Frühstück mit Genscher



Es ist der 10. Januar, Mittwoch. Der Außenminister betritt das Auswärtige Amt mit gerunzelter Stirn. Sein Oberkörper ist den Beinen ein Stück voraus. Das Früh­stück mit dem Journalisten, zu dem er eilt, ist natürlich ein Arbeitsfrühstück. Das heißt, man kann es auch stehenlassen. Der Journalist, der mit dem Minister ein ZEIT-Gespräch führen will, tut so, als frühstücke er, während er in Wirklichkeit nachdenkt, was er als erstes fragen könnte. Noch steht die Mauer. Aber Ceausescu ist vor zweieinhalb Wochen erschossen worden. Neben dem Arbeitsfrühstück kennt der Minister auch das Arbeitsbegräbnis. Voraussetzung ist ein toter Politiker, um den man offiziell trauern darf. Das heißt, man tut so, als trauere man, um nach dem Begräbnis mit den anderen Trauerdarstellern zum Beispiel über die Nahostkrise zu reden. Der tote Ceausescu kommt dafür nicht in Frage. Der Journalist denkt, daß der Minister dem Diktator in Erfüllung seiner Pflicht die Mörderhand geschüttelt hat. Er überlegt, wie er diesen Gedanken in eine Frage verwandeln könnte, in der kein Vorwurf steckt. Denn natürlich liegt es ihm fern, dem dienstältesten Außenminister der Welt vorzuwerfen, daß er gelegentlich auch Menschen, die sich dann als Mörder entpuppen, die Hand schütteln muß.

"Ihr Kaffee wird kalt", sagt der Minister.

Der Journalist erinnert sich an sein letztes ZEIT-Gespräch mit Ernst Jünger, in dem von Hitler als Werkzeug der Geschichte die Rede war. Er führt die Kaffeetasse zum Mund. Immer geschehe das Notwendige, hatte Jünger erklärt, worauf er, der Journalist, mit der Frage hatte auftrumpfen können, ob somit das Böse, da es geschehe, notwendig sei. Jünger, der Fünfundneunzigjährige, hatte geschwiegen. Nicht jeder Gedanke müsse auch ausgesprochen werden, hatte er später gesagt. Hitler notwendig, denkt jetzt der Journalist, wobei er, ohne getrunken zu haben, die Tasse absetzt und in seinen Notizen zu wühlen beginnt. Ein Satz von Nietzsche ist ihm eingefallen. Er will sich vor dem Minister hinter Nietzsche verstecken. Er findet den Satz: Alles Gute ist die Verwandlung eines Bösen, jeder Gott hat einen Teufel zum Vater. Er spricht es nicht aus. In seinem Kopf überstürzen sich die Gedanken: Freud und Leid, Krieg und Frieden, Auschwitz und Wirtschaftswunder. Er murmelt: "Wittgenstein". Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen. Worüber, so fragt er sich, kann man mit einem Politiker sprechen, dem seine Popularität naturgemäß das Wichtigste ist?

Aus den Notizen des Journalisten ist ein Zeitungsfoto herausgefallen, das zeigt, wie der Minister sich eine Batman-Maske über die obere Gesichtshälfte stülpt. Nur noch Mund und Kinn sind zu sehen. Der Mund lacht. Der Minister ist für seinen Humor bekannt. Über seine großen Ohren darf man sich lustig machen, ohne daß er es übelnimmt.

"Nun fragen Sie mal!" ruft er und beißt in eine mit Butter bestrichene Semmel.

Während sich der Journalist nach dem Foto bückt, fällt ihm der Lieblingswitz von Franz Kafka ein. Ein Armer beklagt sich bei einem Reichen, weil er seit Tagen nichts mehr gegessen hat. Darauf der Reiche: Man zwingt sich. Nichts ist komischer als das Unglück, so Beckett im "Endspiel". Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang. Es soll ja ein Gespräch für den Kulturteil werden. Der Minister kaut mit Genuß. Er hat nur eine halbe Stunde Zeit. Wenn der Journalist nicht zu schweigen aufhört, wird er der Redaktion einiges zu erklären haben. Warum bekommt er den Mund nicht auf? Warum denkt er an Rilke statt zum Beispiel an Helmut Kohl, mit dem der Minister seit über zwanzig Jahren befreundet ist? Seine Miene erhellt sich. Er blättert wieder in seinen Unterlagen. Kohl ist die Rettung. Er sucht einen bestimmten Satz. Da, endlich, rot angestrichen: "Pessimismus trübt den Blick, lähmt Kräfte und raubt Lebensfreude." Trübt den Blick? Darüber ließe sich streiten. Raubt Lebensfreude? Der Journalist nickt. Der Minister unterbricht seine Kaubewegung.

"Habe ich etwas gesagt?"

Der Journalist schüttelt den Kopf. Er hat alle im Verlag "Bonn aktuell" erschienenen Reden des Ministers gelesen. Wenn der Minister im Fernsehen sprach, hat er Zettel und Bleistift bereitgelegt. Frieden, Freiheit, Menschenwürde, hat er in fliegen­der Eile notiert, Wachstum, Wohlstand, Wertegemeinschaft. Ein verirrtes Insekt kreist über dem Marmeladeglas. Der Minister schaut auf die Uhr: noch fünfzehn Minuten. Die Stille macht ihn nervös. Das Nichtstun weckt dunkle Erinnerungen. In jungen Jahren hat er sich einer Liegekur unterziehen müssen. Eine lebensgefährliche Tuberkulose hat ihn geprägt. Seit­her denkt er im Liegen, Sitzen und Stehen oft an den Tod. Am liebsten ist er in Fortbewegung. Im Auto, im Flugzeug und sogar im Hubschrauber kann er gut schlafen, weil es da, so gestand er es BILD, wie in einer Wiege schön schaukelt. 1984 vollführte er in seinem Dienstmercedes auf Glatteis einen drei­fachen Salto. Drei Jahre zuvor war er schon gegen eine Gartenmauer geprallt. Zwei Herzinfarkte und zahllose Schwächeanfälle vor laufenden Kameras haben die Öffentlichkeit, sofern sie ihm gerade gewogen war, mit Sorge erfüllt. 1982 hat er die Koalition gewechselt und wurde deshalb als Hagen (der Siegfried tötete), Judas und Wackelpudding beschimpft. Das hat ihm weh getan. Denn der Minister braucht wie jeder Mensch Liebe. Liebt man ihn nicht, nascht er heimlich Pralinen.    

Über das Nichtstun und das dadurch zwangsläufig hervorgerufene Denken würde sich der Journalist mit dem Minister gern unterhalten. Er könnte dann endlich seinen Lieblingspessimisten, den Schriftsteller Thomas Bernhard, zitieren, der in "Auslöschung", seinem dicksten Buch, behauptet: "Dem Geistesmenschen ist das sogenannte Nichtstun ja gar nicht möglich, der Geistesmensch ist am allertätigsten, wenn er sozusagen nichts tut." Ist der Minister ein Geistesmensch?

Das ist die Frage, deren Beantwortung der Zeitungsleser mit Recht erwartet. Wie klug oder wie dumm muß ein Politiker sein, um unentwegt Optimismus verbreiten zu können? Als Pessimist kann er keine Wahlen gewinnen. Verstellt er sich? Ist er im stillen verzweifelt? Überfällt ihn des Nachts der Alptraum seiner Machtlosigkeit? Am Tag muß er voll Zuversicht in Flugzeuge steigen, über rote Teppiche schreiten, an Konferenztischen lächeln, Kränze feierlich niederlegen, mit gebührendem Ernst, aber um Himmels willen nicht depressiv zum Hunger in der Dritten Welt, zum Ozonloch oder zum Meeresschutz Stellung nehmen. Von Balkonen darf er winken, machtvoll be­scheiden, staatsmännisch volksnah, väterlich dienend. Gottesfürchtig soll er sein, aber nicht schicksalsergeben. Wehe, es unterläuft ihm das Eingeständnis, daß er für nichts eine Lösung hat! Wehe, er denkt zu viel nach und erkennt, daß Freiheit aus Gefangenschaft, Frieden aus Krieg, Aufbau aus Zerstörung entsteht! Der Politiker ist kein Spielverderber. Der Journalist nippt am Grapefruitsaft.

"Leben heißt nicht denken", entfährt es ihm un­vermittelt.

Wo hat er bloß diesen Satz wieder her? Der Minister schluckt rasch hinunter. Noch fünf Minuten.

"Was du vernichten willst", sagt der Journalist dem Minister direkt ins Gesicht, "das mußt du erst richtig aufblühen lassen. Die schönste Harmonie erfolgt auf dem Wege des Streits. Krankheit macht Gesundheit süß. Der Not ist jede Lust entsprossen. Es nährt das Leben vom Leide sich."

Der Minister lauscht aufmerksam. Er ist dem Journalisten sympathisch, denn er hat schon immer an die Einheit geglaubt. Er hört gern Heino, aber auch Händel und Dvorak. Er liest Karl May, aber auch Kleist. In Thomas Manns "Zauberberg" hat er sich wiedererkannt. Er ist Fußballfan und besucht die Festspiele von Bayreuth und Salzburg. Seine Lieblingsspeise ist Hammelfleisch mit grünen Bohnen und Speck, sein Lieblingstier der Elefant. Der Journalist schüttet den Grapefruitsaft in die Kaffeetasse.

"Es gibt ja nur Gescheitertes", erklärt er dem erstaunten Minister. "Der Mensch ist ein krankes Tier. Derjenige, der unendlich resigniert hat, der ist sich selbst genug. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann. Sinnen auf den Tod ist Sinnen auf Freiheit. Denn alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht."

"Goethe!" ruft da der Minister.

Das Insekt ist in die Marmelade gefallen. Der Journalist streicht Butter auf seinen Kassettenrecorder. Der Minister tupft sich mit der Serviette die Lippen ab, steht auf und verläßt fluchtartig, aber gemessenen Schrittes den Raum. Eine unbegreifliche Heiterkeit erfaßt plötzlich den Journalisten. Mit dem Buttermesser rettet er das Insekt, das im Marmeladeglas zu ersticken droht. Die Marmelade, denkt er, ist für das Insekt so etwas wie für den Menschen ein Sumpf. Je verzweifelter es versucht, sich zu befreien, desto schneller versinkt es. Der Journalist ist für das Insekt gleichsam der liebe Gott. Indem er es rettet, läßt er ein Wunder geschehen. Das würde er gern dem Minister erzählen. Er möchte seine Freude mit dem Minister teilen. Zu spät! Sein Blick gleitet über das frische Gebäck, den kleinen Teller mit Butterröllchen, die Wurst- und die Käsescheiben, die Zuckerdose, das Sahnekännchen. Damit nicht alles vergeblich war, bricht er, nachdem er sich vergewissert hat, daß das Tonband noch läuft, in schallendes Gelächter aus.

(erschienen in der ZEIT am 19. Oktober 1990)