Gedankenvernichtung I



BEVOR ich anfange zu schreiben, habe ich schon angefangen zu rauchen. Das Rauchen ist ein Zeichen des Wohlbefindens oder der Beschwörung des Wohlbefindens. Ich rauche, um mich mit diesem von mir für mich erfundenen Beweis meines Wohlbefindens selbst zu betrügen. Mit allem, was ich tue, betrüge ich mich wie mit dem Rauchen. Nur mit Hilfe des Selbstbetrugs komme ich weiter. Würde ich das, was ich tue, auf seinen Realitätsgehalt überprüfen, würde ich von einem Verlust in den anderen stürzen. Ein endloses Fallen wäre die Folge, aber ich würde, fürchte ich, trotzdem nicht die Besinnung verlieren. Mit Hilfe der Einbildung, das Fallen gedanklich fassen zu können, schütze ich mich vor einem endgültigen Absturz, obwohl ich mich danach sehne, durch nichts mehr aufgehalten zu werden. Immer wieder zerstöre ich mir durch das Denken die Erfüllung der Sehnsucht.

ALS ich daher versuchen wollte, die Gedanken durch das Aufschreiben aus mir herauszubekommen, fehlten mir plötzlich die Worte. Kein Gedanke erschien mir als ein aufschreibenswerter Gedanke. Ich mußte mir erst einmal deutlich machen, daß es nicht um einen Wert ging, sondern einzig und allein um das Abtöten durch Schreiben. Während ich darüber nachdachte, wie ich in Zukunft das Nachdenken über Wert oder Unwert des Schreibens vermeiden könnte, begann ich, die Schreibmaschine zu säubern. Es entstand eine Verzögerung, durch welche die Gedanken Gelegenheit hatten, das Schreiben zu überholen. Ich erkannte, daß es vor allem anderen darauf ankam, eine Methode zur Verhinderung der Überholung des Schreibens durch das Denken zu finden. Ich durfte so lange nicht aufhören zu schreiben, so lange ich dachte. Als einzige Erholung erlaubte ich mir das Schlafen. Um zum Schlafen zu kommen, mußte ich erst zu einer durch das Schreiben verursachten Erschöpfung gelangen. Zwischen dem Ende des Schreibens und dem Anfang des Schlafens durfte mir keine Zeit für einen Gedanken bleiben, schon gar nicht den Gedanken an die Sinnlosigkeit meines Schreibens als Ablösung des Denkens. Anstatt mir über die Sinnlosigkeit des Schreibens Gedanken zu machen, nahm ich mir vor, das Denken über die Sinnlosigkeit sofort zu Papier zu bringen. Das Aufschreiben der Sinnlosigkeit des Denkens erschien mir sinnvoller als das Nachdenken über die Sinnlosigkeit des Schreibens. Der Vorteil des Schreibens besteht darin, daß es mich davor bewahrt, einen Gedanken Wort für Wort zweimal zu haben. Durch das Aufschreiben schütze ich mich vor der wortwörtlichen Wiederholung eines Gedankens. Mein ganzes Trachten ist auf die Verhinderung der Wiederholung gerichtet. Nur indem ich aufschreibe, was ich denke, kann es mir eines Tages gelingen, aus der Enge der sich ständig wiederholenden Worte und Sätze herauszukommen.

ICH war schon im Begriffe, mich an die Schreibmaschine zu setzen, als mich der Gedanke, an nichts denken, also auch nichts aufschreiben zu können, zurückhielt. Erst nachdem ich mir klargemacht hatte, daß es sich dabei nur scheinbar um einen Gedanken, in Wirklichkeit aber um ein Gefühl handelte, habe ich mich zum Schreiben hinsetzen können. Indem ich das Gefühl, nämlich die Angst, nicht schreiben zu können, in eine Erinnerung umwandelte, hatte ich schon so etwas wie eine kleine Geschichte, die ich erzählen konnte. Genauso gut hätte ich die Schreibmaschine verlassen, in der Wohnung auf und ab gehen oder mich an den Fernsehapparat setzen können. Ich hätte aber auch auf das Aufundabgehen oder das Fernsehen verzichten und diesen Verzicht als eine für mein Schreiben verwertbare Beschäftigung ansehen können. Alles, was geschieht, eignet sich zum Aufschreiben als Gedanke. Das Geschehen ist die Voraussetzung des Denkens als Erinnerung oder Hoffnung.

ALS ich mich zu einem Mittagsschlaf hinlegen wollte, habe ich von unsichtbarer Hand mehrere Ohrfeigen bekommen. Aus den Ohrfeigen sind Faustschläge geworden. Schließlich wurde eine Axt zu Hilfe genommen. Man hat mir den Kopf in zwei Hälften gespalten, so daß die Gedanken wie die Kerne eines gespaltenen Apfels herausfallen konnten.

KAUM aufgewacht, bin ich sofort an die Schreibmaschine gegangen, habe aber nicht schreiben können. Um die dadurch hervorgerufene Angst nicht ein zweites Mal beschreiben zu müssen, sagte ich mir: Ich will gar nicht schreiben. Mein Plan war, mich in Zukunft nicht nur ohne jede Erwartung an das Schreiben zu setzen, sondern mit der festen Absicht, unter keinen Umständen zu schreiben, mir das Schreiben strikt zu verbieten und mir dieses Verbot immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Nachdem ich auf diese Weise alle erdenklichen Vorkehrungen zur Verhinderung einer Wiederholung getroffen hatte, merkte ich, daß ich unwillkürlich die Worte "nicht schreiben" geschrieben hatte.

DIE Notwendigkeit, auf dem Formular zur Gültigkeitsverlängerung meines Reisepasses meinen Beruf anzugeben, bereitete mir solches Kopfzerbrechen, daß ich, um die Angelegenheit zu einem Ende zu bringen, einfach die Bezeichnung "Arbeiter" eintrug. Erst im nachhinein ist mir bewußt geworden, daß ich mich vollkommen richtig eingestuft hatte. Ich bin ein Arbeiter am Fließband meiner Gedanken. Meine Sehnsucht nach dem Schreiben als Erlösung von den Gedanken ist die Sehnsucht des Fließbandarbeiters nach der Mittagspause oder dem Feierabend oder dem Wochenende oder dem Urlaub. So wie der Fließbandarbeiter, während er an seinem Band steht, an nichts anderes denkt als an das Ende der Arbeit, so denke ich, ganz gleich, was ich tue, an nichts anderes als an das Schreiben.

ALS ich auf dem Weg durch den Friedhof zum Postamt, wo ich meine Einkommensteuer einzahlen wollte, gerade noch sah, wie ein Trauerzug, bestehend aus einer auffallend kleinen Zahl Menschen, um die Ecke in eine der hinteren Gräberreihen
einbog, hat sich diese Wahrnehmung gegen meinen Willen sofort in eine Erinnerung als Gedanke verwandelt, den ich wie alle Gedanken nur durch das Aufschreiben hätte loswerden können. Um nicht einen weiteren Zustrom von Wahrnehmungen als Erinnerungen heraufzubeschwören und meinen Gang zum Postamt abbrechen zu müssen, widerstand ich der Versuchung, mich dem Trauerzug anzuschließen. Mit auf den Boden geheftetem Blick ging ich weiter. Während des Gehens wiederholte ich in Gedanken ununterbrochen das in einem einzigen Satz zusammengefaßte Friedhofserlebnis. Auch auf dem Postamt, beim Ausfüllen des Zahlscheins, habe ich die Erinnerung an das Begräbnis ständig im Kopf behalten. Aufgrund meiner Unkonzentriertheit vergaß ich das Eintragen der Kontonummer. Als mich der Postbeamte auf mein Versäumnis aufmerksam machte und mir den Zahlschein mit einem freundlichen Lächeln durch die Schalteröffnung zurückgab, sagte ich: "Entschuldigen Sie, ich habe die Leiche vergessen."

ANSTATT den Gedanken an die vollkommene Sinn- und Wertlosigkeit meines Schreibens in die Maschine zu tippen, bin ich in den Supermarkt einkaufen gegangen. Unterwegs konnte ich an nichts anderes denken als daran, zum erstenmal einen Gedanken nicht durch das Aufschreiben, sondern den Entschluß, einkaufen zu gehen, erledigt zu haben. Um nicht Gefahr zu laufen, die Formulierung dieser Erkenntnis zufolge irgendwelcher Ablenkungen zu vergessen, bin ich anstatt in den Supermarkt in eine Papierhandlung gegangen und habe mir einen Notizblock, einen Kugelschreiber und, obwohl ich das nicht vorgehabt hatte, eine Schachtel Zigaretten gekauft. Zu der durch das Aufschreiben zu erledigenden Tatsache, erstmals einen Gedanken nicht durch das Aufschreiben erledigt zu haben, war, abgesehen von dem mich als Gedanke nicht weiter belastenden Einkauf der Schreibgeräte, eine nur durch das Aufschreiben zu beseitigende Verwirrung über den Kauf der Zigaretten hinzugekommen, so daß ich mich unverzüglich nach einem zum Schreiben geeigneten Ort umsehen mußte, um nicht auch noch meine von Minute zu Minute wachsende Angst vor dem Vergessen nach deren Umwandlung in einen Gedanken aufschreiben zu müssen und in ein heilloses Gedankenchaos hineinzuschlittern, das ich auch schreibend nicht mehr hätte entwirren können. Kurz entschlossen bin ich in einen dem Papiergeschäft benachbarten Blumenladen gegangen und habe, den verdutzten Blicken der Verkäuferin und einer gerade anwesenden Kundin zum Trotz, sofort mit dem Schreiben begonnen. Das Vergessen meiner Verwirrung über den unbeabsichtigten Zigaretteneinkauf hätte ich mir niemals verzeihen können, weil sich daraus über kurz oder lang die Notwendigkeit einer Wiederholung des nicht durch das Aufschreiben erledigten Vorgangs ergeben hätte. Einerseits fürchte ich das Überhandnehmen der Erlebnisse als Ursache des Vergessens und der sich daraus zwangsläufig ergebenden Wiederholung, andererseits sehne ich mich nach immer neuen Erlebnissen als Voraussetzung für immer neue Gedanken und deren Erledigung durch das Schreiben.

OBWOHL ich, als mich nach dem Einschalten des Fernsehapparates unerwartet ein Gedanke durchzuckte, sofort aus dem Fernsehsofa, in dem ich es mir schon bequem gemacht hatte, aufgesprungen und zum Fernsehapparat hingestürzt bin, um die Ausschalttaste zu drücken, habe ich zufolge der Ablenkung durch das Fernsehen, in welchem gerade über eine Erdbebenkatastrophe berichtet wurde, den Gedanken nicht mehr festhalten können. Je mehr ich mich anstrengte, ihn mir ins Gedächtnis zurückzurufen, desto größer wurde meine Verzweiflung darüber, ihn vergessen zu haben. Schließlich bin ich, um nicht in Depression zu verfallen, in eine Bar gegangen, wo ich mit einem Mann, wie sich herausstellte, einem Angestellten der Wach- und Schließgesellschaft, ins Gespräch kam, der mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute, seine größte Leidenschaft sei das Beobachten von Menschen. Er trage immer einen Notizblock bei sich, schäme sich aber, vor allen Leuten seine Beobachtungen aufzuschreiben, und gehe deshalb zum Schreiben auf die Toilette, wo er sich aber oft nur noch ungenau an das, was er habe aufschreiben wollen, erinnern könne. Während ich überlegte, ob ich mir, ohne auf das Schamgefühl des Mannes Rücksicht zu nehmen, die Geschichte notieren sollte, fiel mir ein: Der Gedanke, den ich vergessen hatte, war ein Todesgedanke gewesen.

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Aus: André Müller, "Gedankenvernichtung", Verlag Christian Brandstätter, 1984