Besuch bei dem alkoholkranken Schriftsteller Ernst Herhaus 1981*



Mit sieben Jahren bekam er von einer Großtante den ersten Schnaps. Mit zweiundzwanzig begann, was Alkoholiker makaber als "Karriere" bezeichnen: ein unaufhaltsamer und doch völlig bewußter, ja zielstrebiger Abstieg. Das Ziel ist der Selbstmord. Denn erst, wenn der Trunksüchtige innerlich tot ist, kann er aufhören zu trinken. Am 17. November 1973 war Ernst Herhaus am Ziel. Mit poetischem Überschwang, der ihn wohl erst später, an der Schreibmaschine, erfaßte, hat er den Todesaugenblick festgehalten: "Ein Schneesturm in mir rollte auf mich zu. Wenn er meine Herzgegend erreichte, würden sie nur noch meinen Leichnam finden."

So steht es in seinem Buch "Kapitulation", in dem er sich bis zur Peinlichkeit selbst entblößt, denn, so Herhaus, "nur wer ganz nackt ist, ist wirklich machtlos". Das Eingeständnis der Machtlosigkeit ist für den Alkoholiker die einzig mögliche Rettung. Der Aufwand, den der schon während seiner Trinkzeit durch Romane bekannt gewordene Autor zur Selbstrettung nötig hatte, war ungeheuer. Nicht nur sich selbst, auch seine Frau, zahlreiche Freunde und Liebhaberinnen, die ihm bei der Rückkehr ins sogenannte normale Leben behilflich waren, hat er öffentlich ausgezogen. Im zweiten Band seiner Trilogie über Alkoholismus, "Der zerbrochene Schlaf", sind mit feierlicher Genauigkeit die erotischen Abenteuer mit einer Frankfurter Studentin beschrieben, an der nichts fiktiv ist, nicht einmal der fremdländische Name. "Tülym tat es mit mir, vollkommen träge und seufzend und dann machtvoll aufholend. Aus mir redete dabei schambefreite Schmutzsprache, säuische Prosa der Lust aus der tiefsten Ebene, der Schweinsebene, wo die Genesung wogt und harrt. Dann kam es uns und kam und kam und kam. Mir war zumute wie in einer Erlösung."

Erlöst war Herhaus von einer schrecklichen Sorge. Schlimmer noch als das Saufen war für ihn die zunächst verschwiegene, dann zugegebene, schließlich überwundene Angst, ohne Rausch mit keiner Frau mehr schlafen zu können. Mehr als achtzehn Monate lang, nachdem er an jenem 17. November zum erstenmal das Glas hatte stehen lassen, hat er immer nur sein sexuelles Versagen feststellen können. "Eier taub, Flöte verstimmt", schrieb er ins Tagebuch. Nicht einmal Onanieren klappte. Für einen Mann, der sein Erfolgsgefühl fast ausschließlich daraus bezieht, schwer zu erobernde Frauen ins Bett zu bekommen, war das eine katastrophale Erfahrung. Daß sie ihn nicht rückfällig gemacht hat, glaubt Herhaus "höherer Macht" zu verdanken. Seine an keine bestimmte Konfession gebundene Frömmigkeit erreicht, seit er nicht mehr trinkt, mönchische Dimensionen.

Mit klösterlicher Enthaltsamkeit ist das aber nicht zu verwechseln. Die von Herhaus beim Beten bevorzugte Stellung ist der Geschlechtsakt. "Wenn ich bete, kriege ich einen Steifen. Die Sexualität mit einer Frau ist für mich wie ein Sturz in die Gegenwärtigkeit Gottes." Seine Ehefrau, Eleonora Herhaus, kann damit nicht gemeint sein. Mit ihr hat er zum letztenmal 1965 geschlafen. Was dann geschah, ist nur schwer zu erklären. Herhaus: "Nach sechs Jahren voll großer, intensiver, wundervoller Geilheit war die Leidenschaft plötzlich vorbei." Als er es unlängst, nach einer Amerikareise, mit Eleonora noch einmal versuchte, konnte sie das Lachen nicht unterdrücken. Der Krampf war zu komisch. Komik und Sex aber sind für Ernst Herhaus unvereinbare Dinge. Der Sex ist ihm heilig.

Das Ende der Impotenz war der erste Schritt seiner Auferstehung. Denn tot, wenn auch nicht im streng medizinischen Sinne, war er am Tiefpunkt der Sucht tatsächlich gewesen, "ein wandernder Friedhof" oder "ein Toter, der vergeblich auf sein Begräbnis wartet". Vier Tage und drei Nächte "mit Gliederzittern, Kotzen, Schwitzen und Hosenscheißen" dauerte der Entzug. Was danach kam, war aber noch längst nicht Genesung. Nach heutigem Stand der Forschung ist Alkoholismus eine nicht heilbare Krankheit. Daß einer aufhört zu trinken, bedeutet wenig. Er bleibt, so Herhaus, "in den Mauern der Trunksucht". Das Bild ist kein Produkt dichterischer Erfindungsgabe. Herhaus vergleicht seine Krankheit mit der Gefangenschaft der heiligen Juliana von Norwich, die sich, um Gott besser dienen zu können, freiwillig hat einmauern lassen und bis zu ihrem Tod, 1413, aus ihrer Zelle nicht mehr herauskam. Mit ihrem Erlebnisbericht, "sechzehn Offenbarungen von der göttlichen Liebe", wurde sie zur ersten Schriftstellerin Englands.

Auch Herhaus hat seine in der Sucht gemachten Erfahrungen aufgeschrieben. Veröffentlicht ist bis jetzt nur ein Bruchteil. Das meiste, so sagt seine Frau, ist nicht brauchbar, "dummes, besoffenes Geschwätz, zwischendurch mal ein Satz, der ganz gut ist, aber im großen und ganzen nur wirres Gefasel". Herhaus ist da ganz anderer Ansicht: "Ich habe zehn Lebenswerke, wofür ein deutscher Autor Veitstänze der Befriedigung aufführen würde, in Abfalltonnen verschwinden lassen." Sein Selbstbewußtsein ist ungebrochen. Schon träumt er wieder von alten Zeiten, als er splitternackt und im Vollrausch einen Kaffeehausbesucher, der ihn als "obszöner Geselle" beschimpfte, mit den Worten abkanzelte: "Sie wissen nicht, wen Sie vor sich haben. In zwanzig Jahren bin ich der bekannteste deutsche Erzähler nach Thomas Mann." Aber er weiß auch: Ein Alkoholiker, der träumt, programmiert seinen Rückfall.

Gemessen am Einfallsreichtum, den Quartalssäufer entfalten, um das zum Trinken nötige Geld aufzutreiben, ist das Leben eines Alkoholikers nach der Entwöhnung der reinste Stumpfsinn. Das einzige, was er schaffen muß: Tag für Tag das erste Glas stehen lassen. Zuviel Phantasie ist dabei eher störend. Für den vom Phantasieren besessenen Herhaus erwies sich das als ein nur schwer erträglicher Zustand. Solange er trank, war er ein in einschlägigen Kreisen hochgeschätzter Geschichtenerzähler. Mit überschäumender Fabulierlust erbettelte er sich oft mehr, als er brauchen konnte. In München vermietete er Parksträucher an Liebespaare. In Frankfurt bot ihm der Philosoph Max Horkheimer hingerissen das Du an. In Wien war er Stammgast im "Hotel Sacher". Stets trug er Krawatte und Stecktuch. Erst ganz zuletzt, als er, bewußtlos vom Saufen, statt Bier Brennspiritus einnahm, zerbrach auch die Schale.

"Alkoholismus", sagt er, "ist natürlich eine privilegierte Krankheit. Alkoholiker sind Kontaktaristokraten. Deshalb haben sie auch immer die tollsten Weiber. Da kommt eine Ruine, ein Stück gefrorene Scheiße, und dann hat der eine Freundin, da fällst du um. Ich kenne tausend dumme Säufer, aber keinen einzigen Alkoholiker, der nichts im Hirn hat." Der Unterschied ist ihm wichtig. Für die Wissenschaft ist er ein Rätsel. Warum wird ein Alkoholiker nach dem ersten Schluck suchtkrank, während ein anderer selbst nach der schlimmsten Besäufnis gesund bleibt?

Bei Rauschgiften ist die Lage weit klarer. Spätestens nach dem fünften Heroinschuß ist auch der Widerstandsfähigste süchtig. Das Gift im Alkohol, genaugenommen das beim Abbau entstehende Azetaldehyd, löst nur unter bestimmten Umständen Sucht aus. Welche Umstände das sind, weiß bis jetzt niemand. Mit psychologischen Erklärungsversuchen kommt man nicht weiter. Das soziale Milieu, aus dem die rund zwei Millionen bundesdeutschen Alkoholiker stammen, ist auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen. Herhaus hatte es gut in der Kindheit. Als er, siebzehnjährig, dem Vater ankündigte, er wolle Schriftsteller, später gar, er wolle der neue Messias werden, ließ dieser es gelten. Auch für die Mutter stand außer Frage, daß der Sohn ein Genie wird.

Herhaus: "Da gab es für mich nur die Wahl, entweder du wirst es, oder du gibst dir die Kugel." Eine dritte Möglichkeit hatte er zunächst nicht in Betracht gezogen. Sie wurde sein Schicksal. Nach mehreren vergeblichen Versuchen, sich totzusaufen, schrieb er 1966, als er für längere Zeit abstinent blieb, seinen ersten Roman, "Die homburgische Hochzeit". Zwar war das noch nicht die Erfüllung der Prophezeiung, ein Thomas Mann zu werden, aber immerhin, die Kritik reagierte beeindruckt. Plötzlich war Herhaus im Fernsehen. Auf der Frankfurter Buchmesse spazierte er neben Günter Grass zwischen den Ständen. Berauscht vom Erfolg, begann er wieder zu trinken. Der zweite Abstieg sollte ihn endgültig an jene Grenze bringen, wo er entweder tot war oder reif fürs Geniale.

Der Verfall hatte Methode. Nach einer Aufstellung des amerikanischen Suchtspezialisten Elvin Morton Jellinek** gibt es dreißig Phasen, die ein Alkoholiker durchmacht, bevor er im Delirium landet. Hastiges Trinken und Schuldgefühle gehören zum Vorstadium. Kritisch wird es, wenn eine Neigung zu aggressivem Verhalten, innerer Zerknirschung und Selbstmitleid überhand nimmt, chronisch bei Zittern am Morgen und wiederholten Gedächtnislücken. Herhaus hat keine einzige Station ausgelassen. Seine Aggressivität ging bis zu Mordgelüsten, der inneren Zerknirschung machte er Luft, indem er die Frau schlug. Anfangs hatte sie noch Elan genug, sich zur Wehr zu setzen. Herhaus: "Da gab es eine irre Szene in Coburg. Eleonora nahm eine eiserne Pfanne und schlug sie mir mit der Kante über den Schädel. Ich hatte eine acht Zentimeter lang klaffende Wunde, das fand ich ungeheuer erotisch. Solche Auseinandersetzungen sind exaltiert, gewalthaft, göttlich und reuelos."

Später, als die Prügeleien Gewohnheit wurden, wehrte sich die Frau nicht mehr. Heute muß sie sich sagen lassen, daß ihr Aushalten falsch war. Gescheiter wäre gewesen, sie hätte den Mann, der nur noch ein Wrack war, im Stich gelassen. Von einer Leidensgenossin, Mitglied einer Gruppe von Alkoholikerfrauen, erfuhr sie, einem Suchttrinker sei, wenn überhaupt, nur dadurch zu helfen, daß man ihm die Flasche hinstellt. "Hilfe durch Nichthilfe" nennt man das in der Alkoholikersprache. Eleonora folgte dem Ratschlag. Herhaus kam auf den Nullpunkt, imitierte Tierlaute, redete mit Laternenmasten, verlobte sich mit einer Schnapsbraut. Daß er das überleben würde, war nicht zu erwarten.

In achtzig von hundert Fällen gehen solche Experimente letal aus. Die von der Medizin nicht zu beantwortende Frage nach den Ursachen der Sucht ist philosophisch ganz leicht zu klären. Der Süchtige, überzeugt von der Sinnlosigkeit allen Daseins, will seinem Leben ein Ende setzen. Ekel vor sich selbst wird zum Lebensekel. Immer wieder spricht Herhaus von Todessehnsucht. Unzählige Male hat er Anlauf genommen, sich umzubringen. Einmal, in seinem Heimatort Ründeroth, kam ihm eine sechzehnjährige Dorfschöne dazwischen, mit der er es, kaum gerettet, hinter einem Holunderstrauch trieb: "Mit säuischem Genuß heilte sie mich vom Fluchtplan in gewaltsamen Tod." Ein anderes Mal stand plötzlich ein imaginärer Engel an seiner Seite. Man stelle sich vor, Herhaus hatte den Strick bereits festgebunden. Da sprach der Engel: "Ich stehe bei dir, um dich mit der Notwendigkeit eines viel ernsteren Sterbens vertraut zu machen." Worte voller Geheimnis.

Was sie bedeuten, konnte der Lebensmüde zunächst nur erahnen. Heute ist er ganz sicher: Die göttliche Vorsehung hat ihn zum Dichter berufen. Nicht durch das Saufen soll er ans Ende kommen, sondern durch Schreiben. "Das Schreiben ist für mich eine Art von hochorganisierter, systematischer Selbstvernichtung." Seine Frau sieht es weniger drastisch: "Er schreibt einfach drauflos wie eine Sekretärin." Früher hätte er einen solchen Satz bestimmt übelgenommen. Jetzt bleibt er gelassen. Er weiß ja, sein Chef sitzt im Himmel. Wer das nicht ernst nimmt, der kann erleben, wie der kleine Mann zu seiner Höchstform aufläuft: "Über das, was ich schreibe, wird erst entschieden, wenn ich den Arsch schon lange zugemacht habe. Daß ich fünfzig Jahre nach meinem Begräbnis aktueller sein werde als diese ganzen Jungs und Mädchen, die jetzt ihre Adamsäpfel vorstrecken, darauf kannst du Gift nehmen."

Soweit so gut, nur: Herhaus, Jahrgang 1932, hat das Werk, von dem er sich Nachruhm erwartet, noch nicht einmal angefangen. Was bisher vorliegt, das gesteht er ganz offen, reicht nicht aus, ihn unsterblich zu machen. Seinen "Roman eines Bürgers" hat er schon beim Erscheinen für mißlungen gehalten. Anders als so berühmte Säufer wie Francois Villon, Edgar Allan Poe, Joseph Roth oder Hans Fallada, ist er durch das Trinken nicht nur gesellschaftlich, sondern auch literarisch ins Abseits geraten. Seit sieben Jahren besucht er regelmäßig eine Selbsthilfegruppe der "Anonymen Alkoholiker", Abkürzung AA, wo ohne jede ärztliche Unterstützung das alkoholfreie Leben geprobt wird. Die Regeln, nach denen das abläuft, erinnern an den Drill einer militärischen Übung. Die Welt außerhalb der Truppe ist Feindesland. Nichtalkoholiker werden bei den Treffen nicht zugelassen. Wer nicht süchtig ist, gilt als Teil jener Gesellschaft, die die Sucht produziert.

Man bleibt unter sich, ein exklusiver Zirkel von Notgefährten, die sich mit ständig wiederholten Durchhalteparolen und Erfolgsmeldungen über die ohne Alkohol durchgestandenen Tage bei Laune halten. AA, 1935 von zwei Amerikanern gegründet, existiert heute in neunzig Ländern. In der Bundesrepublik gibt es etwa sechshundert Gruppen. Die Strategie war von Anfang an defensiv. Zwar hat man sich gegen andere Therapiemethoden stets abgesichert, aber bekämpft hat man keine. Für Ernst Herhaus, der den Kampf braucht, um nicht einzuschlafen, war das zu wenig. Schon in seinem Buch "Kapitulation" hat er den Ärzten und Analytikern, die der Sucht mit Psychotherapie und Tabletten zu Leibe rücken, ein Stalingrad angekündigt. Während eines sechswöchigen Aufenthaltes in einer Frankfurter Klinik, in der er naturgemäß nicht als Genie, sondern als ganz gewöhnlicher Psychopath eingestuft wurde, entwarf er den Schlachtplan.

Nun ist er angetreten. Nun packt er aus, und das klingt folgendermaßen: "Ist Willy Brandt Alkoholiker? Sind Rudolf Augstein und Franz Josef Strauß suchtkrank? Hängt das Schweigen der Länderkammern, des Bundestages und der Medien über die Geldgeschäfte der Weißkittelindustrie damit zusammen, daß in den allerobersten Ämtern Alkoholiker sitzen? Hat dieses Schweigen zu den Schweinereien der Arzneimittelhersteller damit zu tun, daß jeder Angst hat, verraten zu werden? Weigern sich deshalb Regierungen und Parlamente, den Lobbys der Weißkittel ganz hart vor die Knochen zu treten?" Wenn Ernst Herhaus in Fahrt kommt, dann hält ihn nichts mehr. Nur: Ein Wutausbruch darf es nicht werden, sonst verliert er die Selbstkontrolle, was zur Folge hätte, daß er wieder anfängt zu saufen.

Auch Humor ist gefährlich. Ein warnendes Beispiel ist "Ketten-Ernst", den sie in der Truppe so nannten, weil er sich hatte anketten lassen, um den Entzug durchzuhalten. Herhaus: "Er hatte fünfzehn Jahre nicht mehr getrunken, ein sturer Hund. Er hatte seinen Witz und seinen Humor wiedergefunden. Dann ist er eines Tages nicht mehr zur Truppe gekommen, hat zwei Flaschen Bier gesoffen und ist total durchgebrochen. Jetzt hockt er wieder voll drin in der Scheiße."

Die Sucht ruht nie. Wer sich von der Truppe entfernt, ist schon verloren. Aber auch, wer ihr treu bleibt, hat nicht viel zu gewinnen. Sein einziger Gedanke ist die Angst vor dem Rückfall, sein einziges Thema: der Alkoholismus. Seit Herhaus zu AA geht, hat er nichts anderes publiziert als seine Krankengeschichte.*** Er hat seine Schulden bezahlen können, fünfunddreißigtausend Mark, und er schreibt gerade das vierte Buch über sein Leben. Abends, vor dem Einschlafen, betet er: "Gott, halte mich fest in der Selbsthilfe mit anderen Alkoholikern, solange ich lebe." Aber er sagt auch: "Vielleicht bin ich zu feige, mich abzunabeln." Und: "Ich gehe nicht mehr zur Truppe." Ist Ernst Herhaus von Gott verlassen? Vor fünf Jahren schrieb er: "Früher, als Säufer, wollte ich in der Literatur ein ganz Großer werden. Jetzt altere ich unbetrunken und weiß, daß ich nie ein ganz Großer sein kann."

Den Satz hat er längst wieder zurückgenommen. Herhaus heute: "Ich träume davon, ein Buch zu schreiben, das jedes erzählerische Erzeugnis nach 1945 einfach zu Schrott macht." Größenwahn? "Ach was, Größenwahn! Ich werde doch ein Buch schreiben können wie den 'Zauberberg'! Ich fühle, ich habe es im Gedärm." Wenn er so redet, kann ihm nur noch die heilige Juliana helfen. In einer an sie gerichteten Bitte, die er 1977 in seine Gebetssammlung**** aufnahm, heißt es: "Bewege mein Gemüt aufs neue mit deiner Demut, Holdselige."

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*) Der Anstoß zu meinem Besuch bei Ernst Herhaus, der damals in Frankfurt wohnte, ging nicht von mir aus. Der Schriftsteller wollte mich sprechen. Er erhoffe sich von einem Gespräch mit mir die Befreiung aus der Sackgasse, in der er sich mit seiner Arbeit befände. Ich habe von Anfang an versucht, diese Hoffnung zu dämpfen. Dennoch erreichten die Vertraulichkeiten des mir bis dahin weder persönlich noch durch seine Schriften bekannten Mannes ein so bedrohliches Ausmaß, daß ich während eines gemeinsamen Frühstücks die Unterhaltung kurzerhand abbrach und die Heimreise antrat. Herhaus hatte behauptet, er habe in den zwei Tagen unseres Zusammenseins solchen Einfluß auf mich gewonnen, daß ich, wenn er es wolle, jederzeit Selbstmord begehen würde. Schon bei der Begrüßung hatte er versucht, mich von unserer Wesensverwandtschaft zu überzeugen. Die Ähnlichkeit unserer Gesichtszüge sei, wie er mir anhand eines Jugendfotos, das in seinem Arbeitszimmer an der Wand hing, beweisen wollte, unübersehbar.

**) Elvin Morton Jellinek (1890 - 1963), amerikanischer Physiologe, Erforscher der Alkoholkrankheit

***) Herhaus veröffentlichte nach meinem Besuch nur noch den Roman "Der Wolfsmantel" (Diogenes,1983). Der Erfolg blieb aus.

****) "Gebete in die Gottesferne", Verlag Hanser, 1979

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Erschienen am 19. Juni 1981 in der ZEIT