Friedrich Dürrenmatt 1980



Theaterstücke will er keine mehr schreiben, sagt er, nicht etwa, weil ihn die Verrisse der letzten Jahre verbittert hätten, nein, wer das glaubt, der überschätzt die Wirkung von Kritiken auf das Selbstbewußtsein des Friedrich Dürrenmatt, der sich, eben sechzig geworden, ohne Hemmung in die Reihe der verkannten Genialen stellt. Lessing, sein Lieblingsklassiker, werde ja auch immer noch mißverstanden. Dürrenmatt weiß, was er wert ist. Seine Zeit, die Zeit des Welttheaters, werde mit Sicherheit kommen, spätestens, wenn er tot sei. Mehr als zehn Jahre Leben gibt sich der Zuckerkranke nach dem dritten Herzinfarkt nicht mehr.* So gelassen wie er die größtenteils vernichtenden Urteile über seine jüngsten Stücke "Der Mitmacher", "Die Frist" oder "Die Panne" hinnahm, so ungerührt erträgt er die Todeserwartung. Sein Phlegma, vielleicht Weisheit des Alters, erstaunt, wenn man sich an die Kampfeslust früherer Jahre erinnert, an die Geschosse, die er nach seinem Abschied vom Basler Theater auf Werner Düggelin** losließ, an den Prozeß mit Hans Habe***, den er einen Faschisten nannte und dessen verletzte Ehre er mit hundert Schweizer Franken wiederherstellen mußte. Habe ist tot mitsamt seiner Ehre. Dürrenmatt schmunzelt.

Sein Name ist Schulstoff, daran kann kein Kritiker und kein Habe mehr rütteln, obwohl er das Stück, mit dem er Weltruhm erlangte, für sein konventionellstes, um nicht zu sagen für sein schlechtestes hält. Über den "Besuch der alten Dame" redet er ungern. Der Erfolg nährt seine Rezensenten-Verachtung, denn auf was die Welt da hereinfiel, das ist, so Dürrenmatt, "bloß gutes Handwerk". Seine Liebe gehört den erfolglosen Stücken, "Herkules und der Stall des Augias" oder eben jenem "Mitmacher", der mit einer Spezialapparatur reihenweise die von einem Mordsyndikat angelieferten Leichen auflöst. Ionesco fragte ihn, nachdem er eine Aufführung des „Besuchs der alten Dame“ gesehen hatte, ob er das Schreiben jetzt nicht lieber aufgeben wolle, Besseres sei nicht mehr möglich. Dürrenmatt aber („Wer meine Stücke nicht mag, der mag das Theater nicht“)  gab nicht auf, sondern erschrieb sich eine finanzielle Unabhängigkeit, die ihm ermöglicht, Gegner zu ignorieren. Erst kürzlich hat er seinen Wohnsitz in Neuchâtel um ein paar tausend Quadratmeter erweitert, damit ihm die Stadt nicht mit einem Sozialbau die Aussicht verschandelt. Schon in den fünfziger Jahren war er wohlhabend genug, ein Angebot aus Hollywood abzulehnen. David Selznick wollte ihn dafür gewinnen, das  mißratene Drehbuch zu „Cleopatra“ umzuschreiben. Dürrenmatt antwortete, das beste "Cleopatra"-Drehbuch habe schon Shakespeare geschrieben.

Er hat, abgesehen von Nachhilfestunden während seines Philosophiestudiums, sein Leben lang mit nichts anderem Geld verdient als mit dem Schreiben. "Man muß“, sagt er, "vor einen Karren gespannt sein, um ziehen zu können." Der Karren, das ist seine Ehe****. Als er 1946 heiratete, war klar, daß er die Familie (ein Sohn, zwei Töchter) nun werde ernähren müssen. Das Schreiben war für ihn immer die Brotarbeit. Seine Leidenschaft aber ist bis heute das Malen. In seinen zwischen Expressionismus und naiver Kunst schwankenden Bildern kann man die Obsessionen des emotional sonst eher zurückhaltenden Künstlers entdecken. Zwei Motive kehren am häufigsten wieder: der Turmbau zu Babel und der im Labyrinth gefangene Minotaurus. Urform des Turmes ist der Kamin einer Milchsiederei in Dürrenmatts Geburtsort Konolfingen im Kanton Bern. Als menschlichen Größenwahn hat das Kind ihn empfunden. Das Labyrinthische steht für die Welt, wie sie der Knabe erlebte: furchterregend und undurchschaubar. Vor den Mitschülern, die ihn verprügeln wollten, versteckte er sich in den verzweigten Gängen der Kornfelder am Dorfrand. Am Dachboden schlief er mit einem Taschenmesser unter dem Kissen. Der Vater war Pfarrer. Man wohnte neben dem Friedhof. Leichen waren der tägliche Umgang. Sie sind es in den Theaterstücken geblieben. Nicht zufällig hat sich Dürrenmatt „Titus Andronicus“, das Shakespeare-Stück mit den meisten Toten, zur Bearbeitung vorgenommen. In einer für das Wiener Theater in der Josefstadt geplanten, aber nie fertiggestellten "Friedhofskomödie" steigt ein toter Schriftsteller aus der Gruft und duelliert sich mit seinem Verleger.

Die Kritik hat Dürrenmatts Todes-Tableaus als Ausdruck von Zynismus gewertet. Er hat darüber nur den Kopf schütteln können. Für ihn sind Tod und Todesangst erotische Reminiszenzen. Seine Pubertät spielte sich in Aufbahrungshallen und auf Begräbnissen ab. Der Tod der Großmutter, die dauernde, zuletzt schon komische Todesfurcht des Vaters, der vierundachtzig wurde, das beinahe wollüstige Zusehen beim Aufschlitzen der Tierkadaver in der Dorfmetzgerei: In der Autobiografie "Stoffe" wird man es nachlesen können. Dennoch: Ein Enthüllungsbuch wird das nicht. Dürrenmatt hat sich stets geweigert, zur Aufklärung von Mißverständnissen beizutragen. Lieber hat er sich den Vorwurf der Menschenverachtung gefallen lassen. Das Psychologische gehe ihm auf die Nerven. Er sei immer Philosoph, nie Psychologe gewesen. Zurzeit beschäftige er sich wieder mit Leibniz. Kant sei noch heute sein Maßstab. Den Hegel habe er an die Wand geknallt, weil er ihn nicht verstanden habe. Natürlich habe er auch irgendwann Freud gelesen, und natürlich könne man, wenn man unbedingt wolle, alles, was er geschrieben habe, als Ausdruck seiner Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterschoß deuten. Die gemalten Türme seien dann eben Variationen eines aufgerichteten Riesenpenis, und wenn er die Türme zerfallen lasse, bedeute das Impotenz oder die Angst vor Versagen. Nach den Sternen habe er nie gegriffen, aber er male gern Sterne. "Das sind meine Spermien, die ich über den Himmel spritze."

Sobald Dürrenmatt von sich selbst spricht, setzt er die Tarnmaske des Anekdotenerzählers auf. Will man mehr als die Oberfläche erfahren, lohnt es sich, mitzulachen, auch wenn man weiß: Zu lachen hat dieser Mann nichts mehr. Seine Impotenz ist die Krankheit. Fast alles, was diesem barocken Menschen Spaß macht, hat er aufgeben müssen. Seit zehn Jahren keine Zigarre. Wein nur in Maßen. Früher trank er zwei Flaschen pro Abend. Als Gourmet war er die gastronomische Herausforderung der ganzen Umgebung. Jetzt muß er sich streng an Diätvorschriften halten. Nichts Süßes, keine Kohlehydrate, möglichst wenig Bewegung. Tischtennis hat ihm der Arzt verboten, auch das Schreiben auf der Maschine. Er schreibt jetzt nur noch mit Hand. Eine Sekretärin tippt es ins reine.

Als die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ihm den berühmten Fragebogen schickte, wich er in die Groteske aus. Die größte militärische Leistung, an die er sich erinnern könne, sei seine Ehe, Kopfsalat seine Lieblingsblume. Das Ausbreiten des Privatesten ist ihm seit jeher zuwider. "Man muß sich doch auch einmal stehenlassen können wie einen Regenschirm." Und: "Über meine Zwänge habe ich nie geschrieben." Die Selbstentblößungen anderer beobachtet er teils amüsiert, teils mit Erstaunen. Eine katholische Geliebte, die er kurze Zeit hatte, habe ihn mit ihren Selbstvorwürfen fast in die Flucht getrieben. Das selbstquälerische Liebesleben seines Freundes Max Frisch verhöhnt er als "Romantizismus". Überhaupt die Kollegen! "Ich bin froh, wenn ich nicht lesen muß, was andere schreiben." Peter Handke, den er einmal kurz kennenlernte, machte auf ihn "einen verklemmten Eindruck", Thomas Bernhard schreibe immer das gleiche, und Botho Strauß sei ein ganz guter Fernsehautor.

Lebensüberdruß, sagt er, sei ihm stets fremd gewesen. Das Wort "Verzweiflung" akzeptiere er nur, "wenn man sich eine Kugel durch den Kopf schießt". Aber daran habe er nie gedacht, also sei er auch nie verzweifelt gewesen. Das Tun sei der Ausweg. Für den Fall, daß ihn ein Schlaganfall lähmen sollte, hat er vorgesorgt. Kein Arzt soll ihm das Sterben künstlich verlängern. "Ich will, daß es schnell geht." Manchmal, in letzter Zeit öfter, langweile er sich. Dann gehe er mit seinen Hunden spazieren, immer denselben Weg in den Wald hinauf, der sein Grundstück umsäumt, oder er sehe fern oder lese. Nach dem Lesen nehme er eine Schlaftablette. Nur keine großen Gefühle! Nicht übertreiben! "Vielleicht bin ich zu sehr ein Bauer", sagt er. Als er nach dem Krieg zum erstenmal wieder nach Deutschland reiste, wurde in München gerade de Gaulle empfangen. Was er da an Trachtenaufmärschen und Begrüßungspathos erlebte, habe ihn an Hitler erinnert. Sicher sei das eine Frage der Mentalität. Die Schweizer hätten mit Personenkult nie etwas anfangen können. Den Adel habe man schon im 12. Jahrhundert ausgerottet. Die Habsburger hätten nach Österreich ausweichen müssen. Einen machthungrigen Bürgermeister, Hans Waldmann aus Zürich, habe man 1498 einfach geköpft, weil er sein Amt nicht habe abgeben wollen. Und das Schweizer Nationaldrama, der "Wilhelm Tell", sei ja von einem Deutschen geschrieben.

Dürrenmatts Blick auf das Erhabene ist der Blick eines Spötters. Als er im Februar 1971 gezwungen war, sich das Rauchen auf einen Schlag abzugewöhnen, verordnete ihm sein Arzt flüssiges Opium, pro Tag dreißig Tropfen, damit er mit den Entzugserscheinungen fertig werde. Er inszenierte gerade sein letztes Stück, "Das Porträt eines Planeten". Es war das einzige Mal, daß er sich an einem Kunstwerk, zufällig seinem eigenen, hat berauschen können. "Ich war ständig high auf den Proben. Ich dachte, ich sei der tollste Schriftsteller, der tollste Regisseur. Ich wurde ganz irre."  Ohne Rauschmittel ist ihm das Schwelgen, wenn überhaupt, nur beim Malen oder in der Küche gelungen. Goethes Farbenlehre oder die Beschreibung einer Schildkrötensuppe in seinem Kochbuch bereiten ihm mehr Vergnügen als eine Strophe von Rilke. Am besten aber amüsiert er sich mit sich selbst. Aus der Fassung bringt ihn nur, wenn der Besucher, den er einen ganzen Nachmittag lang zu unterhalten versucht hat, plötzlich nicht mehr über ihn lachen möchte. Es ist, für den Gast wie für den Dichter, das Zeichen zum Aufbruch.

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*) Die Prognose traf fast auf den Tag genau ein: Dürrenmatt verstarb am 14. Dezember 1990

**) Schweizer Theaterregisseur, geboren 1929, leitete Ende der sechziger Jahre das Basler Theater gemeinsam mit Dürrenmatt, der sich aber binnen kurzem mit ihm verkrachte.

***)  Hans Habe, eigentlich János Békessy (1911 - 1977) rechtskonservativer Journalist und Schriftsteller

****)  Liselotte, Dürrenmatts erste Frau, starb 1983, danach heiratete er die Journalistin Charlotte Kerr.

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Erschienen am 2. Januar 1981 in der ZEIT