können. Da ich selbstverständlich nicht in eigener Person auf dem Friedhof erscheinen konnte, habe ich mich als Zwillingsbruder des Verstorbenen ausgegeben, was bei den trauernden Hinterbliebenen nicht den leisesten Argwohn, sondern im Gegenteil höchstes Entzücken hervorrief. Wie ich den Äußerungen einer Tante des Verstorbenen habe entnehmen können, hatte man den Bruder zwar brieflich verständigt, es jedoch, da er sich als Handelsreisender die meiste Zeit im Ausland befinde, für wenig wahrscheinlich gehalten, daß er tatsächlich kommen würde. Unnötig zu sagen, daß ich von der Existenz meines Zwillings bis dahin keinerlei Kenntnis hatte.

ALS ich in einer von intellektuellem Publikum sonst gemiedenen Schänke in aller Ruhe ein Glas Wein trinken wollte, bin ich von einem, was das Äußere betrifft, gänzlich heruntergekommenen Menschen, welcher sich, wie der Wirt mir erklärte, systematisch betrunken hatte, auf so beharrliche Weise belästigt worden, daß mir, wollte ich noch länger in dem Lokal verweilen, keine andere Wahl blieb, als mich auf ein Gespräch mit ihm einzulassen. Ich fragte, weshalb er seine Zeit damit vergeude, sich bis zur Besinnungslosigkeit anzutrinken. Er antwortete, von einer zu vergeudenden Zeit könne gar nicht gesprochen werden, da man die Zeit, zumindest hinsichtlich ihrer Ausdehnung, als eine reine Erfindung des Menschen und somit objektiv als überhaupt nicht vorhanden betrachten müsse. Was die Besinnungslosigkeit anbelange, mit welcher ich seinen durch das Trinken herbeigeführten Zustand bezeichnet hätte, so bestünde diese gerade darin, die Zeit, welche zur Erreichung jenes Zustands benötigt würde, als Gegebenheit anzuerkennen, wovon bei ihm noch längst nicht die Rede sein könne. Dazu sei er bedauerlicherweise noch viel zu nüchtern. Jedoch scheue er sich nicht, mir einzugestehen, daß er es sich zum Ziel gesetzt habe, auf dem Wege vollständiger Besäufnis vielleicht doch noch dahinzukommen, sich jenem Trugbild, welches uns die Zeit und also auch die Möglichkeit eines Fortschritts als Faktum erscheinen ließe, hingeben zu können, obwohl er natürlich wisse, daß er von dieser Täuschung, die das höchste Glück sei, dann gar nichts mehr haben würde, da er besinnungslos nicht in der Lage wäre, sie wahrzunehmen. Nach diesen Worten kippte der Kopf des Mannes nach vorne, der Stuhl neigte sich, der Körper fiel wie ein Sack auf den Boden. Aus dem noch geöffneten Mund kam jetzt Blut heraus anstatt Sprache.

OBWOHL vollkommen nüchtern, habe ich, als ich mit dem Auto auf einen von mehreren Fußgängern benutzten Zebrastreifen zusteuerte, die Fußgänger für eine Verunreinigung der Windschutzscheibe gehalten und infolgedessen, anstatt auf die Bremse zu treten, den Knopf zur Inbetriebnahme der Scheibenwischer herausgezogen. Hätte ich nicht in letzter Sekunde das Lenkrad herumgerissen, ich wäre mit voller Geschwindigkeit in die Menschen hineingefahren.

NACHDEM ich, in der festen Überzeugung, mich in einem Schwimmbassin zu befinden, einige Tauchübungen gemacht und dabei am ganzen Körper Hautabschürfungen schwersten Grades erlitten hatte, habe ich, zurück an der Oberfläche, erkennen müssen, daß ich mich irrtümlich im Erdreich eines Fußballplatzes vergraben hatte. Da lediglich mein Kopf aus dem Rasen ragte, ist er von einem Spieler der gerade angreifenden Mannschaft für den Fußball gehalten und über das Tor in die Zuschauertribüne geschossen worden, was eine längere Unterbrechung des Spieles zur Folge hatte.

ALLEN Beteuerungen zum Trotz, mit denen ich die Empfangsdame eines berüchtigten Etablissements, in welches es mich verschlagen hatte, davon abzubringen versuchte, mich für ein ihr aus dem Fernsehen bekanntes Mitglied der Regierung zu halten, ist die Frau von ihrer Behauptung nicht abgewichen, so daß ich meinen Widerstand schließlich aufgegeben und mir die einem Regierungsmitglied gebührende Behandlung habe gefallen lassen. Als ich mich nach einigen überaus vergnüglichen Stunden, die mich nicht das geringste gekostet hatten, anschickte aufzubrechen, verriet mir die Dame, sie sei sich zunächst nicht ganz sicher gewesen. Erst durch die Hartnäckigkeit meiner Selbstverleugnung hätte ich ihr den Beweis geliefert.

DA es mir trotz einfachster Ausdrucksweise nicht gelang, mich auf dem Polizeikommissariat, wo ich einen Diebstahl anzeigen wollte, verständlich zu machen, bin ich dazu übergegangen, zu meiner Darstellung des Vorfalls auch die jeweils passenden Satzzeichen anzugeben, was den Wachebeamten dazu veranlaßte, mich wegen Amtsanmaßung in Gewahrsam zu nehmen.

MEINER fünfjährigen Nichte, die sich bitter bei mir beklagte, weil ich das Versprechen, ihr einen Kometen vom Firmament zu holen, nicht hatte erfüllen können, habe ich zu bedenken gegeben, daß ein Satz, ganz gleich welchen Inhalts, nur in den seltensten Fällen die Verwirklichung dessen, was darin zum Ausdruck käme, zur Folge habe. Ein Blinder, der behaupte, er sehe mit eigenen Augen, wie sich die Häuser in blühende Bäume und die Leiden der darin Wohnenden in unaussprechliches Glück verwandeln, könne deshalb noch lange nicht als ein von seiner Blindheit Geheilter betrachtet werden. Ein ans Bett Gefesselter würde durch die Voraussage, er werde die Welt aus den Angeln heben, nicht automatisch zum Gipfelstürmer. Ein Tyrann, der seinen Feinden befehle, zu sterben, mache sich damit nur zum Gespött seiner Untertanen. Die gesprochenen Sätze, so erklärte ich, seien erledigt, indem sie von jemandem gehört, die geschriebenen, indem sie gelesen würden. Meine Nichte aber, die bis dahin geschwiegen hatte, stand auf und sagte, sie werde sich den Kometen dann eben von jemand anderem holen lassen.

ICH hatte es bereits als eine der nun fast schon alltäglichen Verwechslungen hingenommen, vom Pförtner der von mir in regelmäßigen Abständen aufgesuchten Stadtbücherei jedesmal, wenn ich an seiner Loge vorbeikam, zu Erfolgen beglückwünscht zu werden, die ich nie gehabt, oft nicht einmal angestrebt hatte, als mich ein merkwürdiges Zusammentreffen von Umständen denn doch stutzig machte. Ausgerechnet an dem Tag, an dem der Gerichtsvollzieher mein Auto gepfändet hatte, beglückwünschte mich der Pförtner zu einem Lottotreffer. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß ich mich in meinem ganzen Leben noch nie an einem Glücksspiel beteiligt hatte, gab er zur Antwort, er sei über meine Lebensgewohnheiten bestens im Bilde, er habe alle nur erdenklichen Erkundigungen über mich eingezogen. Es sei ihm aber in seiner Position nicht erlaubt, seine Abneigung gegen mich auf andere als jene indirekte Art auszudrücken.

DURCH den sich mir bietenden Fernblick über die Stadt bis zu den Alpen in dichterischer Verfassung, habe ich, als ich in der verglasten Chefetage eines Kreditunternehmens von einem voreilig geschlossenen Vertrag über meine Beschäftigung als Anlageberater wieder zurücktreten wollte, meine Kündigung in die Worte gekleidet "Das Gewesene ist der Vergänglichkeit unwiederbringlich anheimgefallen", worauf der Direktor des Unternehmens, indem er dem Panorama den Rücken kehrte, nur sagte, wenn es weiter nichts wäre, könnte ich ganz beruhigt sein. Selbstverständlich werde der von mir angesprochene Punk in die Vereinbarungen aufgenommen.

UM das Gespräch mit einem nach langer Zeit wiedergetroffenen Schulfreund, welcher wider Erwarten nicht Erinnerungen austauschen, sondern mir seine gegenwärtigen Eheprobleme erzählen wollte, in die von mir gewünschte Richtung zu lenken, habe ich mit einem raschen Griff seine Krawatte gelockert und von seinem Hemd den obersten Knopf abgerissen. Auf diese Weise ist es mir gelungen, wenn auch nicht die gemeinsame Schulzeit, so doch immerhin ein Ereignis zur Sprache zu bringen, bei welchem ich eine gewisse Rolle spielte.


EINEM mir nur sehr flüchtig bekannten, außerdem nicht sonderlich sympathischen Literaturkritiker, der mich, als wir im Straßengewühl aufeinanderstießen, mit den Worten begrüßte "Ja, lebst du denn überhaupt noch?", habe ich bei aller sonst ihm gegenüber empfundenen Geringschätzung das Kompliment machen müssen, er habe mit seiner Frage den Nagel auf den Kopf getroffen. Zwar wüßte ich nicht, was ihn dazu berechtige, mich zu duzen, aber das sei in Anbetracht der Lage, in der er mich fände, von nur noch geringer Bedeutung. Auf Umgangsformen käme es nicht mehr an, sei man erst einmal so tief gesunken, daß bereits auf die Frage nach der bloßen Existenz keine eindeutige Aussage mehr gemacht werden könne. Strenggenommen seien als Antwort auf diese Frage, ganz abgesehen von den besonderen Umständen, die man in meinem Falle bedenken müsse, ohnehin nur Mutmaßungen möglich, da man über das Gegenteil von Leben keinerlei Erkenntnisse habe. Oder wolle er, der Literaturkritiker, der sich auf dem Gebiet des Metaphysischen schon aus rein beruflichen Gründen zurückhalten müsse, so weit gehen, zu behaupten, der Tod sei ein Rummelplatz, auf dem sich unsere Überreste mit den Lustbarkeiten beziehungsweise Gruseleffekten eines von höherer Instanz inszenierten Jenseits die Zeit vertreiben? Natürlich müsse er solche Auswüchse der Phantasie mit Entschiedenheit von sich weisen. Wenn er aber jenes Bild nun doch für einen Augenblick gelten ließe, dann wäre mein Platz auf jenem himmlischen Jahrmarkt ein Kabinett mit Millionen von Spiegeln, aus denen mir, sähe ich in sie hinein, Millionen fremder Gesichter entgegenblickten. Meins wäre nicht darunter. Das wüßte ich sicher, denn ich hätte mich in jenem Spiegelkabinett bereits aufgehalten. Möglicherweise sei auch er, während ich mich hier mit ihm unterhalte, nur das Resultat einer Spiegelung. Der Kritiker lachte. Er habe, sagte er, meine Geschichte wortwörtlich in einem soeben veröffentlichten Roman gelesen. Der Autor sei eine große Begabung. Dann legte er mir seine Hand auf die Schulter und schrie mir ins Ohr, daß es schmerzte: "Du bist verliebt, das ist alles! "

GEFESSELT vom Anblick eines, wie es schien, in Gedanken vertieften Knaben, welcher mir in der Straßenbahn gegenübersaß, habe ich es versäumt, rechtzeitig auszusteigen. Erst als der Knabe, indem er plötzlich den Kopf hob, das Bild zerstörte und mich zum Gegenstand seiner Beobachtung machte, ist mir mein Versäumnis bewußt geworden, was ich mir aber durch nichts habe anmerken lassen. Obwohl sehr in Eile, bin ich so lange sitzengeblieben, bis die Anzahl der in Geistesabwesenheit zurückgelegten Stationen von der Zahl jener, die ich mit vollem Wissen zu weit fuhr, um ein Beträchtliches übertroffen wurde.

IM Hinblick darauf, daß einem Streit nach den Gesetzen menschlichen Zusammenlebens immer die Versöhnung, der Versöhnung ein neuer Streit, dem neuen Streit die nächste Versöhnung zu folgen habe, bin ich zu einem Familienfest, bei welchem es mit Sicherheit zu heftigen Kontroversen über meine derzeitige Lebensweise gekommen wäre, gar nicht erst hingefahren. Mein Bestreben war es, eine endgültige, irreversible Entzweiung herbeizuführen.

EINEM erklärten Marxisten, welcher jedesmal, wenn ich sein philosophisches Gebäude ins Wanken brachte, anstatt sich mit meinen Einwänden auseinanderzusetzen, einen Schluck Tee nahm, habe ich die Tasse, als er sie wieder an seine Lippen führte, kurzerhand weggenommen, um durch mehrmaliges Hineinspucken meiner Verärgerung Luft zu machen. Zwar hat sich der Marxist auch dadurch nicht davon abhalten lassen, die Tasse auszutrinken, aber als Beweis für seine Unerschütterlichkeit konnte das nicht mehr gelten. Sein Denkfehler war, keinen Unterschied zu machen zwischen der Flüssigkeit, in welcher außer Tee die Absonderungen meiner, seines Widersachers, Speicheldrüsen enthalten waren, und jener nach materialistischen Gesichtspunkten mit dieser Mischung unvergleichbaren Substanz, durch deren stoisches Trinken er mich zum Äußersten getrieben hatte.

NICHT gewillt, mir die gute Laune verderben zu lassen, habe ich mich den bohrenden Fragen einer Psychoanalytikerin, welche eine der ohnehin seltenen Gelegenheiten, bei denen ich in Gesellschaft fröhlicher Menschen etwas Entspannung finde, dazu benutzen wollte, meine Vergangenheit auszuforschen, durch die Behauptung entzogen, über Vergangenes zuverlässige Angaben zu machen, sei gar nicht möglich. Abgesehen davon, daß ich ihr schon aufgrund von Gedächtnislücken, unbewußten Hinzufügungen oder Weglassungen ein ganz falsches Bild geben würde, wäre die pure Lust an der Formulierung eine so unerschöpfliche Fehlerquelle, daß nicht einmal ich, der Erzähler, würde entscheiden können, wie weit das tatsächlich Erlebte darin zum Vorschein komme. Letzten Endes müsse man, wolle man der Wahrheit die Ehre geben, seine Mitteilungen darauf beschränken, die im Moment des Sprechens gemachten Erfahrungen auszudrücken. Einzig und allein die Wiedergabe des Gegenwärtigen sei, Halluzinationen einmal außer acht gelassen, durch den Augenschein überprüfbar. Würde ich zum Beispiel meine augenblickliche Situation so beschreiben, als befände ich mich inmitten einer Herde blökender Schafe, so würde sie, die Analytikerin, das mühelos als eine Verfälschung der Tatsachen erkennen können. Äußerungen im Präteritum dagegen, so beschloß ich meine Ausführungen, seien auch unter Hinzuziehung von Zeugen nur schwer nachzuprüfen, da doch die Zeugen den gleichen Täuschungen unterlägen wie der Betroffene selbst. Auf diesen Satz schien die Frau gewartet zu haben. Mit einer plötzlichen Drehung des Körpers warf sie sich auf mich und drückte mir einen Kuß auf die Lippen. Dann stellte sie mir triumphierend die Frage, wie ich denn über diesen wie übrigens über jeden mir auf den Mund gegebenen Kuß anders berichten wolle als mit Hilfe des Imperfekts oder Perfekts.

UM dem mich seit Stunden quälenden Ticken der Wohnzimmeruhr, welches, nachdem ich die Uhr mit einem Hammer zertrümmert hatte, zwar faktisch verstummt, aber in meinem Kopf immer noch da war, eine, wie ich hoffte, wirksamere Maßnahme entgegenzusetzen, habe ich an der Wohnungstür meiner Nachbarin Sturm geläutet. Tatsächlich war das Ticken mit dem Einsetzen des Klingelzeichens aus meinen Gedanken verschwunden, so daß ich keinen Grund sah, weshalb ich noch auf das Öffnen der Tür warten sollte.


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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984  (korrigierte Fassung)