Elisabeth Flickenschildt ist gerade in ihren fünften Bauernhof bei Prien am
Chiemsee gezogen. Sie hat ein bodenlanges, geblümtes Kleid an, im selben Muster
ein Kopftuch, das ihr beim Reden immer wieder ins Gesicht rutscht. Sie hat
Tee und ein paar belegte Brote zubereitet. Wir sitzen auf dem Balkon ihres
Hauses, der von zwei Barockengeln flankiert wird und von dem man auf ihre
Wiesen und ihre Kühe blickt, die um das Haus herum weiden.
»Wollen Sie Tee? Darf ich Ihnen Milch geben? Darf ich Ihnen ein bissel
umrühren? Wollen Sie dazu was Kleines zum Essen, ein Roastbeef oder ein kleines
Ei oder eine kleine Tomate?«
In Ihrer Autobiographie* schreiben Sie von einem weißen Haus. Dieses ist gelb.
Sind Sie umgezogen?
„Wie nett, daß Sie das Buch gelesen haben, wie nett von Ihnen, danke. Ja, ich
bin umgezogen, zuerst in das Dorf, da hab' ich ein sehr schönes Haus gemacht,
das war rosa, und alle Bauern wunderten sich und dachten, mein Gott, was macht
sie? Ich war denen ja fremd, die kannten mich nicht, und mache ein rosa Haus,
aber dann blaßte die Farbe ab, und es sah wunderbar aus, wirklich schön, und
die Wiesen, die Sie hier sehen, gehören alle dazu, weil es ein Bauernhof war,
und dann stellte sich bei der Bewirtschaftung Verschiedenes heraus, was
unpraktisch war, und dann faßte ich eine kühne Idee und habe gedacht, wenn ich
nun hier heraufgehe und hier ein Haus baue, da sind alle Wiesen beieinander,
und man braucht mit dem Kühen nicht über die Straße und kann alles fabelhaft
zusammenhaben, und dann hab' ich gefragt auf dem Landratsamt, ob es wohl
möglich wäre, ob ich hier ein Haus bauen dürfte, und da haben die zuerst
gesagt, nein, eigentlich nicht, aber dann haben sie ja gesagt, und jetzt wohne
ich hier schon seit Ostern, und es ist praktisch, und es ist wunderbar.“
Das
alte Haus haben Sie nicht mehr?
»Das hat ein Wirtschaftsberater gekauft.«
Hat er es unverändert gelassen?
»Ja, rosa. Wissen Sie, das war ja das erstemal, daß hier eine Schauspielerin
wohnte. In Tegernsee oder Garmisch sind die Verhältnisse anders, da wohnen
öfter merkwürdige Leute, aber hier gab es das nie, das ist eine rein ländliche
Gegend, ein wunderschöner Ort, wirklich sehr schön, und dann das Rosa, ja, aber
dann gefiel es den Leuten, aber es war unpraktisch für mich, verstehen Sie? Es
hatte um das Haus herum keine Wiesen, und man mußte die Tiere immer über die
Straße bringen, das war gefährlich und mühsam.«
Wie viele Tiere haben Sie?
»Ich habe zwei Pferde, die sind auf der Winkelmoosalm, dann hab' ich noch fünf
Kühe oben und fünf Kühe hier und vier Kalbinnen, das sind Kühe, die später ein
Kalb bekommen, ich weiß nicht, ob Sie in der Landwirtschaft so beschlagen sind,
darum erkläre ich das. Es war auch für mich ein Novum, aber ich mache es gern,
es hat mir immer viel Spaß gemacht. Ich habe nie einen Psychiater gebraucht und
kein Sanatorium, was bei den Schwierigkeiten in unserem Beruf eine Seltenheit
ist. Wenn ich zu Hause bin mit meinen Kühen und mache das alles und kann das,
das beruhigt mich auf eine Weise, die ich ganz fabelhaft finde. Das sind ganz
reizende Tiere, glauben Sie mir, wirklich reizend und sehr liebevoll und sehr
rührend. Das gefällt mir.«
In Ihrem Buch schreiben Sie, Sie hätten sich aus Enttäuschung darüber, wie sich
nach dem Tod von Gustaf Gründgens das Theater entwickelt habe, von allem
zurückgezogen.
»Ja, vielleicht. Vielleicht war es Flucht. Aber es ist ja auch eine Materie an
sich, die Landwirtschaft, etwas, das auch für sich existiert und gut ist. Es
ist nicht nur ein Flüchten. Ich mache es ja jetzt schon seit dreißig Jahren,
und Gründgens mochte das auch, der mochte das schrecklich gern. Haben Sie ihn
gekannt? Faust eins und zwei? Das war fabelhaft, fa-bel-haft, wirklich, das
hätte Ihnen Freude gemacht. Er war eine Erscheinung, wie es sie heute gar nicht
mehr gibt, außergewöhnlich und auch außergewöhnlich begabt. Es ist bedauerlich,
daß wir heute so wenig außergewöhnliche Leute haben. Ich war zweiundzwanzig
Jahre mit ihm zusammen und habe ihn sehr gut gekannt. Natürlich hatte er
Fehler, aber auch seine Fehler waren außergewöhnlich, weil er sie sofort
einsah. Schaun Sie mal, zum Beispiel die Situation jetzt in Salzburg**. Der
einzige, der vielleicht etwas Interessantes dort machen wird, ist kein
Deutscher, sondern Strehler***. Was haben wir dem entgegenzusetzen? Fast
niemand. Vielleicht Peter Stein ... «
Nicht Rudolf Noelte?
»Nein, den nicht. Wissen Sie, ich habe mich sehr gefreut auf die Arbeit mit
Noelte, wenn ich Ihnen einmal das Persönliche sagen darf, ich hatte mir etwas
von ihm erwartet und habe gedacht, fein, der weiß Bescheid am Theater, ich
kannte ihn aus den Jahren, wo er bei Fehling Assistent war und "Maria
Stuart" gemacht hat, ich habe mich sehr gefreut, aber ich habe nach kurzer
Zeit entdecken müssen, daß er an denselben Dingen leidet wie alle heute. Noelte
hat sich in letzter Zeit sehr auf Tschechow spezialisiert und auf Strindberg,
und er hat alle diese Stücke in einer sehr leisen und sehr breiten Manier, alle
auf die gleiche Art, inszeniert. Der bräuchte zehn oder fünfzehn fabelhafte
Schauspieler, sehr begabte, sehr emotionelle, sehr temperamentvolle Leute, mit
denen zusammen er etwas Neues auch für sich wieder erarbeiten könnte, verstehen
Sie? Damit er über diesen Punkt hinwegkommt.«
Über sich selbst?
»Ja, damit er über sich selbst mal wieder hinauskommt in eine freiere
Landschaft.«
Dabei hätten Sie ihm doch helfen können.
»Ja, sehen Sie mal, das ist in meiner Situation schwierig. Ich habe vom
Theater, ich will das mal ganz einfach sagen, eine gewisse Ahnung und habe ein
Gefühl, wann eine Inszenierung richtig und auf einem Weg ist, der richtig sein
kann und der zu etwas führt. Wenn man dann nach kurzer Zeit merkt, es geht
nicht, tritt eine entsetzliche Depression ein, können Sie das verstehen? Man
sieht nicht, daß es wird, man sieht, daß es falsche Wege läuft. Viele Kollegen
nehmen nicht so innerlichen Anteil wie ich und lassen sich schneller
beschwichtigen, hören schneller auf, Forderungen zu stellen und ihre
persönlichen Ansprüche deutlich zu machen. Aber für mich war es furchtbar. Am
Tag vor der Premiere war die Situation schon so zugespitzt, daß ich zwar auf
die Generalprobe ging, aber dann beschloß man für abends noch eine Probe, und
da bin ich in meinem Bett im "Österreichischen Hof" gelegen und hab'
überlegt: Was mach' ich? Das sind entsetzliche Überlegungen. Man ist alleine.
Man kann niemanden fragen. Wen wollen Sie fragen? Niemand kann die Situation
beurteilen so wie Sie selbst.«
Waren Sie sich der Folgen, wären Sie ausgestiegen, bewußt?
»Ja, natürlich, und man will doch keinen Skandal, nein, um Himmels willen, das
ist doch das Dümmste, was es gibt. Nie hab' ich an so etwas Interesse gehabt,
gar nicht, überhaupt nicht. Aber es läßt sich nicht vermeiden. Ich bin abends
auf die Probe gegangen ... Sehen Sie mal, wenn ich nun schon davon spreche, muß
ich Ihnen erzählen, Noelte hat so eine Angewohnheit, er schreibt unentwegt
Briefe, er sagt einem die Kritiken nicht, er spricht sie auf Band und dann schreibt
er Briefe, unentwegt Briefe, und da standen nun immer ganz furchtbare Sachen
drin: zwei Komma drei Schritte weiter nach rechts, ein Komma zwei Schritte
weiter nach links, und da kann natürlich keine gemeinsame künstlerische Arbeit
entstehen, auf die es doch ankommt, verstehen Sie? Das ist etwas, das hat er
sich angewöhnt, und ich glaube, daß das für ihn schlecht ist.«
Vielleicht kann er nicht anders.
»Ja, aber er müßte! Er engt sich ein. Ich war mit diesen Briefen vollkommen
verzweifelt. Ein Komma zwei Schritte, das hat mir noch nie jemand gesagt. Ich
mache alles, was man mir sagt, ich bin ein ganz fügsamer Mensch, eine fügsame
Schauspielerin, aber wo soll das hinkommen, wenn Sie auf der Bühne immer nur
Positionen suchen, vorsichtig, Schritt für Schritt, wenn Sie andauernd denken
müssen, hab' ich jetzt ein Komma zwei Schritte, zwei Komma drei, ja? Verstehen
Sie? Das ist furchtbar, schrecklich!«
Trotzdem haben Sie nicht abgesagt.
»Nein, wissen Sie, man hat ein Gefühl der Trauer in sich, dieses Gefühl muß man
versuchen, zu überwinden, und dann kommt einem etwas zu Hilfe, was man
vielleicht Begabung nennt. Diese Begabung muß ja mit solchen Augenblicken auch
fertig werden, in denen es hart ist, und einem das Leben nicht leicht ist, und
dann kommt ein Gefühl, daß man sich isoliert und seiner selbst bewußt wird, und
dann muß man versuchen, aus sich selbst etwas herzustellen ... Sie dürfen nicht
denken, daß ich jetzt hier über jemanden herziehen will. Ich bin gar nicht so
kritisch. Aber das Theater ist mir etwas so Wunderbares, daß ich da immer große
Mühe habe, mich sachlich zu äußern. Es gibt viele Dinge heute, die man sagen
könnte, sagen müßte, um vielleicht zu einer Besserung beizutragen, denn im
Moment ist es doch furchtbar langweilig alles, ja, langweilig, uninteressant.«
Warum sagen Sie es denn nicht?
»Ja, sehen Sie, das ist schwer. Ich glaube, es hat keinen Zweck, es zu sagen.«
Was wäre es denn?
»Es wäre: Mehr Mut! Viel mehr Mut! Ich habe da gestern so ein kleines Buch über
Picasso gelesen, über seine Anfänge in Frankreich. Was für eine Phantasie der
doch hatte! Welchen Lebensmut, welche Lebensfreude, welchen Optimismus, die
Phantasie loszulassen. Man muß einfach mehr Künstler sein in einem richtigen
Sinne ... Aber schaun Sie mal, wenn ich noch einmal darauf zurückkommen darf,
weshalb es für mich so schwer ist, etwas zu sagen. Als ich noch in Frankfurt am
Schauspielhaus war, da gab es einen Regisseur, der hieß Moszkowicz, das war ein
sehr netter Mann, auch ein begabter Mann, den hatte ich schon kennengelernt,
als ich bei Gründgens spielte, der war im KZ gewesen, ein lieber Junge und hat
ganz fabelhafte Sachen gemacht, und nun war er in Frankfurt und bekam so
furchtbare Kritiken, so entsetzliche Kritiken, und da muß ich Ihnen sagen, daß
ich finde, man sollte gegen solche Leute nicht so rabiat und so rigoros sein,
und da habe ich gesagt, das mache ich nicht mit und bin weggegangen aus
Frankfurt.«
Im Herbst werden Sie nach langer Zeit zum erstenmal wieder in Hamburg spielen.
Was hat Sie dazu bewogen?
»Also, ich mache jetzt etwas mit Minks****. Kennen Sie den? Ich glaube, der ist
ganz gut. Ich hab' schon einige Proben mit ihm gehabt, vier oder fünf, ich
spiele die Königin in der "Jungfrau von Orleans", und die Eva Mattes
spielt die Jungfrau. Wissen Sie, dieser Minks, der hat eine Art von Geduld, der
hört zu, was die Schauspieler sagen, der erlaubt den Schauspielern, auch etwas
zu sagen, was ich wunderbar finde. Die sagen dann, du hör' mal, könnt' ich da
jetzt nicht so etwas machen, und dann überlegt er, und man merkt, er tut nicht
nur so, er überlegt wirklich, und dann sagt er, ja, laß mich mal überlegen, und
das find' ich so wunderbar, und, wissen Sie, das war die ungeheure
Schwierigkeit mit Noelte, wenn ich das nochmal erwähnen darf. Gründgens hat mich
immer gefragt: Was meinst du? Wie findest du das? Komm mal her. Erzähl mir mal.
Guck dir das an. Fehling hat immer gesagt: Mein liebes Kind, nun sag mir mal,
was du meinst. Wunderbar! Solche Männer sind wun-der-bar. Das habe ich bei
Noelte niemals erlebt. Der hat mir nur Briefe geschrieben, zwei Komma drei
Schritte vor, ein Komma zwei Schritte zurück ... «
Minks macht das nicht.
»Nein, gar nicht. Nun gucken Sie mal, wie ulkig das immer alles ist, der Minks,
der war nun auch überrascht über mich. Der hatte gedacht, ahh, die hat immer in
Hamburg so viel Erfolg, bei der klatschen die Leute, und die mögen die
Hamburger so gern, wer weiß, was das für eine Ziege ist, verstehen Sie? Das ist
doch ganz klar. Sie müssen nicht denken, daß ich mir irgendwelche Illusionen
mache. Das sehe ich vollkommen klar. Na, und dann kam ich nach Hamburg, und
dann ging eigentlich alles ganz wunderbar. Ich glaub', der Minks war furchtbar
erstaunt, daß ich ganz nett war, 'ne alte Schauspielerin, eigentlich ganz nett,
verstehen Sie? Sie haben doch auch ein Bild von mir gehabt, als Sie kamen.
Welches Bild haben Sie denn gehabt?«
Ich habe Sie für eine etwas verschrobene, exzentrische Frau gehalten.
»Na sehen Sie, wie falsch das immer ist. Ich will Ihnen mal erklären, woher das
kommt. Ich habe so merkwürdige Haare. Die machen nichts mit. Deshalb muß ich
immer ein Kopftuch tragen. Ich hab' so viel versucht, ich war bei Friseuren,
fabelhaften Friseuren, die haben mir wunderbare Gebilde gemacht, das sah
herrlich aus, das umflorte mich und umwehte mich, rot oder weiß, je nachdem,
und dann fuhr ich irgendwohin und sollte da sein oder da auftreten oder mich
verbeugen beim Film ... Aber die Haare wollten das nicht. Es war aus, verstehen
Sie? Es war vollkommen aus. Die Haare lagen, wie sie immer lagen, die hatten
gar kein Interesse an Partys und Feierlichkeiten. Die sagten: Laß das doch! Und
dann hab' ich mir gedacht, es hat ja auch wirklich gar keinen Zweck, was soll
ich da hinrennen, und die machen mir Sachen, und nach kurzer Zeit ist alles wieder
vorbei. Meine Haare wollen Dauerwellen und all so was nicht, verstehen Sie, die
machen das einfach nicht mit, und deshalb trage ich diese Tücher.«
Aber es sind ja nicht nur die Tücher, die Sie gespenstisch erscheinen lassen.
»Finden Sie mich gespenstisch?«
Jetzt nicht mehr.
»Und vorher?«
Vorher schon. Das hat auch damit zu tun, was Sie als Schauspielerin machen.
»Was habe ich denn gemacht?«
Filme...
»Über die Filme spreche ich ungern, weil ich sehr traurig bin, daß es in
Deutschland heute keine guten Filme mehr gibt. Ja, ich habe Kriminalfilme
gemacht, das haben mir viele Leute sehr übelgenommen und haben gesagt, pfui
Teifi, jetzt macht sie Kriminalfilme. Aber wissen Sie, in England ist das zum
Beispiel ganz anders, da gibt es Kriminalfilme, an denen die fabelhaftesten
Schauspieler beteiligt waren. Man ist als Schauspieler doch immer irgendwie so
naiv, daß man jede Arbeit, die man anfängt, voll anpackt und denkt, ahh, da
könnte doch was Wunderbares passieren, fabelhaft! Und dann kommen all die Leute
zusammen, und nachher ist es wieder gar nichts. Ich habe immer gehofft, man
müßte das, was ich da gemacht habe, doch in einen Zusammenhang bringen können,
aber nein, das geschah nicht, nichts geschah, gar nichts.«
In wie vielen Filmen haben Sie mitgespielt?
»In sehr vielen. Schaun Sie mal, mein erster Film, "Der zerbrochene
Krug" mit Jannings, läuft immer noch. "Faust": immer noch. Es
waren ja auch sehr gute Filme dabei. Aber jetzt ist so eine Totenstille
eingetreten.«
Ich meinte die Kirminalfilme.
"Kriminalfilme vier, und dann war meine Hoffnung vorbei, da hab' ich
eingesehen, wie dumm ich war, auf die zu vertrauen, und da war Schluß. Der
Film, das ist ein Kapitel in meinem Leben, da hat's ein paar sehr gute Sachen
gegeben, da hab' ich mich gefreut, daß ich die machen konnte, und dann war's
aus.«
Aber
erst die Filme haben Sie populär gemacht.
»Nein, darf ich mal versuchen, Ihnen das zu erklären? Ich bin ja kein populärer
Typ. Ich bin ja nicht Inge Meysel oder so was. Ich bin im Grunde vollkommen
unpopulär. Aber die Menschen mögen mich, weil vielleicht jeder weiß oder, wer
es nicht weiß, ahnt, daß ich in meinem Leben nichts anderes gemacht habe als
nur das eine: Schauspielerin. Ich habe auf sehr viel im Leben verzichtet, denn
es ist meine Überzeugung, daß man nicht alles haben kann auf dieser Welt,
sondern nur einiges, und das einige war mir genug. Ich habe mich nie um andere
Dinge bemüht, ich habe mein ganzes Leben nur gelebt, um dieses eine
fertigzubringen. Man muß nicht immer suchen, daß woanders das Leben ist. Unser
Leben ist auf der Bühne!«
War es nicht schmerzlich, auf so vieles verzichten zu müssen?
»Natürlich. Ich bin ja ganz allein, ich habe keine Kinder, ich habe keinen
Mann, ich habe niemand. Ich habe einige Freunde, ja, nette Menschen, sehr nette
Menschen. Ich mag nette Menschen. Aber sonst habe ich niemand. Ich habe nur das
Theater. Sie müssen nicht denken, daß ich traurig darüber bin, im Gegenteil,
ich finde alle anderen Amüsements dumm, einfach dumm! Sie werden das eines Tages
auch spüren, wenn Sie selber was schreiben, Bücher schreiben oder
Theaterstücke, und wenn Sie dann eine ungeheure Leidenschaft überkommt, wenn
Sie etwas schreiben wollen, was es noch nie gegeben hat. Dann werden Sie
merken, daß man das nicht vereinen kann, ein Privatleben und die Kunst.«
Aber Sie waren doch verheiratet.
»Ich war einmal verheiratet, ja, und habe mich scheiden lassen, und wir sind
befreundet. Der Mann war ein Theaterwissenschaftler, der an der Universität
Köln war und lange Jahre bei Gründgens und dann in Stuttgart und der die ganze
Materie kannte. Der hat ein etwas heitereres Leben gewählt, weil er ja auch
Zeit hatte abends.«
Er wollte Kontakt zu anderen Menschen.
»Ja, weil er weniger anspruchsvoll war. Das muß ich sagen. Ich bin so anspruchsvoll,
was Menschen betrifft. Warum soll ich mit Menschen gehen, die gar nicht
interessant sind, nicht klug, nicht phantasievoll und all so was, sondern so
allgemein? Das ist doch so langweilig, finden Sie nicht?«
In Ihrem Buch schreiben Sie, daß Sie gerade zu den einfachen Leuten eine
besondere Zuneigung haben.
»Ja, zu normalen Menschen.«
Ist es nicht schwer für Sie, sich mit denen zu unterhalten?
»Im Gegenteil. Sie ahnen nicht, wie wunderbar ich mit den Leuten hier leben
kann, mit den Bauern, weil das ganz einfache Menschen sind und ich sie verstehe
durch ihre Arbeit. Die sind ganz lieb, die sind so nett zu mir und mögen mich
so gerne, weil sie sehen, was ich alles mache. Wenn meine Melkerin Urlaub hat,
kann ich die Milch morgens genauso um halb sieben im Milchkübel hinstellen, und
das erstaunt die Leute natürlich, und das finden sie furchtbar nett, daß ich
mir so viel Mühe gebe.«
Woher können Sie denn das alles?
»In-tu-i-tion!«
Haben Sie Personal, das Ihnen hilft?
»Ja, natürlich, sonst könnte ich ja nie weggehen.«
Wieviele Leute sind das?
»Ich habe Frau Winter, dann hab' ich die Leni zum Melken, und dann hab' ich den
Seppi, der das Gras holt und all solche Geschichten.«
Und wo ist die Rosa, die Sie in Ihrem Buch beschreiben?
»Die hat geheiratet, einen Alfons, das war eine wunderbare Person, die war
sechzehn Jahre bei mir, da bin ich immer noch traurig, daß die weg ist, die war
so rührend, so reizend, die hat arbeiten müssen von ihrem elften Lebensjahr an.
Wissen Sie, heute wird die Arbeit oft als so etwas Dummes betrachtet. Ich
empfinde ja Arbeit als etwas Wunderbares, körperliche Arbeit. Das ist doch ein
wunderbarer Zustand.«
Ja, wenn man es freiwillig tut.
»Ja, wenn man es gerne tut, Sie haben recht. Ein Fabrikarbeiter ist natürlich
was anderes, das ist schwer. Aber das ist ja hier nicht. Hier sind ja Leute,
die ihre Arbeit gerne tun, freiwillig und für sich selber tun. In der Arbeit
sind die Bauern ja alle sehr glücklich, die können ja alle machen, was sie
wollen.«
Haben Sie für die Rosa einen Ersatz gefunden?
»Ja, die Leni, die kommt aus Inzell, ihre Eltern sind Bauern. Die ist sehr
lieb. Wissen Sie, ich brauche jemanden, den man morgens nicht wecken muß, der
gerne früh aufsteht, keine Launen hat. Ich hab' auch keine Launen. Ich steh'
auch wahnsinnig gerne früh auf, ich find's morgens herrlich, frühstücke ganz
früh und so, ja?«
Wie läuft so ein Tag auf dem Bauernhof ab?
»Also ich steh' früh auf, denn werkel ich herum, mach', tu, dann kommt die
Milch weg, die muß um halb sieben dort auf dem Bankel sein, dann trink ich
Kaffee, wunderbar starken Kaffee ... «
Allein?
»Nein, mit Belinda, das ist mein Hund, ein King Charles Spaniel, der steht dann
auch mit mir so früh auf, na ja, und dann geht das alles immer so weiter,
Rasenmähen, und die Kühe müssen Wasser haben und müssen Futter haben, und die
Kälber müssen versorgt werden, und die Milchkammer muß sauber gemacht werden,
das ist sehr viel Arbeit, besonders, wenn es alles friedlich und freundlich und
schön sauber sein soll.«
Fällt Ihnen das viele Alleinsein nicht schwer?
»Wissen Sie, was ich immer mache: Ich lerne. Wenn ich arbeite, kann ich am
besten lernen, über Rollen nachdenken, weil die Arbeit in gewisser Weise ja nur
etwas Manuelles ist, wo der Geist vollkommen frei ist. Und das find' ich so
schön. Mit dem Bücherschreiben ist es dasselbe. Ich muß mir vorher, während
einer ganz anderen Arbeit, das alles überlegen können. Ich könnte mich nicht
wie andere Schriftsteller stundenlang in eine Stube setzen und nachdenken.«
Haben Sie das Buch allein geschrieben?
»Ich hatte einen Jungen, den hab' ich in Erlangen getroffen, einen Studenten,
der studierte Jura, der war furchtbar nett, und der kam abends und sagte, ach,
ich möchte Ihnen doch so gerne mal guten Tag sagen, es war so wunderbar heute
abend. Ich war gerade dort aufgetreten, in einem Stück "Der Wald" von
Ostrowski, und ich sagte, was machen Sie denn so, da kamen wir ins Gespräch,
und er sagte, er studiere Jura und sei einmal durchgefallen, und ich sagte,
warum denn, und er sagte, ja, er wäre so faul, und ich sagte, Gott, wie
wunderbar, was können Sie denn? Ja, und dann hatte er eine Braut mit schwarzen
Haaren, sehr nett, und er sagte, er könne ganz gut stenografieren, und da hab'
ich gesagt, ach was, wissen Sie, kommen Sie zu mir, besuchen Sie mich, ich
möchte so gern mal ein Buch schreiben, vielleicht geht das mit Ihnen, und dann
haben wir zusammengesessen, er hat da so gesessen, und ich hab' so am anderen
Ende vom Sofa gesessen, und er war ganz entspannt, verstehen Sie? Dann geht es
ja gut.«
Erinnern Sie sich an seinen Namen?
»Entschuldigen Sie, da muß ich erst nachdenken, das weiß ich nicht mehr. Er hat
dann geheiratet, eine Lehrerin, und lebt jetzt in Frauenaurach.«
Hat er Ihnen auch beim Formulieren geholfen?
»Nein, er war nur sympathisch, und ich konnte ihm alles ohne Hemmungen sagen.
Es gibt doch Szenen im Leben, die man anderen Menschen gar nicht so sagen
kann.«
Werden Sie weiterschreiben?
»Ja, ich habe es dem Dr. Knaus von Hoffmann und Campe versprochen, das ist ein
sehr netter Mann, zu dem können Sie gehen, wenn Sie einmal etwas haben. Ich
werde es machen, wenn die Premiere in Hamburg vorbei ist. Ich habe aber noch
nicht so einen Gesprächspartner, der für mich schreibt. Den muß ich erst
suchen.«
Wird das wieder etwas Autobiographisches sein?
»Es kommt eine Person vor, die Flickenschildt heißt. Aber es ist eine
größtenteils erfundene Geschichte. Die heißt "Pflaumen am Hut". Da
ist eine junge Amerikanerin, die wegen verschiedener Dinge aus Amerika fortgeht
und nach Deutschland kommt, ihr Bruder kommt später auch ... Nun, ich schicke
es Ihnen, wenn's fertig ist...."
Eine Liebesgeschichte?
»Liebe spielt eine Rolle zwischen einem Bruder und einer Schwester, auch
Zärtlichkeit zwischen Menschen, zwischen einem Mann und seiner Frau, die Frau
geht dann von dem Mann weg, lebt in London, wird dick, fängt an zu trinken und
all so was, grausame Sachen, die wird ganz aufgeschwemmt, scheußlich ... «
Warum trinkt sie?
»Weil sie nie das haben konnte im Leben, was sie gern gehabt hätte.«
Also ein Buch über Hoffnungen, die unerfüllt bleiben?
»Das kann man nicht sagen. Es heißt "Pflaumen am Hut", und das spielt
in Salzburg auf der Terrasse des "Österreichischen Hofs", wo ganz
reiche Amerikanerinnen hinkommen, Verwandte von diesem Mädchen, und die haben
Hüte auf mit so Sachen drauf, die aussehen wie Pflaumen oder Kirschen.
Ungeheuren Schmuck haben die auf ihren Hüten, und deshalb heißt es
"Pflaumen am Hut".«
Und was macht das Mädchen?
»Das guckt und staunt und wundert sich und flieht diese Welt und lebt dann mit
einem Engländer zusammen, der auch wieder sehr schwierig ist ... Ich kann das
jetzt nicht alles erzählen, es ist alles in meinem Kopf, aber ich hab' es ja
noch nicht geschrieben.«
Sind Ihnen Frauen mit Hüten unsympathisch?
»Wissen Sie, ich will Ihnen mal kurz sagen, welche Frauen ich nicht mag. Ich
mag nicht diese Frauen, die nicht ganz dumm sind, aber auch nicht klug sind,
sich auch nie bemühen, klüger zu werden, um diese Welt und ihre Probleme besser
verstehen zu können, sondern die einfach so reich sind, so Geld haben und nie
damit weiterkommen oder damit etwas tun und etwas machen und Verwandlungen
hervorrufen. Verwandlungen find' ich mit das Schönste auf der Welt, verstehen
Sie? Verwandlungen, wo jemand sagt, gut, ich habe sehr viel Geld, aber mit
diesem Geld kann ich etwas Wunderbares machen, ja? Das find' ich so wunderbar
auf der Welt und so interessant. Denn der Zustand eines Menschen auf dieser
Welt ist ja ziemlich gleichmäßig und konstant: ein Mensch und gut, stirbt,
lebt, stirbt ... «
Jetzt fehlt nur noch der Partner, der mitschreibt.
»Ja, den muß ich in Hamburg erst suchen, jemanden, der bei mir sitzen kann,
freundlich ist, auch freundlich auf mich blickt, nicht verwundert, weil man ja
da sofort zögert, verstehen Sie, dann denkt man sofort: Was machst du? Denn es
ist ja ein merkwürdiger Zustand: Man sitzt irgendwo, und ein fremder Mensch
sitzt einem gegenüber, und aus dem Kopf kommen unentwegt Geschichten heraus,
und die soll nun der andere für wahr halten und aufschreiben. Da darf der
natürlich nicht ratlos sein.«
Wie lange werden Sie in Hamburg bleiben?
»Nicht so lange.«
Dann kommen Sie wieder hierher?
»Ja, ich glaube, daß dieses Haus hier mein letztes sein wird. Von hier ziehe
ich nicht mehr weg. Hier werde ich sterben.«*****
Vor sechs Jahren sind Sie zum Katholizismus übergetreten.
„Ja,
richtig.“
Warum?
»Das werde ich Ihnen erklären. Auf mich hat es einen sehr großen Eindruck
gemacht, als ich einmal von Max Planck, dem Wissenschaftler gehört habe, daß er
konvertiert ist. Da dachte ich, was kann einen solchen Mann, der doch sicher
ein sehr kluger Mann war, dazu bewogen haben, in späteren Jahren, als doch
seine Erfahrung und sein Wissen größer waren als vorher, so was zu machen. Darüber
habe ich lang nachgedacht, und dann kommen natürlich in solchen Augenblicken,
wenn man nachdenkt, auch so Empfindungen dazu ... Wissen Sie, ich bin ja an
sich ein sehr depressiver Mensch und sage mir, was sollen diese Menschen nur
auf der Welt, wie blödsinnig ist das alles, man wird geboren, ohne daß man
etwas sagen kann, und eines Tages stirbt man. Im Grunde finde ich die Situation
des Menschen fürchterlich. Was weiß er? Er weiß nichts. Da heißt es, diese Erde
ist Milliarden Jahre alt, und Schmetterlinge gibt es seit dreiundsechzig
Millionen Jahren und den Menschen erst seit einer Million Jahren, also was soll
das alles? Was sollen diese Zweibeiner? Sie haben ein Gefühl von Sehnsucht in
sich, was nie durch Fakten belegt werden kann. Sie haben ein Gefühl von Trauer
in sich, was man auch nicht beweisen kann. Woher kommt diese Trauer? Sie haben
ein Gefühl von überschäumender Lustigkeit, von Erotik in sich, Umarmung, die
nie aufhören soll, nein, nein, kein Ende, kein Ende, das Ende wäre
Verzweiflung, alles dieses ... Wozu? Eines Tages liegt man da, kalt und stumm.
Alles, was man gemacht hat, hat aufgehört, man selber hat aufgehört. Die Augen
sehen nichts mehr, der Mund spricht nichts mehr. Man liegt da, wird
eingegraben. Wozu das alles?«
Um das beantworten zu können, sind Sie katholisch geworden?
»Nein, dazu sind wir ja viel zu sehr vom Zweifel angekränkelt, und auch vom
Intellekt. Wir sind ja keine Generation von gläubigen Menschen, können wir gar
nicht sein, weil wir schon viel zuviel erfahren haben und viel zuviel wissen.
Ich brauchte damals, vor sechs Jahren, eine Festigkeit. Ich war vollkommen
schwankend.«
Hatten Sie Angst?
»Ich weiß nicht, ob es nur Angst ist. Eine gewisse Angst, vielleicht. Wissen
Sie, ich hab keine Kinder. Ich finde, eine Frau, die Kinder in die Welt setzt
und denen zum Leben verhilft, das ist teilweise etwas ganz Wunderbares und
teilweise auch etwas Schreckliches. Verstehen Sie, was ich meine? Weiß man
denn, was aus diesen Kindern wird? Kann man denen helfen, wenn die schwach sind,
schwächer als man selbst? Man kann ihnen nicht helfen, und das finde ich
schrecklich, daß man immer weiter fortzeugt und immer weiter diese Gebilde in
die Welt setzt, die doch dann oft sehr unglücklich sind. Ich leide so
furchtbar, wenn Kinder weinen. Das ist für mich etwas ganz Fürchterliches, und
die weinen so schrecklich, so tief entsetzt.«
Wie können Sie da an einen Gott glauben, der gut ist?
»Ich glaube, daß über allem etwas ist, was das Schicksal hervorruft, die
Situation eines Schicksals, denn nur geboren werden ist ja noch kein Schicksal,
aber das, was die Möglichkeit eines Schicksals bei einem Menschen hervorruft,
das muß doch ein Wesen oder eine Sache sein, die außerhalb dieser Erde
passiert.«
Aber warum ausgerechnet der katholische Gott?
»Das weiß ich auch nicht.«
Aber Sie haben sich doch für ihn entschieden.
»Für wen soll man sich sonst entscheiden? Für Mohammed?«
Sie hatten ja schon eine Konfession. Sie waren protestantisch.
»Ja, ich war protestantisch, aber das finde ich das Dümmste von allen zusammen.
Entschuldigen Sie, ich will hier nicht die Kirchen angreifen, die tun auch, was
sie können, die haben es auch nicht leicht heutzutage, aber diese Protestanten,
das hab' ich alles in Hamburg kennengelernt, das ist überhaupt keine Hilfe, das
ist fast gar nichts. Die haben keine Heiligen, was ich wunderbar finde, weil es
da immerhin eine Möglichkeit gibt, über dieses Allgemeine hinaus Bezirke sich
vorzustellen, wo etwas anderes stattfindet. Zum Beispiel, wenn Sie nur die
Jungfrau von Orleans nehmen, was ich da jetzt in Hamburg spiele, das war doch
eine außergewöhnliche Frau, in der muß doch etwas ganz Ungeheures dringesteckt
haben.«
Wenn man es glaubt ...
»Natürlich ist letztlich alles eine Glaubensfrage. Man nimmt es halt hin als heilige
Jungfrau von Orleans.«
Ist das ein Trost?
»Ja, daß solche Zwischenbereiche möglich sind, das finde ich tröstlich. Bei den
Protestanten, da fand ich diese Rituale der Konfirmation und was es da alles
gibt, so unglaublich bürgerlich. Da bekommt man so viele Blumen geschenkt, und
dann kommen so Karten und Briefe von Familie soundso und Familie soundso, das
ist dann alles so aufgelöst in eine Bürgerlichkeit.«
Nach der katholischen Firmung bekommt man keine Blumen?
»Nicht in dieser Form. Die Firmung hat sowas Rührendes, Kindliches, Törichtes,
das können Sie nennen, wie Sie wollen, aber es hat irgendwas, während ich das
protestantische Konfirmieren so spießig finde.«
Gehen Sie zum Gottesdienst?
»Ich gehe zur Messe und finde es wunderbar, wenn hier jemand stirbt, und die
Nachbarn tragen den Toten und stehen drum rum, und hinterher gehen sie noch zum
Engelamt, morgens in der Früh, alles dieses, das finde ich rührend.«
Da vergessen Sie Ihre Depressionen?
»Wahrscheinlich. Man muß versuchen, damit fertig zu werden. Ich versuche, das
durchzudenken, und versuche zuerst, ob ich das abstellen kann, und wenn nicht,
muß ich eben versuchen, damit fertig zu werden.«
Sie beschreiben in Ihrem Buch ein Erlebnis in einem Nachtclub, in dem auf
offener Bühne ein Geschlechtsverkehr vorgeführt wurde.
"Ja, furchtbar."
Das hat Sie abgestoßen.
»Schaun Sie, ich will Ihnen mal ganz kurz etwas erzählen. Ich erzähle Ihnen
das, weil wir darüber reden. Ich hab' eine Tournee gemacht, da war ein junger
Schauspieler dabei, der spielte in dem Stück "Der Privatsekretär" von
Eliot den Colby, das ist ungefähr so eine Figur wie in Pasolinis
"Teorema", da gibt es doch diesen Veränderer, diesen Beweger, diesen
Engel, der das Leben verkörpert, und so eine Figur ist der Colby, ein junger Mann,
der alle verändert, und alle möchten ihn und wollen ihn, also gut, und dann
hatten wir keine Friseuse, weil bei solchen Tourneen natürlich immer gespart
wird, und ich hatte eine Perücke, das fand man fabelhaft, da brauchte man keine
Friseuse, aber eines Tages ließ es sich dann nicht mehr vermeiden, weil es zu
lästig war, in den Orten, wo man gastierte, immer die Perücke zum Friseur
bringen zu müssen, jeder machte sie anders, der eine machte sie ganz hoch, der
andere ganz niedrig, einmal waren die Locken hier, dann da, und abends mußte
man unnötig daran herumbürsten, damit sie hielt ... Wissen Sie, das Ganze
spielt sich doch immer ab von den höchsten Erwartungen bis zur lächerlichsten
Realität, dazwischen ist doch immer alles. Gut, also man sagte, es soll eine
Friseuse kommen, und dann hörte ich am Telefon eine Stimme: Ich bin die neie
Frisese. Ja, fein, sagte ich, kommen Sie morgen um eins, kommen Sie und waschen
Sie mir schnell die Haare. Am nächsten Tag warte ich um eins, warte bis zwei,
warte bis halb drei. Dann wieder die Stimme: Ach, entschuldigen Sie bitte, ich
war so mide, ich hab' mich verschlafen, jetzt ist es zu spät, nicht? Ja, sage
ich, jetzt ist es zu spät, jetzt geht's nimmer. Gut. Unterdessen, während ich
auf sie gewartet hatte, war also diese kleine Friseuse in das Hotel gekommen,
so ein kleines Pupperl, Taille schmal, ganz weiblich und so, ja? Und hatte sich
sofort auf den Colby gestürzt und war dann müde und konnte mir nicht die Haare
waschen, verstehen Sie? Das war so ein ganz kleines Stücke Friseuse, aber
wirklich, das muß ich schon sagen, und der Colby, unser Engel, sofort auf sie
drauf, finden Sie das richtig?«
Vielleicht wollte er nur mal mit ihr schlafen?
»Ja, sehen Sie, ich habe darüber nachgedacht, ich hab' mir gedacht, guck mal,
ein junger Schauspieler, spielt eine so herrliche Rolle, immerhin von Eliot ...
«
Wer war es denn?
"Stroux, der Sohn von dem Regisseur Stroux, Thomas Stroux. Ich hab' dann
auch mit ihm darüber gesprochen. Ich hab' zu ihm gesagt, Thomas, das ist falsch,
was du da machst. Da hat er gesagt: Das ist die Lust. Ja, natürlich, hab' ich
gesagt, du hast Lustgewinn, aber Du hast Verminderung als Schauspieler! Würden
Sie das auch sagen? Wie würden Sie sich verhalten?"
Ich weiß nicht. Vielleicht ist nicht jeder zu so einer Rigorosität bereit wie
Sie.
»Muß er aber! Er muß, oder er wird nichts. Er wird ja Schauspieler, um was zu
werden. Er kann machen, was er will. Er kann mit den Friseusen in den
Untergrund steigen, wie er Lust hat. Aber er muß, wenn er den Colby spielt, die
Friseusen meiden!«
Hat er denn schlechter gespielt an diesem Abend?
»Von da an, ja, weil er natürlich nicht mehr konzentriert war. Er war nur noch
darauf konzentriert, mit dieser Friseuse zu schlafen. Ich mochte ihn sonst sehr
gerne, er war nett, aber er wird eines Tages einsehen, was für einen
entscheidenden Fehler er da gemacht hat. Kunst ist Kunst, und wenn Sie sich
nicht entsprechend verhalten, stößt Sie die Kunst aus und beiseite wie einen
Haufen Dreck. Man muß unerbittlich sein, sonst geht es nicht, man muß. Man
muß!«
--------------
*) »Kind mit roten Haaren«, erschienen 1971 bei „Hoffmann und Campe“
**) Anlaß für meinen Besuch bei der Schauspielerin war Rudolf Noeltes
Salzburger Inszenierung des »Menschenfeind« von Moliére, in der die
Flickenschildt die Nebenrolle der Arsinoe spielte.
***) Giorgio Strehler inszenierte 1973 in der Felsenreitschule "Das Spiel der Mächtigen" nach Motiven aus Shakespeares Königsdramen.
****) Wilfried Minks (geb. 1930), Bühnenbildner und Theaterregisseur
*****) Elisabeth Flickenschildt zog dann doch noch einmal um: in die Nähe von
Hamburg, Landkreis Stade. Nach einem Einbruch in ihren Bauernhof und einem
Autounfall schwer angeschlagen, starb sie 72-jährig am 26. Oktober 1977.
-------------
In einer Kurzfassung erschienen am 11. August 1973 in der Münchner „Abendzeitung“