Gedankenvernichtung III



UM einen bestimmten Satz loszuwerden, der mir zu poetisch erschien, als daß ich ihn hätte aufschreiben können, bin ich in ein Kaffeehaus gegangen, habe eine der dort ausliegenden Zeitungen aufgeschlagen und in Anwesenheit des Kellners, so als würde ich aus der Zeitung zitieren, den Satz ausgesprochen. Ich sagte: "Die Gedanken fallen über mich her wie eine Heuschreckenplage. " Der Kellner erwiderte achselzuckend, er wisse von nichts, er habe soeben erst seinen Dienst angetreten.

DA es mir trotz stundenlangen Nachdenkens nicht gelang, für meinen kaum noch erträglichen Gemütszustand die passenden Worte zu finden und mir auf diese Weise Erleichterung zu verschaffen, habe ich kurzerhand einen Schrei ausgestoßen. Andernfalls hätte ich den heutigen Tag in meinen Aufzeichnungen überspringen müssen.

VON mehreren Pistolenkugeln durchlöchert, ist mein Gehirn wie durch ein Wunder selbst zum Geschoß geworden und durch die Zimmerdecke zum Himmel geflogen. Es wäre ein leichtes gewesen, den Vorgang so auszulegen, als sollte darin eine Persönlichkeitsspaltung zum Ausdruck kommen und ich als Zuschauer oder gar Inszenator meiner eigenen Verzweiflung beziehungsweise Erlösung hingestellt werden. Ich habe mich aber geweigert, diese Auslegung zuzulassen.

ALS ich mich bei meinem Arzt turnusgemäß zu einer Routineuntersuchung anmelden wollte, bekam ich von der Sprechstundenhilfe die Auskunft, eine solche Untersuchung sei nicht mehr möglich, laut Eintragung in das Karteiblatt sei ich nach mehrtägiger Intensivbehandlung einem Gehirnschlag erlegen. Obwohl ich den Irrtum, vermutlich eine durch Namensgleichheit verursachte Verwechslung, ohne weiteres hätte aufklären können, habe ich die Sache auf sich beruhen lassen und lediglich mein Erstaunen darüber geäußert, wie rasch sich die Nachricht von meinem Hinscheiden verbreitet habe.

ICH hatte schon meinen Koffer gepackt, um der Stadt für ein paar Tage den Rücken zu kehren, als mir die Idee kam, anstatt zu verreisen, eine Reise nur zu beschreiben. Allein der Gedanke, mir die Ausführung eines Vorhabens durch dessen Beschreibung ersparen zu können, genügte, mich zu veranlassen, meinen Reiseplan aufzugeben und mich zur Hervorbringung weiterer Gedanken wieder ins Bett zu legen. Hätte ich die Reise doch noch antreten wollen, hätte ich an den Ausgangspunkt jenes Gedankens, der mich zu ihrer Unterlassung bewogen hatte, zurückkehren, also wieder aufstehen, mich anziehen und neben den gepackten Koffer hinstellen müssen. Dort wäre mir unweigerlich die Idee gekommen, anstatt auf die Unterlassung der Reise zu verzichten, diesen Verzicht aufzuschreiben. Der Gedanke, mir den Verzicht auf die Unterlassung durch dessen Beschreibung ersparen zu können, hätte zwangsläufig den Gedanken an die Möglichkeit der Verzichtsunterlassung nach sich gezogen, und so wäre das endlos weitergegangen, ohne daß sich an der Tatsache, mir die Reise ein für allemal verdorben zu haben, auch nur das geringste geändert hätte. Also habe ich ein neuerliches Aufgreifen meines Reisevorhabens gar nicht erst in Erwägung gezogen, sondern bin mit meinen Gedanken im Bett geblieben, bis diese schließlich von einem Traum abgelöst wurden, der mir, obwohl ich ihn kurz nach dem Aufwachen schon wieder vergessen hatte, das Gefühl gab, etwas viel Aufregenderes als eine Reise erlebt zu haben.

NACHDEM ich meinen Zweifel am Wohlbefinden eines nahen Bekannten mit einleuchtenden Argumenten beseitigt, dann die Argumente für die Beseitigung zufolge ebenso einleuchtender Gegenargumente wieder verworfen, die Verwerfung zurückgenommen, die Zurücknahme revidiert, kurz und gut, mich durch das Hin und Her meiner Überlegungen in eine so ausweglose Situation gebracht hatte, daß mein eigenes Wohlbefinden auf dem Spiel stand, habe ich mich dazu entschlossen, das Befinden des Bekannten durch einen Anruf in Erfahrung zu bringen. Zu meiner nicht geringen Überraschung wurde ich von der Stimme einer Amtsperson in Empfang genommen, von welcher ich auf Befragen erfuhr, daß mein Bekannter einen Selbstmordversuch unternommen hatte. Trotz der Erschütterung, die die Nachricht in mir hervorrief, war ich auf der anderen Seite auch froh darüber, daß sich meine Nachforschungen damit erübrigt hatten und ich ohne Verzögerung mit der Beschreibung des Vorfalls beginnen konnte.

EIN Traum, in dem man mich aufgrund einer Anzeige meiner Eltern vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt hatte, ist mir, als ich gerade angefangen hatte, ihn aufzuschreiben, plötzlich so banal vorgekommen, daß ich nahe daran war, ihn in meinen Aufzeichnungen wegzulassen. Ich hatte anstelle des Wortes "Tod" versehentlich das Wort "Leben" geschrieben.

DER Tag schien für mein Schreiben bereits verloren, als ich kurz vor Mitternacht bei der bloßen Vorstellung, in letzter Sekunde doch noch ein zur schriftlichen Verwertung geeignetes Erlebnis zu haben, von solcher Freude ergriffen wurde, daß mir die Tränen über die Wangen liefen. Obwohl ich erkannte, daß sich meine Vorstellung in Gestalt der durch sie ausgelösten Gefühlsanwandlung verwirklicht und ich jetzt genügend Material zur Verfügung hatte, um etwas schreiben zu können, habe ich das Weinen nicht sofort abgebrochen, sondern die Gelegenheit benutzt, gleich auch ein paar Gefühlsreste aus früheren Erlebnissen darin unterzubringen, egal, um welche Gefühle es sich dabei gehandelt hatte. Einen Unterschied zwischen den Tränen der Freude und denen des Schmerzes habe ich nicht feststellen können.

UM mir einen Anlaß zu schaffen, aus meiner Wohnung hinauszukommen, habe ich einem wildfremden Menschen, dessen Name und Adresse ich dem Telefonbuch entnommen hatte, eine Postkarte geschrieben und diese zum nächsten Briefkasten getragen. Inhalt meines Schreibens war die Aufforderung, der Betreffende solle sich keine Gedanken machen, die Karte habe mit ihm und seinen Lebensumständen nicht das geringste zu tun. Gerade die Tatsache, daß er mir unbekannt sei und ich infolgedessen für ihn nicht das leiseste Interesse aufbringen könne, habe es mir ermöglicht, ihn anzusprechen. Als Absender habe ich eine mir ebenfalls vollkommen fremde Person angegeben.

ANSTATT meine Gedanken zu einem kulturellen Ereignis, welches ich kommentieren sollte, niederzuschreiben, habe ich sie im Geiste an mir vorbeiziehen lassen wie eine Landschaft, die vor dem Fenster eines fahrenden Zuges vorbeifliegt. So wie
der Fahrgast die Einzelheiten der Landschaft zufolge der Fortbewegung des Zuges nur undeutlich wahrnimmt, so habe ich, fortgerissen von einer Bewegung, welche allerdings, da ich doch in Wirklichkeit vollkommen still lag, auf einer Einbildung beruhte, den Inhalt der einzelnen Gedanken nicht festhalten und mich später, als ich den Kommentar endlich schreiben wollte, nur noch an den Gesamteindruck des Gedankenganges erinnern können, für dessen Wiedergabe ein einziges Wort, das Wort "Krieg", ausgereicht hätte. Zwar wäre ich durchaus in der Lage gewesen, eine seitenlange Abhandlung darüber zu schreiben, wie dieses eine Wort, kaum gedacht, eine unendliche Kette weiterer Wörter, die sich zu monströsen Satzgebilden zusammenfügten, in mir hervorrief, den geforderten Kommentar jedoch brachte ich nicht mehr zustande. Meine Befürchtung, in Zukunft überhaupt nichts mehr gegen Bezahlung schreiben zu können, wurde entschärft durch den Umstand, daß ich im Fall eines Krieges, den ich mir nur in Verbindung mit dem Untergang, wenn schon nicht der gesamten Menschheit, so doch meiner Person vorstellen konnte, Geld nicht mehr benötigen würde.

DA mir das Gesicht der Hausmeisterstochter, mit der ich beim Einkaufen einige Sätze gewechselt hatte, nicht aus dem Kopf ging, habe ich meinen Blick in Gedanken so lange auf eine bestimmte Stelle ihres Kleides gerichtet, bis dieses in Flammen aufging, hinter welchen die Erinnerung an das Mädchen allmählich verblaßte.

ALS mir während einer Theateraufführung meine Begleiterin ihre Ansicht über das Stück, welche sich mit der meinen vollständig deckte, ins Ohr flüsterte, habe ich unter Vortäuschung eines Hustenanfalles das Theater verlassen und in einem Restaurant auf das Ende der Vorstellung gewartet. Rechtzeitig zum Schlußbeifall bin ich zurückgekommen. Auf die Vorhaltung meiner Begleiterin, wie ich einem Stück applaudieren könne, von dem ich die Hälfte gar nicht gesehen hätte, erwiderte ich, daß gerade die Tatsache, das Stück nur zur Hälfte gesehen zu haben, es mir überhaupt erst ermöglicht habe, zu applaudieren. Wäre ich bis zum Ende geblieben, hätte ich meinen Beifall als eine Meinungsäußerung auffassen müssen. Meinungsäußerungen seien mir aber schon immer ein Greuel gewesen. Nachdem wir eine Weile geschwiegen und meine Gedanken sich anderem zugewandt hatten, sagte meine Begleiterin: "Obwohl Sie das Stück nicht gesehen haben, spenden Sie Beifall." "Nicht obwohl", korrigierte ich, "sondern weil ich das Stück nicht gesehen habe... Sie müssen an die Stelle der konzessiven Konjunktion eine kausale setzen. Das andere können Sie stehenlassen."

VERFÜHRT durch den Gedanken, mich zum Zwecke der Beschreibung in die Lage eines vollständig gelähmten Menschen hineinzuversetzen, bin ich, statt wie jeden Morgen aufzustehen und mir ein Frühstück zu machen, liegen geblieben und habe mir absolutes Stillhalten verordnet. Zu spät merkte ich, auf welch riskantes Abenteuer ich mich eingelassen hatte. Einerseits stand außer Frage, daß ich die mir auferlegte Regungslosigkeit, schon allein, um sie überhaupt beschreiben zu können, irgendwann würde durchbrechen müssen, andererseits war mir klar, daß die authentische Schilderung der Empfindungen eines für immer Gelähmten dann nicht mehr möglich sein würde. Im Dilemma zwischen den einander entgegengesetzten Erfordernissen fiel ich nun tatsächlich in eine Erstarrung, aus der ich mich nicht mehr hätte befreien können, wäre nicht durch meinen infolge der Angst, nie wieder aufstehen zu können, immer stärker werdenden Herzschlag die Beschreibung eines Erlebnisses nötig geworden, welches mein Denken so sehr beherrschte, daß ich mich auf nichts anderes konzentrieren konnte. Im festen Glauben, eine außergewöhnliche Erfahrung gemacht zu haben, stürzte ich an die Schreibmaschine. Als ich mit dem Schreiben beginnen wollte, erkannte ich, daß ich nichts als die läppische Tatsache meiner Lebendigkeit zu berichten hatte.

MIT folgender Begründung habe ich die spontan gegebene Zusage, anläßlich der Eröffnung einer Uhrenausstellung einen einführenden Vortrag zu halten, wieder zurückgenommen: Ich wolle unbedingt kommen, könne aber nicht, weil ich müsse. Die Absage sei meine letzte Hoffnung. So wie sich ein Verbrecher durch die öffentliche Ankündigung seiner kriminellen Vorhaben deren Ausführung erschwere, so würde umgekehrt ich durch die Zurücknahme meiner Zusage die Voraussetzung schaffen, sie vielleicht doch noch einhalten zu können. Es handle sich dabei um einen gewissermaßen mathematischen Vorgang, bei welchem man auf dem Wege einer doppelten Negation am Ende doch das Positive erreichen würde. Kurzum, würde ich sagen, ich komme, käme ich nicht. Sagte ich aber, ich komme nicht, könne man mit meinem Erscheinen rechnen. Nachdem man mich geduldig angehört und vollstes Verständnis bekundet hatte, wurde mir mitgeteilt, daß die Ausstellungseröffnung leider entfallen müsse. Einige der Objekte seien nicht zeitgerecht eingetroffen. Umso besser, gab ich zur Antwort, damit sei für eine Absage kein Grund mehr vorhanden. Selbstverständlich würde ich den Eröffnungsvortrag nun halten können.

NACHDEM ich den ganzen Tag darüber nachgedacht hatte, ob ich entgegen meinem Grundsatz, ausschließlich die jeweils neuesten Begebenheiten niederzuschreiben, über ein schon länger zurückliegendes Erlebnis berichten sollte, das ich seinerzeit für völlig unbedeutend gehalten hatte, bin ich, da das ununterbrochene Nachdenken über das alte Erlebnis eine innere Bereitschaft für etwas Neues nicht zuließ, zu dem Entschluß gekommen, meinen Grundsatz fallenzulassen und die Beschreibung jenes Erlebnisses nachzuholen. Mir hat ein an beiden Beinen gehbehinderter Krüppel, als ich ihn fragte, ob ich ihm beim Überqueren der Straße behilflich sein sollte, seine Krücken vor die Füße geworfen, so daß ich auf die Beantwortung meiner Frage nicht habe warten können, sondern blitzschnell zupacken mußte, wollte ich ein Zu-Boden-Stürzen des Mannes verhindern, welches mich unweigerlich in den Verdacht gebracht hätte, ihn absichtlich umgestoßen zu haben.

ALS ich zur Erholung vom Schreiben nach langer Zeit zum erstenmal wieder ein Buch in die Hand nahm, sind die gelesenen Sätze wie die aus eigenen Erlebnissen abgeleiteten Gedanken in meinem Gedächtnis haften geblieben, was zur Folge hatte, daß ich, um weiterlesen zu können, das über weite Strecken äußerst spannende Buch Satz für Satz, Seite für Seite abschreiben mußte.

OBWOHL ich, als mich frühmorgens das Gezwitscher der Spatzen vor meinem Fenster weckte, das dringende Verlangen verspürte, mich, ohne an das Schreiben zu denken, von den Ereignissen des Tages überraschen zu lassen, habe ich zufolge der Erkenntnis, daß mich selbst das Überraschendste, solange ich es erwarte, nicht überraschen könnte, meine Arbeit wie gewohnt aufgenommen und mich zur schriftlichen Erledigung jener Erkenntnis an den Schreibtisch begeben. Während ich überlegte, wie ich das trockene Thema durch die sprachliche Gestaltung interessant machen könnte, wurde ich völlig überraschend durch die Rufe eines Gemüsehändlers, der vor dem Haus unter Zuhilfenahme eines Megaphons seine Ware anpries, aus meinen Gedanken gerissen. Neugierig bin ich zum Fenster gegangen, wo mich angesichts der wie ein Wald kranker Bäume auf die Dächer gepflanzten Fernsehantennen ganz unerwartet eine tiefe Wehmut erfaßte, so daß ich, um nicht vor lauter Überraschungen den Kopf zu verlieren, meine Neugier bezähmt und den Platz am Fenster schleunigst wieder verlassen habe.

DA meine Gedanken trotz des überwältigenden Eindrucks, den der Besuch eines Orgelkonzertes in mir hinterlassen hatte, bereits auf dem Heimweg nicht mehr mit dem Konzert, sondern einem damit in keinerlei Zusammenhang stehenden Erlebnis beschäftigt waren, von dem ich nicht einmal wußte, ob ich es überhaupt jemals gehabt oder vielleicht nur erfunden hatte, war ich gezwungen, die Beschreibung des Konzertbesuches vorläufig aufzuschieben. Obwohl ich ständig darauf achtete, den durch das Konzert gewonnenen Eindruck im Kopf zu behalten, geschah es, daß die Erinnerung an das Erlebnis, derzufolge ich mich mehrere Stunden völlig unnötig in einer Mülltonne verborgen hatte, jenen Eindruck allmählich verdrängte, bis er sich schließlich gänzlich verflüchtigt hatte. Wäre mir, als ich meine Taschen nach dem Wohnungsschlüssel durchsuchte, nicht zufällig die Eintrittskarte in die Hände gefallen, ich hätte den Konzertbesuch für ein Erzeugnis der Phantasie, jenes Erlebnis dagegen für Realität gehalten.

MIT Erleichterung habe ich zur Kenntnis genommen, daß ein zu meiner Entwurzelung abgestelltes Holzfällerkommando sich nicht damit begnügte, mich aus allen Sicherheiten, auf welche meine bisherige Existenz sich gegründet hatte, herauszureißen, sondern mich zur weiteren Verwertung als Möbel in ein Sägewerk transportierte. Obwohl sich damit ein von mir seit langem gehegter Wunsch endlich erfüllte, habe ich mich durch meine Versteinerung der bei der Holzverarbeitung üblichen Behandlung entzogen. Erst nach Überführung in eine Diamantschleiferei habe ich meinen Widerstand aufgegeben.

UM nicht wieder vor lauter Nachdenken über ein altes Erlebnis die Gelegenheit zu versäumen, ein neues zu haben, bin ich, als mir während des Rasierens eine Kindheitserinnerung durch den Kopf schoß, sofort zum Schreibtisch gegangen, habe aber die Erinnerung zufolge einer mir zunächst rätselhaften Gedankenverknüpfung nicht aufschreiben können. Nachdem ich eine geraume Weile mit eingeseiftem Gesicht in meinem Schreibtischsessel zugebracht und schon alle Hoffnung begraben hatte, bin ich doch noch auf die Lösung gekommen. So wie ich als Kind meine in mühevoller Kleinarbeit errichteten Sandburgen jedesmal, kaum waren sie fertig, vollständig vernichtet hatte, um ihrer Zerstörung durch andere Kinder zuvorzukommen, so glaubte ich nun, auch die Erinnerung an sie spurlos aus meinem Gedächtnis tilgen zu müssen. Was ich zu bedenken vergessen hatte, war, daß die Vernichtung der Sandburgen nur in Voraussicht ihrer eines Tages möglichen Beschreibung hatte geschehen können.

OBWOHL ich aus Furcht, in meinen Gedanken gestört zu werden, einen ehemaligen Arbeitskollegen, der mir bei der Erledigung einer geschäftlichen Angelegenheit über den Weg lief, nachdrücklich darauf aufmerksam machte, daß ich es eilig hätte, hat der Mann, mit dem ich, als wir noch täglich zusammen waren, lediglich die im beruflichen Umgang unerläßlichen Höflichkeiten ausgetauscht hatte, ein Gespräch mit mir angefangen. Auch nachdem ich ihn in der Annahme, mich mißverständlich geäußert zu haben, darüber aufgeklärt hatte, daß ich ihm mit vollkommener Gleichgültigkeit gegenüberstünde, hat er nicht von mir abgelassen. Nicht einmal durch persönliche Beschimpfungen habe ich ihn vertreiben können. Als ich, da alle Bemühungen, ihn loszuwerden, gescheitert waren, die Behauptung aufstellte, es müsse eine Verwechslung vorliegen, ich sei gar nicht der, für den er mich hielte, fragte er ganz erstaunt, mit wem er mich denn verwechseln solle, da er mich noch nie im Leben gesehen habe.

ALS ich nach einem anläßlich eines Betriebsjubiläums gegebenen Abendessen, bei welchem mein Tischnachbar, ein Musikwissenschaftler, mich in die technischen Feinheiten einer Mozart-Sonate eingeführt hatte, das mir wohlbekannte Stück, das ich auf Platte besitze, zu Hause anhören wollte, wurde ich, kaum waren die ersten Takte erklungen, von einer in Anbetracht des überaus üppigen Mahles, das ich hinter mir hatte, unbegreiflichen Eßlust befallen, welche mich so sehr beherrschte, daß ich außerstande war, mich dem Musikgenuß hinzugeben. Nachdem ich den Versuch, die Platte zu hören, mehrere Male wiederholt und das Gefühl sich jedesmal mit der gleichen Intensität wieder eingestellt hatte, bin ich, obwohl ich ohne Musik nicht den leisesten Appetit verspürte, in die Gaststätte, in der das Jubiläum gefeiert wurde, zurückgegangen und habe mir, ungeachtet der höhnischen Kommentare der noch verbliebenen Gäste, das gesamte Menü ein zweitesmal auftragen lasen. Trotz zunehmender Magenbeschwerden habe ich ein Gericht ach dem anderen aufgegessen, wobei ich ständig darauf bedacht war, meine ganze Aufmerksamkeit auf den Geschmack der einzelnen Speisen zu richten. Ich war zu der Erkenntnis gekommen, daß ich, um die Sonate je wieder hören zu können, ohne dabei an das Jubiläumsessen denken zu müssen, das durch den Gedanken an sie versäumte Essenserlebnis nachholen mußte.

------------------

Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984