Theaterstücke will er keine mehr schreiben, sagt er, nicht etwa, weil ihn
die Verrisse der letzten Jahre verbittert hätten, nein, wer das glaubt, der
überschätzt die Wirkung von Kritiken auf das Selbstbewußtsein des Friedrich
Dürrenmatt, der sich, eben sechzig geworden, ohne Hemmung in die Reihe der
verkannten Genialen stellt. Lessing, sein Lieblingsklassiker, werde ja auch
immer noch mißverstanden. Dürrenmatt weiß, was er wert ist. Seine Zeit, die
Zeit des Welttheaters, werde mit Sicherheit kommen, spätestens, wenn er tot
sei. Mehr als zehn Jahre Leben gibt sich der Zuckerkranke nach dem dritten
Herzinfarkt nicht mehr.* So gelassen wie er die größtenteils vernichtenden
Urteile über seine jüngsten Stücke "Der Mitmacher", "Die Frist"
oder "Die Panne" hinnahm, so ungerührt erträgt er die Todeserwartung.
Sein Phlegma, vielleicht Weisheit des Alters, erstaunt, wenn man sich an die
Kampfeslust früherer Jahre erinnert, an die Geschosse, die er nach seinem
Abschied vom Basler Theater auf Werner Düggelin** losließ, an den Prozeß mit
Hans Habe***, den er einen Faschisten nannte und dessen verletzte Ehre er
mit hundert Schweizer Franken wiederherstellen mußte. Habe ist tot mitsamt
seiner Ehre. Dürrenmatt schmunzelt.
Sein Name ist Schulstoff, daran kann kein Kritiker und kein Habe mehr rütteln,
obwohl er das Stück, mit dem er Weltruhm erlangte, für sein konventionellstes,
um nicht zu sagen für sein schlechtestes hält. Über den "Besuch der alten
Dame" redet er ungern. Der Erfolg nährt seine Rezensenten-Verachtung,
denn auf was die Welt da hereinfiel, das ist, so Dürrenmatt, "bloß gutes
Handwerk". Seine Liebe gehört den erfolglosen Stücken, "Herkules
und der Stall des Augias" oder eben jenem "Mitmacher", der
mit einer Spezialapparatur reihenweise die von einem Mordsyndikat angelieferten
Leichen auflöst. Ionesco fragte ihn, nachdem er eine Aufführung des „Besuchs
der alten Dame“ gesehen hatte, ob er das Schreiben jetzt nicht lieber aufgeben
wolle, Besseres sei nicht mehr möglich. Dürrenmatt aber („Wer meine Stücke
nicht mag, der mag das Theater nicht“) gab nicht auf, sondern erschrieb sich
eine finanzielle Unabhängigkeit, die ihm ermöglicht, Gegner zu ignorieren.
Erst kürzlich hat er seinen Wohnsitz in Neuchâtel um ein paar tausend Quadratmeter
erweitert, damit ihm die Stadt nicht mit einem Sozialbau die Aussicht verschandelt.
Schon in den fünfziger Jahren war er wohlhabend genug, ein Angebot aus Hollywood
abzulehnen. David Selznick wollte ihn dafür gewinnen, das mißratene Drehbuch
zu „Cleopatra“ umzuschreiben. Dürrenmatt antwortete, das beste "Cleopatra"-Drehbuch
habe schon Shakespeare geschrieben.
Er
hat, abgesehen von Nachhilfestunden während seines Philosophiestudiums, sein
Leben lang mit nichts anderem Geld verdient als mit dem Schreiben. "Man
muß“, sagt er, "vor einen Karren gespannt sein, um ziehen zu können."
Der Karren, das ist seine Ehe****. Als er 1946 heiratete, war klar, daß er die
Familie (ein Sohn, zwei Töchter) nun werde ernähren müssen. Das Schreiben war
für ihn immer die Brotarbeit. Seine Leidenschaft aber ist bis heute das Malen.
In seinen zwischen Expressionismus und naiver Kunst schwankenden Bildern kann
man die Obsessionen des emotional sonst eher zurückhaltenden Künstlers
entdecken. Zwei Motive kehren am häufigsten wieder: der Turmbau zu Babel und
der im Labyrinth gefangene Minotaurus. Urform des Turmes ist der Kamin einer
Milchsiederei in Dürrenmatts Geburtsort Konolfingen im Kanton Bern. Als
menschlichen Größenwahn hat das Kind ihn empfunden. Das Labyrinthische steht
für die Welt, wie sie der Knabe erlebte: furchterregend und undurchschaubar.
Vor den Mitschülern, die ihn verprügeln wollten, versteckte er sich in den
verzweigten Gängen der Kornfelder am Dorfrand. Am Dachboden schlief er mit
einem Taschenmesser unter dem Kissen. Der Vater war Pfarrer. Man wohnte neben
dem Friedhof. Leichen waren der tägliche Umgang. Sie sind es in den
Theaterstücken geblieben. Nicht zufällig hat sich Dürrenmatt „Titus
Andronicus“, das Shakespeare-Stück mit den meisten Toten, zur Bearbeitung
vorgenommen. In einer für das Wiener Theater in der Josefstadt geplanten, aber
nie fertiggestellten "Friedhofskomödie" steigt ein toter
Schriftsteller aus der Gruft und duelliert sich mit seinem Verleger.
Die Kritik hat Dürrenmatts Todes-Tableaus als Ausdruck von Zynismus gewertet.
Er hat darüber nur den Kopf schütteln können. Für ihn sind Tod und Todesangst
erotische Reminiszenzen. Seine Pubertät spielte sich in Aufbahrungshallen und
auf Begräbnissen ab. Der Tod der Großmutter, die dauernde, zuletzt schon
komische Todesfurcht des Vaters, der vierundachtzig wurde, das beinahe
wollüstige Zusehen beim Aufschlitzen der Tierkadaver in der Dorfmetzgerei: In
der Autobiografie "Stoffe" wird man es nachlesen können. Dennoch: Ein
Enthüllungsbuch wird das nicht. Dürrenmatt hat sich stets geweigert, zur
Aufklärung von Mißverständnissen beizutragen. Lieber hat er sich den Vorwurf
der Menschenverachtung gefallen lassen. Das Psychologische gehe ihm auf die
Nerven. Er sei immer Philosoph, nie Psychologe gewesen. Zurzeit beschäftige er
sich wieder mit Leibniz. Kant sei noch heute sein Maßstab. Den Hegel habe er an
die Wand geknallt, weil er ihn nicht verstanden habe. Natürlich habe er auch
irgendwann Freud gelesen, und natürlich könne man, wenn man unbedingt wolle,
alles, was er geschrieben habe, als Ausdruck seiner Sehnsucht nach der Rückkehr
in den Mutterschoß deuten. Die gemalten Türme seien dann eben Variationen eines
aufgerichteten Riesenpenis, und wenn er die Türme zerfallen lasse, bedeute das
Impotenz oder die Angst vor Versagen. Nach den Sternen habe er nie gegriffen,
aber er male gern Sterne. "Das sind meine Spermien, die ich über den
Himmel spritze."
Sobald Dürrenmatt von sich selbst spricht, setzt er die Tarnmaske des
Anekdotenerzählers auf. Will man mehr als die Oberfläche erfahren, lohnt es sich,
mitzulachen, auch wenn man weiß: Zu lachen hat dieser Mann nichts mehr. Seine
Impotenz ist die Krankheit. Fast alles, was diesem barocken Menschen Spaß
macht, hat er aufgeben müssen. Seit zehn Jahren keine Zigarre. Wein nur in
Maßen. Früher trank er zwei Flaschen pro Abend. Als Gourmet war er die
gastronomische Herausforderung der ganzen Umgebung. Jetzt muß er sich streng an
Diätvorschriften halten. Nichts Süßes, keine Kohlehydrate, möglichst wenig
Bewegung. Tischtennis hat ihm der Arzt verboten, auch das Schreiben auf der
Maschine. Er schreibt jetzt nur noch mit Hand. Eine Sekretärin tippt es ins
reine.
Als die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ihm den berühmten Fragebogen
schickte, wich er in die Groteske aus. Die größte militärische Leistung, an die
er sich erinnern könne, sei seine Ehe, Kopfsalat seine Lieblingsblume. Das
Ausbreiten des Privatesten ist ihm seit jeher zuwider. "Man muß sich doch
auch einmal stehenlassen können wie einen Regenschirm." Und: "Über
meine Zwänge habe ich nie geschrieben." Die Selbstentblößungen anderer
beobachtet er teils amüsiert, teils mit Erstaunen. Eine katholische Geliebte,
die er kurze Zeit hatte, habe ihn mit ihren Selbstvorwürfen fast in die Flucht
getrieben. Das selbstquälerische Liebesleben seines Freundes Max Frisch
verhöhnt er als "Romantizismus". Überhaupt die Kollegen! "Ich
bin froh, wenn ich nicht lesen muß, was andere schreiben." Peter Handke,
den er einmal kurz kennenlernte, machte auf ihn "einen verklemmten
Eindruck", Thomas Bernhard schreibe immer das gleiche, und Botho Strauß
sei ein ganz guter Fernsehautor.
Lebensüberdruß,
sagt er, sei ihm stets fremd gewesen. Das Wort "Verzweiflung"
akzeptiere er nur, "wenn man sich eine Kugel durch den Kopf schießt".
Aber daran habe er nie gedacht, also sei er auch nie verzweifelt gewesen. Das
Tun sei der Ausweg. Für den Fall, daß ihn ein Schlaganfall lähmen sollte, hat
er vorgesorgt. Kein Arzt soll ihm das Sterben künstlich verlängern. "Ich
will, daß es schnell geht." Manchmal, in letzter Zeit öfter, langweile er
sich. Dann gehe er mit seinen Hunden spazieren, immer denselben Weg in den Wald
hinauf, der sein Grundstück umsäumt, oder er sehe fern oder lese. Nach dem
Lesen nehme er eine Schlaftablette. Nur keine großen Gefühle! Nicht
übertreiben! "Vielleicht bin ich zu sehr ein Bauer", sagt er. Als er
nach dem Krieg zum erstenmal wieder nach Deutschland reiste, wurde in München
gerade de Gaulle empfangen. Was er da an Trachtenaufmärschen und
Begrüßungspathos erlebte, habe ihn an Hitler erinnert. Sicher sei das eine Frage
der Mentalität. Die Schweizer hätten mit Personenkult nie etwas anfangen
können. Den Adel habe man schon im 12. Jahrhundert ausgerottet. Die Habsburger
hätten nach Österreich ausweichen müssen. Einen machthungrigen Bürgermeister,
Hans Waldmann aus Zürich, habe man 1498 einfach geköpft, weil er sein Amt nicht
habe abgeben wollen. Und das Schweizer Nationaldrama, der "Wilhelm
Tell", sei ja von einem Deutschen geschrieben.
Dürrenmatts Blick auf das Erhabene ist der Blick eines Spötters. Als er im
Februar 1971 gezwungen war, sich das Rauchen auf einen Schlag abzugewöhnen,
verordnete ihm sein Arzt flüssiges Opium, pro Tag dreißig Tropfen, damit er mit
den Entzugserscheinungen fertig werde. Er inszenierte gerade sein letztes
Stück, "Das Porträt eines Planeten". Es war das einzige Mal, daß er
sich an einem Kunstwerk, zufällig seinem eigenen, hat berauschen können.
"Ich war ständig high auf den Proben. Ich dachte, ich sei der tollste
Schriftsteller, der tollste Regisseur. Ich wurde ganz irre." Ohne Rauschmittel ist ihm das Schwelgen,
wenn überhaupt, nur beim Malen oder in der Küche gelungen. Goethes Farbenlehre
oder die Beschreibung einer Schildkrötensuppe in seinem Kochbuch bereiten ihm
mehr Vergnügen als eine Strophe von Rilke. Am besten aber amüsiert er sich mit sich
selbst. Aus der Fassung bringt ihn nur, wenn der Besucher, den er einen ganzen
Nachmittag lang zu unterhalten versucht hat, plötzlich nicht mehr über ihn
lachen möchte. Es ist, für den Gast wie für den Dichter, das Zeichen zum
Aufbruch.
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*) Die Prognose traf fast auf den Tag genau ein: Dürrenmatt verstarb am 14. Dezember 1990
**) Schweizer Theaterregisseur, geboren 1929, leitete Ende der sechziger Jahre das Basler Theater gemeinsam mit Dürrenmatt, der sich aber binnen kurzem mit ihm verkrachte.
***) Hans Habe, eigentlich János Békessy (1911 - 1977) rechtskonservativer Journalist und Schriftsteller
****) Liselotte, Dürrenmatts erste Frau, starb 1983, danach heiratete er die Journalistin Charlotte Kerr.
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Erschienen am 2. Januar 1981 in der ZEIT