Gedankenvernichtung II



NACHDEM ich mehrmals hintereinander das ,,Vaterunser" gebetet, meine Finger mit Blut benetzt und mich bekreuzigt hatte, wurde mir mit einem chinesischen Krummschwert der Kopf abgeschlagen. Er ist aber sofort wieder angewachsen, so daß die Hinrichtung wiederholt werden mußte.

GLEICH nach dem Aufstehen bin ich zur Erledigung des vorgestern aufgetauchten, bis heute unerledigten Todesgedankens an den Schreibtisch gegangen, dort aber wie ein scheuendes Pferd vor einer schlecht angerittenen Hürde plötzlich stehengeblieben und zurück in das Schlafzimmer geflüchtet, wo ich, da durch die Schreibmaschine als Hürde am Verlassen der Wohnung gehindert, den ganzen Tag wie in einer Gefängniszelle habe zubringen müssen.

UNTER dem Vorwand, die in diesem Jahr voraussichtlich letzte Gelegenheit zum Sonnenbaden nicht versäumen zu dürfen, bin ich, obwohl der Sonne längst überdrüssig, an den Starnberger See gefahren. Um die fast unerträgliche Schwüle aushalten zu können, versuchte ich, mich in die Zeit der vor mir liegenden Herbst- und Wintermonate hineinzuversetzen, in denen ich erfahrungsgemäß nichts sehnlicher wünsche als ein paar Sonnenstrahlen. Ich stellte mir vor, wie ich mit hochgestelltem Kragen auf einer Bank im Park sitzen würde, die Augen geschlossen, das Gesicht im Vorgefühl des kommenden Frühlings zum Himmel gerichtet. Nachdem ich über eine Stunde schwitzend und stöhnend in der brütenden Hitze ausgeharrt hatte, habe ich das Experiment der gedanklichen Herstellung einer durch die Realität in keiner Weise gestützten Empfindung als gescheitert betrachten müssen.

IN der Hoffnung, das zur Erledigung des Todesgedankens offenbar untaugliche Schreiben durch etwas Geeigneteres ersetzen zu können, habe ich mir einen Rausch angetrunken und mich anschließend von einer mir nicht näher bekannten Person in ein erotisches Abenteuer verwickeln lassen. Nachdem die Person sich entkleidet und auf das Bett gelegt hatte, habe ich sofort auf sie eingeschlagen. Zunächst hat sie mein Verhalten, wahrscheinlich in der Annahme, daß es sich dabei um eine Spielart von Zärtlichkeit handle, ohne jeden Widerstand hingenommen. Erst als ich dazu überging, sie zu erdrosseln, ist sie sich der Gefährlichkeit ihrer Lage bewußt geworden, aus dem Bett aufgesprungen und weggelaufen.

OHNE die geringste Aussicht, mich, auf welche Weise auch immer, von dem mich seit Tagen beherrschenden Todesgedanken befreien zu können, habe ich den Entschluß gefaßt, die Zeit mit dem Aufschreiben meiner Handlungsunfähigkeit totzuschlagen. Das Geklapper der Tasten hat auf mich eine beruhigende Wirkung. Um das angenehme Geräusch nicht verstummen zu lassen, werde ich auch die Erinnerung an das Aufschreiben meiner Unfähigkeit und, falls mir bis dahin nichts zugestoßen sein sollte, auch das wiederholte Aufschreiben, dann das Wiederholen und wiederholte Wiederholen als Erinnerung niederschreiben. Ich werde mir im Ausfüllen der Zeit durch das Schreiben zur Herstellung des Schreibmaschinengeklappers keine Zurückhaltung auferlegen, bis ich mich schließlich soweit beruhigt haben werde, daß ich das Schreiben durch das Fernsehen werde ersetzen können. Während des Fernsehens werde ich aufgrund seiner Verknüpfung mit der Entstehung des Todesgedankens an nichts anderes als an dessen Nicht-Erledigung denken können und daher früher oder später zur Schreibmaschine zurückkehren und mich wieder mit dem Tastengeklapper beruhigen müssen. Nachdem ich unter ständigem Hinundherlaufen mehrmals das Schreiben mit dem Fernsehen und das Fernsehen mit dem Schreiben vertauscht haben werde, wird eine sowohl körperliche als auch nervliche Erschöpfung eintreten, so daß ich entweder während des Fernsehens oder während des Schreibens, womöglich sogar auf dem Weg vom Fernsehen zum Schreiben oder vom Schreiben zum Fernsehen plötzlich zusammenbrechen und auf der Stelle einschlafen werde.

VÖLLIG unerwartet habe ich während eines Fernsehfilms, dessen Hauptdarstellerin in mir die Erinnerung an ein längst vergangenes Liebesverhältnis wachrief, den Todesgedanken vergessen können. Erst nach Ende des Films, als der Fernsehsprecher eine neue Sendung ankündigte, merkte ich, daß ich, obwohl meine Augen die ganze Zeit auf den Bildschirm gerichtet waren, nicht den Film, sondern die Bilder meiner Erinnerung angeschaut hatte.

AUF die telefonische Anfrage eines Zeitungsredakteurs, ob ich Lust hätte, für seine Zeitung etwas zu schreiben, habe ich geantwortet: "Ich weiß nicht." Die Lust zu schreiben könne frühestens während des Schreibens so wie die Lust zu leben frühestens nach der Geburt festgestellt werden. Um zur Lust zu gelangen, müsse man sich zuerst einmal mit den Gegebenheiten abfinden. Meine finanzielle Situation sei im Augenblick so beschaffen, daß mir gar nichts anderes übrig bliebe, als das Angebot anzunehmen, so wie jemandem, der nun einmal in die Welt gesetzt sei, gar nichts anderes übrig bliebe, als das Leben auf sich zu nehmen, es sei denn, er bringe sich um, aber das sei nicht meine Absicht. Kurzum, die Frage, ob ich Lust hätte, für die Zeitung zu schreiben, stelle sich gar nicht, sondern es ginge jetzt darum, ob ich mich der Notwendigkeit zu schreiben überhaupt noch entziehen könne. Täte ich es, wäre die Folge, daß ich meine Miete nicht mehr würde bezahlen können. Der Hausbesitzer würde mich auf die Straße setzen. Zwar sei es immer meine größte Sehnsucht gewesen, alle Brücken hinter mir abzubrechen und das Leben eines Ausgesetzten zu führen, um darüber etwas Interessantes und Wertvolles schreiben zu können, aber in letzter Sekunde habe mich jedesmal die Vernunft oder vielmehr die Angst vor der Erfüllung der Sehnsucht dazu getrieben, für irgendeine Zeitung einen vollkommen uninteressanten und wertlosen Artikel zu schreiben. Letztlich sei ja alles im Leben nur eine Frage der Angst als Aufhebung der Sehnsucht. Das Ergebnis sei die Gleichgültigkeit. Nicht die Lust, sondern die Gleichgültigkeit sei die Voraussetzung des Lebens sowie des Schreibens. Man solle mir nur irgendein Thema stellen, ich würde mir in bewährter Weise dazu etwas einfallen lassen. Als ich den Redakteur fragen wollte, um welche Zeitung es sich eigentlich handle, stellte ich fest, daß er den Hörer bereits aufgelegt hatte.

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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984