Gedankenvernichtung IV



ANGENEHM überrascht, mich mit jemandem über meine Arbeit unterhalten zu können, habe ich, als ich aufgrund einer Autopanne mit dem Taxi unterwegs war, die eher beiläufig gemachte Bemerkung des Fahrers, er könnte über das, was er auf seinen Fahrten erlebe, ganze Romane schreiben, sofort aufgegriffen und, daran anknüpfend, die Meinung vertreten, man könne allenfalls die Erinnerung an ein Erlebnis, nie dieses selbst, niederschreiben. Zwar sei es gut möglich, daß sich ein Taxifahrer über das, was er beim Fahren erlebe, seine Gedanken mache, aufschreiben könne er diese Gedanken, wenn er sie nicht inzwischen wieder vergessen habe, frühestens auf dem Standplatz, wahrscheinlich aber erst zu Hause nach Dienstschluß. Genau genommen sei, gehe man davon aus, daß jemand als Fahrer nur solange gelten könne, solange er fährt, ein Taxifahrer, der schreibt, gar nicht denkbar. Bei diesem Satz trat mein Gesprächspartner abrupt auf die Bremse, sprang aus dem Wagen und wartete, bis auch ich das Fahrzeug verlassen hatte. Dann setzte er sich wieder ans Steuer und fuhr ohne mich weiter.

AUSSER mir vor Erregung über einen, wie mir schien, ungemein wertvollen Gedanken, habe ich eine für mein berufliches Fortkommen entscheidende Unterredung jäh abgebrochen und bin ohne Rücksicht auf den mir daraus erwachsenden Schaden nach Hause gefahren. Als ich den Gedanken, dessen grundlegende Bedeutung ich mir immer wieder vor Augen führte, zu Papier bringen wollte, merkte ich, daß ich, obwohl hellichter Tag war, meine Schreibtischlampe angeknipst hatte. Um mich nicht dem Vorwurf der Gedankenlosigkeit auszusetzen, beschloß ich, mit dem Schreiben so lange zu warten, bis es so dunkel war, daß ich das Licht sowieso hätte anschalten müssen. Schließlich ist mir der durch die Ereignisse überholte Gedanke so bedeutungslos, ja geradezu lächerlich vorgekommen, daß ich, als die Dunkelheit endlich hereinbrach, von Glück sagen konnte, wenigstens das Erlebnis mit der Lampe gehabt zu haben.

DA der Gedanke an einen vor kurzem aufgeschnappten Witz, der mir ausgerechnet in dem Moment wieder einfiel, als ich vor Gericht aussagen sollte, so sehr Besitz von mir ergriffen hatte, daß mein Verstand vollends blockiert war, stand ich vor der Alternative, ihn entweder als Bestandteil meiner Aussage zu Protokoll zu geben, was zweifellos einiges Befremden ausgelöst hätte, oder die Aussage überhaupt zu verweigern, wodurch ich den Angeklagten, zu dessen Verteidigung ich bestellt war, auf das schwerste belastet hätte. Während ich überlegte, für welche der beiden gleichermaßen unerfreulichen Möglichkeiten ich mich entscheiden sollte, mußte die bis dahin vollkommen unauffällige Gerichtsstenographin plötzlich laut lachen. Obwohl ein Zusammenhang zwischen meinem Witz und dem Lachen der Frau unmöglich bestehen konnte, will man sich nicht zu der Behauptung versteigen, die Dame könne Gedanken lesen, war mein Problem damit restlos behoben, so daß einer Einvernahme keine weiteren Hindernisse im Wege standen.

DURCH den Gedanken an die Möglichkeit eines nächtlichen Anrufs am Einschlafen gehindert, habe ich, um die Angelegenheit aus dem Kopf zu bekommen, den Fernsprechauftragsdienst angerufen und um sofortigen Rückruf gebeten. Nachdem ich auf diese Weise die Möglichkeit eines Anrufs in Gewißheit verwandelt hatte, habe ich trotz des kurz darauf einsetzenden Klingelzeichens ohne jede Schwierigkeit einschlafen können.

ICH war schon entschlossen, meine Arbeit für einige Tage zu unterbrechen, um der vor längerer Zeit geäußerten Bitte einer Wiener Verwandten, sie zu besuchen, nun endlich nachzukommen, als mich der Gedanke, die hochbetagte Frau könnte inzwischen tot sein, dazu bewog, bei ihr anzurufen. Obwohl sich meine Befürchtungen als ganz und gar unbegründet erwiesen, da die Verwandte nicht nur am Leben, sondern, wie ich an ihrer Stimme sofort erkannte, vollkommen gesund war, ist es mir aufgrund der Tatsache, den Gedanken an ihren Tod nun einmal gehabt zu haben, nicht mehr möglich gewesen, sie aufzusuchen. Wäre ich hingefahren, hätte ich ihr früher oder später meinen Gedanken mitteilen, ja sie sogar davon unterrichten müssen, daß einzig und allein ihr Ableben mich von diesem Gedanken würde befreien können. Selbstverständlich hätte sie das als eine Bedrohung empfinden müssen. Die Folgen wären unabsehbar gewesen. Binnen kurzem hätte sich der Vorfall in der ganzen Familie herumgesprochen. Völlig zu Recht hätte man mich für gefühllos und infolgedessen für gemeingefährlich gehalten, woraus sich zwangsläufig die Überlegung ergeben hätte, ob es nicht besser wäre, mich in eine Anstalt einweisen zu lassen. Wahrscheinlich werde ich, da naturgemäß nicht nur meiner Verwandten der Tod bevorsteht, überhaupt keine Besuche mehr machen dürfen.

WÄHREND ich mit dem Gedanken spielte, eine Hausangestellte in Dienst zu nehmen, um mich gegen allfällige Bedrohungen besser schützen zu können, ist die Luft über mir in Stücke zerbrochen, so daß ich unter einem Trümmerhaufen begraben wurde. Kaum hatte ich mich aus den Trümmern befreit, sah ich, noch den Schreck in den Gliedern, daß die versilberte Rose auf meinem Schreibtisch eine Blüte getrieben und sich die Schreibmaschine in einen Maulwurfshügel verwandelt hatte. Angesichts so eindeutiger Beweise für die Zwecklosigkeit irgendwelcher Vorsichtsmaßnahmen habe ich den Plan, eine Haushilfe einzustellen, wieder fallengelassen.

VERFOLGT von dem Gedanken, mich in schrecklicher, möglicherweise lebensbedrohlicher Gefahr zu befinden, bin ich, da ich mir unter den gegebenen Umständen eine solche Gefahr nicht vorstellen konnte, aufs Geratewohl zum Bahnhof gefahren und habe mich immer dann, wenn die Ankunft eines Zuges bevorstand, so nahe an den Rand des jeweils für die Einfahrt freigegebenen Geleises gestellt, daß schon ein unvorsichtiger Rempler, das durch einen Gepäckwagen bedingte Beiseitetreten eines Abreisenden oder auch nur ein im rechten Moment erzeugtes Erschrecken ausgereicht hätten, mich vor die Räder des noch nicht zum Stehen gebrachten Zuges zu werfen, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, absichtlich und hinterhältig hinuntergestoßen zu werden. Über eine Stunde habe ich mich zwischen den Geleisen herumgetrieben. Da mir aber trotz mehrmaligem Wechseln des Bahnsteigs und einer nicht mehr zu überbietenden Bereitwilligkeit, mein Leben aufs Spiel zu setzen, nicht nur nichts zustieß, sondern ich völlig gegen meine Absicht von mehreren Personen gewarnt, einmal sogar vom Bahnsteigrand weggezerrt und wegen meines Leichtsinns gescholten wurde, bin ich, in Gedanken immer noch in höchstem Maße gefährdet, in die Bahnhofshalle zurückgegangen, um mir eine geeignetere Gefahrensituation auszudenken. Kaum daß ich mich vor einem der Fahrkartenschalter hingesetzt und mit dem Denken begonnen hatte, wurde ich durch die mich umgebende Betriebsamkeit, insbesondere den lautstarken Disput des Schalterbeamten mit einer für den Aufenthalt in einer Bahnhofshalle ungewöhnlich festlich gekleideten Dame, die sich über eine Zugverspätung beschwerte, so sehr gefangengenommen, daß ich die Gefahr, in der ich zu schweben glaubte, vollständig vergessen habe. Während ich mich zu erinnern versuchte, weshalb ich überhaupt hier war, hat sich die Aufmerksamkeit der Dame plötzlich auf mich gerichtet, so daß anstelle des Beamten nun ich das Ziel ihrer Angriffe wurde, denen ich mich nur durch fluchtartiges Verlassen des Bahnhofs habe entziehen können. Wieder im Freien, ist mir schlagartig klar geworden, daß ich mich, an welchen Ort ich auch gehe, allein dadurch, daß ich auf der Welt bin, ohnehin schon in der größten aller nur denkbaren Gefahren befinde.

ALS es mir heute morgen selbst unter Aufbietung aller Verstandeskraft nicht gelang, meinen Frühstückskaffee trotz Beigabe einer über das Übliche weit hinausgehenden Menge Zucker als gesüßt zu empfinden, hatte ich plötzlich den Gedanken, ich sei verrückt geworden. Da ich mich als Verrückter selbstverständlich nicht in der Lage fühlte, einen so komplizierten Gegenstand wie die Denkprozesse eines Irrsinnigen in allgemein faßlicher Form zu Papier zu bringen, habe ich eine Auswertung meines Gedankens gar nicht erst in Betracht gezogen, sondern bin am Frühstückstisch sitzen geblieben, um mich von Zeit zu Zeit durch einen Schluck Kaffee vergewissern zu können, ob sich das Phänomen inzwischen verstärkt oder vermindert hatte. Hätte ich nicht, als ich schon fast soweit war, das abscheuliche Gemisch für genießbar zu halten, alles wieder erbrechen müssen, ich wäre vermutlich nie dahintergekommen, daß ich lediglich Salz und Zucker verwechselt hatte.

OBWOHL ich nicht im Traum daran dachte, die durch jahrelange Zurückhaltung gewonnene Sympathie meines Wohnungsvermieters aufs Spiel zu setzen, habe ich mich im Gespräch mit einer Hauspartei über eine unlängst bekanntgegebene Mieterhöhung zu der Bemerkung hinreißen lassen, ich würde dem Mann bei nächster Gelegenheit ganz offen die Meinung sagen. Über die Konsequenzen meiner Äußerung bin ich mir sofort im klaren gewesen. Allen Warnungen meines Hausgenossen zum Trotz und obgleich ich mir nicht erklären konnte, wie es zu jener Äußerung hatte kommen können, hätte ich die darin bekundete Absicht, um den Gedanken an ihre Verwirklichung je wieder loszuwerden, über kurz oder lang in die Tat umsetzen und meinem Hauswirt ins Gesicht sagen müssen, daß ich ihn für einen skrupellosen Schmarotzer halte, wäre ich nicht durch einen glücklichen Zufall auf die Idee gekommen, daß es sich bei meiner Bemerkung vielleicht gar nicht um das Aussprechen eines Gedankens, sondern um die Folge eines Sprechfehlers gehandelt hatte. Als ich meinen Mitbewohner durch die Zusage, ich würde mir die Sache noch überlegen, beruhigen wollte, sagte ich, ich würde die Sache bestimmt überleben. Da ich nun mit einiger Berechtigung davon ausgehen konnte, mich auch zuvor bloß versprochen zu haben, habe ich es nicht mehr für nötig gehalten, meine Ankündigung wahr zu machen.

WAHRSCHEINLICH aufgrund einer gewissen äußeren Ähnlichkeit der Verkäuferin eines Schuhgeschäfts mit meiner geliebten Cousine bin ich beim Betreten des Geschäfts der Verkäuferin, die mir entgegenkam, um den Hals gefallen, habe aber meinen Irrtum sofort erkennen und auch entsprechend begründen können. Zu meiner größten Verwunderung hat jedoch die Frau, statt mich anzuhören, meine Umarmung erwidert und mich mit Liebkosungen überschüttet, welche das, was ich ihr fälschlich hatte zuteil werden lassen, noch weit übertrafen. Nicht genug damit, zog sie mich, während sie durch Blicke andeutete, daß sie ihren beruflichen Pflichten nun für eine Weile nicht würde nachkommen können, in eine Ecke des Ladens, wo sie mich über Dinge befragte, von denen ich mit Gewißheit zu niemand anderem als meiner Cousine gesprochen hatte. Nachdem ich mittels gezielter Anspielungen festgestellt hatte, daß die Verkäuferin mit der Cousine in keinem wie auch immer gearteten Kontakt stand, gab es für mich keinen Zweifel, daß ich sie schon bei früheren Gelegenheiten, ganz bestimmt aber an jenem Tag, an dem ich ihrem Zauber verfallen war, mit dieser verwechselt hatte. Wäre ich nicht durch das vermeintliche Verwandtschaftsverhältnis gehemmt gewesen, ich hätte sie am Ende gar noch zur Frau genommen.

NACHDEM ich in Erwartung eines mir nur telefonisch bekannten Berufskollegen, mit dem ich mich in einem Kaffeehaus verabredet hatte, mehreren in Frage kommenden Personen, die das Kaffeehaus betraten, zugelächelt und auf diese Weise, ohne es zu wollen, eine Reihe interessanter Bekanntschaften angeknüpft, in einigen Fällen sogar Telefonnummern ausgetauscht oder ein Wiedersehen vereinbart hatte, habe ich, da meine Erwartungen inzwischen befriedigt waren, an der Vorstellung eines Zusammentreffens mit dem Berufskollegen keinerlei Gefallen mehr finden können. Als der Mann, den ich an seinen umherirrenden Augen sofort erkannte, dann schließlich eintraf, habe ich mich nicht zu erkennen gegeben, sondern von der nächsten Telefonzelle das Café angerufen und durch die Kellnerin ausrichten lassen, ich sei durch einen unerwarteten Zwischenfall am Kommen gehindert worden. Damit sie nicht lange zu suchen brauchte, habe ich nicht nur den Namen, sondern auch den Platz, an dem der Kollege saß, angegeben.

DA ich, während mir von zwei Folterknechten Daumenschrauben angelegt und glühende Hufeisen ins Fleisch gedrückt wurden, vollkommen darauf konzentriert war, die Einzelheiten des Vorgangs zur späteren Beschreibung im Kopf zu behalten, habe ich die mir zugefügten Qualen, mit welchen man die mündliche Preisgabe meiner Gedanken erzwingen wollte, nicht fühlen und infolgedessen ganz leicht ertragen können. Hätten die Folterer nicht schließlich doch von mir abgelassen, ich wäre durch die Verletzungen so sehr verstümmelt worden, daß ich meine Erlebnisse in Zukunft nur noch auf dem Wege les Diktierens, also mit Hilfe einer Sekretärin, hätte festhalten können, welche mich durch ihre Geschwätzigkeit zwar mit einiger Verzögerung, dafür aber um so sicherer ans Messer geliefert hätte.

ANSTATT mich gegen die Vorwürfe eines österreichischen Verkehrsteilnehmers, dessen Fahrzeug ich unverschuldet beschädigt hatte, zur Wehr zu setzen, habe ich mir, glücklich, wieder einmal in der Mundart meines Heimatlandes angesprochen zu werden, selbst noch die gröbsten Beschimpfungen ohne jede Widerrede gefallen lassen. Erst als der Mann, sichtlich verwirrt über mein Schweigen, dazu überging, seine Beleidigungen auf hochdeutsch gegen mich auszustoßen, habe ich Stellung bezogen und, um die Angelegenheit möglichst rasch abzuschließen, sogar einen Polizisten herbeigerufen. Wäre der Österreicher seinem Dialekt treu geblieben, ich hätte die Schuld an unserem Zusammenstoß gerne auf mich genommen.

UM den schon einmal gescheiterten Versuch der Beschreibung einer lebenslänglichen Lähmung nicht wiederholen zu müssen, habe ich, als eine plötzliche Niedergeschlagenheit mich erfaßte, deren Verlauf gar nicht erst abgewartet, sondern bin schnurstracks auf die Straße und vollkommen sinnlos fünfmal um den Wohnblock gelaufen. Tatsächlich bin ich, obwohl sich bis auf eine eher peinliche Begegnung mit meiner Wohnungsnachbarin, die ich beinahe über den Haufen rannte, nichts Nennenswertes ereignete, in einer meinem vorherigen Zustand genau entgegengesetzten Gemütsverfassung zurückgekommen, für welche ich nicht nur keine Erklärung, sondern, was mich noch mehr erschreckte, auch keine Worte hatte. Wäre jene Verfassung nicht auf so hartnäckige Weise erfreulich gewesen, der Umstand ihrer Unbeschreiblichkeit hätte mich in eine noch viel größere Verzweiflung gestürzt als jene, derentwegen ich meine Wohnung verlassen hatte.

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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984  (korrigierte Fassung)