ZUTIEFST bestürzt über die Schamlosigkeit einer Bettlerin, die sich, nachdem
ich einen durchaus angemessenen Betrag in die vor ihr aufgestellte Geldschale
geworfen hatte, die Bluse aufknöpfte, so daß ihre alten, schlaffen Brüste zum
Vorschein kamen, habe ich der Frau sämtliche mit mir geführten Wertsachen ausgehändigt,
darunter einen Brillantring aus Familienbesitz, den ich, da ich mit meinen finanziellen
Mitteln am Ende bin, gerade versetzen wollte.
TROTZ der finanziell katastrophalen Lage, in der ich mich augenblicklich befinde,
bin ich auf das Angebot eines mir von früher her verbundenen Zeitungsverlegers,
die Nachfolge seines aus Altersgründen ausgeschiedenen Chefredakteurs anzutreten,
nicht sofort eingegangen, sondern habe dem Mann, der, wie ich seinen Äußerungen
entnehmen konnte, über meine Schwierigkeiten gut informiert war, in barschem
Ton vorgeworfen, was ihm denn einfalle, gerade mir, der ich aus meiner Meinung
über sein Käseblatt nie ein Hehl gemacht habe, eine solche Position anzubieten.
Zu meiner Überraschung erhöhte er daraufhin sein Gehaltsangebot um die Hälfte.
Als ich mich auch davon nicht im geringsten beeindruckt zeigte, versprach er,
in meinem Anstellungsvertrag eine Klausel unterzubringen, die es mir ermögliche,
die Stellung jederzeit, auch ohne Einhaltung einer Frist, aufzugeben. Der Versuchung,
einen Anfang zu machen aus dem einzigen Grund, mir das unbeschwerliche Ende
nicht entgehen zu lassen, habe ich nicht widerstehen können.
UM keine Zeit zu verlieren, bin ich gleich in die Redaktion gefahren, wo ich
mich davon überzeugen konnte, daß meine schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich
der im Zeitungsgewerbe herrschenden Geisteshaltung von der Realität noch übertroffen
werden. Eine eben erst eingestellte Lokalredakteurin, die ich nach ihrem beruflichen
Werdegang fragte, teilte mir mit, sie sei eigentlich Krankenschwester, habe
aber in diesem Beruf keine Erfüllung gefunden. Zwar hätte sie zu den Patienten,
insbesondere den unheilbar Kranken, ein gutes, oft freundschaftliches Verhältnis
entwickeln können. Von den Krebspatienten habe sie sich sogar in den Po kneifen
lassen. Aber wenn so ein Todeskandidat wider alle Erwartung dann doch noch gerettet
wurde, sei sie jedesmal tief enttäuscht gewesen. Von einem Tag auf den anderen
habe sie die Fälle, bei denen wieder Hoffnung bestand, als Fremde, manchmal
geradezu als Feinde empfunden. In ihrer neuen Tätigkeit seien solche Enttäuschungen
weitgehend ausgeschlossen. Berichte, in denen ausnahmsweise einmal das Überleben
die Sensation darstelle, gebe sie an einen Kollegen weiter.
WÄHREND einer Redaktionskonferenz, an der ich, um mich mit meiner neuen Aufgabe
vertraut zu machen, nur als Beobachter teilnahm, hat mich die auf Todesfälle
spezialisierte Lokalredakteurin zwar hinter vorgehaltener Hand, aber doch so,
daß einige Redaktionsmitglieder es hören konnten, dazu aufgefordert, mit ihr
die Nacht zu verbringen. Sie hätte bei unserer ersten Begegnung sofort Lust
verspürt, mit mir zu schlafen. Selbstverständlich bin ich daraufhin unverzüglich
von meinem Posten zurückgetreten.
OBWOHL infolge der schon zu Beginn von mir geäußerten Bedenken niemand über
meinen Rücktritt erstaunt sein konnte, habe ich es mir nicht nehmen lassen,
die Gründe, die mich dazu bewogen hatten, vor einer in aller Eile einberufenen
Versammlung des Redaktionsstabes darzulegen. Ich sei mir bei meinem Entschluß,
dem Drängen des Verlegers allen inneren Widerständen zum Trotz nachzugeben,
nicht genügend bewußt gewesen, daß das Metier, mit dem ich es zu tun haben würde,
kein Ort sei für einen, der wie ich die zarte Anspielung bevorzuge, den Austausch
der Masken. Die Arbeit des Journalisten erfordere den rigorosen Willen zur Wahrheit.
Wo eines Menschen letzte Stunde geschlagen habe, sei er mit Blitzlicht zur Stelle,
notiere das Todesröcheln. Wehe, er habe den Notizblock vergessen. Dann müsse
er dichten. Die Kunst aber sei schon im Ansatz Verklärung. In der Kunst sei
selbst das Schrecklichste noch genießbar. Der Journalist habe sich der Kunst
fernzuhalten. Die Zeitung gehöre auf den Abort. Die Liebe zur Kunst führe bloß
zu Verstopfung. Scheiße sei kunstlos. Ich hätte es wissen müssen. Das von mir
an den Tag gelegte Selbstvertrauen sei unverzeihlich. Mich überkomme tiefe Scham
bei dem Gedanken, mich in die Reihe jener gestellt zu haben, vor deren Mut zur
Wirklichkeit ich in Ehrfurcht verstummen sollte. Hier sprang der Verleger von
seinem Stuhl auf und rief, nun sei es aber genug, er nehme meine Kündigung an,
und zwar fristlos.
ALS ich mir, um wenigstens, wenn schon sonst alles schief geht, meine Aufzeichnungen
fortführen zu können, im Laden um die Ecke Zigaretten besorgen wollte, ist mir
aufgrund der Kleidung der Geschäftsinhaberin sofort klar gewesen, daß ein Trauerfall
vorliegen mußte. Bereits mein Anblick genügte, den Schmerz der Frau neu hervorbrechen
zu lassen. Unter Tränen erzählte sie mir, ihr Sohn sei völlig unerwartet verstorben.
Er habe dieselbe Marke geraucht, die ich immer kaufe.
DIE Premiere meiner früheren Nachbarin ist, wenn man den Zeitungen glauben darf,
die es in einer der Bedeutungslosigkeit des Ereignisses entsprechend winzigen
Nachricht gemeldet haben, wegen Krankheit verschoben worden. So kam es mir sehr
gelegen, von der Lokalredakteurin, der ich mich nun ohne Vorbehalte ganz privat
widmen konnte, zum Abendessen eingeladen zu werden.
NACH mehreren Versuchen, einen Gedanken niederzuschreiben, der mir, obwohl ich
mehr und mehr zu der Überzeugung gelange, daß nun schon alles egal ist, gerade
noch wichtig genug erschien, festgehalten zu werden, habe ich, da sich das Geschriebene
mit dem Gedachten nie völlig deckte, schließlich die Lust verloren, mich länger
anzustrengen. Hätte mich früher die Gewißheit, von jenem Gedanken einzig und
allein durch das Aufschreiben befreit zu werden, dazu getrieben, ihn, welche
Mühe es mich auch koste, unbedingt zu Papier zu bringen, empfand ich es diesmal
als Trost, ihn ständig im Kopf zu haben.
VERMUTLICH aufgrund einer gewissen Parallele zu dem, was ich nun fortwährend
denke, bin ich, als mir der Ehemann der Lokalredakteurin, von dessen Existenz
ich bisher keine Ahnung hatte, vor meiner Haustür auflauerte, um mich, wie er
sagte, sofort totzuschlagen, wenn ich nicht hoch und heilig verspreche, jede
Art von Kontakt zu seiner Frau abzubrechen, von einem Lachkrampf befallen worden,
wobei ich aus Gründen, deren Beschreibung mich überfordern würde, sehr darauf
achtete, meine Stimmbänder so zu beherrschen, daß das Gelächter nicht in Geschrei
ausartete. Erst als mir der Mann, welcher offensichtlich auf eine ganz andere
Reaktion abgezielt hatte, ein blitzschnell gezücktes Messer in den Bauch stieß,
so daß ich auf der Stelle zusammenklappte, habe ich zu lachen aufhören können.
OBWOHL es sich bei meiner Verwundung fraglos um die Folge eines rein privaten
Konfliktes handelt, hat man mich in ein Militärkrankenhaus eingeliefert, in
welchem ich mit fünfzehn Soldaten ein Zimmer teile. Nachdem ich die Sache zunächst
für einen eher amüsanten Irrtum gehalten hatte, der sich in Kürze aufklären
würde, habe ich inzwischen erkennen müssen, daß ich mit Absicht hierher gebracht
wurde. Meine Proteste stoßen auf völliges Unverständnis. Man fragt, weshalb
ich mich so errege, da es mir doch ausdrücklich gestattet sei, meine Aufzeichnungen
fortzusetzen.
AUSGERECHNET jetzt, wo es darauf ankäme, mit klarem Kopf die Tatsachen festzuhalten,
erzeugt meine Phantasie in einem fort Hirngespinste, die für mich, selbst wenn
sie zu den tatsächlichen Ereignissen in einem gewissen Zusammenhang stehen,
keinerlei Nutzen haben. Wie soll mir die Rekonstruktion dessen, was hier geschieht,
jemals gelingen, wenn ich mich in Verkennung der Fakten auf einem mittelalterlichen
Kampfschauplatz wähne, umzingelt von geharnischten Rittern, deren Überzahl ich
nichts entgegenzusetzen habe als meine vollständige Unterwerfung? Was hilft
mir angesichts der Ausweglosigkeit meiner Lage der unter anderen Umständen durchaus
reizvolle Einfall, jener Umzingelung dadurch zu entkommen, daß ich mich, durchbohrt
vom Speer eines Ritters, in ein graziles Einhorn verwandle, welches, entrückt
in die Welt der Fabel, unangefochten über das Schlachtfeld schreitet?
ZUFOLGE unerwartet aufgetretener Komplikationen bei der Verheilung der Bauchnaht
ist mein Krankenhausaufenthalt auf unbestimmte Dauer verlängert worden. Kaum
noch verwundert habe ich die Kapriolen meiner Erfindungsgabe zur Kenntnis genommen,
die mir den an sich harmlosen Tatbestand in einer Weise vor Augen führte, als
wäre mein Untergang nun endgültig besiegelt. Das Krankenzimmer erschien mir
als Kuhstall. Den Operationssaal habe ich trotz Anspannung aller Verstandeskraft
von der Abteilung für Fleischbeschau an einem Schlachthof nicht unterscheiden
können.
DA die Mitglieder des Krankenhauspersonals, die mir je nach Laune als gepanzerte
Krieger, Fleischbeschauer oder sonst etwas mit ihrer wahren Identität nur schwer
Vergleichbares erscheinen, zur objektiven Klärung der Umstände, in die ich geraten
bin, nichts beitragen können, habe ich den Entschluß gefaßt, mit einer Person
außerhalb des Krankenhauses brieflich Kontakt aufzunehmen. Obwohl ich mir beim
Schreiben die größte Mühe gab, meine Situation und die Vorgänge, die sie verursacht
haben, realitätsgetreu darzustellen, empfand ich das Ergebnis als absolut unzureichend.
Zwar hatte ich zur Veranschaulichung der mich beherrschenden Stimmung geschrieben,
ich käme mir vor wie in einem Tollhaus, dabei jedoch zu erwähnen vergessen,
daß ich mich in Wahrheit in einem Lazarett befinde.
GEPEINIGT von bohrendem Kopfschmerz, über den ich, damit man mich nicht noch
länger hier behält, zu niemandem sprechen wollte, bin ich den ganzen Tag starr
wie eine Leiche im Bett gelegen, unfähig, irgendetwas anderes als jenen Schmerz
wahrzunehmen, welcher eben dadurch, daß ich unausgesetzt an ihn dachte, beständig
zunahm, bis ich ihn, fast wahnsinnig, mit Hilfe eines phantastischen Einfalls
einen Augenblick lang vergessen und von da an, aufbauend auf die in jenem Augenblick
zurückgewonnenen Geisteskräfte, mehr und mehr überwinden, schließlich völlig
besiegen konnte. Ich hatte mir vorgestellt, mein Kopf sei ein Blumentopf, der
von der Wurzel einer im Verhältnis zu großen Pflanze gesprengt wird.
HATTE ich schon bisher ständig in der Angst leben müssen, von den Ärzten, die
sich ohne große Schwierigkeiten Einblick in meine Notizen verschaffen können,
für verrückt gehalten zu werden, steht für mich nun ganz außer Zweifel, daß
sie sich ihr Urteil über mich längst gebildet haben. Als mir bei der Morgenvisite
in der Antwort auf die Frage eines Assistenzarztes, wie ich mich fühle, der
für jedermann als belanglos erkennbare Versprecher passierte, es bestünde kein
Anlaß zur Gnade, ging durch die Runde ein von vielsagenden Blicken begleitetes
Raunen. Man steckte die Köpfe zusammen, beratschlagte flüsternd, was nun zu
tun sei, und eröffnete mir dann allen Ernstes, man habe mich zu einer Audienz
beim Papst angemeldet.
OHNE zu überlegen bin ich, als mir auf dem Weg zur Toilette zum erstenmal, seit
ich hier bin, ein weibliches Wesen, offenbar eine Putzfrau, zu Gesicht kam,
über die Person hergefallen, habe sie, noch bevor sie einen Ton sagen konnte,
an der Kehle gepackt und so lange zugedrückt, bis sie tot war. Nachdem ich,
damit niemand stolpere, den Körper zur Seite geschoben, die Toilette aufgesucht
und meine Notdurft verrichtet hatte, bin ich denselben Weg, an der Toten vorbei,
in das Krankenzimmer zurückgegangen und habe auf der mir zur Verfügung gestellten
Schreibmaschine, in die ich wie immer, wenn ich eine Eintragung mache, einen
neuen Bogen eingespannt hatte, das heutige Datum geschrieben. Dann erst ist,
da es zur Formulierung des Geschehens nötig war, mich zu sammeln, mein Denken
wieder in Gang gekommen.
WIE von mir nicht anders erwartet, bin ich, nachdem sich durch Befragung meiner
Zimmergenossen herausgestellt hatte, daß nur ich der Täter sein konnte, in polizeilichen
Gewahrsam gebracht und vernommen worden. Da ich gleich zu Beginn ein lückenloses
Geständnis ablegte, richtete sich das Interesse des Vernehmungsbeamten ausschließlich
auf die Motive, die mich zu meinem Verbrechen bewogen hatten. Ich sagte, mein
Ziel sei es gewesen, genau das zu erreichen, was nun erfolgt sei, nämlich meine,
wie ich hoffe, lebenslängliche Inhaftierung. Man solle sich hüten, mich in den
Genuß irgendwelcher Hafterleichterungen kommen zu lassen. Schon die kleinste
Lockerung meines Freiheitsentzuges würde mich dazu verleiten, eine noch grausamere
und, wenn dies überhaupt möglich sei, unverzeihlichere Tat zu verüben. Jeglicher
Bewegungsspielraum, jedes Zusammentreffen mit anderen Menschen müsse unter allen
Umständen verhindert werden. Im Grunde sei schon dieses Verhör, das es mir gestatte,
auf den Beamten in gewisser Weise Einfluß zu nehmen, ein Risiko, das man in
Zukunft vermeiden sollte. Selbstverständlich müsse mir auch jede Gelegenheit,
etwas aufzuschreiben, genommen werden, da man nicht ausschließen könne, daß
meine Schriften in Hände geraten, in denen sie etwas noch viel Entsetzlicheres
als die Ermordung einer Putzfrau zur Folge hätten. Das Geschriebene, so erklärte
ich, obwohl die Geduld meines Gegenüber sichtlich erschöpft war, sei zu allen
Zeiten ein Werkzeug zum Töten gewesen. Man brauche nur an die Heilige Schrift
zu denken. Gottes Wort wäre besser vergessen worden. Hier klappte der Mann mit
einem Knall das Protokoll zu. Religion sei jetzt nicht das Thema. Er habe Anweisung,
mich mit allem, was ich zum Schreiben benötige, zu versorgen.
UM nicht durch die Rücksichtnahme auf mögliche Leser meine Gedankenfreiheit
aufs Spiel zu setzen, werde ich neben der authentischen Version meiner Aufzeichnungen
von nun an noch eine zweite, zur allgemeinen Einsicht bestimmte, anfertigen
müssen. Wenn ich die für meine Bewacher gedachte Fassung an einem leicht zugänglichen
Ort aufbewahre, so daß sie beim Durchstöbern meiner Habseligkeiten als erstes
auftaucht, wird man nicht weitersuchen. Als Versteck für die von mir geheim
gehaltenen Blätter bietet sich ein etwa faustgroßes Loch in der Wand an, das
sich durch loses Mauerwerk unauffällig verdecken ließe.
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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter,
1984