ELIAS CANETTI: Was wissen Sie schon von mir? Kennen Sie meinen Lebenslauf?
Wo ich geboren bin? Ich sag Ihnen vielleicht ganz kurz, wie das war. Ich hab
die ersten sechs Lebensjahre in Bulgarien verbracht, wo ich geboren wurde,
an der Donau, in Rustschuk, dann zogen wir nach England. Die erste Schule,
in die ich ging, war in England, die erste Sprache, die ich sprach, war das
alte Spanisch, das Spaniolische, dann lernte ich Englisch als zweite Sprache,
dann haben meine Eltern, die viel auf sich hielten, eine französische Gouvernante
ins Haus genommen, da habe ich als dritte Sprache Französisch gelernt, dann
starb mein Vater noch sehr jung, und meine Mutter, die Wien sehr liebte, die
in Wien zur Schule gegangen war, ist mit uns, wir waren drei Buben, nach Wien
gezogen.
Und erst dort lernten Sie Deutsch?
CANETTI: Nein, etwas vorher. Auf dem Weg nach Wien, im Sommer, hat meine Mutter
in Lausanne haltgemacht und hat mir in drei Monaten Deutsch beigebracht mit
fast terroristischen Mitteln, damit ich gleich in die richtige Klasse aufgenommen
werde in Wien. Also erst meine vierte Sprache war Deutsch. Als ich es lernte,
war ich acht Jahre.
Es ist dann die Sprache Ihrer Literatur geworden.
CANETTI: Ja, die Sprache, in der ich zuerst geschrieben habe, denn ich bin
ja von dieser Zeit an immer in deutschsprachigen Gebieten in die Schule gegangen.
Ich war zuerst in Wien in der Schule, kam dann nach Zürich, habe in Frankfurt
das Abitur gemacht und bin dann wieder in Wien auf die Universität gegangen.
In Wien hab ich als Schriftsteller begonnen. Deutsch war die Sprache, in der
ich geschrieben habe. Aber es kommen auch persönliche Gründe hinzu. Für die
Spaniolen, die auf dem Balkan lebten, war Wien der Kulturmittelpunkt. Die
Familien, die es sich leisten konnten, haben ihre Kinder nach Wien auf die
Schule geschickt. So haben mein Vater und meine Mutter in Wien Deutsch gelernt,
waren immer im Burgtheater, waren begeisterte Theaterverehrer.
Was waren sie von Beruf?
CANETTI: Mein Vater war Kaufmann, meine Mutter war seine Frau, aber eine literarisch
sehr interessierte Frau. Beide wären am liebsten Schauspieler geworden. Aber
das wäre bei ihren Eltern unmöglich gewesen, das waren Leute, die das nie
erlaubt hätten. Der Haushalt war damals noch hart und streng, sehr patriarchalisch,
viel patriarchalischer als in den nördlichen Teilen Europas. Nun lernten sich
meine Eltern kennen, als sie aus Wien zurückkamen nach Bulgarien und haben
sich ineinander verliebt, weil sie diese gemeinsamen Erinnerungen an Wien
austauschen konnten, und haben Deutsch miteinander gesprochen, was wir Kinder
noch nicht verstanden, verstehen Sie? So habe ich in den ersten Jahren meines
Lebens Spanisch gesprochen, Bulgarisch in der Umgebung gehört und von meinen
Eltern Deutsch, das sie mir aber nicht beibringen wollten, das war ihre Geheimsprache
sozusagen, so daß ich deutsche Laute schon sehr früh hörte und es mir furchtbar
nahe gegangen ist, daß ich das nicht verstand, und so bin ich immer in ein
anderes Zimmer gegangen und hab diese deutschen Laute für mich eingeübt, ohne
sie zu verstehen. Verstehen Sie, so war das früh eine Sprache, auf die ich
sehr scharf war und die ich haben wollte für mich. Als ich dann sieben war
in England, starb mein Vater, und meine Mutter hatte nicht mehr diesen deutschen
Gesprächspartner, konnte in ihrer Lieblingssprache mit niemandem reden und
hat mir dann eben sehr rasch Deutsch beigebracht, damit ich, sozusagen meinen
Vater ersetzend, ich war der älteste Sohn, mit ihr Deutsch sprechen konnte.
Dadurch ist mir diese Sprache ungeheuer wertvoll geworden.
Gab es nie einen Zweifel, daß es die Sprache ist, in der Sie sich am besten
ausdrücken können?
CANETTI: Nein, nie, sonst könnte ich ja nicht in ihr schreiben.
Aber Sie haben doch auch englisch geschrieben.
CANETTI: Ich halte Vorträge in Englisch, aber literarisch verwende ich andere
Sprachen als die deutsche nur zum Spaß, schreibe französische Gedichte zum
Spaß, die ich aber nie herausgeben würde, schreibe auch spanisch zum Vergnügen,
aber das, was ich wirklich mache, mache ich deutsch, nicht nur, weil das die
Sprache ist, in der ich meine Methode hatte, zu schreiben, von früh an. Es
kommen auch andere Sachen dazu, die Ihnen vielleicht sonderbar vorkommen werden.
Ich neige sonst nicht zur historischen Erklärung von Dingen, aber es spielt
hier schon eine Rolle. Meine Vorfahren haben Spanien im 15. Jahrhundert verlassen,
sind vertrieben worden in die Türkei, haben aber ihr Spanisch immer behalten,
und zwar ganz rein, das war immer da.
Waren das auch Kaufleute?
CANETTI: Ja ja, natürlich, das waren alles gutgestellte Kaufleute, denen es
eigentlich sehr gut ging in der Türkei, da gab's keine Gettos, da haben die
Juden sehr gut und sehr frei gelebt. Die Türken haben die Juden dort verwendet,
um ihre Balkanslawen zu unterdrücken, die haben sie sozusagen partizipieren
lassen an ihren herrschaftlichen Allüren. Also ging es ihnen sehr gut dort.
Aber sie haben ihr Spanisch behalten, hatten ihre alten spanischen Balladen,
Sprichwörter, Lieder, das war alles da, und zwar vollkommen archaisch und
ohne weitere Entwicklung. Als Kind hörte ich diese Dinge, und dann kam ich
nach Wien, und es kam die zweite große Judenvertreibung, wahrscheinlich war
es da für mich ganz selbstverständlich, daß ich nun an meiner deutschen Sprache
genauso festhalte wie meine Vorfahren an ihrer spanischen. Es ist eine merkwürdige
Konstellation, daß man beide Vertreibungen sprachlich in sich vereinigt. Ich
bin die einzige literarische Person, von der ich weiß, die diese beiden Dinge
in sich enthält ... Und dann kam auch Stolz dazu, daß ich mir nicht von Hitler
vorschreiben lassen wollte, in welcher Sprache ich schreibe. In England hätte
ich, als ich hinkam, sehr leicht auch englisch schreiben können, ich konnte
ja Englisch schon vorher. Aber ich habe gerade in dieser Zeit, die völlig
hoffnungslos war, im Krieg, nicht im Traum daran gedacht, anders zu schreiben.
Ich hab damals an "Masse und Macht" gearbeitet und hab nur deutsch
weitergemacht. Alle meine Freunde haben gesagt, ich sei verrückt. Viele Emigranten,
die ich kannte, haben versucht, englisch zu schreiben, das ist meist sehr
kläglich ausgefallen, manchmal ist es gelungen, aber ich wollte nicht. Es
ging mir sehr schlecht, aber das war wirklich eine Frage des Stolzes, nicht
nur der Liebe zur Sprache.
War Ihre Emigration eine Flucht in letzter Sekunde, oder hatten Sie noch Zeit,
das in Ruhe zu organisieren?
CANETTI: Hitler kam Mitte März 1938 nach Wien, ich blieb noch bis Mitte November.
Waren Sie schon bekannt als Autor?
CANETTI: Ja natürlich, da war "Die Blendung" schon erschienen. Ich
war unter den jüngeren Autoren einer der bekannten. Es gab da ganz komische
Dinge. Es war gerade ein Vortrag von mir angekündigt. Zum erstenmal in meinem
Leben stand mein Name auf einer Litfaßsäule, gerade als die Deutschen in Wien
einmarschierten, das war eine sehr sonderbare Situation. Die Gesellschaft,
die die Werbeflächen vermietete, hat das Plakat nicht entfernen wollen, weil
es bezahlt war, und so stand ich da eine Woche, während das alles passierte,
riesig groß, und alle haben gesagt, die werden kommen und mich holen. Aber
sie haben mich nicht geholt. Es scheint, daß ich von jemandem geschützt worden
bin, irgendeinem Schriftsteller, der bei den Nazis gutstand und bei dem die
Nazis sich beraten haben, wen sie verhaften sollen. Der soll denen, das habe
ich später erfahren, eingeredet haben, ich sei Italiener, den dürfte man nicht
anrühren, und so bin ich die ersten Wochen gar nicht angerührt worden. Erst
später habe ich mich verstecken müssen. Aber der Grund, warum ich so lange
blieb, obwohl ich wußte, daß ich in Gefahr war, ist der, daß ich schon damals
sehr fasziniert war von den Problemen der Masse und Macht und nun Gelegenheit
hatte in diesen Monaten, eine mir ganz feindlich gesinnte Masse in Realität
zu erleben. Ich war immer auf der Straße und habe mir die Aufmärsche angeschaut,
natürlich mit Haß, mit Abneigung. Früher war ich in Massen gewesen, die meine
waren, sozialistische Massen, an denen ich als junger Mensch sehr teilgenommen
habe.
Hat Sie das Phänomen der Massen auch geängstigt, als es noch Ihnen gewogene
waren?
CANETTI: Mein erstes Erlebnis von Masse war ja viel früher, beim Ausbruch
des Ersten Weltkriegs. Das ist sehr interessant. Wir kamen gerade von England,
haben auch Englisch gesprochen, und waren in Baden bei Wien, da hat die Kurkapelle
gespielt, der Kapellmeister hieß Konrath, da kamen in Abständen die Nachrichten
von den einzelnen Kriegserklärungen, und er hat dann immer zu dirigieren aufgehört,
man hat ihm einen Zettel hinaufgereicht, und dann hat er vorgelesen "Deutschland
hat England den Krieg erklärt" und so weiter, und immer, wenn er so was
gesagt hat, hat man die Nationalhymne gespielt, die österreichische und die
deutsche. Nun wissen Sie ja, daß die deutsche Hymne "Heil dir im Siegerkranz"
genau dieselbe Melodie hatte wie die englische. Ich war damals neun, meine
beiden Brüder noch kleiner, und wir hatten ein Gefühl für England damals,
weil wir ja aus England kamen, und als dann "Heil dir im Siegerkranz"
gespielt und gesungen wurde, sangen wir ganz laut "God save the king",
so wie Kinder eben trotzig sind. Darauf sind diese erwachsenen Menschen auf
uns losgegangen und haben uns drei kleine Buben richtig verprügelt. Das war
meine erste böse Masse ... Aber ich hab auch das Gegenteil erlebt in der Schweiz.
Da war kein Krieg, ein absolut friedliches Land, wo zum Beispiel deutsche
und französische Offiziere, die verletzt waren und auf Erholung hingeschickt
worden waren, auf der Straße in Zürich nebeneinandergingen und sich nichts
taten, während ich in Wien in der Schule "Gott strafe England" und
"Serbien muß sterbien" und lauter solche Liedchen singen mußte,
die ich immer gehaßt hab, damals schon.
In Ihren "Aufzeichnungen" beschreiben Sie das Erlebnis der Masse
nach der Ermordung Rathenaus.
CANETTI: Ja, das war 1922 in Frankfurt. Man spürte die Auswirkungen des verlorenen
Krieges, die Inflation, da bin ich nach der Ermordung Rathenaus in die erste
Arbeiterdemonstration hineingeraten, das war die erste positive Masse, die
ich erlebt hab, die mir gefallen hat, die ich ganz großartig fand, wo ich
gegen meinen Willen plötzlich mitgerissen wurde, mitging ... Dann kam ich
nach Wien auf die Universität, und da hab ich im Alter von zwanzig plötzlich
beschlossen, meine eigentliche Lebensleistung müßte ein Buch sein, in dem
ich versuche, zu erklären, was das ist, wenn man in einer Masse aufgeht. Ich
hab Material zu sammeln begonnen. Viele Grundgedanken hab ich ja schon gehabt.
Aber erst als ich nach England kam, hab ich nichts anderes mehr gemacht und
zwanzig Jahre lang nur an diesem einen Buch weitergeschrieben.
Losgelöst von den aktuellen Anlässen, als Philosoph sozusagen...
CANETTI: Ja, ich wollte die Wurzeln der Dinge finden. Ich wollte die Dinge
erklären. Ich habe dazu viele verschiedene Wissenschaften studiert, Ethnologie
zum Beispiel, habe versucht herauszufinden, was für Massen es schon bei primitiven
Stämmen gegeben hat, bin auf den Begriff der Meute gekommen, kleinerer Massen.
Dann haben mich Massensymbole interessiert, Psychiatrie. Ich hab nachgewiesen,
daß es im einzelnen Menschen, zum Beispiel im Schizophrenen, Massenvorstellungen
gibt, die einem erklären, wie der Mensch für sich die Masse erlebt. Ich hab
auch Paranoia untersucht und eine neue Definition der Paranoia gefunden, nämlich
daß der Paranoiker sich immer von feindlichen Massen umstellt fühlt. Verstehen
Sie, ich hab das Phänomen von immer neuen Richtungen zu untersuchen begonnen,
bis ich gemerkt hab, da komme ich nicht mehr weiter, dann hab ich wieder woanders
begonnen, und so sind mir einige ganz entscheidende Sachen gelungen, die neu
sind.
Bedeutet das, daß Sie "Masse und Macht" im Unterschied zu Ihrem
Roman "Die Blendung" als eine wissenschaftliche, nicht literarische
Arbeit betrachten?
CANETTI: Nein, absolut nicht. Das sieht nur so aus. Ich habe sehr viel wissenschaftliches
Material verwendet, aber es war mir von Anfang an außerordentlich wichtig,
daß ich mich keiner der herrschenden Terminologien bediene, daß ich alle Ausdrücke
meide, die schon zu sehr verwendet worden und dadurch entleert sind. Ich habe
das, was ich zu sagen hatte, in einer möglichst luziden, literarischen Sprache
geschrieben. Das Buch ist so, daß jeder Mensch, der lesen kann, es verstehen
müßte. Dadurch wird alles frischer und direkter. Die Beispiele habe ich absichtlich
aus sehr fernen Kulturen geholt oder aus sehr merkwürdigen Systemen von Irrsinnigen.
Ich hab auch sehr viel Religionsgeschichte studiert. Die Beispiele sollten
überraschend sein für den Leser, damit er selbst die Anwendung auf seine Person
ziehen kann.
Haben Sie diese fernen Kulturen bereist und die Irrsinnigen aufgesucht?
CANETTI: Nein, das sind nicht Dinge, die ich gesehen habe, sondern wissenschaftliche
Leseergebnisse. Ich hab zum Beispiel die Übersetzungen aller arabischen Historiker
gelesen, aller byzantinischen, habe alle Fälle von Massen, die historisch
überliefert sind, gesammelt, natürlich nicht alles verwendet. Das Material,
das ich liegen habe, ist ungeheuer.
Sind Sie da nicht so etwas geworden wie der Kien in der "Blendung",
der ja auch ein Bücherwurm ist?
CANETTI: Schaun Sie, der Kien ist kein Selbstporträt, aber die Liebe zu den
Büchern, die hat er von mir, das ist das einzige, was er von mir hat.
Nicht auch die Verbohrtheit in ein bestimmtes Thema?
CANETTI: Nein, denn er ist ja viel mehr ein Spezialist, ausschließlich auf
ostasiatische Philologie konzentriert. Alles andere verachtet er als nicht
wissenschaftlich, während ich mich ja in mindestens zehn Wissenschaften umtun
und da die Verbindungslinien herstellen mußte. Es ging ja nicht nur um Massen.
Ich hab ja auch alle Probleme der Macht untersucht, hab neue Theorien über
das Wesen der Macht aufgestellt.
Aber Sie haben nebenbei keine andere literarische Arbeit gemacht, sondern
sich ausschließlich auf "Masse und Macht" konzentriert.
CANETTI: Ja, das hatte ich so beschlossen. Solange ich in Wien war, habe ich
nebenbei auch noch literarisch geschrieben. Aber als ich aus Wien wegging
und überall Krieg war, hatte ich das Gefühl, daß es einfach frivol wäre, jetzt
noch weiter literarisch zu schreiben, daß man einfach den Dingen auf den Grund
kommen müßte, verstehen müßte, was da geschehen ist. Wie ist das möglich gewesen?
Da gab es zwei starke Arbeiterparteien, die sich gegenseitig zerstörten, während
die Nazis immer mächtiger wurden. Das waren Dinge, die mit keiner der landläufigen
Theorien erklärt werden konnten. Ich hab das Gefühl gehabt, man muß da die
Wurzeln finden, und wollte mein Leben auf diese Sache werfen und habe mir
in den ersten Jahren gar nicht erlaubt, literarisch zu schreiben. Das war
wie eine Askese.
Wollten Sie anderen etwas verständlich machen oder vor allem sich selbst?
CANETTI: Natürlich wollte ich auch für mich selbst Klarheit finden. Ich hatte
das Gefühl einer ungeheuren Schuld, ich hab mich geschämt, daß ich und andere
Zeitgenossen es so weit haben kommen lassen. Das ist doch eine Schande, über
die man nie hinwegkommen kann, daß wir das alles herankommen gesehen haben
und niemand hat es verhindert. Davon war ich besessen, von diesem Gefühl.
Das kann man sich heute nicht vorstellen, weil das vorüber ist, diesen Ausbruch,
diese Verzweiflung.
Betrachten Sie "Masse und Macht" als eine erschöpfende Darstellung
der Ursachen, die dazu führten?
CANETTI: Es ist der Beginn dieser Darstellung, es sind Grundlagen gelegt,
die auch schon angewendet werden, vor allem in Amerika. Durch den Vietnamkrieg
und die Rassenfrage ist es ja dort viel akuter. Dort wird das Buch auch an
Universitäten verwendet und in Seminaren studiert. Aber es war nie meine Absicht,
das damit abzuschließen. Ich arbeite seit vier Jahren an einem zweiten Band
und dann werden Spezialuntersuchungen kommen*, gewisse Dinge, die im
ersten Band noch nicht da sind. Aber der erste Band besteht doch auch geschlossen
für sich, und ich könnte daran nichts korrigieren. Vielleicht werde ich, wenn
ich noch zehn Jahre lebe, Dinge finden, die ich dann doch korrigieren möchte.
Aber vorläufig stehe ich durchaus zu allem, was im ersten Band da ist. Dieses
Buch ist das weitaus Wichtigste, das ich geschrieben habe. Die anderen Sachen
kommen weit nachher für mich.
Heißt das, daß Sie "Die Blendung" für unwichtig halten?
CANETTI: Aber nein, ganz und gar nicht. Dazu muß ich sagen, wie ich das überhaupt
geschrieben habe. Ich habe, als ich noch jung war und sehr unter dem Einfluß
von Karl Kraus stand, der wollte, daß man viel von sich verlangt, beschlossen,
nichts zu veröffentlichen, wovon ich nicht so überzeugt bin, daß ich das Gefühl
habe, es könne bestehen. Ich weiß, manche finden das läppisch. Mir war es
darum zu tun, kein Werk zu veröffentlichen, das ich nicht auch in zehn Jahren
noch billigen könnte. Was mir nicht gut genug erschien, hab ich zurückgehalten.
Ich habe über drei Viertel dessen, was ich geschrieben hab, noch nicht herausgegeben.
Wenn also ein Buch von mir dann endlich herauskam, dann stand ich dazu, absolut,
das war Jahre, nachdem ich's geschrieben hatte. Ich muß sagen, daß meine Stellung
zur "Blendung" sich nicht geändert hat. Ich habe nichts veröffentlicht,
wozu ich nicht stehe, aber ich habe wenig veröffentlicht. Hätte ich mehr veröffentlicht,
so würde ich einen großen Teil heute verwerfen müssen.
Sind die Dinge, die Sie nicht veröffentlicht haben, vorhanden?
CANETTI: Ja, natürlich.
Sie haben nichts weggeworfen?
CANETTI: Aber nein, ich vernichte nichts, weil ich mir die Sachen ja immer
einige Jahre später anschaue. Ich brauche die Distanz, um selbst ein Urteil
darüber zu finden, und dann passiert es mir, daß mir Dinge, die ich verwerfe
und gar nicht mag, zehn Jahre später brauchbar erscheinen. Es gibt zum Beispiel
die "Aufzeichnungen aus Marrakesch", ich weiß nicht, ob Sie das
kennen, es ist ein kleines Buch, das ich gar nicht als so wichtig empfinde,
ich hab es früher als überhaupt nichts betrachtet, das Original war dreimal
so lang, und dann las ich es dreizehn Jahre später und fand, daß einige der
Kernszenen eigentlich ganz brauchbar sind, und dann hab ich es herausgegeben
und stehe jetzt auch dazu. Es ist nicht mein Hauptwerk, aber ich stehe dazu.
Also ich lasse das Geschriebene liegen, um es später beurteilen zu können.
Wie lange haben Sie die Veröffentlichung der "Blendung" zurückgehalten?
CANETTI: Vier Jahre. Im Sommer 1931 war das Buch fertig, im Oktober 1935 ist
es erschienen.
Seit wann war für Sie klar, daß Sie Schriftsteller werden?
CANETTI: Schaun Sie, das ist so: Ich hatte als junger Mensch die idiotische
Vorstellung, daß man ein Universalwissen erwerben könne, das war mir sehr
wichtig. Naturwissenschaften haben mich sowieso interessiert, philosophische,
geistige Dinge, das habe ich sowieso schon für mich gelesen. Aber in Frankfurt
hatten wir einen sehr schlechten Chemielehrer, so daß ich davon überhaupt
nichts verstand. Da habe ich den verrückten Entschluß gefaßt in Wien, jetzt
inskribiere ich in Chemie, weil davon verstehe ich überhaupt nichts, und hab
also Chemie und Physik studiert, eine chemische Dissertation gemacht und bin
dann aus einer dummen Zähigkeit, die ich überhaupt habe, ich halte an allem
fest, was ich einmal machen will, dabei geblieben.
War schon in der Zeit, als Sie auch literarisch schrieben?
CANETTI: Geschrieben habe ich immer, von klein auf. Das hängt auch mit meiner
Mutter zusammen, die mir nach dem Tod meines Vaters schon ganz früh, mit zehn
Jahren, Shakespeare zu lesen gegeben hat, das fand sie ganz selbstverständlich,
und weil ich sie gern gehabt hab, hab ich das dann auch gern gelesen. Erst
später kamen dann Zwistigkeiten, da hab ich dann rebelliert. Aber in der frühen
Zeit war es so, daß ich gemerkt hab, daß ihr nichts auf der Welt wichtiger
ist als ein Schriftsteller. Sie war eine ungeheure Strindberg-Verehrerin zum
Beispiel, was zu dieser Zeit nicht so gewöhnlich war. Ich wollte natürlich
das werden, was ihr am meisten Eindruck gemacht hat. Das waren zunächst die
Motive.
Und später?
CANETTI: Der Einfluß der Mutter brachte auch den Einfluß der Werke mit sich,
die ich mit ihr gelesen habe. Sie hat mir ungeheuer gute Sachen zu lesen gegeben.
Mit zwölf gab sie mir den ganzen Dickens zu lesen, mit sechzehn den ganzen
Dostojewskij. Das sind frühe Eindrücke, die in irgendeiner Form bleiben.
Haben Sie in späterer Zeit auch den Zweifel am Sinn des Schreibens erlebt?
CANETTI: Später ja, als ich ein bewußter Mensch war. Ich hab nur einen sehr
geringen Teil meiner Aufzeichnungen veröffentlicht, vielleicht ein Zwanzigstel.
In den Teilen, die ich nicht veröffentlicht hab, stehen unzählige Zweifel,
das sind aber schon späte, bewußte Akte eines denkenden Menschen. In meiner
Jugend war es für mich vollkommen klar, daß es nichts anderes geben könne
als Schreiben. Nur wollte ich auch möglichst viel wissen dazu. Ich wollte
nicht als ein Unwissender schreiben. Ich habe das Gefühl, daß man heute nicht
mehr schreiben kann, ohne etwas von Naturwissenschaften zu wissen, von Technik.
Es erschien mir einfach idiotisch, so im alten Stil weiterzuschreiben. Der
Schriftsteller muß etwas wissen, um zu schlüssigen Resultaten zu kommen, die
es wert sind, an andere weitergegeben zu werden. Natürlich sollen andere von
ihm lernen, er muß den Menschen die Dinge klarer machen, er muß ihnen die
Situation der Zeit klarer machen. Aber um das zu können, muß er wirklich viel
wissen über die Zeit, und zwar im einzelnen, nicht nur so einen großen Schwafel,
wie es oft üblich ist. Die Schriftsteller jener Zeit waren doch entsetzliche
Schwätzer, zum Beispiel Stefan Zweig, ein ganz furchtbarer Kerl, ich kannte
ihn, der hat doch ein fürchterliches Zeug geschrieben, weil er gar nichts
gewußt hat. Im Gegensatz dazu Musil, den ich sehr verehrt habe, auch heute
verehre.
Kannten Sie ihn persönlich?
CANETTI: Ja natürlich, ich kannte ihn gut. Das war ein Mann, wenn man mit
dem gesprochen hat, war das immer ganz genau, das hat alles gestimmt. Er war
Ingenieur, wie Sie wissen. Da konnte man reden zum Beispiel über die Köhlerschen
Experimente an Schimpansen in Teneriffa, also über Tierpsychologie, oder über
ein technisches Problem. Er hat alles, was nicht genau war, vollkommen abgelehnt
und einfach nicht berührt im Gespräch. Aber das war ein seltener Typus. Sonst
war in Wien damals das große Geschwätz an der Tagesordnung.
Werfel zum Beispiel.
CANETTI: Ja, schrecklich! Der war sehr begabt, aber ein entsetzlicher Mensch,
persönlich, der hat alle jungen Dichter gedrückt. Gerade er, der immer so
als Weltfreund geschrieben hat, war abscheulich zu jungen Dichtern, ungenerös,
wollte überhaupt niemanden aufkommen lassen neben sich, ganz anders, als man
ihn sich vorstellen würde nach seinen Büchern. Die Bücher sind ja so lose,
daß man sie gar nicht ertragen kann.
Waren Sie schon früh in ein literarisches Milieu integriert?
CANETTI: Nicht sehr früh, nein, daß muß man genauer sagen, entschuldigen Sie,
daß ich alles genau sagen will... In den ersten Jahren war ich gar nicht in
literarischen Kreisen, da bin ich in die Vorlesungen von Karl Kraus gegangen,
das war mein Meister damals, ich war versklavt, fünf Jahre lang war ich vollkommen
versklavt, hab alles geglaubt, was er sagte, hab seine Meinungen übernommen,
von ihm Lesen gelernt, er hat ja ganze Stücke gelesen, wie ich es heute auch
tue. Außer ihm habe ich gar keine anderen Dichter gesehen. Erst allmählich,
eigentlich erst, nachdem ich die "Blendung" geschrieben hatte, die
ich vollkommen allein für mich geschrieben habe, da hab ich dann Broch kennengelernt,
Musil, da kam ich dann mehr unter literarische Menschen. Das war in den letzten
fünf, sechs Jahren in Wien, da kannte ich viele. Ich hatte aber vorher schon
andere Künstler gekannt, für die habe ich mich mehr interessiert als für Schriftsteller.
Bildhauer, Maler, Komponisten, das waren eigentlich meine besseren Freunde.
Ich war mit Alban Berg sehr befreundet, kannte Webern gut und den Bildhauer
Wotruba, der mein bester Jugendfreund war. Das hat mich interessiert auch
wegen der anderen Arbeitstechnik, ich hab denen gern zugeschaut bei der Arbeit.
Aber es gab auch einige Dichter, man hat sich die paar guten, die es gab,
ausgesucht, und die waren alle sehr isolierte Menschen damals in Wien. Sie
können sich gar nicht vorstellen, was das für ein Sumpf war, geistig. Und
da gab es ein paar wirklich bedeutende Leute, die völlig isoliert waren, die
mit einem wirklichen Haß gegen Wien gelebt haben, in Opposition zu Wien standen,
und das waren dann alles faszinierende Menschen, diese paar.
Welche Menschen, waren Ihre Freunde, als Sie nach England kamen?
CANETTI: Da hat sich alles dann sehr verändert. Dort war ich zwar Emigrant,
aber anders als die anderen, weil mir Englisch ja geläufig war. Viele Emigranten
wurden aus begreiflichem Groll, weil sie ihre Angehörigen verloren hatten,
ihren Besitz, das ganze Zeug, mir war das wurscht, aber die wurden dann eng
und kleinlich und bitter. Ich werfe es ihnen nicht vor, aber das wollte ich
nicht. Ich wollte objektiv denken können über die Dinge, und da hab ich versucht,
nicht nur mit Emigranten zu verkehren, sondern auch mit Engländern, und daher
hab ich viel mehr unter englischen geistigen Menschen gelebt.
Gebildeten Menschen?
CANETTI: Na ja, ich kenne auch andere viele.
Ich frage das, weil mich interessiert, woher Sie außer aus den Büchern, die
Sie lesen, den Stoff Ihrer Dichtung nehmen, also wo Sie Ihre Erfahrungen machen.
CANETTI: Mit Menschen?
Ja, mit Menschen.
CANETTI: Na, die Menschen, die sind doch meine größte Leidenschaft.
Ja, aber welche?
CANETTI: Alle, alle!
Nicht nur solche, die Ihnen geistig gewachsen sind?
CANETTI: Aber nein, um Gottes willen, nein, mich interessieren alle Menschen,
immer schon, auch in Wien schon. Am liebsten bin ich in Wien in die Beiseln
gegangen.
Konnten Sie denn reden mit diesen Leuten?
CANETTI: Sehr gern sogar. Allerdings kommt da etwas hinzu, was Sie vielleicht
ablehnen werden, was man moralisch anzweifeln könnte: Ich spiele sehr gern,
weil ich mich ja auch als Dramatiker sehr empfinde. So wie ich die Rollen
eines Stückes gern lese, werde ich auch einen Menschen, der ganz einfach ist
und sehr primitiv in seiner Ausdrucksweise, nicht erdrücken wollen mit irgendwelchen
Sachen, die ihn gar nicht interessieren, sondern werde so zu ihm sprechen
wie er zu mir. Dazu muß ich ein bißchen eine Rolle spielen, nicht eine übelwollende,
aber ich muß mich seinem Sprachschatz anpassen, das ist bei mir nicht eine
ganz reine Sache, denn ich liebe das auch, verschiedene Menschen zu sein.
Ich wäre gern viele Menschen, ich wär' am liebsten fünfzig verschiedene Leute,
das wär' mein größtes Vergnügen, wenn ich das könnte.
Dann sind Sie auch Schauspieler?
CANETTI: Schaun Sie, es ist so: Wenn ich ein Stück vorlese, spiele ich wirklich
alle Rollen, es würde mir nicht genügen, nur eine Rolle zu spielen, das wär'
mir zu langweilig. Ich könnte schon Schauspieler sein, aber ich möchte wechseln.
Wenn zwei oder drei Leute in einer Szene sind, hab ich es gern, die alle zu
spielen. Ich bin mehr Dramatiker als Schauspieler.
Verlieren Sie sich da nicht? Sie sind doch auch etwas Bestimmtes.
CANETTI: Natürlich.
Ein mehr intellektueller oder emotionaler Mensch?
CANETTI: Beides. Ich bin ein sehr passionierter, aber auch ein intellektueller
Mensch. Ich glaube nicht, daß man das trennen kann. Sie werden vielleicht
aus den Büchern den Eindruck bekommen, daß ich ein sehr intellektueller Mensch
bin, aber wenn Sie mein Leben kennen, werden Sie das nicht glauben.
Entfernte Sie Ihr Weg von der "Blendung" zu "Masse und Macht"
nicht von der Dichtung im engeren Sinne?
CANETTI: So kann man es nicht sagen. Ich hab nie gedacht, daß ich kein Dichter
mehr bin. Ich hab mir's nur nicht mehr erlaubt, in einer bestimmten Zeit dem
nachzugeben, bis ich endlich soweit war, einiges verstanden zu haben. Zumindest
wollte ich das. Eingehalten hab ich's nicht ganz. Es gab Zeiten, wo ich es
einfach nicht mehr ausgehalten hab, da hab ich die "Aufzeichnungen"
geschrieben, oder ein Theaterstück geschrieben, aber nur, um es dann wieder
auszuhalten.
Ist es für Sie wichtig, eine ganz bestimmte Wirkung zu haben?
CANETTI: Es ist mir schon wichtig, aber ich habe nie primär dran gedacht.
Ich hab immer gewußt, daß ich auf Menschen wirken will, und ich hab daher
immer daran gedacht, daß ich eine große Verantwortung habe, also den Leser
immer ernst nehme. Das hab ich von Karl Kraus gelernt. Ich wollte nie den
Leser als einen dümmeren oder unwichtigeren Menschen behandeln, sondern wollte
ihn so betrachten, daß er genauso wichtig ist wie ich, und daß ich das Beste,
Schärfste, Präziseste, das ich zu sagen habe, ihm sage, damit er damit etwas
anfangen kann. Ich habe immer luzid geschrieben. Sie werden bemerkt haben,
daß ich nie einen unklaren Satz hinschreibe. Das ist die Rücksichtnahme auf
den Leser.
Das heißt: Sie liefern dem Leser Ihre Erkenntnisse und überlassen ihm nicht,
zu den Erkenntnissen selbst zu kommen.
CANETTI: Ja, das ist zum Teil richtig. Soweit es die bewußte, eigentliche
Arbeit angeht, sagen wir bei "Masse und Macht", ist es richtig.
Da wollte ich gewisse gefährliche Dinge klarstellen. Aber ich habe diese Disziplin
nicht durchgehalten und mir dann später erlaubt, ein, zwei Stunden am Tag
alles aufzuschreiben, was mir durch den Kopf ging. Da sind ja eine Unzahl
von Dingen darunter, die bloß als Anregung gedacht sind, nicht als endgültige
Gedanken. Es ist also beides bei mir da.
Sie wollen den Leser auf Ihre Stufe heben.
CANETTI: Aber nein, ich hebe ihn nicht, ich denke gar nicht daran, daß ich
ihn hebe, das wäre eine Unverschämtheit. Ich nehme jeden Menschen furchtbar
ernst und würde nie daran denken, daß ich ihn auf meine Stufe hebe. Das wäre
eine unverschämte Voraussetzung, wenn ich davon ausginge, daß ich nicht mit
ihm auf einer Stufe bin. Ich nehme jeden Menschen gleich ernst wie mich. Das
meine ich jetzt ganz ehrlich.
Aber Sie nehmen dem Leser die Freiheit, zu seinen eigenen Erkenntnissen zu
kommen.
CANETTI: Nein, überhaupt nicht, denn ich will ihm ja dazu verhelfen. Es sind
ja in "Masse und Macht" so viele Anregungen enthalten, die man selbst
weiter durchdenken muß, so vieles, was Menschen in ihren Erfahrungen finden
und worüber sie dann nachdenken können. Es ist ja kein systematisches Buch.
Ich habe nie systematische Bücher geschrieben, das habe ich immer abgelehnt.
Ich hasse jedes geschlossene System, das man anderen an den Kopf wirft, das
habe ich nie getan. Auch "Masse und Macht" ist ein offenes Buch.
Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Sie sagen, wenn ich Sie richtig gelesen
habe, Krieg wäre unmöglich, wenn der Mensch nicht mehr dem Tod ausgesetzt,
also unsterblich wäre, weil ja ein Krieg ohne Tote absurd ist. Brecht hat
gesagt, Krieg wird unmöglich, wenn die Arbeiter Arbeit haben. Beides sind
Thesen, die man glauben kann oder nicht. Mein Vorschlag wäre, eine Situation
nur zu beschreiben, ohne eine Lösung zu bieten, und auf diese Weise den Leser
zu aktivieren.
CANETTI: Ich verstehe. Ich weiß, was Sie meinen. Das ist das Anliegen eines
großen Teils der neueren Literatur.
Aber es ist nicht Ihre Methode?
CANETTI: Nein. Aber es muß ja nicht jeder das gleiche machen. Ich glaube sehr
an die individuellen Verschiedenheiten von Menschen. Ich glaube, es gibt viel
mehr Begabungen der Menschen, als man gewöhnlich annimmt, viel mehr Menschen,
die etwas zu sagen hätten, wenn sie nur dazu kämen. Aber ich glaube auch,
daß das, was einer am besten kann, bei den Leuten sehr verschieden ist. Meine
Anlage ist eher die, Einfälle zu haben, Dinge zu verbinden, die andere vielleicht
nicht verbinden, und sie dann auszuwerfen, den anderen hinzuwerfen. Wenn sie
was damit anfangen können, gut. Es gibt aber andere, deren Kraft im Beschreiben
liegt, wie Sie sagen, und die sollen das machen, ich bin nicht dagegen, ich
glaube jeder tut etwas nach der Anlage, die er hat. Aber eines möchte ich
vielleicht sagen zu Ihrer Kritik, die Sie vom Standpunkt Ihrer Generation
aus mit Recht üben dürfen. Da können Sie vielleicht sagen, ja woher wissen
Sie, ob die Dinge, die Sie als Gedanken auswerfen, überhaupt für uns brauchbar
sind? Darauf antworte ich Ihnen, da ist eine Art Sicherheit immer in mir gewesen,
daß jedes Zeugnis eines wirklich denkenden Menschen nützlich sein kann. Das
mag nicht stimmen. Da können Sie ruhig sagen, das glauben Sie nicht. Das kann
durchaus sein, daß ich mich da irre.
Nein, das meine ich nicht. Ich will nur sagen, daß ein Mensch, der am Anfang
dessen steht, an dessen Ende Sie jetzt vielleicht stehen, sich wehrt, wenn
ihm die Chance genommen wird, selbst auf die Dinge zu kommen.
CANETTI: Aber diese Chance nehme ich ihm doch gar nicht, auch nicht in "Masse
und Macht". Die Struktur des Buches ist doch so angelegt, daß immer wieder
zwischen einzelnen Gruppen von Kapiteln eine ungeheure Lücke ist. Der plötzliche
Wechsel des Standpunktes schafft dann das, was Sie meinen. Wenn man zwei,
drei Kapitel liest, könnte man denken, mein Gott, da ist alles so trostlos
bestimmt, so festgesetzt, aber wenn Sie dann den Sprung machen zur nächsten
Abteilung, ändert sich das.
Nun haben Sie immer noch nicht gesagt, ob Sie ein eher sinnlicher oder vom
Kopf bestimmter Mensch sind.
CANETTI: In einer Hinsicht bin ich ein sehr sinnlicher Mensch, nämlich akustisch,
das hab ich von Kraus gelernt, von der Art, wie Worte entstellt, mißbraucht
werden können. Vom Ohr her bin ich ein vollkommen sinnlicher Mensch. Ich glaube
auch, daß ich ein sehr visueller Mensch bin, weil mir Malerei viel bedeutet.
Wenn Sie mich aber auf die Sinnlichkeit im engeren Sinne ansprechen, war ich
vielleicht, als ich jünger war, und das ist etwas, das mich sehr unterscheidet
von der jungen Generation heute, im Kampf gegen meine Sinnlichkeit. Das Stück
"Die Hochzeit" zum Beispiel war ein Ausdruck meines Abscheus gegen
die Verquickung von Sinnlichkeit und Besitz. Mich hat es davor geekelt, daß
alles zu Besitz wird, daß auch Menschen als Besitz verwendet werden, auch
das, was mit Liebe zu tun hat oder mit den geschlechtlichen Reizen. Das hat
mich lange verfolgt, das bin ich erst spät losgeworden. Heute bin ich kein
Mensch mehr, der gegen diese Art von besitzergreifender Liebe in irgendeiner
Weise eingenommen ist, das ist heute kein Problem mehr für mich, denn ich
bin da ein ganz natürlicher Mensch wie jeder andere auch. Aber in meiner Jugend
war das schon ein Problem.
Haben Sie das aufgeschrieben?
CANETTI: Ja, immer. Aus den "Aufzeichnungen" wird ja deutlich, daß
ich über unzählige Dinge verzweifelt bin, weil ich sie nicht verstehe oder
nichts davon weiß.
Ja, aber Sie haben immerhin dieses Nicht-Verstehen als ein solches begriffen
und formuliert. Das ist ja auch schon eine Art von Erkenntnis, nämlich die
Erkenntnis, daß man es nicht versteht. Haben Sie jemals etwas Unbegriffenes
aufgeschrieben, ohne sich bewußt zu sein, daß sie es nicht begreifen?
CANETTI: Nein, so nicht. Erst, wenn ich Erklärungen gefunden hatte, hab ich
es aufgeschrieben. Ich hab diese Erklärungen jahrelang gesucht, zum Beispiel
habe ich untersucht, was Befehle sind. Ich hab auch einmal eine Theorie des
Befehls aufgestellt. Ich glaube, daß der, der die kennt, wirklich ein für
allemal weiß, wie gefährlich Befehle sind und daß das etwas ist, was wir erkennen
müssen. Oder eine andere Sache ist meine Beziehung zum Tod, die für viele
Leute ungewöhnlich ist und als lächerlich und exzentrisch erscheint. Das kommt
daher, daß ich den Sinn des Todes nicht einsehen kann. Ich lehne den Tod einfach
ab. Ich akzeptiere ihn nicht. Es gibt keine Religion, die mir darüber hinweghilft,
keinen Trost. Ich halte einfach den Tod in jedem einzelnen Fall für ein Unglück,
für eine Art von Verbrechen. Wenn es eine Gesinnung gibt, die ich schaffen
möchte, ist es die eines tiefen Mißtrauens und Abscheus gegen den Tod, nicht
nur gegen die Art, wie er verwendet wird, um zum Beispiel Kriege zu führen,
sondern auch gegen die Ergebenheit in den Tod.
Halten Sie ihn denn wenigstens biologisch für sinnvoll?
CANETTI: Der Mensch ist ja auf einer Stufe, die nicht mehr nur biologisch
bedingt ist, sondern auch an sich noch etwas ist, und da ist für den Tod überhaupt
keine Rechtfertigung. Es gibt vieles, was ich über den Tod geschrieben, aber
nicht veröffentlicht habe. Das meiste habe ich nicht veröffentlicht. Daran
sehen Sie, daß die Zweifel und die Fragen, also das, was noch offen ist, weit
mehr ausmachen als das, was ich beantworten kann.
Haben Sie zum Tod eine Alternative?
CANETTI: Sie meinen, eine praktische Alternative?
Ja.
CANETTI: Ich kann den Menschen natürlich nicht sagen, wie sie es machen sollen,
daß sie ewig leben, wenn Sie das meinen.
Nein, ich meine, können Sie sich eine Welt, in der es den Tod nicht gibt,
vorstellen?
CANETTI: Ja, natürlich.
Und wie sähe die aus?
CANETTI: Darüber habe ich eine Menge geschrieben. Da werden Sie einmal ein
ganzes Buch darüber lesen. Das hab ich ganz durchdacht, aber das erscheint
so verrückt, daß ich's einfach noch nicht herausgeben konnte.
Können Sie wenigstens andeuten, was es ist?
CANETTI: Nein, nein, das möchte ich nicht.
Wie wird man zum Beispiel mit der Masse von Menschen fertig, wenn keiner mehr
stirbt?
CANETTI: Daß die Zahl der Menschen beschränkt werden muß, das ist ja ganz
klar, das muß man ja auf alle Fälle, ob sie sterben oder nicht, man darf nicht
mehr so viele haben. Da ist kein großer Unterschied.
Im Falle einer gleichbleibenden Anzahl von Menschen wäre die logische Folge,
daß auch die Geburt entfällt.
CANETTI: Nein, nein, schaun Sie ... Ich will eigentlich darüber nicht sprechen,
ich möchte nicht, daß es läppisch erscheint, ich hab viel darüber nachgedacht,
aber ich kann Ihnen persönlich eine Antwort geben. Ich will nicht sagen, daß
man überhaupt nicht mehr stirbt, aber ich will, daß die Freiheit besteht,
ob man leben will oder sterben, also daß Sie, wenn Sie das Gefühl haben, daß
Sie genug gelebt haben, genug Existenzen erlebt haben, die Freiheit haben,
zu sagen, jetzt will ich nicht mehr. Diese Freiheit müßte bestehen, und da
werden bestimmt viele sterben wollen. Aber den Zwang zu sterben, den halte
ich für etwas Absurdes, das ich in keiner Weise akzeptieren kann. Ich glaube,
daß die ganze Entwicklung der modernen Biologie auf ein viel längeres Leben
hingeht, das sagen auch meine biologischen Freunde in England, die halten
es für selbstverständlich, daß Menschen bald zweihundert Jahre alt werden
können, daß das in Reichweite möglich sein wird.
Wenn es den unausweichlichen Tod nicht mehr gibt, dann wird auch Gott überflüssig,
also jede Unterordnung unter ein höheres Wesen, die Sie ja bestimmt für ebenso
unsinnig halten.
CANETTI: Nicht für unsinnig, aber ich halte Unterordnung, oder besser noch
Unterwerfung in jedem Fall für gefährlich. Das soll jetzt kein dummer Angriff
gegen die Religion sein, es ist über Religion sehr vieles zu sagen, es gibt
ja sehr verschiedene Religionen, aber die Religion, die wir kennen, das Bild
eines Gottes, den wir vom Alten Testament her haben, ist doch sehr mitgeformt
von Macht und den dazugehörigen Attitüden, das halte ich für ungeheuer gefährlich.
Ich selbst glaube nicht an Gott, aber alles, was an Glaubensvorstellungen
von Menschen, die an Gott glauben, mit diesen Machtdingen zusammenhängt, erscheint
mir furchtbar gefährlich.
Glauben Sie denn, daß die Macht abgeschafft werden kann?
CANETTI: Ich glaube, sie wird abzuschaffen sein müssen, oder wir werden in
die Luft gehen.
Es gibt Wissenschaftler, die das Machtstreben als eine Art menschlichen Urinstinkt
ansehen.
CANETTI: Ja natürlich, das ist ja alles genau untersucht. Auch ich habe versucht,
herauszubekommen, was eigentlich der Kern der Macht ist, und bin dabei auf
etwas gekommen, was so nahe liegt, daß man's nicht fassen kann. Ich glaube,
daß der Ursprung der Macht in dem Augenblick liegt, in dem ein Mensch konkret
einem Toten gegenübersteht. Das Erlebnis des Toten. Man ist selbst aufrecht,
und da ist der Tote. Da ist, wie immer man zu dem Toten steht, auch wenn man
ihn beklagt, immer ein Element des Triumphs darin enthalten, schon gar, wenn
es ein Feind ist. Das scheint mir der Kern des Machtgefühls zu sein, das hängt
auch wieder mit dem Tod zusammen, das ist sehr wichtig.
Sie meinen, ohne den Tod gäbe es keine Macht mehr?
CANETTI: Zumindest würde die Aufhebung des Todes diesen Kern der Macht eliminieren.
Es gibt ja auch andere Dinge, die zu Macht führen, aber diese extreme und
wirklich virulente Form von Macht, die wir kennen, zum Beispiel das gehäufte
Überleben, das wäre dann nicht mehr möglich. Es gibt ja Leute, die diese Lust
am Überleben so häufen, daß Sie zum Beispiel Kriege gern haben. Ein Mann wie
Hitler, der den Ersten Weltkrieg erlebt hat und das genossen hat, hat natürlich
das Erlebnis von Millionen Toten gebraucht und wollte darum den Krieg. Verkleidet
war das bei ihm mit nationalen Dingen, aber als dann Deutschland den Krieg
verlor, hat er auch sein eigenes Land mit in den Untergang ziehen wollen.
Er hat die ganzen deutschen Städte zerstören wollen, hat sie zum Teil zerstören
lassen. Es war ihm ganz gleichgültig, ob seine Deutschen, die Russen oder
die Juden umkommen. Es sollte alles umkommen. Das hab ich sehr genau untersucht,
auch in Form von Paranoia, wo das erscheint, wo es Menschen gibt, die sich
vorstellen, daß sie der einzige Mensch auf der Welt sind, daß sie alle andern
überlebt haben und daß sie das gern tun, weil sie dann niemand mehr fürchten
müssen. Ein Mensch, der Macht hat, fürchtet immer die andern, die ihm die
Macht wegnehmen wollen. Die Vorstellung, daß man niemanden mehr zu fürchten
hat, ist das eigentliche Glücksgefühl beim Paranoiker.
Welche Erfahrungen mit dem Tod hatten Sie?
CANETTI: Ich selbst?
Ja, Sie persönlich.
CANETTI: Das erstemal mit sieben Jahren, als mein Vater starb. Das hat natürlich
mein ganzes Leben bestimmt, weil mein Vater erst dreißig war und ich noch
zwei Minuten vorher mit ihm gesprochen hatte. Er war nicht krank, plötzlich
lag er tot da. So hab ich den Tod sehr früh kennengelernt.
Woran starb er?
CANETTI: Man hat ihn untersucht, aber keinen Grund gefunden. Das Merkwürdige
daran war, daß er in genau dem Augenblick, als er starb, die Zeitung las,
in der die erste Kriegserklärung des Balkankrieges enthalten war. Mit den
Balkankriegen begannen ja die Kriege dieses Jahrhunderts, so daß eigentlich
dieser Augenblick, in dem mein Vater, an dem ich sehr hing, starb, verbunden
ist mit dem Beginn all dieser Kriege, die unsere Zeit ausmachen. Das hat eine
Konstellation geschaffen, die für mein Leben entscheidend war.
Haben Sie danach den Tod noch einmal so intensiv erlebt?
CANETTI: Ja, sehr oft.
Haben Sie auch die Einengung durch Macht erlebt?
CANETTI: Mir war Macht so bewußt, daß ich schon von sehr jung an lernte, ihr
auf jede Art auszuweichen. Ich hab versucht, mit Menschen, die meiner Gesinnung
waren, die Macht zu bekämpfen. Aber für mich selbst war es viel wichtiger,
daß ich genau wußte, daß ich mich einem Befehl nie würde beugen können und
daß ich das auch nicht will, daß ich mich nicht verstümmeln lasse durch Befehle.
Das habe ich ganz bewußt sehr früh schon gespürt.
Kamen Sie dadurch nicht in schwierige Situationen, da Sie den letzten Ausweg,
sich Befehlen zu entziehen, den Selbstmord, ja auch ablehnen.
CANETTI: Doch, schon.
Also gab es für Sie nur einen Weg: Flucht.
CANETTI: Ich habe das nicht als Flucht empfunden, sondern als List. Es ist
mir zum Beispiel mit sehr großer List gelungen, nie einen Beruf auszuüben,
in dem ich unter Zwang stand. In Wien ging's mir noch recht gut, aber als
ich als Emigrant in England ankam, war ich in einer verzweifelten Situation.
Ich kam mit zehn Mark hinüber, und ich wollte an "Masse und Macht"
weiterschreiben. Zum Glück hatte ich eine wunderbare Frau, die nicht mehr
lebt**, die mich damals nicht wie andere Emigrantenfrauen dauernd angestachelt
hat, daß ich Stellen annehme, die mir geboten wurden. Ich hätte zum Beispiel
an der Kriegspropaganda gegen Deutschland teilnehmen können. Aber das wollte
ich alles nicht. Ich wollte wirklich nur an meiner Sache weiterarbeiten, und
da haben wir uns halt so durchgeschlagen, indem wir Sprachstunden gegeben
haben, Übersetzungen übernommen haben, sehr kümmerlich, es ging uns vier Jahre
lang wirklich entsetzlich. In der Zeit hab ich wirklich gehungert, kann man
sagen. Aber es ist mir doch gelungen, daß ich eine gewisse Freiheit hatte,
mich nicht einem Zeitplan von anderen unterordnen zu müssen. Ich hab meine
Freiheit behalten. Das ist das einzige, was mir in meinem Leben wirklich gelungen
ist. Darauf bin ich stolz, heute mit siebenundsechzig. Denn das ist nicht
leicht.
Wäre Ihnen diese List nicht gelungen, hätten Sie es dann akzeptiert, sich
zu töten?
CANETTI: Das ist eine sehr komplizierte Frage, über die ich viel nachgedacht
habe. Die kann ich Ihnen nicht so einfach beantworten. Ich weiß, daß es das
gibt und daß manche Menschen nicht anders können. Ich akzeptiere aber nicht
die, die es geschehen lassen. Ich halte den Selbstmord, den man geschehen
läßt, wenn man ihn kommen sieht bei anderen, ohne alles zu tun, um dieses
Leben zu retten, für eine furchtbare Sache. Von denen aus betrachtet, die
zusehen, lehne ich den Selbstmord ganz ab, bei denen, die ihn begehen, ist
es verschieden. Manchmal ist es nicht anders möglich, manchmal wäre es zu
vermeiden gewesen. Da muß man sich jeden Fall genau ansehen. Aber ich finde,
man hat eine Verantwortung für jeden Menschen, den man gut kennt. Man muß
spüren, ob er vom Selbstmord bedroht ist, nicht nur so blöd ihm abzureden
versuchen. Man muß alles tun, um das Leben zu retten.
Sie sind Jude. Sind Sie im jüdischen Glauben erzogen worden?
CANETTI: Nein, meine Eltern waren schon keine Juden mehr im strenggläubigen
Sinne. In meinen frühen Jahren, in Bulgarien, da hab ich das schon noch erlebt,
die Feste, aber wie aus einem Märchen, als pittoresken Eindruck, als Märcheneindruck.
Ich erinnere mich genau daran, aber ich bin nicht so erzogen worden.
Sie haben geschrieben, es quäle Sie, daß es Ihnen nicht gelungen sei, Jude
zu sein.
CANETTI: Ja, das war im Krieg, das steht in den "Aufzeichnungen",
die ja immer an den Moment gebunden und keine endgültigen Erkenntnisse waren.
In der Zeit, als ich in England von den Ausrottungen erfuhr, den Vergasungen,
da hatte ich das Gefühl, wenn mit den Juden so was geschieht, dann möchte
ich zu ihnen gehören. Ich habe mich schuldig gefühlt, daß ich da entwischt
bin und Menschen, von denen ich viele kannte, ausgerottet werden, nicht nur
Juden. Da hatte ich manchmal so Regungen, daß ich mich eigentlich ganz zu
denen stellen müßte, die ausgerottet werden. Das war eine Versuchung, aber
ich hab ihr nicht nachgegeben.
Welche Rechtfertigung fanden Sie, es nicht zu tun?
CANETTI: Ich mußte mir doch ansehen, was in der Zeit im Ganzen geschah. Während
die Juden ausgerottet wurden, sind ja auch die Zigeuner ausgerottet worden,
die Deutschen in Rußland erfroren. Wenn man die Dinge im Ganzen aufgefaßt
hat und sie alle hat gelten lassen, so war es bei den Juden zwar schrecklicher,
weil sie so wehrlos waren und hingeschlachtet wurden, aber die anderen wurden
ja auch hingeschlachtet. Ich hab in London immer nachts die Bomber gehört,
die auszogen, um deutsche Städte zu bombardieren. Dann kamen sie zurück, ich
lag wach in der Nacht, und da habe ich gewußt, die kommen jetzt und haben
eine deutsche Stadt zerstört. Das war natürlich genauso furchtbar.
Haben Sie Hitler, obwohl Sie ihn ja als Wissenschaftler verstehen konnten,
hassen können?
CANETTI: Den Hitler habe ich natürlich gehaßt, weil ich es für ein Unding
gehalten habe, daß ein solcher Mensch, ein nach der inneren Anlage völlig
inferiorer, niedriger Mensch diese Macht bekommt und so viele Leute in den
Untergang führen konnte. Ich hielt es für ein Unglück, daß niemand es fertiggebracht
hat, ihn rechtzeitig umzubringen.
Ja, aber als Mensch, psychologisch, haben Sie ihn doch erkannt und dadurch
verstehen können.
CANETTI: Verstehen ist da ein gefährliches Wort. Ich hab sein Wahnsystem verstanden,
das kann man ganz genau darstellen.
Konnten Sie ihn trotzdem hassen?
CANETTI: Ja, natürlich, das hängt ja von der Natur des Wahnsystems ab. Es
gibt natürlich Menschen, die man hassen kann, auch wenn man sie ganz versteht.
Gegen das, was man so generell mit dem Wort "Faschismus" bezeichnet
hat, habe ich immer einen tiefen Haß gehabt, das hab ich schon gehaßt als
Erscheinung, nur wollte ich es nicht mit diesem Wort bekämpfen, sondern ich
wollte es genau sehen, darstellen, schildern, hier wollte ich schon das, was
Sie vorher sagten: es nur beschreiben. Das habe ich ja auch gemacht, um auf
diese Weise zu einer Abneigung dagegen zu führen, statt, was natürlich leichter
ist, bloß das Schimpfwort zu gebrauchen, was man ja tut, was ja auch berechtigt
ist, aber es genügt nicht.
Haben Sie die Versuchung der Macht auch an sich selbst festgestellt?
CANETTI: Ja natürlich, und ich habe sehr dagegen gekämpft. Das ist das Gefährliche
bei jedem Menschen, der älter wird. So um die Vierzig herum ist fast jeder
Mensch, der gelebt hat, schon eine Art Gauner geworden, weil er sich auskennt,
weil er weiß, wie er gefährlichen Situationen ausweichen kann, und weil Menschen
da sind, die ihn vielleicht verehren oder lieben, die er beeinflußt. Ich habe
in England ziemlich viele junge Schriftsteller zu Schülern gehabt, die von
mir beeinflußt waren. Da gibt's Momente, wo man das schon spürt: Macht. Aber
ich hab es immer beobachtet, genau verzeichnet und zu bekämpfen versucht.
Ich würde sogar von Hause aus, wenn ich nicht soviel darüber nachdenken würde,
sehr dazu neigen, Macht auszuüben. Aber ich habe das mit äußerster Rigorosität
zu bekämpfen versucht. Es ist mir nicht immer gelungen, aber ich hab es versucht.
Wenn ich mich fragen müßte, ob ich in meinem Leben nie einen illegitimen Akt
von Macht gegen einen anderen Menschen ausgeübt habe, müßte ich natürlich
sagen, natürlich hab ich's getan und natürlich werf ich's mir vor und natürlich
bin ich unglücklich darüber und kann mit mir nicht zufrieden sein, weil es
mir nicht gelungen ist, es ganz auszurotten.
Haben Sie ein konkretes Beispiel?
CANETTI: Ich hatte eine sehr gute Schülerin, die aus Wien nach England kam,
eine hochbegabte Person, die in Englisch geschrieben hat und dann sehr bekannt
geworden ist in England, inzwischen ist sie gestorben, die hatte ich auch
sehr gern, die war auch meine Freundin, weil ich so begeistert war von dem,
was sie machte, was sie geschrieben hat. Sie war so originell, so phantasievoll,
so merkwürdig in allem, aber sie war sehr faul, und nachdem sie ein Buch veröffentlicht
hatte, wollte sie eigentlich nicht mehr weitermachen. Ich aber war so stolz
auf sie, daß ich sie immer dazu kriegen wollte, weiterzuschreiben, und da
hab ich sie auf jede Art zuerst aufgemuntert und dann langsam eine Art Macht
ausgeübt, um sie dazu zu bringen, weiterzuschreiben. Sie hat ihre späteren
Bücher nur unter diesem Druck noch geschrieben. Das waren richtige Machtakte.
Die Bücher hat sie geschrieben, und die waren gut, aber ich hab sie dazu gezwungen.
Das hat ja auch Brecht gemacht.
CANETTI: Na, und wie! Ich hab ja Brecht gut gekannt. Und wie der das gemacht
hat!
Aber auch das tolerieren Sie nicht, diese positive Ausübung von Macht?
CANETTI: Sie ist notwendig, verstehen Sie? Ich lehne nicht immer ab, was ich
getan hab. Wenn diese Person gesagt hat, na ja, ich will überhaupt nichts
mehr schreiben, ich werd jetzt nur so das Leben genießen und überhaupt nichts
mehr machen, da gab es Momente, wo ich einfach eine Wut auf sie bekommen hab
und gesagt hab, du bist verrückt, und sie angebrüllt hab. Sie hat mich so
gern gehabt, daß sie dann plötzlich wieder was zu machen begonnen hat.
Da haben Sie gewissermaßen am eigenen Leib den Zusammenhang zwischen Liebe
und Macht erlebt.
CANETTI: Ja, das ist eine Sache, die mich sehr interessiert und über die ich
noch viel zuwenig Bescheid weiß.
Wollen wir darüber noch reden?
CANETTI: Wissen Sie, Sie haben jetzt schon so viel gefragt, daß Sie ein ganzes
Buch damit ausfüllen könnten. Ich bin noch nie so eingehend ausgefragt worden,
wirklich nicht. Ihre Fragen sind auch alle berechtigt. Sie könnten noch einige
Stunden lang weiterfragen, und ich würde Ihnen antworten müssen. So ein langes
Interview habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gegeben.
Gut, machen wir Schluß!
----------------------
*) Die Bücher; die Canetti im Gespräch ankündigte,
sind nicht erschienen, weder ein zweiter Band zu „Masse und Macht“ noch ein
Buch über den Tod, noch eine von ihm außerhalb des Interviews erwähnte
Abhandlung über das Lachen. 1981 bekam er den Nobelpreis für Literatur. Auf
eine Anfrage im März 1991, ob wir uns ein zweites Mal treffen könnten,
antwortete er brieflich aus Zürich: „Ich erinnere mich noch gut an das Gespräch
mit Ihnen in der Pension Nossek vor zwanzig Jahren. Seit gut zehn Jahren gebe
ich überhaupt keine Interviews mehr und führe auch sonst keine öffentlichen
Gespräche. Ich mußte auch meinen besten Freunden nein sagen und kann darum
keine Ausnahme machen ... Sie werden das gewiß verstehen und leicht
verschmerzen können, da unzählige Jüngere auf ein Gespräch mit Ihnen warten.“
**) Veza Canetti (1897 - 1963), Schriftstellerin, seit 1934 mit Canetti
verheiratet, durch seine Egozentrik und eheliche Untreue am eigenen Schaffen
eher gehindert, starb durch Selbstmord.
-----------------
Erschienen in einer Kurzfassung am 5. April 1972 in der Münchner „Abendzeitung“,
vollständig in: André Müller, „Über die Fragen hinaus“, dtv, 1998