Als ich im März 1989 den ersten Versuch unternahm, Ernst Jünger für ein ZEIT-Gespräch
zu gewinnen, dachte ich sofort, es könnte geschehen, daß der Tod des Dichters
meine Pläne durchkreuzt und ich, um aus meiner Vorbereitung dennoch Nutzen
zu ziehen, eine Abhandlung über ein durch den Tod des Interviewpartners vereiteltes
Interview schreiben müßte. Jünger war damals knapp vierundneunzig. Aus seinem
Buch über den Ersten Weltkrieg, "In Stahlgewittern", notierte ich
die Beschreibung seiner sechsten Verwundung: »Ich glaubte, ins Herz getroffen
zu sein, doch empfand ich bei der Erwartung des Todes weder Schmerz noch Angst.
Im Stürzen sah ich die weißen, glatten Kiesel im Lehm der Straße. Ihre Anordnung
war sinnvoll, notwendig wie die der Sterne und verkündete große Geheimnisse.«
Dreißig Seiten später der nächste Treffer: »Nun hatte es mich endlich erwischt
... Als ich schwer auf die Sohle des Grabens schlug, hatte ich die Überzeugung,
daß es unwiderruflich zu Ende war. Und seltsamerweise gehört dieser Augenblick
zu den ganz wenigen, von denen ich sagen kann, daß sie wirklich glücklich
gewesen sind.« Der Zwanzigjährige hatte zum vermutlich ersten Mal Glück erlebt:
im vermeintlichen Augenblick seines Todes.
Über das Glück im Todesaugenblick wollte ich mit Ernst Jünger sprechen. Er
hat es nicht nur an sich selbst erforscht. In den Gesichtern gefallener Krieger
entdeckte er einen Ausdruck von Frieden und Heiterkeit. In den letzten Worten
Verstorbener, die er akribisch gesammelt hat, äußert sich häufig ein frohes
Erstaunen. Angenehmes scheint uns bevorzustehen. Die Nähe des Todes, die Jünger
zunächst auf dem Schlachtfeld, später im Drogenrausch suchte, gewährte ihm,
dem Ungläubigen, Einblick in kommende Freuden. In seinem gedanklich wohl tiefsten
Werk, "An der Zeitmauer", schreibt er: »Der Tod ist eine Bruchstelle,
kein Ende.« Zu seiner Lieblingslektüre gehört die Erzählung "Der Tod
des Iwan Iljitsch" von Tolstoi, in der der Sterbende statt des Todes
ein Licht erblickt, Licht ohne Schatten.
Wer so um Beweise für ein schöneres Jenseits ringt, muß früh begriffen haben,
daß das Leben ein Schrecken ist. »Wir haben in einer harten Schule erkannt,
daß das Leben ungerecht ist und ungerecht sein muß, wenn es sich erhalten
will«, so Jünger 1927. »Wir glauben an keine allgemeine Moral.« Die Frucht
solcher Erkenntnis kann Zynismus sein, Depression oder Selbstmord. Jünger
fand einen vierten Weg. Er feierte das Entsetzliche. "Im Kampf, der alle
Übereinkunft vom Menschen reißt wie die zusammengeflickten Lumpen eines Bettelmannes,
steigt das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grunde der Seele auf. Da
schießt es hoch aus verzehrender Flamme, als unwiderstehlicher Taumel, der
die Massen berauscht, eine Gottheit, über den Heeren thronend. Wo alles Denken
und alle Tat sich auf eine Formel zurückführt, müssen auch die Gefühle zurückschmelzen
und sich anpassen der fürchterlichen Einfachheit des Zieles, der Vernichtung
des Gegners."
So steht es in der 1922 publizierten Schrift "Der Kampf als inneres Erlebnis".
Hinter Jüngers Kriegsbegeisterung verbirgt sich eine verzweifelte Sehnsucht
nach Ordnung. »Der Anblick des Gegners bringt neben letztem Grauen auch Erlösung
von schwerem, unerträglichem Druck.« »Das Kämpfertum, der Einsatz der Person,
und sei es für die allerkleinste Idee, wiegt schwerer als alles Grübeln über
Gut und Böse.« »Kopf hoch, laß die Gedanken im Winde zerflattern.« »Leben
heißt töten.« So einfach wird plötzlich alles. Der von Nietzsche konstatierte
Werteverfall hat einen moralischen Trümmerhaufen zurückgelassen. Die Kirche
steht seit Inquisition und Hexenverbrennung als der größte Verbrecher da.
Rousseaus Utopie einer brüderlichen Gesellschaft zerplatzte im Blutrausch
der Jakobiner, und an ein marxistisches Paradies auf Erden konnte Jünger schon
1920 nicht glauben. Wie aber den Verlust aller Illusionen ertragen? Er schlägt
den Ausweg in die Ekstase vor: »Das ist ein Rausch über allen Räuschen, eine
Entfesselung, die alle Bande sprengt. Es ist eine Raserei ohne Rücksicht und
Grenzen, nur den Gewalten der Natur vergleichbar. Da ist der Mensch wie der
brausende Sturm, das tosende Meer und der brüllende Donner. Dann ist er verschmolzen
ins All, er rast den dunklen Toren des Todes zu wie ein Geschoß dem Ziel.«
In tödlicher Gefahr bleibt keine Zeit mehr zum Grübeln, und spätestens im
Tod endet das Chaos: »Er ist auf dieser unvollkommenen Welt ein Vollkommenes
und die Vollendung schlechthin.« Am 8. Dezember 1941 liest Jünger in Paris,
wo er die Kriegsjahre als Offizier im Stab des Militärbefehlshabers für das
besetzte Frankreich verbringt, Abschiedsbriefe erschossener Geiseln. Er notiert:
»Die Lektüre kräftigte mich. Der Mensch scheint in dem Augenblick, in dem
man ihm den Tod verkündet, aus dem blinden Willen herauszutreten und zu erkennen,
daß der innerste aller Zusammenhänge die Liebe ist. Außer ihr ist vielleicht
der Tod der einzige Wohltäter auf dieser Welt.« Über die Wohltat des Todes
hat er sich oft geäußert. Daß daneben die Liebe gleich hoch rangiert, hat
er wohl nicht angenommen. » Was ich am Menschen liebe, ist sein Wesen jenseits
des Todes«, schreibt er ins Tagebuch. »Die Liebe hier ist ein matter Abglanz
nur.« Zwar gibt es Andeutungen über erotische Abenteuer. In Brüssel, wohin
es ihn während des Ersten Weltkriegs verschlägt, erfreut ihn der Aufmarsch
der Nutten: »Da paradierte in langen Reihen bereite Weiblichkeit, die Lotosblumen
der Asphalte.« In Vincennes geht er am 1. Mai 1941 mit einer jungen Kontoristin
ins Kino. »Ich berührte dort ihre Brust. Ein heißer Eisberg, ein Hügel im
Frühling, in den Myriaden von Lebenskeimen, etwa von weißen Anemonen, eingebettet
sind.«
Doch von größeren Leidenschaften wird nicht berichtet. Umm-el-Banine, eine
aus Aserbaidschan gebürtige Schriftstellerin*, die Jünger in Paris kennenlernte,
beklagt in einem bisher nur auf französisch erschienenen Buch** über den unerwidert
Geliebten, sie habe sich neben ihm nie als Frau gefühlt. Wahrscheinlich war
sie zu klug. »Bei klugen Frauen«, so Jünger im Tagebuch, »ist es schwierig,
die Distanz zum Körper zu überwinden, als ob sie der stets wache Geist mit
einem Gürtel rüstete, der die Begierde zum Scheitern bringt.« Kriegsbedingte
Phasen der Abstinenz hat er gut ausgehalten. »In langen Zeiten der Askese,
in denen wir selbst die Gedanken zähmen, empfangen wir einen Vorgeschmack
von Altersweisheit, Serenität.« Anläßlich seiner Heirat mit der Offizierstochter
Gretha von Jeinsen, 1925 in Leipzig, schreibt er der Großmutter knapp: »Wir
verstehen uns recht gut.« Und als er nach Grethas Tod 1960 mit der 22 Jahre
jüngeren Archivarin Liselotte Lohrer zusammentrifft, meldet er Banine nach
Paris: »Ich werde ihr eine bessere Beschäftigung suchen.« Gemeint ist die
Ehe.
Bei meinem ersten Besuch im oberschwäbischen Wilflingen, wo Jünger seit 1950
die ehemalige Oberförsterei des Stauffenbergschen Schlosses bewohnt, konfrontierte
ich ihn mit der, wie ich gestehe, gewagten These, er habe das Weibliche in
sich unterdrückt und sich von Frauen, die ihr Begehren zeigten, bedroht gefühlt.
Daß es zu diesem Besuch überhaupt kam und was sich daraus noch entwickeln
sollte, hätte ich mir im Frühjahr 1989, als ich die ersten Kontakte knüpfte,
nicht träumen lassen. Jüngers Unzugänglichkeit war mir bekannt. Der "Spiegel"
hatte zehn Jahre auf ein Interview warten müssen. Der Klett-Cotta-Verlag wies
mich dezent auf das Alter des Dichters hin. Ich schrieb ihm trotzdem. Sechs
Wochen später kam eine Karte von seiner Frau. Ihr Mann verstehe, »daß er auf
Grund seiner hohen Jahre ein besonders begehrtes Objekt darstelle«, aber er
wolle kein Interview geben. Ich schlug statt eines Interviews einen Spaziergang
vor. Zu meinem Erstaunen stimmte Jünger nun zu. Doch als ich ihn am 8. November
besuchte, war es zu kalt zum Spazierengehen. Er empfing mich in seinem Arbeitszimmer.
In einem Terrarium, das neben dem Schreibtisch stand, verendete gerade eine
afrikanische Fangheuschrecke. Sie lag auf dem Rücken. Jünger sagte: »Ich hoffe,
daß dies nicht mit unserer Unterredung zusammenhängt.« Sein Humor überraschte
mich. In seinen Büchern ist davon nichts zu spüren. Er lacht mit metallischem
Klang in zwei kurz aufeinanderfolgenden Tönen, die in der gedruckten Fassung
des Gesprächs realitätsgetreu als »haha« erschienen. Im nachhinein kommt es
mir vor, als habe der Homme de lettres, der bis heute seine täglichen Gedanken
auf losen Blättern, die er abheftet, festhält, sogar sein Lachen in Schrift
verwandelt. Anfangs lachte ich mit, um ihn aufzutauen. Doch ich erreichte
das Gegenteil. Jünger verstummte, als schrecke er vor seinem Echo zurück.
Der heitere Ausdruck in dem immer noch jungenhaften Gesicht schlug um in Traurigkeit.
Ich fragte, ob er verzweifelt sei. Das Tonband lief. Er schaute zum Fenster
hinaus. »Dessen rühmt man sich nicht«, sagte er später.
In seinen Aufzeichnungen aus den Pariser Jahren ist mehrmals von depressiven
Schüben die Rede. Als er im März 1942 von den Konzentrationslagern in Polen
erfährt, denkt er an Selbstmord: »Solche Nachrichten löschen die Farben des
Tages aus. Man möchte die Augen vor ihnen schließen, doch ist es wichtig, daß
man sie mit dem Blick des Arztes betrachtet, der eine Wunde prüft. Sie sind
Symptome des ungeheuren Krankheitsherdes, den es zu heilen gilt, von dem ich
glaube, daß er heilbar ist. Wenn ich die Zuversicht nicht hätte, würde ich
unmittelbar ad patres gehen.« Die ihm von Kritikern, die gegen alles, was
geschieht, durch ihr Urteil gewappnet sind, hartnäckig vorgeworfene
Herzenskälte entpuppt sich als die unerbittlich sich auferlegte Verpflichtung,
da, wo die Erschütterung über die Ereignisse ihrem Erkennen im Wege steht, auf
die Erholung im Gefühl zu verzichten.
Nicht immer gelingt es. Als ihm die Aufsicht bei der Erschießung eines
Deserteurs übertragen wird, spielt er mit dem Gedanken, sich krank zu melden.
Dann geht er doch hin. »Im Grunde war es höhere Neugier, die den Ausschlag
gab.« Die Hinrichtung beschreibt er genau. Über dem Herzen des jungen Soldaten
wird ein Stück roten Kartons befestigt. »Ich möchte fortblicken, zwinge mich aber,
hinzusehen, und erfasse den Augenblick, in dem mit der Salve fünf kleine dunkle
Löcher im Karton erscheinen, als schlügen Tautropfen darauf. Der Getroffene
steht noch am Baum. In seinen Zügen drückt sich eine ungeheure Überraschung
aus.« Jünger kann die Bestürzung nicht unterdrücken: »Rückfahrt in einem neuen,
stärkeren Anfall von Depression.« Am 11. Januar 1945 erhält er die Nachricht
vom Tod seines älteren Sohnes, der, achtzehnjährig, bei Carrara gefallen ist.
»Der gute Junge«, notiert er. »Von Kind auf war es sein Bestreben, es dem Vater
nachzutun. Nun hat er es gleich beim ersten Male besser gemacht, ging so
unendlich über ihn hinaus.«
Es besser machen, das bedeutet für Jünger auch am Ende des Zweiten Weltkriegs:
sich sterbend opfern. Aber wofür? Die Antwort darauf zieht sich als roter Faden
durch das gesamte Werk: Blutopfer, Tod und Zerstörung sind nötig, damit Neues
entstehen kann. »Es ist ein großer Schatz von Opfern angesammelt als Grundstock
zum Bau der neuen Welt.« So verklärt erscheinen in der dem toten Sohn
gewidmeten Schrift "Der Friede" die Folgen des Krieges. »Das gute
Korn, das hier zerschroten wurde, darf nicht verloren gehen. Es muß uns Brot
gewähren für lange Zeit. Das wird nur sein, wenn wir den Sinn begreifen, den
diese Arbeit birgt.« Jüngers Schwäche ist, daß er den Schmerz über die
Schrecknisse, deren Zeuge er wird, nur mit dem Blick auf das Heil, das sie
begründen, erträgt. Ein Sisyphos, der den Stein sinnlos wälzt, ist er nicht.
Bei allem, was er tut und erleidet, muß er sich schon den Lohn vorstellen, und
sei es die Aussicht auf das jenseitige Licht.
Aber vielleicht wäre die Diagnose unseres Zeitalters, in dessen Abgrund er sah,
anders nicht möglich gewesen. Vorausschauend wie sonst keiner seiner
Generation, beschreibt er Anfang der dreißiger Jahre den Typus des der Maschine
verfallenen Technokraten, den er, etwas merkwürdig, »Arbeiter« nennt. Die
Katastrophe dieses Jahrhunderts ist in Jüngers Frühwerk en detail nachzulesen:
die Vergiftung der Flüsse, Verpestung der Luft, die wahllose Erweckung von
Bedürfnissen, die uns zu Sklaven ihrer Befriedigung macht, die Fortsetzung des
Krieges im Konkurrenzkampf der Wirtschaft, die nur noch an Kriegsverlusten zu
messende Todesbilanz im Straßenverkehr, das Diktat der Statistik, die Industrialisierung
der Freizeit, schließlich der als Fortschritt getarnte Freiheitsverlust durch
die Bequemlichkeiten der Wohlstandsgesellschaft. »Das Verkehrswesen, die
Versorgung mit den elementaren Bedürfnissen wie Feuer, Wasser und Licht, ein
entwickeltes Kreditsystem und viele andere Dinge, von denen noch gesprochen
werden wird, gleichen dünnen Strängen, freiliegenden Adern, mit denen der
amorphe Körper der Masse auf Tod und Leben verbunden ist.«***
Ein Knecht kann sich dem Herrn durch Flucht entziehen. Der Wohlstandsbürger ist
unentrinnbar an die Schläuche einer scheinbar zu seinem Nutzen errichteten
Intensivstation angekoppelt. »Einer organischen Konstruktion gehört man nicht
durch individuellen Willensentschluß, also durch Ausübung eines Aktes der
bürgerlichen Freiheit, sondern durch eine tatsächliche Verflechtung an ... So
ist es, um ein banales Beispiel zu wählen, ebenso leicht, in eine Partei
einzutreten oder aus ihr auszutreten, wie es schwierig ist, aus Verbandsarten
auszutreten, denen man etwa als Empfänger von elektrischem Strom angehört.« Man
möchte meinen, dies sei beklagenswert. Aber nein, Jünger bejubelt den Anbruch
einer von Uniformität, Gleichschritt und Automatismus geprägten Epoche. Was
ohnehin nicht zu verhindern ist, dem will er die Wege ebnen. In einer furiosen
Attacke gegen alles Feinsinnige wünscht er sich Analphabeten, gehorsame
Untertanen und eine durch totale Mobilmachung ferngesteuerte Masse. »Sie bietet
sich in Bändern, in Geflechten, in Ketten und Streifen von Gesichtern, die
blitzartig vorüberhuschen, der Wahrnehmung dar, auch in ameisenartigen
Kolonnen, deren Vorwärtsbewegung nicht mehr dem Belieben, sondern einer
automatischen Disziplin unterworfen ist.«
So ist es, und so soll es sein. »Es gibt keinen Ausweg, kein Seitwärts und
Rückwärts. Es gilt vielmehr, die Wucht und die Geschwindigkeit der Prozesse zu
steigern, in denen wir begriffen sind.« »Wenn man erkannt hat, was heute
notwendig ist, nämlich die Behauptung und der Triumph oder, wenn es sein muß,
auch die Vorbereitung zum entschlossenen Untergange inmitten einer durchaus
gefährlichen Welt, dann weiß man, welchen Aufgaben sich jede Art von
Produktion, von der höchsten bis zur einfachsten, zu unterstellen hat.« »In den
Sphären des Todes wird alles zum Todessymbol, und wiederum ist der Tod die
Nahrung, von der das Leben zehrt.« Man kann solche Sätze für zynisch halten.
Aber ist es weniger zynisch, vom sicheren Schreibpult aus, wissend, was draußen
geschieht, die Hoffnung als Prinzip zu verordnen?
Es ist eine Binsenweisheit: Zu innerer Freiheit gelangt, wer das als
unvermeidlich Erkannte bejaht. Nur er eignet sich als Prophet. Jünger hat die
mit dem Namen Hitler verbundene Katastrophe vorhergesehen. An die Möglichkeit,
sie abzuwenden, glaubte er nicht: »Die Perfektion der technischen Machtmittel
besteht in einem Zustande der Furchtbarkeit und der totalen
Vernichtungsmöglichkeit, die unüberbietbar ist ... Es ist ein romantischer
Gedanke, daß sich ihre Entfesselung, ihre Anwendung im Kampfe auf Leben und Tod
durch Gesellschaftsverträge unterbinden läßt. Die Prämisse dieses Gedankens
ist, daß der Mensch gut sei. Er ist aber nicht gut, sondern er ist gut und böse
zugleich. In jede Berechnung, die der Wirklichkeit standhalten soll, ist
einzubeziehen, daß es nichts gibt, dessen der Mensch nicht fähig ist. Die
Wirklichkeit wird nicht von Moralvorschriften, sie wird durch Gesetze
bestimmt.«
In diesen Gesetzen steht nichts vom ewigen Frieden und nichts von einem Leben
ohne Schmerz und Gefahr. "Nach dem Kriege hat die Verneinung des Schmerzes
als eines notwendigen Bestandteils der Welt eine späte Nachblüte
hervorgebracht. Diese Jahre zeichnen sich aus durch eine seltsame Mischung von
Barbarei und Humanität. Sie gleichen einem Archipel, wo gleich neben den Inseln
der Menschenfresser die Eilande der Vegetarier gelegen sind. Ein extremer
Pazifismus neben einer ungeheuerlichen Steigerung der Rüstungen,
Luxusgefängnisse neben den Quartieren der Arbeitslosigkeit, die Abschaffung der
Todesstrafe, während sich des Nachts die Weißen und die Roten die Hälse
abschneiden: Das alles ist durchaus märchenhaft und spiegelt eine bösartige
Welt, in der sich der Anstrich der Sicherheit in einer Reihe von Hotelfoyers
erhalten hat." Dies ist, wohlgemerkt, 1934 geschrieben.**** Zitiert wird
heute gern anderes aus jener Zeit.
Als ich Ernst Jünger am 3. Juli 1990 zum zweitenmal traf, war im
"Spiegel" gerade ein von Nikolaus Meienberg***** verfaßtes Pamphlet
erschienen, in dem der folgende Satz Jüngers Rassismus beweisen sollte: »Die
Erkenntnis der Verwirklichung der eigentümlichen deutschen Gestalt scheidet die
Gestalt des Juden ebenso sichtbar und deutlich von sich ab, wie das klare und
unbewegte Wasser das Öl als eine besondere Schicht sichtbar macht.« Jünger hat
das in größerem Zusammenhang 1930 für eine Zeitung geschrieben******, um
auf die Gefahr des Nebeneinander von Deutschen und Juden unter den damaligen
Verhältnissen hinzuweisen. Ich fragte ihn, ob ihn die Angriffe kränkten. Er
sagte lang nichts. Dann: »Das lenkt einen nur ab.« Kürzlich sei ihm ein Interview
mit Heiner Müller in die Hände gefallen, das habe ihn sehr belustigt. Müller
habe erklärt, ihm stünden die Haare zu Berge, wenn er lese, was er vor dreißig
Jahren geschrieben habe. Das könne er, Jünger, gut nachvollziehen.
Er war nun schon fünfundneunzig. An seinem Geburtstag, so erzählte er, habe er
auf einem ihm zu Ehren gegebenen Empfang des Ministerpräsidenten von Baden-
Württemberg mehr als 200 Hände geschüttelt. Außerdem habe er 900
unterschriebene Antwortkarten an Gratulanten verschickt. Man glaube immer,
seine Unterschrift sei ein Faksimile, aber das stimme nicht. Ich fragte, ob er
körperliche Beschwerden habe. Nein, sagte er, es geniere ihn fast. Früher
hätten die Leute, wenn es Zeit war zu sterben, in der Bibel gelesen und wären
so ins bessere Jenseits gegangen. Für ihn sei das schwieriger. Aber er mache
Fortschritte in der Annäherung. Unlängst habe er im Halbschlaf einen gedeckten
Tisch gesehen, darüber zwei wringende Hände wie die einer Wäscherin. Er nenne
solche Erscheinungen den dritten Gang. Er habe vor, sich ihrer Beschreibung in
verstärktem Maß zuzuwenden.
Der Tod ist das größte Abenteuer. Der Untergang kann die Erlösung sein. Im
Januar 1945 bereitet sich Jünger wieder einmal auf sein Ende vor. Er ist nach
Deutschland zurückgekehrt. Um sein Haus fallen Bomben. »Ich muß mich daher
bereithalten, innerlich rüsten, hinüberzutreten auf die andere, leuchtende
Seite des Seins, und zwar nicht unfrei, gezwungen, sondern mit innerer
Zustimmung, mit ruhiger Erwartung vorm dunklen Tor.« Wenig später erfährt er
vom Tod des Sohnes. Im April marschieren die Sieger ein. Er beobachtet vom
Fenster die vorüberrollenden Panzer. Abends notiert er: »Man kann das
Notwendige sehen, begreifen, wollen und sogar lieben und doch zugleich von
ungeheurem Schmerz durchdrungen sein. Das muß man wissen, wenn man unsere Zeit
und ihre Menschen erfassen will. Was ist Geburtsschmerz, was ist Todesschmerz
bei diesem Spiel? Vielleicht sind beide identisch, wie ja der Sonnenuntergang
zugleich auch Sonnenaufgang für neue Welten ist.« Am 10. August hört er durch
einen Freund vom Atombombenabwurf der Amerikaner. »Sogleich ergriff mich
heftiger Kopfschmerz, der immer noch währt.«
Die neuen Welten könnten menschenleer sein. »Die Aussicht auf das Ende der
Dinge kann eine große Erleichterung, eine mächtige Befreiung bewirken«,
schreibt Jünger in "An der Zeitmauer", das 1959 erscheint. "Es
kommt darauf an, was der Mensch dem Untergang gegenüber in die Waagschale zu
werfen hat. Das Mindeste ist Unerschrockenheit." "Der Zug wird
abfahren, gleichviel, ob wenige in ihm sitzen oder viele. Die Bremsen sind
gelöst. Er wird auch abfahren, wenn überhaupt kein Mensch in ihm sitzt.« Das
wäre das größte Opfer: Die Selbstvernichtung der Menschheit, damit der Planet
sich regeneriert. Doch selbst im Untergang soll noch Ordnung herrschen. Ein
Kapitän, der die Ruhe bewahrt, verhindert das Chaos auf dem sinkenden Schiff:
"Auch dort, wo das Entkommen ausgeschlossen ist, wird ein solcher Chef
dafür sorgen, daß sich die Dinge menschlich und nicht nach dem Muster der tierischen
Panik oder der Kannibalenhorde vollziehen."
Jünger verleugnet sich nicht. Diszipliniert sollen wir untergehen, zum Schmerz
bereit, furchtlos. »Es steht nicht frei, die Katastrophe zu vermeiden, doch
gibt es Freiheit in ihr.« Bei meinem letzten Besuch in Wilflingen im April 1991
unterhielten wir uns über den Weltuntergang. Jüngers Frau, Liselotte,
beteiligte sich an dem Gespräch. "Aber mein Mann ist Optimist", sagte
sie. Mir fielen die hoffnungsvollen Prognosen in seinem Spätwerk ein. Der
musische Mensch werde den technischen überwinden, um nach einem anarchistischen
Interim einen Äon der Vergeistigung einzuleiten. Jünger schwieg. Der Dichter
verkündet die Hoffnung nicht, sondern verkörpert sie. Auf seinem Schreibtisch
lag der Ordner mit den Notizen vom Tage. Ich schlug ihn auf. Über die
unerklärliche Schönheit eines Maiglöckchens hatte er sich Gedanken gemacht. Ich
fragte, ob er ein Nachlassen der Lust zu schreiben verspüre. Er sagte, er wäre
froh, fiele ihm nichts mehr ein.
Später las ich ihm meinen Lieblingssatz aus seinem Roman "Heliopolis"
vor: »Das Gute kann nicht durch Einsicht allein gewonnen werden, es will durch
Schmerz und Irrtum, durch Schuld und Opfer erobert sein.« Wir tranken Tee und
aßen Baumkuchen aus Dresden, ein Geschenk zu seinem Geburtstag. Am 29. März war
er sechsundneunzig geworden. Ich erinnerte ihn an unser erstes Gespräch, in dem
er behauptet hatte, er habe "Mein Kampf" nicht gelesen, obwohl ihm
Hitler das Buch mit einer persönlichen Widmung zugesandt hatte. Ich könne nicht
glauben, daß er nicht neugierig gewesen sei. Er sagte, so viel Zeit habe er
auch wieder nicht. Bevor ich aufbrach, machten wir einen Rundgang durch die
Räume des Hauses. Auf einem Fensterbrett: gerahmte Fotos der verstorbenen
Freunde. Im Eßzimmer: der von Breker modellierte Kopf auf einem Sockel. Über
dem Bücherschrank: der Helm eines im Ersten Weltkrieg getöteten Briten. Heute
gebe es keine Kriege mehr, sagte Jünger. Krieg sei Arbeit geworden. Das habe
der Golfkrieg bewiesen. Ein von vornherein unterlegener Gegner werde wie auf
dem Schachbrett erledigt. Zuletzt zeigte er mir seine Käfersammlung. Ich
staunte über die in flachen Schubfächern zu Hunderten aufgespießten Wunder an
Farbkraft und Formenvielfalt. Manche Tiere waren so klein, daß man sie mit bloßem
Auge kaum sehen konnte. Ungewollt sprach ich einen Gedanken aus: "Wenn
Ihre Hände zu zittern beginnen, werden Sie auf das Käfersammeln verzichten
müssen." Jüngers Frau sagte: "Aber sie zittern nicht."
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*) Umm-el-Banine Assadoulaeff, 1905-1992.
**) "Ernst Jünger aux faces multiples", erschienen 1989 im Verlag »L'
Age d'Homme«.
***) Aus: "Der Arbeiter", erstmals
veröffentlicht 1932, neu aufgelegt bei Klett-Cotta 1981
****) "Über den Schmerz"
*****) Schweizer Schriftsteller und Journalist, nahm sich am 24. September 1993
im Alter von 53 Jahren das Leben.
******) "Süddeutsche Monatshefte", Nr.27, "Über Nationalismus
und Judenfrage", neu veröffentlicht in: "Ein
Ernst-Jünger-Brevier", Verlag des Bundes demokratischer
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, 1995
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Erschienen am 6. September 1991 unter der Überschrift "Vorm
dunklen Tor" in der ZEIT
Ernst Jünger verstarb am 17. Februar 1998, vierzig Tage vor seinem 103. Geburtstag.