Sie sind der zurzeit populärste Politiker Österreichs, Ihre Beliebtheit übertrifft
die all Ihrer Amtsvorgänger. Das erstaunt, wenn man bedenkt, wie widerwillig
Sie Kanzler wurden.
FRANZ VRANITZKY: Nicht widerwillig.
Aber ohne große Begeisterung.
VRANITZKY: Sagen wir so, Bundeskanzler zu werden war nicht im entferntesten
Teil meiner Lebensplanung.
Als Bankdirektor* hatten Sie mehr Freiheit, konnten sagen, was Sie dachten,
und waren nicht gezwungen, für die eigene Person ständig Werbung zu machen.
VRANITZKY: Also, man muß das beinhart betrachten. Der Beruf des Politikers ist,
was die zeitliche Inanspruchnahme und die Exponiertheit betrifft, mit dem eines
Bankdirektors ziemlich vergleichbar.
Ein Bankdirektor hat es nicht nötig, sich wie ein Politiker, zum Beispiel im
Wahlkampf, zur Schau zu stellen.
VRANITZKY: Nicht im Wahlkampf.
Von den meisten Wirtschaftsbossen kennt man doch nicht einmal das Gesicht.
VRANITZKY: Vielleicht haben sie keines.
Ihr Vorgänger Sinowatz** war auch keine Schönheit.
VRANITZKY: Ich habe nicht "schön" gesagt. Ich meine nur, daß manche
Leute aus der Wirtschaft es nicht als Teil ihres Berufes sehen, öffentlich aufzutreten.
Ja, weil es nicht nötig ist.
VRANITZKY: Das glaube ich schon. Ich würde mir wünschen, daß sich der eine oder
andere häufiger in der Öffentlichkeit artikuliert, natürlich nicht, indem er
für sich werbend herumgeht.
Aber genau das muß ein Politiker tun, der gewählt werden will. Hans Magnus Enzensberger
hat das als die "peinlichste Zumutung" bezeichnet, "der ein Mensch
sich aussetzen kann".*** Es gehöre zu den Berufspflichten des Politikers,
so Enzensberger, "sich die albernsten Kopfbedeckungen, vom Tirolerhütchen
bis zum Indianerschmuck, aufzusetzen, Säuglinge und Elefanten zu tätscheln,
Bierfässer anzuzapfen, an den ödesten Karnevalssitzungen und den widerwärtigsten
Talk-Shows teilzunehmen. Keine Putzfrau ließe sich auf diese Weise erniedrigen."
VRANITZKY: Das trifft nicht auf mich zu.
Hans-Dietrich Genscher hat sich als Außenminister eine Batman-Maske mit Elefantenohren
über den Kopf gestülpt.
VRANITZKY: Das mache ich nicht. Ich setze mir keine Trachtenhüte auf. Ich dirigiere
auch keine Blaskapellen und trete nicht als professioneller Braut-Küsser bei
Hochzeiten auf.
Wie können Sie das vermeiden?
VRANITZKY: Ich bemühe mich, es so zu machen, daß ich keinen verletze. Wenn ich
beispielsweise dem Kapellmeister einer Kapelle, der mir seinen Dirigentenstab
anträgt, was schon häufig geschehen ist, sage, es sollte jeder nur das tun,
was er kann, dann versteht der das. Wir haben dann eine Hetz miteinander, ohne
daß ich dirigieren muß. Die Marketenderinnen kommen mit einem Schnaps. Wir wechseln
ein paar Worte, trinken den Schnaps, und dann gehe ich wieder. Es ist viel besser,
zu sagen, jetzt haben wir ein bisserl geplaudert, jetzt wäre es klaß, wenn ihr
uns einen Marsch spielt. Inzwischen gehe ich vom Podium runter, rede mit den
Leuten, schüttle Hände, nehme da und dort einen Interventionsbrief mit und schreibe
ein paar Autogramme. Auf diese Weise gelingt es mir, an die Stelle eines dilettantisch
den Taktstock Schwingenden das Bad in der Menge zu setzen.
Damit haben Sie keine Probleme?
VRANITZKY: Nein, überhaupt nicht, im Gegenteil, die Sicherheitsbeamten haben
oft Probleme mit mir, weil ich zu viel in die Leute gehe.
Im Wahlkampf 1990 haben Sie eine Form der Werbung gewählt, die mit Ihrem Widerwillen
gegen jede Anbiederung schwer zu vereinen ist. Man konnte auf einer Ansichtskarte,
auf der Sie zu sehen waren, den Wunsch, daß Sie Kanzler blieben, zum Ausdruck
bringen. Mit dem Einsenden der Karte konnte man eine Jause auf dem Donauturm
**** mit Ihnen gewinnen.
VRANITZKY: Das höre ich heute zum erstenmal.
Die Karte war in Zeitschriften abgebildet.
VRANITZKY: Na, ich schließe nicht aus, daß mein Wahlkampfmanagement das gemacht
hat.
Aber an die Jause müssen Sie sich doch noch erinnern.
VRANITZKY: Auf dem Donauturm?
Ja, so war es zu lesen.
VRANITZKY: Warten Sie, damit ich Ihnen da keinen Blödsinn sage... Auf dem Donauturm
bin ich gewesen, aber das war keine Jause. Was hat mich auf den Donauturm geführt?
1990, im Wahlkampf.
VRANITZKY: Ich glaube, ich hab' da irgendwelche Auslandsgäste aus Ungarn getroffen.
Aber das kann man ja klären. Eine Aktion, die ganz bestimmt stattfand, war:
Wir haben Einladungen an Bürger verschickt, eine Eisenbahnfahrt mit dem Vranitzky
zu machen. Diese Eisenbahn nannten wir "Zukunftszug". An vorher festgelegten
Bahnhöfen sind wir stehengeblieben, ausgestiegen und haben dort eine Wahlkundgebung
gemacht. Dann sind wir weitergefahren, es gab Bewirtung im Zug, und ich bin
von Waggon zu Waggon gegangen und hab' mit den Leuten geplaudert. Das war eine
auch von der Intensität her sehr geglückte Aktion.
Sie haben gern Umgang mit Menschen.
VRANITZKY: Ja.
Schon als Jugendlicher.
VRANITZKY:
Ja, ich war ganz normal.
Aufgewachsen sind Sie in ärmlichen Verhältnissen.
VRANITZKY: Das stimmt.
Hatten Sie Angst davor, arm zu bleiben?
VRANITZKY: Nein.
Wußten Sie, Sie würden Karriere machen?
VRANITZKY: Ich habe mir da gar keine Gedanken gemacht. Ich dachte, das wird
alles schon laufen.
So groß war das Vertrauen in Ihre Fähigkeiten?
VRANITZKY: Na, ich will jetzt nicht auf irgendwelche Drüsen drücken, aber ich
habe schon als Jugendlicher selbst Geld verdient. In der Mittelschule hab' ich
Nachhilfestunden gegeben, und als ich größer war, bin ich auf den Bau und in
Fabriken gegangen. Ich hatte immer Jobs neben dem Studium. Also habe ich mir
keine Sorgen gemacht.
Ihr Vater war Kommunist.
VRANITZKY: Ja, aber nur kurz.
Haben Sie mit ihm über Politik gesprochen?
VRANITZKY: Kaum.
Nach welchen Grundsätzen sind Sie erzogen worden?
VRANITZKY: Vom Vater?
Ja, vom Vater. Hat er Sie zur Bescheidenheit angehalten?
VRANITZKY: Das sicher. Er war ein sehr bescheidener Mann.
Danach haben Sie sich aber dann nicht gerichtet.
VRANITZKY: Nicht?
Mit dem Lebensstandard Ihres Vaters, der ein einfacher Arbeiter war, haben Sie
sich nicht zufriedengegeben.
VRANITZKY: So ist es.
Ihr Vater starb 1987. War er stolz auf Sie?
VRANITZKY: Sehr stolz.
Hat es ihn nicht gestört, daß Sie, von seiner Warte aus gesehen, nun zur Klasse
der Reichen gehörten?
VRANITZKY: Nein, aber bitteschön, ich muß auch sagen, ich habe ihn ja nicht mit
einem Lebenswandel konfrontiert, wo er hätte sagen können, um Gottes willen.
Sie protzen nicht mit dem, was Sie haben.
VRANITZKY: Erstens das, zweitens ist das gar nicht so viel, wie Sie vermuten.
In einem "Playboy"-Interview haben Sie dafür plädiert, sich heute, da
der materielle Wohlstand weitgehend gesichert sei, mehr um die immateriellen
Sorgen der Menschen zu kümmern.
VRANITZKY: Ja, ich meine, Sozialpolitik wird heute oft viel zu eng beschrieben,
indem man sagt, man muß sich um die Alten und Kranken kümmern. Das ist sicher
eine ganz wesentliche Facette, aber es ist nicht genug. Wer kümmert sich zum
Beispiel an den verschiedenen Arbeitsplätzen um den psychischen Zustand eines
Lehrlings, der dort irgendwelchen rechtsradikalen Zurufen ausgesetzt ist? Wer
redet mit dem? Mir wird in der Überschriften- und Schlagwortgesellschaft oft
vorgeworfen, keine Visionen zu haben. Es ist mir auch wurscht, ob das Vision
genannt wird, aber ich lasse mir den Glauben nicht nehmen, daß eine menschliche
Gesellschaft ohne das Hauptwort, nämlich den Menschen, nicht auskommt. Ich sehe
es als große Gefahr, daß wir immer mehr dazu neigen, das Zwischenmenschliche an
die Institutionen, die der Staat aufgebaut hat, zu delegieren.
Weil die Institutionen abstrakte Gebilde sind.
VRANITZKY: Ja, weil sie eine Apparatisierung des Humanen zur Folge haben, die
ganz unmenschlich werden kann. Am Ende stehen wir dann vor kalten Wänden.
Jemand sagt, er sei krank, er sei arm, sein Vater sei nur noch ein Wrack, das
er herumtragen muß. Darauf bekommt er zur Antwort, bitte, wir haben die
Krankenversicherung, die Pensionsversicherung, die Pflegevorsorge, super! Aber
wenn das alles ist, was ihm geboten wird, dann kommt er sich vor wie jemand,
der mit bloßen Händen und Füßen einen Eisberg hinaufklettern will.
Was ist Ihr Gegenmodell?
VRANITZKY: Ich meine, daß es über die Institutionen hinaus noch etwas anderes
geben muß.
Ja, aber was?
VRANITZKY: Na, zum Beispiel das Wiederherstellen von Gemeinschaften in einem
Grätzel, einem Bezirk, einem Dorf.
Dann müssen Sie aber einkalkulieren, daß der Mensch nicht nur hilfsbereit,
sondern auch böse ist. Das Zwischenmenschliche kann auch zu Mord und Totschlag
führen. Das müssen Sie dann riskieren.
VRANITZKY: Ich sage ja nicht, die Institutionen gehören abgeschafft. Ich stelle
mir auch nicht vor, daß die Leute dann unter der Dorflinde sitzen, einer auf
der Gitarre spielt und die anderen das Lied "Am Brunnen vor dem Tore"
singen. Ich meine nur, der Mensch braucht mehr als die vollautomatisierte
Überweisungsgesellschaft.
Sie wollen, daß er weniger einsam ist.
VRANITZKY: Ich glaube, die Sozialdemokratie hatte in ihrer historischen
Entwicklung zunächst einen wichtigen Kampfansatz in der Emanzipation der Armen,
der Entrechteten gegenüber erstens den Kapitalisten und zweitens dem
bürgerlichen, durch Militär und Polizei repräsentierten Staat. Nun ist der
bürgerliche Staat als Antipode zwar nicht ganz weggefallen, aber der
Wohlfahrtsstaat im wesentlichen erreicht. Jetzt gibt es andere Ziele.
Die Überwindung seelischer Nöte.
VRANITZKY: Ja.
Die sind aber doch zum Teil eine Folge der Beseitigung materieller Not.
Einsamkeit ist ja ein Luxus.
VRANITZKY: Das sehe ich nicht so.
Ein Obdachloser kann schwerlich einsam sein.
VRANITZKY: An diesem Punkt kommen wir möglicherweise zu verschiedenen
Schlüssen, denn selbst wenn es so ist, wie Sie sagen, kann doch die Antwort
nicht sein, die materielle Not wieder herbeizuführen.
Das ist gar nicht nötig, weil das von allein passiert, oder glauben Sie, es ist
möglich, irgend etwas, zum Beispiel den Wohlfahrtsstaat, für alle Ewigkeit
einzurichten?
VRANITZKY: Nein, man muß das immer wieder von neuem erkämpfen.
Ja, aber wissend, daß es früher oder später zusammenbricht.
VRANITZKY: Zusammenbrechen kann.
Nein, zusammenbrechen wird. Das lehrt die Erfahrung.
VRANITZKY: Lassen Sie mich nachdenken, ob das richtig ist...
In einem Gespräch mit der DDR-Zeitung "Neues Deutschland" haben Sie
1988 Europa als friedliche Zone gepriesen, in der Sie sich einen Krieg nicht mehr
vorstellen könnten. Heute stehen Sie schon vor dem Scherbenhaufen so eines
Satzes.
VRANITZKY: Ich habe "Westeuropa" gesagt.
Nein, Sie haben das auch auf den Osten bezogen.
VRANITZKY: Na, Sie haben schon recht.
Es gibt keinen ewigen Frieden, keinen ewigen Wohlstand, weil nichts denkbar ist
ohne sein Gegenteil. Auf jeden Höhepunkt folgt zwangsläufig der Niedergang.
VRANITZKY: Sonst wäre es ja eine Höhenlinie.
Oder meinen Sie, Sie könnten das Paradies auf Erden schaffen?
VRANITZKY: Also, jetzt greifen Sie zu den schwersten Bezichtigungen.
Ich frage nur.
VRANITZKY: Aber Sie wissen, wie rasch man ein Fragezeichen weglassen kann.
Die Geschichte verläuft nicht so, wie sich die Politiker, die Verträge
schließen, das wünschen. Noch vor einem Jahr haben Sie gesagt, die
KSZE-Verträge***** wären nichts als ein Stück Papier zum Tapezieren, wenn sie
sich nicht dazu eignen, eine Katastrophe in Jugoslawien zu verhindern. Heute
müssen Sie sagen: Diese Verträge sind eine Tapete.
VRANITZKY: Wir haben damals gesagt, daß die KSZE noch ein Kleinkind mit
Milchzähnen ist. Aber offensichtlich ist sie nicht einmal das.
Was empfinden Sie, wenn Sie in den Fernsehnachrichten hören, bosnischen Frauen
werden die Kinder aus den Leibern geschnitten und durch Hundeföten ersetzt?
VRANITZKY: Ich empfinde Abscheuliches. Aber ich darf trotzdem nicht
resignieren, sondern muß mich dagegenstellen, nicht weil ich Bundeskanzler bin,
sondern als Mensch, aus meiner Grundüberzeugung. Wenn wir die nationalistischen
Konflikte in Osteuropa als Anschauungsmaterial heranziehen...
Das sind doch keine Konflikte!
VRANITZKY: Na, was ist es dann?
Dort ist das Mittelalter ausgebrochen.
VRANITZKY: Es ist wiedergekehrt.
Ja, und man hatte geglaubt, durch die Zivilisation sei es abgeschafft.
VRANITZKY: Nicht durch die Zivilisation. Das Teuflische, das wir jetzt im
Südosten Europas erleben, zeigt sich nicht zuletzt darin, daß
Integrationsmodelle, also in diesem Fall das Modell Ostblock, Kommunismus,
Warschauer Pakt, nach ihrer Auflösung nichts anderes zurücklassen als das, was
schon vorher war.
Das Chaos.
VRANITZKY: Das Chaos.
Ja, weil die Geschichte ein Kreislauf ist. Nietzsche nennt das die ewige
Wiederkehr. Rilke hält das Schöne für "nichts als des Schrecklichen
Anfang".
VRANITZKY: Na gut, aber das kann doch nicht heißen, daß man einer Art
Selbstaufgabe das Wort reden soll. Denn dann könnte man die Politik abschaffen,
was manche Leute sicher begrüßen würden, und sagen, hier, wir stellen wie in
Peking vor dreißig Jahren überall große Tafeln auf mit Wandzeitungen, und da
schreiben wir die relevanten Passagen von Nietzsche und Schopenhauer und Rilke
drauf, die Geschichte ist ein Kreis, nach den sieben fetten kommen die sieben
mageren Jahre, so ist die Welt, Burschen, da kann man nichts machen.
Was würde, wenn man das täte, nach Ihrer Meinung passieren?
VRANITZKY: Es würde folgendes passieren. Die Leute würden einen wählen und
sagen, du, das ist ganz furchtbar, mach was dagegen.
Sie würden sich einen Führer suchen.
VRANITZKY: Ja, oder es würden sich welche zusammenrotten und eine Gruppe
gründen, einen Verein, eine Cosa Nostra, was weiß ich, und dann würden sie
kandidieren und genauso sein wie eine Partei. Man redet heute dauernd von
Parteienverdrossenheit. Aber das ist doch ein Blödsinn, weil eine Demokratie
ohne Parteien nicht funktionieren kann.
Ihr Pressereferent Karl Krammer sagt, Sie sähen Ihre Aufgabe darin, das Volk
mit Entscheidungen, nicht mit Zweifeln, zu konfrontieren.
VRANITZKY: Ja, sicher.
Warum müssen Sie Ihre Zweifel für sich behalten?
VRANITZKY: Also, jetzt horchen S' einmal, ich sage doch gleichzeitig, daß sich
die Leute bewußt sein müssen, daß es sehr ernste Entwicklungen gibt und daß wir
zwar die Adressaten des Papstwortes von der "Insel der Seligen"
sind,****** aber nie eine Insel der Seligen waren und es auch nie sein werden.
Von Schönfärberei kann man nicht leben. Aber zugleich darf man keinem die
Hoffnung nehmen. Wir müssen trotz allem die Zugpferde sein. Denn würde ich mich
von den vielen sicher berechtigten Zweifeln oder Erfahrungen oder Tatsachen
erdrücken lassen, dann wäre die logische Konsequenz, aus der Politik
auszusteigen.
Das wollen Sie ohnehin in zwei Jahren tun.
VRANITZKY: Wer sagt das?
Sie selbst haben es 1986 gesagt.
VRANITZKY: Ich habe gesagt, die Zahl meiner Jahre als Bundeskanzler sollte
nicht zweistellig werden, aber der Begriff "zweistellig" ist nach
politischen Kategorien kein präzis arithmetischer Terminus.
Das heißt, Sie bleiben, wenn man Sie wählt, bis 1998 im Amt?
VRANITZKY: Ja.
Und was machen Sie dann?
KARL KRAMMER: Leben.
VRANITZKY: Das hat der Herr Krammer gesagt.
Stimmt es nicht?
VRANITZKY: Also, sagen wir so, es sollte auch nach der Politik noch ein Leben
geben.
Ihre Frau sagt, Sie seien zu empfindlich für einen Politiker. Wörtlich: »Wenn
es wirklich hart wird, geht er drauf.«
VRANITZKY: Hat sie das wirklich gesagt?
Es war zu lesen.
VRANITZKY: Das zweite hat sie bestimmt nicht gesagt.
Mir war klar, daß ein Gespräch mit Ihnen nicht einfach wird.
VRANITZKY: Weil man nicht weiß, was herauskommt.
Nein, weil ein Politiker immer überlegt, was er, ohne sich zu schaden,
öffentlich sagen darf.
VRANITZKY: Mmh.
Sie sitzen mir gegenüber und denken die ganze Zeit: Was darf ich sagen, was
nicht? Ist es nicht so?
VRANITZKY: Das ist in gewisser Weise schon so. Nur glaube ich nicht, daß das
auf die Begegnung Interview zu beschränken ist. Das trifft für jede öffentliche
Aussage zu. Wichtig ist nur, dabei nicht verkrampft zu werden, so daß man seine
Worte durch fünfzehn Filter schleust und am Schluß nichts herauskommt.
Von Churchill gibt es den Ausspruch, ein Diplomat sei jemand, der zweimal
nachdenkt, bevor er nichts sagt.
VRANITZKY: Richtig ist, daß einer, der an vorderster Stelle steht, nicht so
munter vor sich hintratschen kann. Politik muß ja als Führungsaufgabe
verstanden werden. Ein Politiker, der ein Amt hat, sollte auch Vorbild sein.
Der darf sich nicht einfach so gehenlassen. Er muß sich bewußt sein, daß er
sich vom populistischen Oppositionspolitiker zu unterscheiden hat und daß die
Staatsbürger in ihn bestimmte Erwartungen setzen. Wenn ein Oppositionspolitiker
in einer Talk-Show sagt, daß der Bundeskanzler oder ein Minister oder der
Notenbankpräsident eine aufgeblasene Pute mit Schlagobers ist, dann finden die Leute
das keß und lachen und sagen, was für ein Pfundsbursch der ist.
Das meine ich nicht.
VRANITZKY: Also, was meinen Sie?
Ein Politiker darf zum Beispiel nicht eingestehen, daß er ratlos ist.
VRANITZKY: Sich selber schon.
Richard von Weizsäcker hat in der Trauerrede für Willy Brandt von der
»produktiven Kraft des Zweifels« gesprochen. Von Brandt wußte man, daß er an
Depressionen litt, zeitweilig Alkoholiker war und an Selbstmord dachte.
VRANITZKY: Der Willy Brandt hatte nach seinem Rücktritt als Kanzler eine
unrunde Zeit. Er ist dann langsam wiedergekommen als Elder Statesman und als
langjähriger Präsident der Sozialistischen Internationale, und als er gestorben
war, haben ihn etliche Nachrufschreiber gerühmt als einen klugen Darleger des
Sowohl-als-auch. Eine solche Zensur bekommt ein aktiver Politiker nie, weil man
den frage: Was heißt "sowohl als auch", wofür sind Sie jetzt
eigentlich?
Das bedeutet, ein Politiker muß seine Depressionen verbergen.
VRANITZKY: Ja, weil sie als Schwäche ausgelegt werden und er dann als jemand
gesehen wird, der mit Recht in der Garage ist.
Sind Sie verletzlich?
VRANITZKY: Es gibt schon Dinge, die mich verletzen können.
Hat es Sie verletzt, daß man Sie, weil Sie aus dem Bankgeschäft kommen, als
»Nadelstreifsozialisten« bezeichnet hat?
VRANITZKY: Verletzt nicht, aber ich denke doch mit einer gewissen
Ernsthaftigkeit daran zurück, daß ich etliche Zeit investieren mußte, um das
Klischee abzubauen, das damit verbunden war. Denn mit dieser Bezeichnung ging
Hand in Hand, daß ich gefühllos, kalt und berechnend sei.
Der kalte Franz.
VRANITZKY: Ja.
Der Sie nicht sind.
VRANITZKY: Der ich bestimmt nicht bin. Meine Frau bemerkt das manchmal, wenn
wir mit dem Auto fahren oder spazierengehen und ich auf der Straße irgendwelche
Leute beim Raufen sehe. Ich bleibe dann stehen, gehe zu den Leuten hin und
sage: Hallo, was macht ihr denn da?
Im Ernst?
VRANITZKY: Ja, warum nicht? Ich habe mich auch an die Spitze einer Aktion gegen
Gewalt in der Familie gestellt. Mir geht dieses Schreckensbild, daß ein Mensch
der Brutalität eines anderen ausgesetzt ist, nicht aus dem Kopf. Da wird jemand
umgebracht, und dann sagen die Nachbarn, ja, wir haben seit sechs Monaten das
Schreien gehört. Aber getan haben sie nichts. Das finde ich fürchterlich.
Sind Sie als Kind von Ihren Eltern geschlagen worden?
VRANITZKY: Nein, nie.
Erinnern Sie sich an ein Kindheitserlebnis, das Sie mit Schmerz verbinden?
VRANITZKY: Ich weiß nicht, ob Schmerz der richtige Ausdruck ist. Es gab in dem
Haus, wo ich aufgewachsen bin, einen Bombentreffer. Da hat es einen Arbeiter,
der dort wohnte, erwischt. Dem wurde der Bauch aufgerissen. Der lag da. Ich war
sechs Jahre alt. Dieses Bild habe ich nie vergessen. Denn dadurch ist mir
bewußt geworden, was Tod bedeutet. Es bedeutet, daß danach nichts mehr ist. Es
ist aus. Jede Hoffnung ist abgeschnitten. Der Optimismus, der einen am Leben
hält, wird durch so einen Anblick unglaublich drastisch ad absurdum geführt.
Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt, sagt Thomas Bernhard.
VRANITZKY: Richtig. Das ist vielleicht auch der Grund für meine Vorbehalte
gegen die große Zahl der Selbstdarsteller, die man jetzt überall sieht, und die
offenbar ein immer größeres Publikum finden und dadurch zum Motor einer
Gesellschaft werden, die nur noch Oberflächlichkeit produziert.
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*) Franz Vranitzky, Solzaildemokrat, war von 1976-1981 stellvertretender
Generaldirektor der österreichischen Creditanstalt-Bankverein, von 1981-1984
Generaldirektor der Länderbank und von 1986 bis 1997 Bundeskanzler.
**) Fred Sinowatz, österreichischer Bundeskanzler von 1983 bis 1986
***) Zitat aus Enzensbergers Essay "Erbarmen mit den Politikern",
erschienen in der FAZ am 7. September 1992
****) Donauturm: Fernsehturm mit Restaurant in Wien, erbaut 1964
*****) KSZE: Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit, tagte erstmals 1973 in Helsinki, wurde 1995 umbenannt in „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit“ (OSZE)
******) Als eine "Insel der Glücklichen"
(später umformuliert in „Insel der Seligen“) bezeichnete Papst Paul VI.
Österreich anläßlich eines Vatikanbesuches des österreichischen
Bundespräsidenten Franz Jonas im Jahr 1971.
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Erschienen am 15. Februar 1993 in dem Wiener
Nachrichtenmagazin "profil"