ANGENEHM überrascht, mich mit jemandem über meine Arbeit unterhalten zu können,
habe ich, als ich aufgrund einer Autopanne mit dem Taxi unterwegs war, die
eher beiläufig gemachte Bemerkung des Fahrers, er könnte über das, was er
auf seinen Fahrten erlebe, ganze Romane schreiben, sofort aufgegriffen und,
daran anknüpfend, die Meinung vertreten, man könne allenfalls die Erinnerung
an ein Erlebnis, nie dieses selbst, niederschreiben. Zwar sei es gut möglich,
daß sich ein Taxifahrer über das, was er beim Fahren erlebe, seine Gedanken
mache, aufschreiben könne er diese Gedanken, wenn er sie nicht inzwischen
wieder vergessen habe, frühestens auf dem Standplatz, wahrscheinlich aber
erst zu Hause nach Dienstschluß. Genau genommen sei, gehe man davon aus, daß
jemand als Fahrer nur solange gelten könne, solange er fährt, ein Taxifahrer,
der schreibt, gar nicht denkbar. Bei diesem Satz trat mein Gesprächspartner
abrupt auf die Bremse, sprang aus dem Wagen und wartete, bis auch ich das
Fahrzeug verlassen hatte. Dann setzte er sich wieder ans Steuer und fuhr ohne
mich weiter.
AUSSER mir vor Erregung über einen, wie mir schien, ungemein wertvollen Gedanken,
habe ich eine für mein berufliches Fortkommen entscheidende Unterredung jäh
abgebrochen und bin ohne Rücksicht auf den mir daraus erwachsenden Schaden
nach Hause gefahren. Als ich den Gedanken, dessen grundlegende Bedeutung ich
mir immer wieder vor Augen führte, zu Papier bringen wollte, merkte ich, daß
ich, obwohl hellichter Tag war, meine Schreibtischlampe angeknipst hatte.
Um mich nicht dem Vorwurf der Gedankenlosigkeit auszusetzen, beschloß ich,
mit dem Schreiben so lange zu warten, bis es so dunkel war, daß ich das Licht
sowieso hätte anschalten müssen. Schließlich ist mir der durch die Ereignisse
überholte Gedanke so bedeutungslos, ja geradezu lächerlich vorgekommen, daß
ich, als die Dunkelheit endlich hereinbrach, von Glück sagen konnte, wenigstens
das Erlebnis mit der Lampe gehabt zu haben.
DA der Gedanke an einen vor kurzem aufgeschnappten Witz, der mir ausgerechnet
in dem Moment wieder einfiel, als ich vor Gericht aussagen sollte, so sehr
Besitz von mir ergriffen hatte, daß mein Verstand vollends blockiert war,
stand ich vor der Alternative, ihn entweder als Bestandteil meiner Aussage
zu Protokoll zu geben, was zweifellos einiges Befremden ausgelöst hätte, oder
die Aussage überhaupt zu verweigern, wodurch ich den Angeklagten, zu dessen
Verteidigung ich bestellt war, auf das schwerste belastet hätte. Während ich
überlegte, für welche der beiden gleichermaßen unerfreulichen Möglichkeiten
ich mich entscheiden sollte, mußte die bis dahin vollkommen unauffällige Gerichtsstenographin
plötzlich laut lachen. Obwohl ein Zusammenhang zwischen meinem Witz und dem
Lachen der Frau unmöglich bestehen konnte, will man sich nicht zu der Behauptung
versteigen, die Dame könne Gedanken lesen, war mein Problem damit restlos
behoben, so daß einer Einvernahme keine weiteren Hindernisse im Wege standen.
DURCH den Gedanken an die Möglichkeit eines nächtlichen Anrufs am Einschlafen
gehindert, habe ich, um die Angelegenheit aus dem Kopf zu bekommen, den Fernsprechauftragsdienst
angerufen und um sofortigen Rückruf gebeten. Nachdem ich auf diese Weise die
Möglichkeit eines Anrufs in Gewißheit verwandelt hatte, habe ich trotz des
kurz darauf einsetzenden Klingelzeichens ohne jede Schwierigkeit einschlafen
können.
ICH war schon entschlossen, meine Arbeit für einige Tage zu unterbrechen,
um der vor längerer Zeit geäußerten Bitte einer Wiener Verwandten, sie zu
besuchen, nun endlich nachzukommen, als mich der Gedanke, die hochbetagte
Frau könnte inzwischen tot sein, dazu bewog, bei ihr anzurufen. Obwohl sich
meine Befürchtungen als ganz und gar unbegründet erwiesen, da die Verwandte
nicht nur am Leben, sondern, wie ich an ihrer Stimme sofort erkannte, vollkommen
gesund war, ist es mir aufgrund der Tatsache, den Gedanken an ihren Tod nun
einmal gehabt zu haben, nicht mehr möglich gewesen, sie aufzusuchen. Wäre
ich hingefahren, hätte ich ihr früher oder später meinen Gedanken mitteilen,
ja sie sogar davon unterrichten müssen, daß einzig und allein ihr Ableben
mich von diesem Gedanken würde befreien können. Selbstverständlich hätte sie
das als eine Bedrohung empfinden müssen. Die Folgen wären unabsehbar gewesen.
Binnen kurzem hätte sich der Vorfall in der ganzen Familie herumgesprochen.
Völlig zu Recht hätte man mich für gefühllos und infolgedessen für gemeingefährlich
gehalten, woraus sich zwangsläufig die Überlegung ergeben hätte, ob es nicht
besser wäre, mich in eine Anstalt einweisen zu lassen. Wahrscheinlich werde
ich, da naturgemäß nicht nur meiner Verwandten der Tod bevorsteht, überhaupt
keine Besuche mehr machen dürfen.
WÄHREND ich mit dem Gedanken spielte, eine Hausangestellte in Dienst zu nehmen,
um mich gegen allfällige Bedrohungen besser schützen zu können, ist die Luft
über mir in Stücke zerbrochen, so daß ich unter einem Trümmerhaufen begraben
wurde. Kaum hatte ich mich aus den Trümmern befreit, sah ich, noch den Schreck
in den Gliedern, daß die versilberte Rose auf meinem Schreibtisch eine Blüte
getrieben und sich die Schreibmaschine in einen Maulwurfshügel verwandelt
hatte. Angesichts so eindeutiger Beweise für die Zwecklosigkeit irgendwelcher
Vorsichtsmaßnahmen habe ich den Plan, eine Haushilfe einzustellen, wieder
fallengelassen.
VERFOLGT von dem Gedanken, mich in schrecklicher, möglicherweise lebensbedrohlicher
Gefahr zu befinden, bin ich, da ich mir unter den gegebenen Umständen eine
solche Gefahr nicht vorstellen konnte, aufs Geratewohl zum Bahnhof gefahren
und habe mich immer dann, wenn die Ankunft eines Zuges bevorstand, so nahe
an den Rand des jeweils für die Einfahrt freigegebenen Geleises gestellt,
daß schon ein unvorsichtiger Rempler, das durch einen Gepäckwagen bedingte
Beiseitetreten eines Abreisenden oder auch nur ein im rechten Moment erzeugtes
Erschrecken ausgereicht hätten, mich vor die Räder des noch nicht zum Stehen
gebrachten Zuges zu werfen, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, absichtlich
und hinterhältig hinuntergestoßen zu werden. Über eine Stunde habe ich mich
zwischen den Geleisen herumgetrieben. Da mir aber trotz mehrmaligem Wechseln
des Bahnsteigs und einer nicht mehr zu überbietenden Bereitwilligkeit, mein
Leben aufs Spiel zu setzen, nicht nur nichts zustieß, sondern ich völlig gegen
meine Absicht von mehreren Personen gewarnt, einmal sogar vom Bahnsteigrand
weggezerrt und wegen meines Leichtsinns gescholten wurde, bin ich, in Gedanken
immer noch in höchstem Maße gefährdet, in die Bahnhofshalle zurückgegangen,
um mir eine geeignetere Gefahrensituation auszudenken. Kaum daß ich mich vor
einem der Fahrkartenschalter hingesetzt und mit dem Denken begonnen hatte,
wurde ich durch die mich umgebende Betriebsamkeit, insbesondere den lautstarken
Disput des Schalterbeamten mit einer für den Aufenthalt in einer Bahnhofshalle
ungewöhnlich festlich gekleideten Dame, die sich über eine Zugverspätung beschwerte,
so sehr gefangengenommen, daß ich die Gefahr, in der ich zu schweben glaubte,
vollständig vergessen habe. Während ich mich zu erinnern versuchte, weshalb
ich überhaupt hier war, hat sich die Aufmerksamkeit der Dame plötzlich auf
mich gerichtet, so daß anstelle des Beamten nun ich das Ziel ihrer Angriffe
wurde, denen ich mich nur durch fluchtartiges Verlassen des Bahnhofs habe
entziehen können. Wieder im Freien, ist mir schlagartig klar geworden, daß
ich mich, an welchen Ort ich auch gehe, allein dadurch, daß ich auf der Welt
bin, ohnehin schon in der größten aller nur denkbaren Gefahren befinde.
ALS es mir heute morgen selbst unter Aufbietung aller Verstandeskraft nicht
gelang, meinen Frühstückskaffee trotz Beigabe einer über das Übliche weit
hinausgehenden Menge Zucker als gesüßt zu empfinden, hatte ich plötzlich den
Gedanken, ich sei verrückt geworden. Da ich mich als Verrückter selbstverständlich
nicht in der Lage fühlte, einen so komplizierten Gegenstand wie die Denkprozesse
eines Irrsinnigen in allgemein faßlicher Form zu Papier zu bringen, habe ich
eine Auswertung meines Gedankens gar nicht erst in Betracht gezogen, sondern
bin am Frühstückstisch sitzen geblieben, um mich von Zeit zu Zeit durch einen
Schluck Kaffee vergewissern zu können, ob sich das Phänomen inzwischen verstärkt
oder vermindert hatte. Hätte ich nicht, als ich schon fast soweit war, das
abscheuliche Gemisch für genießbar zu halten, alles wieder erbrechen müssen,
ich wäre vermutlich nie dahintergekommen, daß ich lediglich Salz und Zucker
verwechselt hatte.
OBWOHL ich nicht im Traum daran dachte, die durch jahrelange Zurückhaltung
gewonnene Sympathie meines Wohnungsvermieters aufs Spiel zu setzen, habe ich
mich im Gespräch mit einer Hauspartei über eine unlängst bekanntgegebene Mieterhöhung
zu der Bemerkung hinreißen lassen, ich würde dem Mann bei nächster Gelegenheit
ganz offen die Meinung sagen. Über die Konsequenzen meiner Äußerung bin ich
mir sofort im klaren gewesen. Allen Warnungen meines Hausgenossen zum Trotz
und obgleich ich mir nicht erklären konnte, wie es zu jener Äußerung hatte
kommen können, hätte ich die darin bekundete Absicht, um den Gedanken an ihre
Verwirklichung je wieder loszuwerden, über kurz oder lang in die Tat umsetzen
und meinem Hauswirt ins Gesicht sagen müssen, daß ich ihn für einen skrupellosen
Schmarotzer halte, wäre ich nicht durch einen glücklichen Zufall auf die Idee
gekommen, daß es sich bei meiner Bemerkung vielleicht gar nicht um das Aussprechen
eines Gedankens, sondern um die Folge eines Sprechfehlers gehandelt hatte.
Als ich meinen Mitbewohner durch die Zusage, ich würde mir die Sache noch
überlegen, beruhigen wollte, sagte ich, ich würde die Sache bestimmt überleben.
Da ich nun mit einiger Berechtigung davon ausgehen konnte, mich auch zuvor
bloß versprochen zu haben, habe ich es nicht mehr für nötig gehalten, meine
Ankündigung wahr zu machen.
WAHRSCHEINLICH aufgrund einer gewissen äußeren Ähnlichkeit der Verkäuferin
eines Schuhgeschäfts mit meiner geliebten Cousine bin ich beim Betreten des
Geschäfts der Verkäuferin, die mir entgegenkam, um den Hals gefallen, habe
aber meinen Irrtum sofort erkennen und auch entsprechend begründen können.
Zu meiner größten Verwunderung hat jedoch die Frau, statt mich anzuhören,
meine Umarmung erwidert und mich mit Liebkosungen überschüttet, welche das,
was ich ihr fälschlich hatte zuteil werden lassen, noch weit übertrafen. Nicht
genug damit, zog sie mich, während sie durch Blicke andeutete, daß sie ihren
beruflichen Pflichten nun für eine Weile nicht würde nachkommen können, in
eine Ecke des Ladens, wo sie mich über Dinge befragte, von denen ich mit Gewißheit
zu niemand anderem als meiner Cousine gesprochen hatte. Nachdem ich mittels
gezielter Anspielungen festgestellt hatte, daß die Verkäuferin mit der Cousine
in keinem wie auch immer gearteten Kontakt stand, gab es für mich keinen Zweifel,
daß ich sie schon bei früheren Gelegenheiten, ganz bestimmt aber an jenem
Tag, an dem ich ihrem Zauber verfallen war, mit dieser verwechselt hatte.
Wäre ich nicht durch das vermeintliche Verwandtschaftsverhältnis gehemmt gewesen,
ich hätte sie am Ende gar noch zur Frau genommen.
NACHDEM ich in Erwartung eines mir nur telefonisch bekannten Berufskollegen,
mit dem ich mich in einem Kaffeehaus verabredet hatte, mehreren in Frage kommenden
Personen, die das Kaffeehaus betraten, zugelächelt und auf diese Weise, ohne
es zu wollen, eine Reihe interessanter Bekanntschaften angeknüpft, in einigen
Fällen sogar Telefonnummern ausgetauscht oder ein Wiedersehen vereinbart hatte,
habe ich, da meine Erwartungen inzwischen befriedigt waren, an der Vorstellung
eines Zusammentreffens mit dem Berufskollegen keinerlei Gefallen mehr finden
können. Als der Mann, den ich an seinen umherirrenden Augen sofort erkannte,
dann schließlich eintraf, habe ich mich nicht zu erkennen gegeben, sondern
von der nächsten Telefonzelle das Café angerufen und durch die Kellnerin ausrichten
lassen, ich sei durch einen unerwarteten Zwischenfall am Kommen gehindert
worden. Damit sie nicht lange zu suchen brauchte, habe ich nicht nur den Namen,
sondern auch den Platz, an dem der Kollege saß, angegeben.
DA ich, während mir von zwei Folterknechten Daumenschrauben angelegt und glühende
Hufeisen ins Fleisch gedrückt wurden, vollkommen darauf konzentriert war,
die Einzelheiten des Vorgangs zur späteren Beschreibung im Kopf zu behalten,
habe ich die mir zugefügten Qualen, mit welchen man die mündliche Preisgabe
meiner Gedanken erzwingen wollte, nicht fühlen und infolgedessen ganz leicht
ertragen können. Hätten die Folterer nicht schließlich doch von mir abgelassen,
ich wäre durch die Verletzungen so sehr verstümmelt worden, daß ich meine
Erlebnisse in Zukunft nur noch auf dem Wege les Diktierens, also mit Hilfe
einer Sekretärin, hätte festhalten können, welche mich durch ihre Geschwätzigkeit
zwar mit einiger Verzögerung, dafür aber um so sicherer ans Messer geliefert
hätte.
ANSTATT mich gegen die Vorwürfe eines österreichischen Verkehrsteilnehmers,
dessen Fahrzeug ich unverschuldet beschädigt hatte, zur Wehr zu setzen, habe
ich mir, glücklich, wieder einmal in der Mundart meines Heimatlandes angesprochen
zu werden, selbst noch die gröbsten Beschimpfungen ohne jede Widerrede gefallen
lassen. Erst als der Mann, sichtlich verwirrt über mein Schweigen, dazu überging,
seine Beleidigungen auf hochdeutsch gegen mich auszustoßen, habe ich Stellung
bezogen und, um die Angelegenheit möglichst rasch abzuschließen, sogar einen
Polizisten herbeigerufen. Wäre der Österreicher seinem Dialekt treu geblieben,
ich hätte die Schuld an unserem Zusammenstoß gerne auf mich genommen.
UM den schon einmal gescheiterten Versuch der Beschreibung einer lebenslänglichen
Lähmung nicht wiederholen zu müssen, habe ich, als eine plötzliche Niedergeschlagenheit
mich erfaßte, deren Verlauf gar nicht erst abgewartet, sondern bin schnurstracks
auf die Straße und vollkommen sinnlos fünfmal um den Wohnblock gelaufen. Tatsächlich
bin ich, obwohl sich bis auf eine eher peinliche Begegnung mit meiner Wohnungsnachbarin,
die ich beinahe über den Haufen rannte, nichts Nennenswertes ereignete, in
einer meinem vorherigen Zustand genau entgegengesetzten Gemütsverfassung zurückgekommen,
für welche ich nicht nur keine Erklärung, sondern, was mich noch mehr erschreckte,
auch keine Worte hatte. Wäre jene Verfassung nicht auf so hartnäckige Weise
erfreulich gewesen, der Umstand ihrer Unbeschreiblichkeit hätte mich in eine
noch viel größere Verzweiflung gestürzt als jene, derentwegen ich meine Wohnung
verlassen hatte.
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Aus: André
Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984
(korrigierte Fassung)