Sie gelten als der seit Brecht bedeutendste deutschsprachige Bühnenautor,
werden aber in letzter Zeit fast nur noch verrissen. Ist das kein Widerspruch?
FRIEDRICH DÜRRENMATT: Nein, wieso? Das ist doch ganz wurst. Das passiert jedem.
Nehmen Sie Beethoven, das beste Beispiel. Der war nach der fünften Sinfonie
abgeschrieben. Bei den Quartetten, da saßen die Leute und sagten: Was ist
denn nur mit dem Beethoven los? Den hat man doch zuletzt wie einen Trottel
behandelt.
Lesen Sie, was die Kritiker über Sie schreiben?
DÜRRENMATT: Fast nie. Mich mit den Kritikern auseinanderzusetzen, das kann
ich mir schon aus gesundheitlichen Gründen nicht leisten. Das ist eine vollständig
unnütze Sache. Das Komische ist, daß einen diese Leute dann immer besuchen
wollen. Der Kritiker Hensel* zum Beispiel fragte furchtbar besorgt bei mir
an, ob er vorbeikommen dürfe. Darauf sagte ich: Warum nicht? Der hatte gedacht,
ich schmeiße ihn raus. Aber das Peinliche war, daß ich seine Kritiken gar
nicht gelesen hatte. Oder Joachim Kaiser: Der rief sehr gequält an, und dann
kam er und holte sich einen Rat über Weine, ganz zaghaft.
Die schlimmsten Verrisse bekamen Sie für Ihr Stück "Der Mitmacher",
das 1973 in Zürich uraufgeführt wurde. Friedrich Luft nannte es "kindisch",
Reinhart Baumgart "eine Mischung aus Strindberg und Millowitsch",
und Günther Rühle fand darin nur noch Zynismus, Menschenverachtung und "eine
Häufung von Leichen".
DÜRRENMATT: Ich weiß gar nicht, warum mir immer nachgesagt wird, daß ich die
Menschen verachte. Das hat auch Ludwig Marcuse einmal behauptet, ein Mann,
den ich sehr schätze.
Vielleicht deshalb, weil in Ihren Stücken, die Sie als Komödien ausgeben,
reihenweise Menschen umgebracht werden.
DÜRRENMATT: Aber das stimmt doch gar nicht. Das ist ein reines Gerücht. Ich
habe viel weniger Leichen als Shakespeare, weil ich zum Beispiel nie Schlachten
beschrieben habe. In "Herkules und der Stall des Augias" ist überhaupt
keine Leiche, in "Play Strindberg" auch nicht. Das Stück "Der
Meteor" hat vier Leichen, gut, aber das ist doch mäßig. In meiner Bearbeitung
des "Titus Andronicus" kommt sogar ein Neger, der bei Shakespeare
stirbt, mit dem Leben davon. Da habe ich mich also zurückgehalten. Aus mir
einen Komödien-Eichmann zu machen, das geht nicht. Aber ich brauche ja meine
Stücke nicht zu verteidigen. Ich habe mich nie darum gekümmert, was andere
über mich sagen.
Hoffen Sie auf das Verständnis der Nachwelt?
DÜRRENMATT: Ich hoffe gar nichts. Ich weiß doch nicht, ob unsere Kultur überhaupt
weitergeht. Der Gedanke, über den eigenen Tod hinauszuschreiben, ist für mich
genauso abstrus wie der Gedanke an das Nichts. Das Nichts ist einfach eine
denkerische Fehlleistung wie auch die Ewigkeit, weil das abstrakte Begriffe
sind, die aus dem Mathematischen kommen. Ich schreibe nicht für die Ewigkeit,
sondern um Geld zu verdienen. Das meiste, was ich geschrieben habe, war Brotarbeit.
Ich habe ja in allen Sparten geschrieben, Hörspiele, Kabarett, Kriminalromane,
was Sie wollen.
Haben Sie auch die Theaterstücke nur zum Geldverdienen geschrieben?
DÜRRENMATT: Natürlich spielte das auch bei den Stücken eine gewisse Rolle.
Den "Besuch der alten Dame" habe ich in einer finanziellen Zwangslage
geschrieben. Die Urfassung war völlig anders, aber die wäre für das Theater
nicht brauchbar gewesen. Deshalb habe ich es dann umgeschrieben. Ursprünglich
war das eine sehr groteske Geschichte. Da fährt ein Bauer, der in Amerika
sehr viel Geld gemacht hat, mit einem riesigen Cadillac durch ein verschneites
Bergtal in das Dorf, wo er herstammt, und will die Bewohner beschenken. Aber
dann sieht er in der Wirtsstube den Mann, der ihm, als er jung war, sein Mädchen
ausgespannt hat, und nun verlangt er aus einer Laune heraus, die Leute sollen
diesen Mann töten, dafür bekämen sie die Millionen. Die Dorfbewohner sind
sofort einverstanden, aber als sie den Mann dann erschlagen wollen, gibt es
eine Mondfinsternis, so daß sie Angst haben, die Welt gehe unter, und auf
die Knie fallen und beten. Aber als der Mond dann wieder hervorkommt, schlagen
sie doch zu. So etwas hätte man auf der Bühne gar nicht darstellen können.
Deshalb habe ich den reichen Bauern in die alte Dame verwandelt, die heimkehrt,
um an ihrem Geliebten, der sie vor vielen Jahren hat sitzenlassen, Rache zu
nehmen. Also die hat ein Motiv. Das war in der ursprünglichen Fassung nicht
da.
Ist Ihnen das plötzlich so eingefallen, oder haben Sie es im Hinblick auf
die dramatische Wirkung, die Sie erreichen wollten, ganz bewußt konstruiert?
DÜRRENMATT: Das kann man gar nicht so trennen. Die Phantasie hat ja ungeheuer
viel mit Logik zu tun. Wenn Sie zwei sehr starke Konzepte haben, kann aus
denen sprungartig eine logische Verbindung entstehen. Das kann man rein physikalisch
erklären. Das ist wie Elektrizität, wenn Sie eine positive und eine negative
Ladung zusammenschließen. Der Einfall ist ein Sprung, den Sie machen.
Also keine Erleuchtung von oben?
DÜRRENMATT: Nein, nicht von oben. An so etwas habe ich nie glauben können.
Trotzdem haben Sie sich einmal als einen religiösen Menschen bezeichnet.
DÜRRENMATT: Ja, sicher. Aber was heißt religiös? Wenn Sie das Religiöse begrifflich
erfassen wollen, ist es schon weg. Ich glaube, die größte Erkenntnis des Christentums
ist die, daß Gott der Mensch ist. Aber da kommen wir jetzt ganz schwer ins
Philosophieren. Darüber habe ich mit meinem Vater, der Pfarrer war, sehr oft
gesprochen. Das war unser dauerndes Thema. Mein Vater hatte furchtbare Angst
vor dem Sterben. Das konnte ich nicht begreifen. Er hatte Angst vor diesen
Höllenvorstellungen, obwohl er ein ungeheuer gütiger Mensch war und ein ganz
strenger Abstinenzler. Am Schluß wurde das langsam lustig. Jede Weihnacht
geschah immer das gleiche, daß er sagte, es sei seine letzte Weihnacht. Aber
er ist dann vierundachtzig Jahre geworden und ganz sanft gestorben. Auch meine
Mutter ist unglaublich alt geworden, fast neunzig. Die größeren Konflikte
hatte ich eigentlich mit meiner Mutter, weil mich ihre Idee einer ständigen
Verbindung mit dem Himmel wahnsinnig störte, diese Art von bäurischer Frömmigkeit.
Sie war ja Bauerstochter. Wenn ich Erfolg hatte, dann sagte sie immer, das
käme daher, daß sie gebetet hatte. Sie war da vollkommen naiv. Mein Vater
war mehr ein gelehrter Typ. Der hat nur ein einziges Mal versucht, mich zu
überreden, Pfarrer zu werden, und als ich ablehnte, war die Sache für immer
erledigt.
Stimmt es, daß Sie als Kind den Wunsch hatten, Oberst zu werden?
DÜRRENMATT: Nein. Das hat ein Freund meines Vaters gesagt, als er meine Zeichnungen
sah. Ich habe als Kind furchtbar gern Schlachten gezeichnet und bin mit einer
Bohnenstange als Lanze herumgegangen. Meine Phantasie war ganz bildhaft. Eine
typische Geschichte ist, wie mir meine Mutter einmal ein Buch gezeigt hat:
Da war der Tod abgebildet in Gestalt eines Gerippes, und als ich sie fragte,
was das sei, sagte sie, um mich nicht zu erschrecken, das sei Kaiser Wilhelm.
Monate später fuhren wir einmal nach Bern, dort gab es ein großes Warenhaus,
das hieß "Kaiser", und als meine Mutter sagte, sie gehe zum Kaiser,
fing ich an, laut zu brüllen und schrie ununterbrochen: »Ich will nicht zum
Kaiser Wilhelm.« Da hatte ich also noch immer dieses Gerippe vor Augen.
In welchem Alter war das?
DÜRRENMATT: Da muß ich so drei Jahre gewesen sein.
Haben Sie so früh schon begriffen, was Sterben bedeutet?
DÜRRENMATT: Nein, das kam später. Das habe ich zum erstenmal in der Metzgerei
des Dorfes begriffen, in dem ich aufwuchs**. Da sind wir immer zuschauen gegangen,
wenn die Tiere geschlachtet wurden. Als ich vor einigen Jahren einer Leichenöffnung
beiwohnte, war da der gleiche Geruch wie in dieser Metzgerei. Da sah ich das
plötzlich wieder ganz deutlich vor mir. Ich bin dahintergekommen, daß sich
die Motive, die ich in meinen Erzählungen und Stücken verwende, auf ganz bestimmte
Urerlebnisse zurückführen lassen. Das Schreiben besteht ja aus Rückspiegelungen.
Das erste Grundmotiv, das ich gefunden habe, ist das Labyrinthische, das heißt
in einer Welt leben zu müssen, die ich niemals durchschauen werde, mit der
ständigen Angst, daß hinter der nächsten Ecke der Minotaurus hervorspringt.
Ich fürchtete mich als Kind zum Beispiel vor dunklen Orten. Wenn Gäste kamen,
mußte ich immer oben im Estrich schlafen, da hatte ich ein Pfadfindermesser
unter dem Kissen. Aber eigentlich war diese Angst ein ganz tolles Gefühl,
beinahe erotisch. Ein anderes Urerlebnis, das ich hatte, war ein Unfall. Da
wurde ich bereits in der Zeitung als tot gemeldet. Ich war mit dem Rad in
ein Motorrad gefahren, und ich weiß noch, ich lag da am Boden und wiederholte
dauernd die Worte: Ich will nicht sterben. Also es gab bei mir schon sehr
früh eine Todesangst, andererseits aber auch eine große Faszination für alles,
was mit dem Sterben zu tun hat. Ich kann mich noch genau an den Tod meiner
Großmutter erinnern und wie sie aufgebahrt wurde. Das hat mich ungeheuer beeindruckt.
Ich war ja durch den Beruf meines Vaters dauernd von Leichen umgeben. Wenn
meine Eltern etwas miteinander besprechen mußten, gingen sie auf dem Friedhof
spazieren. Wir Kinder spielten dann immer in den frisch ausgehobenen Gräbern.
Ein anderes Thema, das Sie häufig behandelt haben, ist Gerechtigkeit und Vergeltung.
DÜRRENMATT: Ja, das hat Gründe.
Sind Sie als Kind oft verprügelt worden?
DÜRRENMATT: Ach, wissen Sie, als Sohn eines Dorfpfarrers sind Sie natürlich
eine Verlockung. Es gab da eine bestimmte Bande von Jungen, für die war es
besonders reizvoll, den Pfarrerssohn zu verprügeln. Die haben mir aufgelauert,
wenn ich zur Schule ging. Ich habe dann immer tollere Schleichwege erfunden.
Das Merkwürdige ist, daß die Namen dieser Kerle fast überall in meinen Büchern
vorkommen. Ich hatte sie längst vergessen, da finde ich plötzlich in einem
Kriminalroman, den ich vor vielen Jahren geschrieben habe, einen Polizisten,
der genauso heißt wie eines dieser Bandenmitglieder. Dummerweise gibt es auch
einen Theaterkritiker mit diesem Namen. Der meint nun, das sei auf ihn gemünzt,
was natürlich ganz blöd ist.
Sind Sie auch von Ihrem Vater geschlagen worden?
DÜRRENMATT: Nein, nie. Mein Vater war vollkommen gewaltlos. Das Gefühl der
Rebellion, das ich als mein zweites Grundmotiv ansehen möchte, ist viel mehr
durch die Schule entstanden. Die Schule war für mich etwas Entsetzliches,
dieses Gehorchen-Müssen, das habe ich als fortwährende Bedrückung empfunden.
Daraus ist dann auch das Motiv der Rache entstanden. Die erste, unreflektierte
Form der Rebellion ist ja die Rache. Man will sich für etwas rächen, was einem
in der Kindheit angetan wurde.
Wollen Sie damit sagen, daß die Idee der Revolution nicht auf politische,
sondern auf private Beweggründe zurückgeht?
DÜRRENMATT: Ja, das ist bei Marx doch ganz deutlich. Das Verrückte bei Marx
ist seine Herkunft. Der Vater stammte aus einer streng orthodoxen Rabbinerfamilie,
ist aber zum Luthertum übergetreten und war dann ein treuer, preußischer Staatsbeamter.
Auf der einen Seite haben Sie bei Marx den Widerstand gegen das Jüdische,
der sich darin äußert, daß er den Erlösungsgedanken in eine scheinbar politische
Lehre verdreht hat, auf der anderen Seite den Aufstand gegen das Preußentum,
das der Vater verkörpert. Die Idee der Weltverbesserung ist die sublimierte
Rache an seinem Vater. Das Politische war nur Vorwand. Deshalb war es auch
auf die Realität nicht übertragbar. In dem Moment, wo eine Idee zur Ideologie
wird, ist sie schon zum Scheitern verurteilt, denn man kann sich ja nicht
verallgemeinern. Letzten Endes kann man nur über sich selbst etwas sagen.
Ist die Verzweiflung über dieses Scheitern die Ursache des Terrorismus?
DÜRRENMATT: Nein, denn die Terroristen sind doch gar nicht verzweifelt. Ich
meine, was ist Verzweiflung? Das ist doch eigentlich ein Gefühl der Lähmung.
Wenn ich verzweifelt bin, dann gehe ich in das Unbegreifliche. Das ist wie
das schwarze Loch. Dann kann ich auch keine Bomben mehr schmeißen.
Nein, aber der Ausweg aus der Verzweiflung sind eben die Bomben.
DÜRRENMATT: Ich weiß nicht. Verzweiflung ist eine Aussage, die sehr schwer
zu machen ist, weil sie rein subjektiv ist. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit.
Der Terrorist lebt in einer rauschhaften Welt. Er sucht das Abenteuer. Das
ist wie im Krieg. Das Erschreckende am Krieg ist ja, daß er für die, die ihn
mitgemacht haben, immer noch das tollste Erlebnis ist, das sie hatten. Auf
diese Weise wird dann immer alles erträglich. Das Schwierigste, was zu ertragen
ist, ist ja die Langeweile. Indem Sie etwas tun, sind Sie schon nicht mehr
in der Verzweiflung.
Sind Sie jemals in eine Situation geraten, in der Sie nichts mehr tun, auch
nicht mehr schreiben konnten?
DÜRRENMATT: Ja, das war, als ich meinen ersten Herzinfarkt hatte. Was mich
daran am meisten erstaunt hat, war, daß ich überhaupt keine Angst verspürte.
Das war das Erlebnis einer vollkommenen Gleichgültigkeit. Ich habe mir alle
Diagnosen gestellt, man kennt sich ja heute total aus in diesen Dingen. Der
ganze linke Arm war gelähmt. Aber ich habe nichts unternommen. Ich weiß noch,
ich hatte so einen kleinen Hund bei mir. Nebenan schlief meine Mutter. Das
Wahnsinnige ist, daß ich, um mich abzulenken, irgendein Buch, das mich gar
nicht interessierte, gelesen habe. Erst als die Schmerzen ganz grausam wurden,
habe ich meinen Sohn angerufen und mich zum Arzt fahren lassen. Aber das war
natürlich auch keine Verzweiflung im philosophischen Sinne. Ich weiß eigentlich
gar nicht, ob es das überhaupt gibt. Gut, ich habe einmal ein ganzes Drama
verbrannt, weil ich es nicht mehr gut fand, und ich habe auch andere Dinge
zerrissen, die ich geschrieben hatte. Aber das nenne ich nicht Verzweiflung.
Natürlich nicht, denn da waren Sie ja mit der Vernichtung Ihrer Werke beschäftigt.
DÜRRENMATT: Ja, eben. Für mich ist "Verzweiflung" einfach ein zu
romantisches Wort. Das ist wie Beethoven im Sturm. Oder nehmen Sie Richard
Wagner. Den habe ich auch noch nie leiden können. Meine Frau*** sagt immer,
das sei die beste Musik zum Reinemachen. Beim Staubsaugen legt sie am liebsten
den Walkürenritt auf, ganz laut. Im Gymnasium haben wir einmal die Venusbergmusik
mit Gesang gemacht, so tatatata tari tara, Stimmen statt Instrumente. Das
ist für mich die ideale Puffmusik. Da stelle ich mir den Wagner als Mimen
vor, wie er seine Cosima, die für ihn viel zu groß war, erotisch beackert.
Das ist ein Wagnerischer Geschlechtsverkehr. Komischerweise sind ja die größten
Wagner-Fans die Franzosen. Das ist eine Frage der Mentalität. Für einen Schweizer
ist das einfach viel zu pathetisch. Uns fehlt auch dieser Hang zum Genialen.
Wir haben hauptsächlich die Uhr entwickelt, dann die chemische Industrie,
Valium, DDT und vor allem das LSD. Der Schweizer sieht das Leben mehr von
der praktischen Seite. Man macht Kinder, man baut ein Haus, man pflanzt Bäume,
die muß man dann wieder umlegen. So ist das. Als ich letzte Woche wieder in
dem Dorf war, wo ich geboren wurde, habe ich einen Schulfreund getroffen,
mit dem ich immer die Rinder gehütet hatte, der saß auf seinem Traktor, weißhaarig
wie ich, und als ich ihn fragte, wie viele Kinder er habe, sagte er zwölf,
und dann zeigte er auf einen Knaben und sagte, das sei sein sechzehnter Enkel.
Da kam ich mir ganz beschissen vor, denn ich habe nur drei Kinder' und erst
zwei Enkel.
Sind Ihnen die Kinder wichtiger als Ihre Bücher?
DÜRRENMATT: Nein. Meine Frau wollte unbedingt Kinder. Es ist unglaublich,
wie groß das Bedürfnis der Frauen ist, Kinder zu haben. Kinder sind ja für
die Frau viel wichtiger, als der Mann es je sein kann. Die sind einfach viel
mehr ein Teil von ihr. Für den Mann sind Kinder etwas völlig Abstraktes. Ich
bin bei der Geburt meiner Kinder dabei gewesen. Für mich war das eine ungeheure
Groteske, wie da ein Wesen herauskommt aus einem anderen Wesen. Das ist ganz
surrealistisch. Das kann eine Frau nie so erleben. Die erlebt es mit Schmerzen
und einer Art Wut. Der Mann ist Zuschauer. Der erlebt es als ein Naturereignis,
eine Verrücktheit, auch bei Tieren. Ich bin auch jedesmal fasziniert gewesen,
wenn in unserem Dorf ein Kalb zur Welt kam.
Waren Sie stolz darauf, Vater zu werden?
DÜRRENMATT: Ja, ungeheuer, beim ersten Kind, da wird man ja größenwahnsinnig.
Meine Frau war viel ruhiger. Bis unmittelbar vor der Geburt haben wir uns
Witze erzählt, weil meine Frau, als die Wehen einsetzten, dachte, es sei nur
eine Magenverstimmung. Ich habe sie dann mit Zwang ins Spital bringen müssen.
Wie wichtig ist Ihre Frau für das Schreiben? Ist sie die Muse, die Ihren Geist
beflügelt?
DÜRRENMATT: Da ärgert sie sich immer, wenn ich das sage. Sie ist mein täglicher
Gesprächspartner. Ich entwickle sehr viel im Sprechen. Sie hört zu. Manchmal
hat sie auch Einwände, aber sie ist eher musikalisch gebildet. Sie spielt
Klavier. Ich interessiere mich mehr für Philosophie. Ich habe ja Philosophie
studiert. Gegenwärtig beschäftige ich mich wieder mit Leibniz, mit dem Problem,
inwiefern kann man von der Mathematik her eine Metaphysik errichten, aber
nicht im Hegelschen Sinne. Ich bin ein großer Antihegelianer. Ich muß immer
lachen, wenn ich sehe, wie die Studenten heute gleich mit Hegel anfangen.
Ich habe den Hegel an die Wand geknallt, weil ich ihn nicht verstanden habe.
Meine erste Gymnasiallektüre war "Der Einzige und sein Eigentum"
von Max Stirner. Dann kam Nietzsche, dann Schopenhauer. Von Schopenhauer wurde
man neugierig auf Kant, und erst nach Kant kam Hegel.
Sind das die Dinge, über die Sie sich mit Ihrer Frau unterhalten?
DÜRRENMATT: Ja, auch. Aber das Philosophieren ist doch mehr eine Sache der
Männer. Es gibt ja kaum Frauen unter den Philosophen, weil Frauen ganz anders
denken. Die Frau hat das Denken im männlichen Sinne nicht nötig. Sie hat auch
die Kunst viel weniger nötig, das Hervorbringen von Werken. Sie ist viel mehr
an den Leib gebunden, denn sie ist biologisch der Boden. Der Mann ist in gewissem
Sinn überflüssig, eine ungeheure Verschleuderung der Natur. Das ist sein Manko,
das er ausgleichen muß durch geistige Arbeit. Ich bin gerade dabei, darüber
etwas zu schreiben. Zehn Minuten von hier gibt es eine der größten Samenbanken
der Welt, die besitzt ungefähr 500 Stiere, die kommen zu fünfzig Stück jeden
Tag an eine Kette, werden an Gestelle, die sie für Kühe halten, herangeschoben
und angezapft. Die merken gar nicht, daß das keine Kühe sind, sondern bloß
Beutel, die 38 Grad Wärme, also die Temperatur einer Vagina, haben, da fahren
sie einmal rein und wieder raus, das geht blitzschnell, und das ergibt eine
Samenzahl von etwa 3,6 Milliarden. Zur künstlichen Befruchtung einer Kuh braucht
man aber nur 2,7 Millionen, so daß mit der Flüssigkeit einer einzigen Ejakulation
über tausend Kühe besamt werden können. Das wird in einem Laboratorium mikroskopisch
sortiert, das machen Mädchen, schön geschminkt, die bringen das zu einer Maschine,
wo es dann zu kleinen Stäbchen gepreßt wird. Diese Stäbchen kommen in ein
Bad aus flüssigem Stickstoff und werden bei minus 145 Grad eingefroren. Da
gibt es einen Katalog, in dem wird jeder Samenspender genau beschrieben. Nach
acht Monaten wird so ein Stier abgeschlachtet, aber noch fünfzig Jahre nach
seinem Tod werden mit seinem Samen Kühe befruchtet. Die Bauern brauchen sich
heute gar keinen Stier mehr zu halten. Die männlichen Kälber kommen gleich
in die Fleischverwertung.
Glauben Sie, man wird das eines Tages auch auf Menschen anwenden?
DÜRRENMATT: Warum nicht? Da gibt es dann eine Aktion, wo Sie ganz billig Dürrenmatt
kaufen können oder Max Frisch. Das können Sie dann auch miteinander mischen.
Aber ein Mann ist doch kein Stier. Er kann sich verweigern.
DÜRRENMATT: Das gelingt nicht. Der Mann ist immer verführbar. Gut, er kann
sich sterilisieren lassen. Aber viel naheliegender ist es, daß die Verweigerung
von den Frauen ausgeht, weil die Frau die Gescheitere ist.
Das erinnert mich an einen Satz, den Sie 1948 geschrieben haben. Da heißt
es, wenn alle Frauen siebzig Jahre lang nicht mehr gebären wollten, dann könnte
die Natur von vorne anfangen.
DÜRRENMATT: Ja, das wäre doch jetzt mit der Pille ganz einfach. Außerdem besitzt
die Frau erotische Fähigkeiten, die der Mann nicht hat. Mit Hilfe der Liebeskunst
käme sie ganz leicht um das Kinderkriegen herum.
Aber das will sie doch gar nicht. Die Frau ist doch, wie Sie selbst sagen,
viel mehr diejenige, die den Wunsch hat, sich fortzupflanzen, während der
Mann, der begriffen hat, daß man gegen die Bevölkerungsexplosion etwas tun
muß, seinen Geist einsetzen könnte, damit nicht so viele Kinder geboren werden.
DÜRRENMATT: Moment, nein, in der Sexualität hört bei mir der Geist auf. Die
Sexualität hat der Mensch mit dem Tier gemeinsam. Was ihn vom Tier unterscheidet,
ist die Erkenntnis des Todes. Die erste große Entdeckung des Menschen war
die, daß er sterben muß. Das hat das Tier nicht. Damit begann eigentlich die
Philosophie. Stellen Sie sich einmal vor, der Mensch der Urzeit, dieser Raubaffe,
der viel schwächer war als die Tiere, nach denen er jagte, erlangt plötzlich
dieses Bewußtsein des eigenen Todes. Was das für eine Hemmung bedeutet, können
Sie sich ja denken. Über diese Barriere kam er nur mit Hilfe der Metaphysik,
also indem er alles beseelte und die Seele für unsterblich erklärte. Die Sexualität
war nie das Problem, denn sie ist ja gerade die Erlösung von diesem Todesbewußtsein,
weil sie das Denken ausschließt. Die Sexualität ist das größte Erlebnis des
Augenblicks. Deshalb ist sie eben das Problemlose an sich.
Ja, wenn sie funktioniert.
DÜRRENMATT: Natürlich. Aber das wird doch erst schwierig im Alter oder wenn
man verklemmt ist. Nietzsche sagt, alle Lust will Ewigkeit. Das ist ein typisch
verklemmter Gedanke, weil ja das Denken an die Zeit, also auch die Ewigkeit,
im Augenblick der Lust gar nicht da ist.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen künstlerischer Produktivität und sexueller
Verklemmung?
DÜRRENMATT: Sicher ist da ein Zusammenhang. Bei mir ist an die Stelle dieser
Verklemmung meine Krankheit getreten, das ständige Wissen, daß mein Körper
krank ist. Ich bin seit über dreißig Jahren schwer zuckerkrank, und ich weiß,
es ist unheilbar. Man soll mir keine Märchen erzählen. Wahrscheinlich habe
ich es schon 1942 bekommen als Folge einer infektiösen Gelbsucht. Also ich
muß damit leben. Das ist meine Verklemmung. Wenn ich nicht krank wäre, würde
ich vielleicht gar nicht schreiben. Man braucht eine Bremse, um den Motor
in Gang zu halten. Ein totales Triebleben tötet die Phantasie. Das ist eine
Sache der Ökonomie. Gerade in der Zuckerkrankheit ist Ökonomie eine wichtige
Komponente, weil Sie es sehr oft satt haben, dauernd Diät zu halten. Plötzlich
fangen Sie an zu fressen. Da überfällt Sie eine ungeheure Lebensgier. Da sind
Sie auf einmal wie Falstaff, und da ist es Ihnen auch ganz egal, ob Sie damit
Ihr Leben riskieren. Sie können ja nicht dauernd so eingeschränkt leben. Ich
darf fast nichts essen, keine Kohlehydrate, kein Brot, keine Kartoffel, keinen
Reis, keine Süßigkeiten. Mit dem Rauchen habe ich schon vor zehn Jahren aufhören
müssen. Wein darf ich nur in gewissen Mengen trinken. Die Gefahr des Weines
liegt darin, daß ich in den Unterzucker gerate. Ich schwanke ständig zwischen
zwei gleich großen Gefahren, dem Koma wegen zuviel und dem Koma wegen zuwenig
Zucker. Beides habe ich schon erlebt. Bei einem Flug nach New York bin ich
einmal in den Unterzucker gekommen. Nachher hat meine Frau mir erzählt, was
ich alles aufgeführt hatte. Man wird total überdreht, und man weiß nichts.
Man verliert das Gedächtnis. Ich bin in die Pilotenkabine gestürzt, und als
man mich mit einer Spritze beruhigen wollte, habe ich die Ärzte gegen die
Wand geschmettert. Das Umgekehrte, wenn Sie zuviel Zucker haben, ist eine
vollständige Lähmung. Ich habe schon drei Herzinfarkte erlitten. Aber ich
möchte über meine Krankheit nicht so viel reden.
Warum nicht?
DÜRRENMATT: Ach herrje, das wird dann so medizinisch. Ich bin doch jemand,
der seine Erlebnisse ständig verwandelt. Ich schreibe ja nicht über mich,
sondern erzeuge Bilder. Ich bin ein Bildererzeuger. Die Erlebnisse sind nur
das Material oder das Benzin für die Maschinerie, die mich ausmacht. Ein Schriftsteller
ist eine Verwandlungsmaschine, die sich anreichert und abstrahlt. Da kommen
wir wieder auf die Ökonomie. Ich darf nur so viel erleben, wie ich in der
Lage bin zu verwerten. Ich erkläre das am liebsten am Beispiel der Sonne.
Eine Sonne ist so lange stabil, solange der Druck des Gases, das den Drang
hat, sich auszudehnen, und die Schwerkraft ein Gleichgewicht bilden. Wenn
der Gasdruck siegt, explodiert die Sonne, und wenn die Gravitation siegt,
fällt sie in sich zusammen, das ist ganz einfach. So gibt es auch beim Menschen
zwei einander entgegengesetzte Bestrebungen, eine Bestrebung der Vitalität,
die keine Grenzen will, so daß man mit jeder schönen Frau, die man haben kann,
schlafen möchte, und eine Bestrebung, die einen zusammenhält, damit man produktiv
bleibt.
Haben Sie neben Ihrer Ehe Liebesbeziehungen?
DÜRRENMATT: Schaun Sie, ich bin seit vierunddreißig Jahren verheiratet. Natürlich
habe ich hin und wieder Frauengeschichten, aber sehr selten, weil mich das
einfach zerreißen würde. Das ist eine Frage des Wesens, also was man für ein
Mensch ist. Eheschwierigkeiten deprimieren mich in einem Maße, daß ich das
auf die Dauer gar nicht aushalten könnte. Wenn ich einen Seitensprung gemacht
habe, habe ich immer sofort mit meiner Frau darüber gesprochen. Ich könnte
das gar nicht verheimlichen. Da gibt es dann, sagen wir mal, einen Krach.
Aber das ist irgendwie auch befreiend für beide.
Henry Miller hat behauptet, die Ehe sei der Tod der Liebe.
DÜRRENMATT: Ach, der Miller war, glaube ich, ein großer Romantiker. Denn was
heißt Liebe? Die Liebe ist, wenn Sie so wollen, ein Bauelement. Wenn Sie darauf
aus sind, sich eine Behausung und ein geordnetes Leben zu schaffen, müssen
Sie eine Grundlage haben. Für mich ist auch typisch, daß ich seit 1952 immer
am selben Ort bin. Das hängt mit meiner Arbeit zusammen. Ich muß mich einrichten.
Ich kann zum Beispiel auf Reisen nicht schreiben. Da gibt es einfach Notwendigkeiten.
Nehmen Sie Kant, der fast überhaupt nie gereist ist.
Wann haben Sie sich entschlossen, Schriftsteller zu werden?
DÜRRENMATT: Das kann ich genau datieren. Das war am 5. Januar 1945. Ich war
Hilfssoldat in einem Schweizer Grenzbataillon. Deutschland war praktisch besiegt,
also man wußte, daß nichts mehr passieren würde. Der Krieg war entschieden.
Rundherum waren Trümmer. Von jenseits der Alpen hörte man das Dröhnen der
Bombenangriffe. Aber man stand da herum in dieser Schweiz, die ganz unversehrt
war und aus der man nicht rauskam. Man lebte doch hier wie in einem Gefängnis.
Die Situation war grotesk. Da stellte sich mir die Frage: Was kann ich diesem
Weltgeschehen entgegensetzen? Nun hatte ich zufällig gerade Geburtstag und
hatte mein erstes Fondue gegessen und dazu Weißwein und Schnaps gesoffen,
das kam mir, als ich schlief, plötzlich hoch wie eine Fontäne, und da saß
ich nun in einem verkotzten Zimmer, die übrige Welt war voller Leichen, aber
ich hatte dem nichts entgegenzuhalten als mein Gekotze. Ich hatte ja nichts
erlebt. Die Schweiz war doch nie in Gefahr gewesen. Das Problem der Schweiz
war eine Armee, bei der nie etwas geschah, nicht weil Hitler etwa Angst gehabt
hätte, uns anzugreifen, das ist ja Blödsinn, sondern weil die Schweiz Trümpfe
hatte, vor allem die Tunnels, das waren die Verbindungsstraßen für Kohle und
Stahl nach Oberitalien, die brauchte Hitler, die hätten ihm nichts genützt,
wenn sie gesprengt worden wären. Deshalb hat er die Schweiz in Ruhe gelassen.
Aber diese Chance des Verschont-Seins wurde hier von niemand begriffen, sondern
man hat sich zum Heldenvolk stilisiert und gesagt, die Schweizer Armee habe
einen Angriff verhindert. Das kam mir alles so absurd vor, und da habe ich
eben den Entschluß gefaßt, diese Welt, die ja nur in meiner Phantasie existierte,
schreibend in den Griff zu bekommen.
Hatten Sie vorher noch nichts geschrieben?
DÜRRENMATT: Doch, ich hatte schon immer geschrieben, aber erst 1945 beschloß
ich, das als Beruf zu machen. Ich wollte ja eigentlich Maler werden. Mein
Ehrgeiz lag immer im Zeichnen. Aber meine Zeichnungen waren nicht so, wie
das damals modern war. Das waren sehr groteske, ganz aus der Phantasie gestaltete
Bilder. Als ich 1937 mit dem Fahrrad nach Deutschland reiste, über Tuttlingen,
Ulm nach München, war dort gerade die Eröffnung der deutschen Kunstausstellung.
Da sah ich zum erstenmal die Bilder der Expressionisten, die auf mich einen
irrsinnigen Eindruck machten, denn die hatten große Ähnlichkeit mit meinen
eigenen Bildern. Aber die hingen in der Abteilung, wo die sogenannte entartete
Kunst ausgestellt wurde. Da stand ich also völlig fassungslos mir selbst gegenüber,
aber nun war ich entartet. Man hatte mir auch zu Hause immer gesagt, was ich
male, das seien völlig verrückte Sachen. Ich sah nicht, wie ich mit so etwas
je zu Geld kommen sollte. Aber ich habe es trotzdem immer weiter betrieben,
und es ist heute noch so, daß ich eher auf das Schreiben verzichten könnte
als auf das Malen.
Sind Sie heute nicht reich genug, um das Schreiben aufgeben zu können?
DÜRRENMATT: Doch. Ich habe es nicht mehr nötig, für Geld zu schreiben.
Warum tun Sie es dann?
DÜRRENMATT: Hören Sie, das ist natürlich eine naive Frage. Es macht ja auch
Spaß zu schreiben.
Dann war also die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, nicht der einzige Antrieb?
DÜRRENMATT: Nein, aber es war eine Erleichterung. Wenn Sie Termine haben,
die Sie einhalten müssen, das nimmt Ihnen die Hemmungen, weil Sie sich Hemmungen
dann gar nicht mehr leisten können. Geld verdienen zu müssen, ist immer ein
Vorteil, weil es Ihnen einen gewissen Schwung gibt.
Sind Sie je auf der Frankfurter Buchmesse gewesen?
DÜRRENMATT: Nie. Ich weiß nicht einmal, was das ist.
Das ist eine ungeheure Anhäufung von Büchern. Allein im letzten Jahr sind
dort sechsundachtzigtausend Neuerscheinungen vorgestellt worden. Ein Schriftsteller
mit Hemmungen könnte angesichts einer solchen Masse auf den Gedanken kommen,
mit dem Schreiben ganz aufzuhören.
DÜRRENMATT: Sie meinen den Gedanken an die Sinnlosigkeit? Den habe ich immer
öfter, je älter ich werde. Ich schreibe gerade an einem Theaterstück über
einen Schriftsteller, der sich sagt, es sei gar nicht nötig zu schreiben.
Der verbreitet nur das Gerücht, daß er schreibe, und damit es auch echt wirkt,
beschäftigt er eine Sekretärin, der er aufträgt, sie solle schreiben, was
ihr gerade einfällt. Seine Frau, die über den Betrug informiert ist, geht
mit den Kritikern, die er einlädt, ins Bett, damit sie ihn loben. Auf diese
Weise wird der Mann sehr berühmt. Als die Sekretärin dann stirbt und man den
Schrank öffnet, in dem sie ihre Schriften versteckt hat, kommt ein ungeheures
literarisches Werk zutage. Die Ehefrau, die nun glaubt, der Mann habe ihr
etwas vorgelogen und die ganze Zeit im geheimen geschrieben, erschießt ihn.
Am Schluß erscheint der Schriftsteller als Geist und bietet der toten Sekretärin
sein Grab an.
Haben Sie schon einen Termin für die Uraufführung?
DÜRRENMATT: Nein. Ich weiß gar nicht, ob ich es fertigschreibe****. Ich glaube,
das Theater ist eine Form, die ich verloren habe. Da gab es eine Zeit, in
der mich das sehr interessiert hat. Aber das ist jetzt vorbei. Ich habe keine
Verbindung mehr zum Theater. Das heutige Publikum sucht etwas, was ich nicht
biete. Für mich ist Theater immer auch Welttheater, metaphysisches Gleichnis.
In der bildenden Kunst können Sie das bei Michelangelo finden. Aber wer will
denn so etwas heute noch sehen? Die Idee des Welttheaters findet heute auf
der Bühne nicht statt. Das ist eine Sache, die wahrscheinlich passe ist.
Interessieren Sie sich dafür, was die anderen schreiben?
DÜRRENMATT: Ich bin immer froh, wenn ich nicht lesen muß, was die Kollegen
schreiben. Ich verschicke auch nie meine Bücher. Günter Grass hat mir sehr
höflich den "Butt" versprochen, aber er hat ihn dann nie geschickt,
also brauchte ich ihn auch nicht zu lesen. Der Grass ist mir einfach zu wenig
intelligent, um so dicke Bücher zu schreiben*****. Von Walser habe ich auch
noch nie etwas zu Ende gelesen, außer "Das blaue Pferd".
Sie meinen "Ein fliehendes Pferd"?
DÜRRENMATT: Ja, ich vergesse immer die Titel. Ich finde, man soll seine Kollegen
mit den eigenen Schriften verschonen. Von Böll habe ich "Doktor Murkes
gesammeltes Schreiben" gelesen, weil er mir das geschickt hat, oder heißt
es "gesammeltes Schweigen"? Ich weiß nicht. Von Hochhuth kenne ich
nur den "Stellvertreter". Der Hochhuth ist ein ganz merkwürdiger
Mensch. Er war kürzlich bei mir und wollte ein Interview machen. Da hatte
er so ein Tonbandgerät. Aber auf dem war dann nichts drauf. Ein paar Tage
später rief er mich an und fragte, ob ich einen Apparat hätte, der seinen
Apparat geheim auslöscht. Ich glaube, er hat einen Verfolgungswahn. Aber ich
will nichts Böses über ihn sagen. Ich hatte eigentlich nie richtig Umgang
mit Leuten, die aus dem gleichen Metier sind. Ich habe da eine merkwürdige
Scheu. Ich habe eine Sekunde lang Thomas Mann gesehen und mit Bert Brecht
über nichts als über Zigarren gesprochen. Ich hatte eine ganz tolle Havanna,
die bot ich ihm an, aber Brecht sagte, er rauche ausschließlich Brasil, die
sei viel stärker. Darauf sagte ich, die stärkste Zigarre sei die Havanna,
die Brasil sei leicht. Da fiel er aus allen Wolken und hat dann noch Leute
hinzugezogen. Er wollte das gar nicht glauben. Für ihn brach ein Weltbild
zusammen. Die starken Männer in seinen Stücken rauchen doch immer Brasil.
Das hat ihn so tief getroffen, daß er über gar nichts anderes reden wollte.
Er war zur Premiere meines Stückes "Romulus der Große" nach Basel
gekommen, aber er wollte dann auf das Stück gar nicht eingehen.
Kennen Sie Beckett?
DÜRRENMATT: Nein, was macht denn der? Der muß ja uralt sein. Schreibt der
überhaupt noch? In seinem letzten Stück hört man, glaube ich, nur noch einige
Schritte, dann geht der Vorhang zu, und jemand hält einen Vortrag über die
Bedeutung des Stückes. Wenn der so weitermacht, wird beim nächstenmal der
Vorhang gar nicht mehr aufgehen. Ich sollte einmal in Mexiko mit ihm eine
Sendung im Fernsehen machen. Auch Ionesco war eingeladen. Aber irgendwie sind
dann alle unterwegs steckengeblieben, so daß keiner dort ankam. Den Ionesco
hatte ich schon vorher in Zürich kennengelernt, 1956. Da saß er immer in den
Proben, als "Der Besuch der alten Dame" das erste Mal aufgeführt
wurde, und dann kam er noch ein paarmal zu mir. Er hat doch die Ostschweiz
so gerne, weil es dort diesen leichten Rose gibt, den er bevorzugt. Er ist
ja ein riesiger Trinker. Der kann zehn Flaschen hintereinander trinken. Da
sitzt er dann in Sankt Gallen und säuft und säuft. Ich habe ihn noch nie ohne
Rausch gesehen. Irgendwie ist er ein Clown. Seine Einakter sind ganz gut.
Aber ich glaube, jetzt schreibt er nicht mehr, jetzt säuft er nur noch. Mit
Sartre bin ich einmal in Moskau gewesen, da haben wir auch ständig gesoffen,
das war sehr lustig, obwohl wir einander sonst gar nicht verstanden haben.
Der Sartre hat sich doch immer so kolossal in Dinge verbissen. Der war ganz
humorlos. Der einzige, mit dem ich wirklich gut konnte, war Thornton Wilder.
Wenn der einem in Volltrunkenheit auf die Schulter klopfte, sank man zusammen.
Aber die komischste Begegnung, die ich hatte, war mit Zuckmayer in München.
Da saß ich im Hotel "Vier Jahreszeiten", etwas abseits saß Zuckmayer,
und plötzlich erhob er sich und kam mit einer ungeheuer süßen Weinfahne zu
mir herüber, stellte sich vor meinen Tisch und sagte: »Sie halten meine Stücke
für Scheiße, und ich halte Ihre Stücke für Scheiße.« Darauf sagte ich: »Herr
Zuckmayer, das haben Sie sehr gut formuliert.« Am nächsten Morgen trafen wir
uns im Lift. Er starrte mich eine Weile an und sagte dann ganz formell: »Herr
Dürrenmatt, habe ich mich gestern abend ungebührlich benommen?« Darauf ich:
»Aber nein, Herr Zuckmayer, Sie waren ganz groß in Form.« Und er: »Wissen
Sie, ich verehre Sie unermeßlich.« Das war wahnsinnig komisch.
Sind Sie noch mit Max Frisch befreundet?
DÜRRENMATT: Ja, ja, doch. Wir hatten ein paar kleine Verstimmungen, aber das
ist nicht mehr wichtig.
Welche Verstimmungen?
DÜRRENMATT: Ach, er ist doch so ungeheuer verletzbar. Es gab diese Sache,
da hatte ich dem Schauspieler Schröder****** zu seinem 50. Geburtstag in einem
Brief gratuliert und eine Kritik beigefügt über "Andorra", in aller
Eile geschrieben, weil ich dieses Stück einfach nicht für gelungen halte,
und das hat der Frisch dann erfahren. Er ist ein flotter Kerl, aber was er
schreibt, ist manchmal ganz furchtbar. Er ist ein merkwürdiger Autor der Fehlleistungen.
Nehmen Sie "Biedermann und die Brandstifter", wo er die Brandgefahr
als Symbol für die existentielle Bedrohung gesetzt hat. Das ist ein Stück,
das einfach nicht zutrifft, denn in der Schweiz ist doch jedermann brandversichert.
Was mich an Frisch so stört, sind diese Unwahrheiten, auch in den Romanen,
zum Beispiel "Montauk". Das hat er als autobiographisches Werk ausgegeben.
Aber wenn Sie ihn persönlich kennen, dann schütteln Sie nur den Kopf. Da stimmt
einfach gar nichts. Er hat mir doch jede Frau vorgestellt, die er hatte, und
geschworen, Gott möge ihn verfluchen, wenn er sie jemals betrüge. Das ist
einfach grotesk. Ich glaube, jetzt ist er gerade wieder geschieden. Dieser
Romantizismus in der Liebe ist mir ganz fremd, diese ungeheure Selbstquälerei,
das könnte ich gar nicht.
Wissen Sie, daß er für den Nobelpreis nominiert war?
DÜRRENMATT: Nein, keine Ahnung. Ich wünsche ihm, daß er ihn kriegt. Er hat
das wahrscheinlich sehr nötig. Er braucht einfach diese Bewunderung.
Sie nicht?
DÜRRENMATT: Im Gegenteil. Mich hat das immer gestört. Meine peinlichste Erinnerung
an den Ruhm ist die Premiere von "Frank der Fünfte". Da haben die
Leute geklatscht, als ich die Theaterloge betrat, bevor das Stück überhaupt
anfing. Das störte mich ungeheuer. Da wurde ich ganz verlegen. Ich empfinde
überhaupt das Publikum immer als störend.
Ganz egal, ob es pfeift oder jubelt?
DÜRRENMATT: Ja, das ist völlig egal. Ich schreibe ja für mich, nicht für die
Leute.
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*) Georg Hensel, 1923-1996
**) Friedrich Dürrenmatt wurde am 5.Januar 1921 in Konolfingen im Kanton Bern
geboren.
***) Liselotte, Dürrenmatts erste Frau, 1919-1983
****) Das Stück mit dem Titel "Die Sekretärin" blieb unvollendet.
*****) Die in meinem Interview mit Friedrich Dürrenmatt gefallenen Äußerungen
über die Kollegen Grass, Frisch und Hochhuth sind nach der Veröffentlichung in
mehreren deutschsprachigen Zeitschriften nachgedruckt worden, was zur Folge
hatte, daß der Schriftsteller von seinem Anwalt verbreiten ließ, das ganze
Interview sei eine Fälschung. Später milderte er diese Behauptung ab. Ich
hätte, so Dürrenmatt, im Lärm des Restaurants, in dem wir zu Abend aßen,
manches falsch mitbekommen. Dem englischen Journalisten Hugh Rank gegenüber
erklärte er, die Äußerungen seien von mir ohne sein Wissen auf Band aufgenommen
und gegen seinen Willen verwendet worden. Wahr ist, daß ich die betreffenden
Sätze ohne jede Lärmbeeinträchtigung und nicht nur mit Wissen, sondern dem
ausdrücklichen Einverständnis Dürrenmatts habe aufnehmen können. Der Dramatiker
hatte mir von dem ihm persönlich bekannten Wirt des Lokals sogar einen kleinen
Tisch bringen lassen, damit ich mein Tonbandgerät besser plazieren könne.
Jedesmal, wenn ein neues Band eingelegt werden mußte, wartete er mit dem
Sprechen so lange, bis ich die Aufnahmetaste betätigt hatte. Um so überraschender
kam für mich sein Dementi. Am 23. Dezember 1980 rief er mich an und erklärte,
besonders seine Bemerkung über Günter Grass sei ihm peinlich, da ihm Grass eben
erst sein Buch 'Kopfgeburten" mit einer freundlichen Widmung habe zukommen
lassen. Als ich ihn fragte, was ich, da die Sache nun einmal publiziert sei,
noch tun könne, sagte er, ich solle mir weiter keine Gedanken machen, wünschte
frohe Weihnachten und lud mich ein, ihn in seinem Haus in Neuchâtel, wo wir die
Unterhaltung begonnen hatten, wieder einmal zu besuchen.
******) Ernst Schröder, 1915-1994
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Erschienen am 20. Dezember 1980 im „Playboy“