Aus meinem zunächst nur beruflichen Kontakt mit Ernst Jünger, den ich am 8.
November 1989 für die ZEIT interviewte, ist Freundschaft geworden. Wir wechselten
Briefe. Er rief mich in regelmäßigen Abständen an, anfangs, um mich auf wohlwollende
Kritiken oder Zeitungsberichte über ihn hinzuweisen, später auch, um nach
meinem Befinden zu fragen oder mir Persönliches mitzuteilen. Fünfmal habe
ich ihn besucht, zweimal in seinem Haus in Wilflingen, dreimal bei seinem
Neffen*, bei dem er wohnte, wenn er zum jährlichen Treffen der Träger des
bayerischen Maximilianordens nach München kam. Daß er mir das Interview gab,
verdanke ich, so erzählte er mir, der zweiten Frau Friedrich Dürrenmatts,
der Journalistin Charlotte Kerr, die ihn um ein Gespräch für das Fernsehen
gebeten hatte. Sie habe ihn, sagte er, vor mir gewarnt. Ich sei ein gefährlicher
Mensch, vor dem er sich hüten solle. Darauf habe er erwidert, das halte er
für ein Kompliment, und beschlossen, mir zuzusagen. Sogar einer Tonbandaufzeichnung
stimmte er nach einigem Zögern zu.
Nach Erscheinen des Interviews schrieb er mir: »Jedenfalls haben Sie das Gespräch
auf ein anderes Gleis zu heben versucht als auf das, was sich seit Jahrzehnten
bis zum Überdruß eingefahren hat.« Daß ich ihm nicht mit dem in den Medien
ständig wiederholten Vorwurf begegnet war, er habe durch seine frühen Schriften
dem Nationalsozialismus den Weg geebnet, ließ ihn wohl hoffen, in mir jemanden
gefunden zu haben, der öffentlich für ihn »eine Lanze bricht«. Er hat diese
Formulierung mehrmals benutzt. Seine Haltung in der Auseinandersetzung um
seine Person war widersprüchlich. Einerseits betonte er immer wieder, er habe
Wichtigeres zu tun, als sich gegen die Angriffe zu wehren, andererseits schickte
er mir Material zu seiner Verteidigung, darunter die Kopie eines Briefes von
Francois Mitterrand, den er zu seinen Verehrern zählte, Zeitungsartikel aus
Frankreich, in denen er als »zweiter Goethe« gefeiert wurde, Zuschriften von
Fans und Prosastücke, zu deren Veröffentlichung ich ihm verhelfen sollte.
Erst als ich ihm deutlich machte, daß ich zu derlei Diensten nicht tauge,
brach die Schale seiner scheinbar durch nichts zu erschütternden Gelassenheit
auf. Nun zeigte er seine Gefühle. Die Anfeindungen taten ihm weh. Er wäre
»gar nicht mehr da«, sagte er, wenn er seine alten Freunde nicht hätte. Es
käme ihm so vor, als wäre Metternich wiederauferstanden, »aber paradoxerweise
dadurch, daß die Medien heute bestimmen, was als wahr zu gelten hat, während
die eigentlichen Wahrheiten nur anonym kursieren«.
Daß man ihn in einem Artikel der ZEIT mit Leni Riefenstahl auf eine Stufe
stellte, nannte er einen »Rattenpfiff«· Anfang 1995 führten die Verunglimpfungen,
die inzwischen zu einem Hauptthema unserer Telefonate geworden waren, zu einem
von der Presse kaum wahrgenommenen Lapsus, der mir für den Umgang mit Jünger
in Deutschland bezeichnend scheint. Im Januar wurde an der Berliner Volksbühne
ein Tanzstück des Choreographen Hans Kresnik mit dem Titel "Ernst Jünger"
uraufgeführt. Auf den Bühnenvorhang projizierte antisemitische Parolen, die
man Jünger zuschrieb, dienten zur Einstimmung des Publikums. Wochen später
mußte das Theater den Irrtum eingestehen. Die Sätze stammten von einem anderen**.
Der ZEIT war der Vorfall nur eine kurze Glosse wert. Zwar berichtigte man
die in der Rezension der Aufführung wiederholte Verwechslung, versuchte aber
zugleich, Jüngers »eigenen Antisemitismus« mit folgendem Zitat zu belegen:
»Im gleichen Maße, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt,
wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu
können, unvollziehbar werden, und er wird sich vor seiner letzten Alternative
sehen, die lautet: in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein.«***
Ich sandte Jünger die Glosse zu. Er schrieb zurück: "Ich rechne das den
Vorwehen meines nächsten Geburtstages**** zu, der manchen ein Ärgernis zu
sein scheint.«
Über seine Position zur Judenfrage Anfang der dreißiger Jahre hatten wir uns
davor oft unterhalten, so auch bei unserer Begegnung am 17. Februar 1993,
die der Fotograf Joseph Gallus Rittenberg auf Videoband aufnehmen durfte.
Teile des Films wurden in der Sendung "News and Stories" im April
1994 von Sat I ausgestrahlt. Antisemitische Äußerungen, so erklärte mit Jünger,
könne es nicht von ihm geben, das wäre mit seinem Naturell nicht vereinbar:
"Ich habe nur festgestellt, daß sich die Deutschen und die Juden auf
eine Weise entfremdet hatten, daß es besser gewesen wäre, sie wären auseinandergegangen.«
Ich fragte ihn, wie er sich das vorgestellt habe. Er antwortete: "Die
Juden hätten auswandern können. Das wäre sicher zu ihrem Vorteil gewesen.«
Man mag dies erschreckend finden. Falsch ist es nicht. Daß Jünger, wie behauptet
wird, seine während des Dritten Reiches publizierten Ansichten habe vertuschen
wollen, weil die Zeitungsaufsätze, die man heranzieht, um ihn zu beschuldigen,
nicht in der Gesamtausgabe seiner Werke enthalten sind, kann ich hier widerlegen.
Schon bei meinem zweiten Besuch fragte er mich, ob er sie, um den Verdächtigungen
ein Ende zu machen, als Sonderband den Werken hinzufügen solle. Er wisse zwar
nicht, was er da alles geschrieben habe, das seien "abgestreifte Schlangenhäute«,
"alte Kamellen«, aber es wäre doch günstiger, wenn seine Gegner das im
Zusammenhang vor sich hätten. Ich habe ihm abgeraten. Er solle denen, die
so viel Freude am eigenen Spürsinn hätten, den Spaß nicht verderben.
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Sie haben sehr früh den Tod gesucht.
ERNST JÜNGER: Ich weiß nicht. Man könnte sagen, daß ich ein anderes Verhältnis
zum Tode als das übliche habe.
Ein von Neugier bestimmtes.
JÜNGER: Ja, und das bringt mir sehr viele Leute, denen das nicht angenehm
ist, als Kritiker ein. Man hat mir zum Vorwurf gemacht, ich hätte während
des Zweiten Weltkriegs mit einer übernatürlichen Neugier der Erschießung eines
Deserteurs beigewohnt.
Sie haben es selbst so beschrieben.*****
JÜNGER: Gewiß. Aber diese Neugier würde sich natürlich noch steigern, wenn
es sich um meinen eigenen Tod handelte.
Leider werden Sie darüber nicht schreiben können.
JÜNGER: Man hat mir auch dieses berühmte Glas Sekt vorgeworfen, das ich auf
dem Dach des Hotels "Raphael" trank, als die Engländer Paris bombardierten******.
Aber so ist das eben. Wenn einer sagt, die Leute unten sind mir unangenehm
und auch die oben, die drüberfliegen, ich trinke lieber mit dem Tod ein Glas
Sekt, dann ärgert das viele.
Schon im Ersten Weltkrieg haben Sie sich, meist ohne Helm, in verwegene Einzelaktionen
gestürzt und die Gefahr genossen.
JÜNGER: Gott, die Sache hat mir eben nicht so viel Angst gemacht.
Hatten Sie Todessehnsucht?
JÜNGER: Das will ich nicht sagen.
Warum haben Sie Ihr Leben unnötig aufs Spiel gesetzt?
JÜNGER: Ein junger Mensch denkt über so etwas gar nicht nach. Der philosophiert
nicht in diese Richtung. Die Leute sagten damals, es wird alles zu lasch.
Die wollten, daß mal wieder ein richtiger Krieg kommt. Mich hat unlängst ein
junger Italiener besucht, der sagte, in seiner Biographie fehle ein Krieg.
Aber der stellt sich natürlich etwas anderes vor. Der klassische Krieg ist
ja unmöglich geworden. Trotzdem wurden nie so viele Kriege geführt wie augenblicklich.
Denken Sie an Libanon, Nicaragua, da ist überall etwas los. Auch was in der
DDR geschieht, ist eine starke Bewegung*******. Vieles ist unklar. Man könnte
sagen, das Zeitalter des Wassermanns ist ein Übergang. Man weiß nicht, was
recht ist, was noch gilt und was nicht mehr gilt.
In Ihrem Buch über den Ersten Weltkrieg "In Stahlgewittern" schreiben
Sie: »Aufgewachsen in einem Zeitalter der Sicherheit, fühlten wir alle die
Sehnsucht nach dem Ungewöhnlichen, nach der großen Gefahr.«
JÜNGER: Ja, gut.
Der Krieg habe Sie "gepackt wie ein Rausch". Sie erwarteten ein
"fröhliches Schützengefecht" auf "blutbetauten Wiesen".
JÜNGER: Wissen Sie, dieses Buch habe ich als Primaner geschrieben.
Was empfinden Sie, wenn Sie das heute lesen?
JÜNGER: Ich klopfe dem jungen Mann auf die Schulter, weil er sich so gezeigt
hat.
In Ihrer Schrift "Der Kampf als inneres Erlebnis" ist von der "Wollust
des Blutes" die Rede, "die über dem Kriege hängt", von "Orgien
der Wut" und der "Freude des Sterbens" im "sprühenden
Krater versunken geglaubter Triebe".
JÜNGER: Was ich da alles losgelassen habe, ich weiß es nicht mehr.
Soldaten sind "Jongleure des Todes", "prächtige Raubtiere",
"Leben heißt töten". Der Kampf erscheint als "auf die Spitze
getriebenes Mannstum", an anderer Stelle als "die männliche Form
der Zeugung". Ist Ihnen das fremd geworden?
JÜNGER: Man gewinnt ohne Zweifel einen gewissen Abstand. Aber sicher habe
ich an der großen Begeisterung teilgenommen, die ja heute fast unverständlich
geworden ist.
Mir nicht.
JÜNGER: So?
Sie haben den Frieden nicht ausgehalten.
JÜNGER: Meinen Sie?
Pascal schreibt, der Mensch erträgt keine Ruhe, weil sie ihn zur Verzweiflung
treibt. Er muß sich zerstreuen.
JÜNGER: Naja.
Sie haben den Krieg gebraucht, um sich abzulenken.
JÜNGER: Ich hätte auch als Zoologe gut leben und mich nur mit der Betrachtung
der Tiere beschäftigen können. Ich wollte ja nach Afrika gehen. Das wäre mir
lieber gewesen als Krieg zu führen. 1913 ging ich zur Fremdenlegion und kam
nach Algerien. Ich war gewissermaßen der erste Emigrant.
Aber Sie haben sich diesen Kontinent vorgestellt ...
JÜNGER: ... mit Kannibalen und so.
Sie suchten das Abenteuer.
JÜNGER: Natürlich.
Die Todesnähe.
JÜNGER: Ja, das sind Annäherungen, gewiß. Dazu gehören auch meine Experimente
mit Drogen. Ich war nach dem Krieg bei einer der ersten Sitzungen mit Albert
Hofmann, der das LSD entdeckt hat. Bis dahin wußte man gar nicht, daß es das
gibt. Ich sehe die Droge als Schlüssel, der uns die Augen öffnet für eine
verborgene Welt. Aber man muß da vorsichtig sein. Ich habe große Schwierigkeiten
gehabt mit meinem Buch "Drogen und Rausch", als ob ich damit junge
Leute verführen wollte.
Sie haben das Todesrisiko ausdrücklich einbezogen. Schon in Ihrem 1949 publizierten
Roman "Heliopolis" fragen Sie: »Muß aber nicht das stärkste Arkanum
notwendig tödlich sein?«
JÜNGER: Ja, ich habe da den Begriff des Hauptschlüssels gewählt. Für mich
ist die Drogenerfahrung ein Generalexperiment, das wahrscheinlich im nächsten
Jahrhundert seine Lösung erfährt.
In welcher Form?
JÜNGER: Daran arbeiten alle möglichen Leute, Chemiker, Psychologen. Es gibt
doch heute schon viele, die sich mit Hilfe von Pillen auf irgendwelche Gemütsbewegungen
einstellen. Die Menschen suchen etwas. Aber sie sind dem oft nicht gewachsen.
Deshalb fordert es große Opfer.
Nehmen Sie heute noch Drogen?
JÜNGER: Nein.
Sie werden im März fünfundneunzig. Man möchte es fast nicht glauben .
JÜNGER: Nicht?
Zumal Sie immer noch Bücher schreiben.
JÜNGER: Gut, aber das ist zunächst nur ein rein physiologisches Phänomen.
Es gab Ältere als mich. Fontenelle******** wurde hundert, zum Beispiel.
Schrieb der auch noch?
JÜNGER: Ja, aber sehr matt. Da sollte man's lieber lassen. Wenn einer sagt,
der schreibt in so hohem Alter noch Bücher, kann er auch sagen, der geht auf
Händen über den Markusplatz. Das ist ein Kuriosum, aber es hat mit Literatur
nichts zu tun. Wichtig ist, daß die literarische Leistung noch gut ist.
Sind Sie gesund?
JÜNGER: Ich bin gesund, und, wissen Sie, ein Gesunder denkt über seine Gesundheit
nicht nach.
Erleben Sie die Nähe des Todes, in die Sie nun gewissermaßen unfreiwillig
gelangt sind, als ebenso spannend wie die Abenteuer, in die Sie sich aus eigenem
Antrieb begeben haben?
JÜNGER: Mit dieser Frage habe ich mich noch nicht beschäftigt.
Was erwarten Sie, wenn es aus ist?
JÜNGER: Ich nehme an, daß vieles angenehmer wird, als man es sich gemeinhin
vorstellt. Auf Totenmasken sehen Sie oft einen sehr heiteren Ausdruck. Leon
Bloy sagte, als er schon beim Übergang war, auf die Frage, was er empfände:
une immense curiosité. Tolstoi schreibt in "Der Tod des Iwan Iljitsch":
Anstelle des Todes war ein Licht da. In meiner Sammlung letzter Worte gibt
es den Fall eines Mannes, der aufgehängt wurde. Der Strick riß. Er lag wieder
unten. Man fragte: Was haben Sie denn erlebt? Er sagte, er habe den Eindruck
gehabt, einer Hängerei in einer anderen Welt beizuwohnen.
Er hat sich selbst hängen sehen.
JÜNGER: Ja, ist doch gut. Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Mensch manchmal
verschwinden könnte, um sich von oben zu sehen.
Er würde sich freier fühlen.
JÜNGER: Ja, eben.
Sie haben dafür den Begriff der »Selbstentfernung« geprägt. Der Mensch wird
zum Beobachter der Ereignisse, in die er verwickelt ist. Durch die Distanz
bleibt er, ob als Täter oder als Opfer, innerlich unberührt.
JÜNGER: Das ist richtig. Sie können in Verhältnisse kommen, die unangenehm
sind. Aber Sie können daraus noch was machen. Sie werden, sagen wir mal, als
Soldat eingezogen. Die einen spielen in den Gefechtspausen Karten, die anderen
lesen.
Das bedeutet, der Mensch kann seine Freiheit bewahren, indem er die Lage,
in die er geraten ist, als eine Art Schauspiel betrachtet.
JÜNGER: Ja, natürlich.
So gesehen hätte sich, um ein extremes Beispiel zu nennen, auch ein Jude im
Konzentrationslager frei fühlen können.
JÜNGER: Theoretisch ohne Zweifel.
Aber Sie stellen nicht diesen Anspruch?
JÜNGER: Um Himmels willen, nein.
Das wird oft mißverstanden.
JÜNGER: Ich halte es für besser, wenn man versucht, sich in die Situation
des einzelnen hineinzuversetzen. Es stirbt doch jeder für sich allein.
Mißverständlich ist auch, was Sie über den Sinn des Opfers geschrieben haben.
JÜNGER: Aha.
Das millionenfache Sterben in den Kriegen sei nötig gewesen, damit Neues entstehen
könne.
JÜNGER: Ja, aber das sind Dinge, die mit großer Behutsamkeit zu behandeln
sind. Da sagt man dies, oder man sagt das Gegenteil, und immer ist es verkehrt.
Schon das Wort "Opfer" wirft Fragen auf. Was ist ein Opfer? Es gibt
das freiwillige Opfer, mit dem ich einverstanden bin, das ist ein Opfer, das
ich bringe, und es gibt Menschen, die gegen ihren Willen geopfert werden.
Das Verletzen von Unbewaffneten empfinde ich als sehr unangenehm.
Unangenehm schon, aber nicht sinnlos.
JÜNGER: Wissen Sie, das sind Themen, die eigentlich tabu sind. Das sind Geheimnisse.
Darüber muß man nicht sprechen.
Ihr Sohn ist 1944 in Italien gefallen*********. Er war achtzehn Jahre alt.
War dieser Tod sinnvoll?
JÜNGER: Jedenfalls war das kein armes, verführtes Kind. Er hat sich freiwillig
gemeldet und ist gefallen. Das ist doch nicht sinnlos.
In Ihrem Tagebuch ist der Vermerk über die Todesnachricht eine der wenigen
Stellen, an denen man spürt, daß Sie Schmerz empfinden. Fällt es Ihnen schwer,
über Ihre Gefühle zu schreiben?
JÜNGER: Ich äußere mich ungern darüber.
Golo Mann hat das bemängelt. Man erfahre in Ihren Büchern zu wenig über Ihr
Leiden.
JÜNGER: Das ist mir neu. Ich war kürzlich mit Golo Mann zusammen. Da hatte
er ein Leiden am Fuß. Außerdem hat er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
über irgendwelche Leute geschrieben, die er zu Gegnern hat. Das würde ich
nicht tun.
Weil es Ihnen nichts ausmacht, Gegner zu haben?
JÜNGER: Na, es ist natürlich nicht angenehm.
Sind Sie verletzlich?
JÜNGER: Jeder Mensch ist verletzlich.
Hat es Sie verletzt, daß Gottfried Benn, mit dem Sie befreundet waren, Sie
hinter Ihrem Rücken beschimpft hat?
JÜNGER: Hat er mich beschimpft?
Er hat Sie »weichlich, eingebildet, wichtigtuerisch und stillos« genannt.
JÜNGER: Er hat über mein Buch "Strahlungen" dies und jenes geäußert,
und er hatte wohl Gründe, sich darüber zu ärgern. Denn sein Verhältnis zum
Dritten Reich war doch von meinem sehr unterschieden. Ich habe mich von den
Nationalsozialisten sehr früh distanziert, was er nicht getan hat. Das nahm
er mir vielleicht übel.
Sie haben auch früh, so sagen Sie, den Charakter Hitlers erkannt.
JÜNGER: Ja, gut.
Trotzdem haben Sie ihm Ihre Bücher geschickt und von ihm, gewissermaßen als
Dank, "Mein Kampf" bekommen.
JÜNGER: Das ist etwas anderes.
Haben Sie sein Buch gelesen?
JÜNGER: Nein.
In Ihrem 1959 erschienenen Hauptwerk "An der Zeitmauer", in dem
Sie vom sinnvollen Opfer sprechen, schreiben Sie, auch der Täter sei nötig
»als Werkzeug zur Veränderung der Welt«.
JÜNGER: Sie haben das Buch gelesen. Das freut mich.
Haben Sie bei diesem Satz an Hitler gedacht?
JÜNGER: Nein, überhaupt nicht.
Aber der Gedanke drängt sich doch auf. Keine andere Person dieses Jahrhunderts
hat die Welt so verändert.
JÜNGER: Das ist klar. Ohne Hitler sähe die Welt heute anders aus. Aber er
ist doch für uns eine sehr verhängnisvolle Gestalt geworden.
Verhängnisvoll, aber nötig als Werkzeug.
JÜNGER: Ja, aber wenn Sie solche Gedanken äußern, stehen Sie schon als Faschist
da.
Haben Sie diese Erfahrung gemacht?
JÜNGER: Nein, denn ich habe das ja nicht ausgesprochen.
Im dunkeln bleibt auch, was Sie über die Zukunft der Menschheit denken. Einerseits
kündigen Sie ein goldenes Zeitalter an, in dem es weder Grenzen noch Kriege
gibt, andererseits halten Sie es für möglich, daß der Mensch demnächst ausstirbt.
JÜNGER: Man muß ja nicht alles sagen. Der Leser kann sich auch selbst etwas
denken. Ich lese gerade bei Nietzsche, es seien schon viele Tierarten verschwunden,
gesetzt, daß auch der Mensch verschwände, so würde nichts fehlen. Das hat
er vor über hundert Jahren geschrieben. Das ist doch erstaunlich.
Würden Sie das Fehlen von Menschen bedauern?
JÜNGER: Ja, ich bedaure auch, daß es keine Dronte mehr gibt. Jeder Verlust
ist bedauerlich.
Gleichzeitig ist er, so betonen Sie, eine Chance zur Erneuerung.
JÜNGER: Das ist natürlich eine Tatsache, schon rein mathematisch. Wenn, sagen
wir mal, die Polkappen vereisen, ist das irgendwie zwar ein Fehler, aber zugleich
wird Land frei. Umgekehrt wird, wenn sie schmelzen, das Land überflutet. Das
muß aber nicht bedeuten, daß es dann kein menschliches Leben mehr gibt. Wenn
Sie bedenken, daß die Intelligenz der Delphine schon heute der menschlichen
nahekommt, dann kann man sich vorstellen, daß eine ganz neue Welt entsteht.
Im Wasser ist es eigentlich auch viel angenehmer, weil die Schwerkraft weniger
lästig ist.
Sie sind trotz Ihres klaren Blicks stets Optimist geblieben.
JÜNGER: Wenn Sie das sagen.
Was macht Ihnen Hoffnung?
JÜNGER: Ich studiere den Mythos, und da erfährt man, daß der Titanismus, in
dem wir uns augenblicklich befinden, immer gescheitert ist. Nietzsches Übermensch
hat versagt. Ich setze auf den musischen Menschen, auf die Verbindung zum
Göttlichen überhaupt.
Sind Sie Christ?
JÜNGER: Nein. Das ist gar nicht nötig. Der einzelne tritt, wie Stirner sagt,
dem Verein ab und zu bei. Das kann die Nation sein, die Familie oder auch
eine Glaubensgemeinschaft. Er sieht sich das an wie im Zirkus, findet das
eine gut, das andere weniger, und geht dann wieder hinaus. Was immer er tut,
er bleibt er selbst. Ich habe ihn den Anarch genannt.
Im Gegensatz zum Anarchisten.
JÜNGER: Ja, richtig.
Der Anarch, so schreiben Sie, verwirklicht sich in jedem Regime. Er lebt äußerlich
angepaßt, fällt nicht auf. Er führt, auch wenn er in Reih und Glied kämpft,
seinen eigenen Krieg. Er weiß, daß er, wenn er es will, jederzeit töten kann,
übrigens auch sich selbst.
JÜNGER: Natürlich.
Haben Sie das für sich in Betracht gezogen?
JÜNGER: Zu töten?
Sich umzubringen.
JÜNGER: Nein.
Besonders eingehend haben Sie sich in Ihrer Schrift "Über die Linie"
zum Selbstmord geäußert.
JÜNGER: Das ist aber furchtbar lang her.
Ich zitiere: »Es gibt eine Gewißheit der unmöglich gewordenen Existenz. Dann
ist es sinnlos, daß der Herzschlag, der Kreislauf, die Sekretion der Nieren
sich fortsetzt, wie an einer Leiche das Ticken einer Uhr. Dann würde schauerliche
Verwesung die Folge sein.«
JÜNGER: So würde ich das heute nicht mehr ausdrücken.
Warum nicht?
JÜNGER: Das kommt mir doch etwas extrem vor.
Auch ist darin ein Denkfehler enthalten, denn Sie können doch, wenn Sie befolgen,
was Sie an anderer Stelle geschrieben haben, der Verzweiflung entgehen, indem
Sie Ihre Körperfunktionen zum Gegenstand der Beobachtung machen.
JÜNGER: Ja, aber das ist schon ein sehr moderner Gedanke. Man könnte sich
vorstellen, daß ein Mensch in einer Rakete die Welt umrundet, und ihm kann
nicht mehr geholfen werden. Da wird die Sache schon sehr transzendent, das
Transzendente streifend.
Sind Sie je in vergleichbarer Lage gewesen?
JÜNGER: Nein.
Wirklich einsam waren Sie nie.
JÜNGER: Zumindest nicht so, daß man sagen könnte, mir fiel die Decke auf den
Kopf. Dazu bin ich viel zu sehr mit Gedanken beschäftigt.
Außerdem ist es Ihnen gelungen, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen.
JÜNGER: Ja, das ist für den Anarchen sogar das beste. Ich habe jetzt die zweite
glückliche Ehe. Aber ich lebe auch mit meiner Frau ziemlich einsam. Oft ist
es so, daß wir zusammen frühstücken und abendessen, und dazwischen hat jeder
für sich zu tun.
Ihre Frau ist von Beruf Archivarin. Als Sie sie kennenlernten, umschrieben
Sie Ihren Heiratsplan mit dem Satz, Sie würden ihr eine bessere Beschäftigung
suchen.
JÜNGER: Haha!
So kühl formulieren Sie Liebesdinge.
JÜNGER: Naja.
Über Ihr Verhältnis zum anderen Geschlecht haben Sie wenig verraten.
Solche Bekenntnisse spare ich aus. Da gibt es Tabuzonen, nicht wahr. Aber
ich begrüße es sehr, daß die Frauen jetzt zur sogenannten Gleichberechtigung
kommen. Das hat eben auch mit dem Übergang in eine vergeistigte Zone zu tun,
obwohl natürlich Frauen immer schon geistige Wesen waren.
Wird man in Ihrem Nachlaß Intimeres finden?
JÜNGER: Von mir sicher nicht.
Also muß man sich, will man Ihre Psyche ergründen, an Ihre Figuren halten.
In dem Roman "Die Zwille" beschreiben Sie einen scheuen, ängstlichen,
überaus empfindsamen Knaben.
JÜNGER: Ja, das sind Individualisierungen.
Noch deutlicher wird in Ihrer Erzählung "Eine gefährliche Begegnung"
der Charakter eines zarten jungen Mannes gezeichnet. Die auf ihn gerichteten
Blicke der Frauen erscheinen ihm rätselhaft. »Er fühlte sich durch sie bedroht«,
heißt es da.
JÜNGER: Ach!
Dazu passen Fotos aus Ihrer Jugendzeit, die im Gegensatz zu Ihren martialischen
Äußerungen einen weichen, fast femininen Jüngling zeigen.
JÜNGER: Ja? Ich weiß es nicht. Ich habe dazu kein Verhältnis. Andere haben
sich dafür interessiert. Das ganze Haus ist voll von Büsten. Alle haben sie
meinen Kopf gemacht, von Breker bis Wimmer.
Es scheint, daß Sie Ihre sanfte Natur kriegerisch überwinden wollten.
JÜNGER: Aha. So? Überwinden? Ja, gut! Sehr gut.
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*) Gert Deventer, der Sohn von Ernst Jüngers Schwester Hanna.
**) Die Zitate stammten von dem nazistischen Journalisten Ernst Rhode.
***) Zitat aus einem Aufsatz, publiziert 1930 in der Zeitschrift "Die
Kommenden"
****) Gemeint ist Ernst Jüngers 100. Geburtstag am 29. März 1995.
*****) Beschrieben in: "Das erste Pariser Tagebuch", Eintragung
zum 29. Mai 1941.
******) Anspielung auf eine Stelle in "Das zweite Pariser Tagebuch",
Eintragung zum 27. Mai 1944: »Die Stadt mit ihren roten Türmen und Kuppeln
lag in gewaltiger Schönheit gleich einem Kelche, der zur tödlichen Befruchtung
überflogen wird. Alles war Schauspiel, war reine, von Schmerz bejahte und
erhöhte Macht.«
*******) Am 9. November 1989, einen Tag nach dem Interview, wurden in Berlin
die ersten Grenzübergänge in den Westteil geöffnet.
********) Bernhard Le Bovier Fontenelle, französischer Philosoph, 16571757
*********) Ernst, Sohn aus Jüngers erster Ehe mit Gretha von Jeinsen
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Erschienen am
8. Dezember 1989 in der ZEIT unter der Überschrift "Ja, gut".