Interview mit Elfriede Jelinek



Ein Interview mit Elfriede Jelinek, der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin, ist auch ein Krankenbesuch. Mit bewundernswerter Beharrlichkeit besteht die nun Weltberühmte darauf, eine psychisch gestörte Frau zu sein, und ihr, wie sie betont, vollkommen müheloses Schreiben ein Ausfluß ihrer vielfältigen Neurosen, die sie genau benennen kann.

Die Wurzeln des Elends sind rasch aufgezählt: der hochgebildete, aber schwache Vater (Beruf: Chemiker), der im Irrenhaus endete, die herrschsüchtige, gefühlskalte Mutter, eine erfolgreiche Managerin, die das Kind zum Musikgenie trimmen wollte, und eine Erziehung in katholischen Klosterschulen, in denen nur eines zählte: Gehorsam. Elfriede Jelinek, 1946 im österreichischen Mürzzuschlag geboren, hat das verinnerlicht.

In einem Gespräch, das André Müller 1990 anläßlich der Aufregung über ihren Sex-Schocker "Lust" für die ZEIT mit ihr führte, behauptete sie kategorisch: "Ich bin ein Zombie. Ich lebe nicht." Nun, vierzehn Jahre später, war nachzuprüfen, ob sich an ihrer schwarzen Sicht auf sich selbst etwas geändert hat. Antwort: Nein.

Der Nobelpreis, verkündete sie am Tag der Bekanntgabe freimütig in sämtliche Mikrophone, die man ihr hinhielt, löse in ihr mehr Verzweiflung als Freude aus. Zur Verleihung am 10. Dezember werde sie nicht nach Stockholm reisen. Die Preisrede wurde in ihrem Wiener Haus per Video aufgezeichnet. Mit dem Preisgeld (über eine Million Euro) wolle sie sich in München, ihrem Zweitwohnsitz, den sie mit ihrem Ehemann, dem um zwei Jahre älteren Informatiker Gottfried Hüngsberg teilt, eine größere Wohnung leisten.

"Das Geld ist natürlich wunderbar", sagte sie im Gespräch mit der "Weltwoche". Den größten Teil werde sie "auf die hohe Kante legen". Denn es könnte geschehen, daß sie, die "durch die verrückten Eltern erblich Belastete", im Alter dem Wahnsinn verfalle und kostspieliger Pflege bedürfe. Ganz ernst ist das nicht zu nehmen. Es wurde viel gelacht während des Interviews. Elfriede Jelinek ist in ihrer Verzweiflung umwerfend komisch. Nur, wer Sinn für diese Komik hat, kann ihre monomanische, oft an der Grenze des Erträglichen balancierende Prosa goutieren.

Den anderen ist sie ein Haßobjekt. Als Heimatbeschimpferin steht sie dem, seit er tot ist, zum Nationaldichter geadelten Thomas Bernhard in nichts nach. Als vor vier Jahren in Österreich mit Hilfe des inzwischen zur Bedeutungslosigkeit abgesunkenen Kärntner Provinzhäuptlings Jörg Haider eine konservative Regierung ans Ruder kam, erließ sie ein zeitweiliges Aufführungsverbot ihrer Stücke für die staatlichen Bühnen.

Das meistgelesene Boulevardblatt des Landes, die "Kronenzeitung", verfolgt sie mit anhaltender Häme, reimt ihren Namen auf "Dreck" und tut sie als pornographische Nestbeschmutzerin ab. Ihrem Erfolg hat das nicht geschadet. Die Romane "Lust" und "Gier" wurden Bestseller. "Die Klavierspielerin" gewann in der Verfilmung mit Isabelle Huppert die "Goldene Palme". Die Theaterstücke (zuletzt "Ein Sportstück", "Das Werk", "Bambiland") werden an den größten deutschsprachigen Bühnen gespielt. Ihr neuestes Stück, "Babel", über die Verflechtung von Religion, Sex und Gewalt am Beispiel des Kriegs im Irak, kommt im März am Wiener Burgtheater zur Uraufführung.

Mit Preisen wurde Elfriede Jelinek seit je überschüttet: Heinrich-Böll-Preis, Bremer Literaturpreis, Heinrich-Heine-Preis, Mühlheimer Dramatikerpreis, Franz-Kafka-Preis, Georg-Büchner-Preis... Unmöglich, sie alle aufzuzählen. Nun hat sie den Gipfel erreicht. Die Schmähungen aber haben nicht nachgelassen. In der ZEIT und im "Spiegel" erschienen vernichtende Kommentare zu ihrem Nobelpreisgewinn. Jelinek: "Ich habe das nicht gelesen. Ich bin schon kaputt genug. Ich muß mich schützen."

--------------------

Kaum haben Sie erfahren, daß Sie den Nobelpreis bekommen, haben Sie verkündet, Sie verdienen ihn nicht. Wenn aber andere das gleiche sagen, verletzt es Sie.

ELFRIEDE JELINEK: Ich war ja ganz sicher, daß der Peter Handke dran ist, der lebende Klassiker.

Ja, aber andere dürfen nichts gegen Sie sagen.

JELINEK: Nein! Das ist, wie wenn Sie behindert sind und im Rollstuhl sitzen. Da darf auch niemand anderer Krüppel zu Ihnen sagen, aber Sie selbst dürfen es. Ich darf es sagen. Die anderen nicht!

Der Vatikan hat sich darüber aufgeregt, daß eine, wie es hieß, nihilistische Neurotikerin den Nobelpreis bekommt.

JELINEK: Das fand ich besonders schlimm, denn der Vatikan sollte doch eigentlich auf der Seite der Schwachen und Kranken stehen. Der sollte eher sagen, laßt doch die arme Frau in Ruhe, die kann nicht anders, es ist schön, daß sie ihn bekommen hat, auch wenn nihilistisch ist, was sie schreibt. Der Vatikan müßte doch die Mühseligen und Beladenen schützen.

Aus Barmherzigkeit...

JELINEK: Ja, ich finde das äußerst unchristlich vom Vatikan.

Marcel Reich-Ranicki hat geschrieben, Sie seien eine ganz tolle Frau, aber ein gutes Buch sei Ihnen nicht gelungen.

JELINEK: Das ist die größte Demütigung, zu sagen, sie ist eine beeindruckende, engagierte Frau, aber schreiben kann sie halt nicht. Das ist Verachtung. Damit kann ich schwer leben, weil ich mich ja selbst schon genug verachte.

Das Recht, Sie herabzusetzen, steht allein Ihnen zu.

JELINEK: Ja, genau, ich möchte nicht, daß es ein anderer tut. Ich möchte die Sahnetorte, mit der ich mich bewerfe, nicht sozusagen aufgehoben und voll Dreck ein zweitesmal ins Gesicht bekommen, obwohl ich natürlich weiß, daß es eine Anmaßung ist. Denn es kann ja jeder über mich sagen und schreiben, was er will.

Der Schriftsteller Martin Mosebach hat Sie einen der "dümmsten Menschen der westlichen Hemisphäre" genannt.

JELINEK: Das fand ich lustig, denn der hat ein wahres Wort gelassen ausgesprochen. Ich bin tatsächlich dumm. Nur kann er das gar nicht wissen, weil er mich nicht kennt. Kindermund tut Wahrheit kund.

Wenn Sie jemand klug nennt...

JELINEK: ... glaube ich das nicht. Ich weiß, daß ich nicht klug bin. Sie könnten zum Beispiel mit mir nicht diskutieren, weil ich nicht intelligent genug bin, einen Gedanken zu Ende zu denken. Unlängst hat mich das Fernsehen zu einer philosophischen Diskussion eingeladen. Ich habe geantwortet, tut mit leid, ich bin dumm wie Brot, ich kann das nicht.

Sie sagen das mit einem Lachen.

JELINEK: Ja, aber mein Lachen ist in Wahrheit ein Flehen. Tiere zeigen die Zähne, weil sie um Gnade bitten.

Die bleibt Ihnen versagt. Je mehr Sie sich selbst heruntermachen, desto heftiger werden Sie angegriffen.

JELINEK: Ja, können Sie mir das vielleicht erklären?

Möglicherweise ertragen es manche nicht, daß Sie alles erreicht haben, was man erreichen kann, und sich trotzdem nicht freuen.

JELINEK: Das haben mir auch andere schon gesagt.

Der Kolumnist Franz Josef Wagner schrieb in der Bild-Zeitung: "Nehmen Sie Ihr Preisgeld, geben Sie es aus für Therapeuten und werden Sie glücklich!"

JELINEK: Also eine Million Euro gebe ich bestimmt nicht für Therapeuten aus. Da kauf ich mir lieber ein japanisches Kleid.

In anderen Zeitungen wurden Kandidaten genannt, denen man den Nobelpreis eher gegönnt hätte, Doris Lessing, Joyce Carol Oates, Philip Roth...

JELINEK: Ja, aber ich kann doch nichts dafür, daß ich ihn bekommen habe. Ich habe ihn mir ja nicht selbst verliehen.

Die Dichterin Friederike Mayröcker antwortete auf die Frage, ob sie Ihnen gratulieren wolle: "So selbstlos bin ich nicht."

JELINEK: Das wundert mich. Ich hätte mich reinen Herzens gefreut, wenn sie ihn bekommen hätte, weil ich gedacht hätte, Gott sei Dank, ich bekomme ihn nicht. Ich wußte ja seit einigen Jahren, daß ich auf einer Liste stehe, und hab täglich für die Gesundheit vom Handke gebetet. Ich hab gebetet, daß er nicht stirbt oder krank wird oder wieder irgendwelche Blödheiten über Serbien äußert.

Ist es wirklich so schlimm, mit dem weltweit höchsten Literaturpreis ausgezeichnet zu werden?

JELINEK: Einerseits fühle ich mich natürlich geehrt. Es freut sich ja auch ein Schuster, dessen Arbeit anerkannt wird. Andererseits ist es für mich eine Folter. Denn ich will meine Ruhe haben. Im Moment trau ich mich kaum aus dem Haus. Ich bin auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, weil ich kein Auto habe. Jetzt kann ich nicht mehr mit der U-Bahn fahren, weil ich es nicht ertrage, angesprochen zu werden. Ich empfinde jede Zuwendung, auch eine positive, als Körperverletzung. Ins Kaffeehaus kann ich auch nicht mehr gehen.

Wenn Sie Ihre Ruhe haben wollen, dürften Sie keine Interviews geben und nicht im Fernsehen erscheinen.

JELINEK: Das stimmt. Ich hab mich zu wenig gewehrt. Ich hab zu oft mitgespielt aus einem unbewußten Gehorsamkeitsreflex heraus, der mir von meiner extrem autoritären Mutter antrainiert wurde. Ich rede ja auch mit Ihnen.

Ihre Mutter ist vor vier Jahren gestorben.

JELINEK: Ja, ich bin jeden Tag froh, daß sie tot ist. Sie war siebenundneunzig und ist zuletzt völlig verrückt geworden. Die Paranoia, die sie latent immer schon hatte, ist voll ausgebrochen. Sie glaubte, mein Mann stiehlt ihren Schmuck. Er durfte das Haus nicht betreten. Es war eine rasende Eifersucht. Sie hat schon, als ich ein Kind war, jeden, den ich mochte, aus meiner Umgebung entfernt.

In Ihrem Roman „Die Klavierspielerin“ beschreiben Sie das neurotische Verhältnis zu Ihrer Mutter. Sie wohnten im selben Haus. Das Schreiben war Ihre Zuflucht.

JELINEK: Das Schreiben war mein Rettungsboot, aber befreit hat es mich nicht. Ich war wie ein Tier von früher Kindheit an auf diese Frau fixiert, die absolute Macht über mich hatte. Seit ihrem Tod hat sich manches geändert, aber gesund bin ich nicht geworden. Die Angst wird immer größer statt kleiner.

Welche Angst?

JELINEK: Es ist eine spezielle Form von Agoraphobie, die ausbricht, wenn ich in einer Menschenmenge angeschaut werde. Ich bin als Mädchen ein Jahr lang nicht aus dem Haus gegangen und war als Kind schon Patientin, weil ich wie eine Verrückte im Zimmer hin und her gerannt und mit dem Kopf gegen die Wand geknallt bin. Mein damaliger Psychiater hat gesagt, daß ich auf diese Weise den Druck, unter dem ich stand, loswerden wollte. Das war kein schöner Anblick.

Sind Sie geheilt?

JELINEK: Ich mache das manchmal noch heute, aber nicht so extrem. Ich knalle nicht mehr gegen die Wände. Es ist, als ob in mir etwas toben würde, eine Wut, die mich aber heute zum Schreiben bringt. Das Schreiben ist ja bei mir ein leidenschaftlicher Akt, eine Art Rage. Ich bin nicht jemand, der wie Thomas Mann an jedem Satz feilt, sondern ich fetz halt herum. Das geht zwei, drei Stunden, dann falle ich zusammen wie ein Soufflé, in das man mit einer Nadel sticht.

Können Sie ohne Schlafmittel schlafen?

JELINEK: Nein, um Gottes willen, ohne Valium geht gar nichts. Meine Grundausstattung sind Valium, Betablocker und Antidepressiva. Das Theaterstück „Bambiland“ hab ich in einem einzigen Drogenflush hingeschrieben.

Froh werden Sie auch durch das Schreiben nicht.

JELINEK: Nein. Froh macht mich nichts. Nur manchmal gerate ich während des Schreibens in so Zustände, in denen ich nicht mehr ganz bei Bewußtsein bin. Es ist eine Art Trance wie beim Orgasmus. Aber auch da weiß ich, wie es entsteht. Letztlich ist alles Arbeit, sogar die Liebe.

Die Liebe?

JELINEK: Ja, auch die Liebe, so wie ich sie beschreibe. Was andere als die tiefen, starken Gefühle beschreiben, das hat bei mir etwas Maschinelles wie ein Räderwerk, das ineinandergreift. Ich zerre es an die Oberfläche.

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Liebesverhältnis?

JELINEK: Ja, sicher. So senil bin ich noch nicht, daß ich mich daran nicht erinnere. Aber ich will darüber nicht sprechen.

Das Schöne behalten Sie lieber für sich.

JELINEK: So ist es. Meine Kreativität kommt aus dem Negativen. Ich kann nichts Positives beschreiben. Aber natürlich hatte ich auch ganz große Leidenschaften in meinem Leben.

Glücksmomente?

JELINEK: Natürlich! Ich bin ja kein Unmensch. Ich bin ein sehr warmherziger und liebesfähiger Mensch, aber darüber schreibe ich nicht. Ich schreibe über das Zerstörerische, aber das kann ich nur, weil ich auch das andere kenne. Die Leute sülzen über ihre romantischen Erlebnisse, wenn die Sonne untergeht auf Mallorca. Aber wer macht die Drecksarbeit? Ich muß die Drecksarbeit machen. Ich räume den Gefühlsdreck weg. Das ist meine Aufgabe. Ich bin in der Literatur die Trümmerfrau, die Frau mit dem Mülleimer. Ich bin die Liebesmüllabfuhr.

Ein anderes Motiv Ihres Schreibens, sagten Sie in einem früheren Interview, sei die Rache. In Ihrem Roman „Die Kinder der Toten“ müssen alle sterben, die sich am Leben erfreuen können.

JELINEK: Alle, die leben können, ja, und wenn sie schon tot sind, töte ich sie ein zweitesmal, doppelt hält besser.

Am Schreibtisch sind Sie die Mörderin.

JELINEK: Genau, weil das ja im wirklichen Leben nicht geht. Am Schreibtisch führe ich Krieg gegen die Menschen, die es sich in der Normalität, um die ich sie beneide, bequem gemacht haben und das Leben genießen können. Ich bin da im Grunde ganz totalitär. Ich sage, daß nach dem, wie die Nazis hier gehaust haben, niemand das Recht hat, ruhig und glücklich zu leben.

Ihr Vater war Jude.

JELINEK: Ja, er hat den Nationalsozialismus mit Müh und Not überlebt, weil ihn die Ehe mit meiner Mutter schützte. Die war zwar auch nicht rein arisch, weil sie einen jüdischen Großvater hatte, konnte sich aber einen gefälschten Ariernachweis beschaffen. Als man sie zwingen wollte, sich scheiden zu lassen, hat sie das abgelehnt. Da war sie heldenhaft.

Sie hat Ihren Vater gerettet.

JELINEK: Ja, aber neunundvierzig Verwandte aus der väterlichen Linie sind in der Nazizeit umgekommen. Eine Cousine von mir hat das einmal gezählt. Ich sehe noch heute die Leichenberge, die man fand, als die Alliierten in die Konzentrationslager kamen. Mein Vater ist mit mir nach dem Krieg, als ich ein Kind war, in die Filme gegangen, die das dokumentierten. Die liefen im Kino, aber die waren natürlich für ein Kind nicht geeignet. Ich war wie gelähmt vor Entsetzen.

Aus dem Entsetzen wurde Haß.

JELINEK: Ja.

Wenn Ihnen der ausgeht...

JELINEK: Dann muß ich mich selber hassen. Da hilft gar nichts. Der Haß ist mein Motor. Nicht hassen zu müssen, wäre für mich eine Erholung. Aber diese Erholung ist mir offenbar nicht gegönnt.

Haben Sie jemals konkret daran gedacht, sich das Leben zu nehmen?

JELINEK: Nein, komisch. Denn eigentlich wäre das die logische Konsequenz meiner Selbstverachtung. Aber man krallt sich dann halt an das bißchen Leben, das da ist, wie ein Krebskranker, der sich noch im letzten Stadium an jeden Tag klammert und nicht sterben will.

Wie stellen Sie sich Ihr Alter vor?

JELINEK: Schrecklich! Vor dem Alter habe ich panische Angst, seit ich bei meiner Mutter diesen Verfallsprozeß miterlebt habe. Also, bevor es mit mir so weit kommt, hoffe ich, daß ich es schaffe, mich umzubringen. Man müßte dann einen Arzt kennen, der einem hilft. Denn ich könnte es nur mit Tabletten machen, auf die sanfte Art. Ich könnte mich nicht erhängen. Man muß die Tabletten, damit man sie nicht auskotzt, mit Apfelmus mischen.

Ach!

JELINEK: Ja, und vorher noch zusätzlich Valium schlucken.

Sie sind furchtbar. Ich kann mit Ihnen kein professionelles Interview führen.

JELINEK: Ich entwaffne Sie...

Ja.

JELINEK: ... weil Sie sehen, daß ich wirklich hilflos bin.

Ja, und ich kann Ihnen nicht helfen.

JELINEK: Mir kann niemand helfen. Aber mit Ihnen rede ich gern. Ich bin nur so erschöpft momentan. Sie sehen jetzt, wie jemand verfällt, der zu lange keiner menschlichen Gesellschaft ausgesetzt war.

Ich bin auch erschöpft.

JELINEK: Ja, fein. Wenn Sie auch verfallen, ist es gut.

Gibt es noch einen Wunsch, den Sie sich gern erfüllen würden?

JELINEK: Ja, reisen. Ich würde zum Beispiel wahnsinnig gern nach New York fliegen können. Ich möchte, bevor ich sterbe, einmal die Wolkenkratzer sehen. Aber das geht nicht mit meiner Krankheit. Wenn ich da aus dem Flugzeug steige und diese Schnelligkeit und den Lärm und den ganz anderen Rhythmus erlebe, der dort herrscht, falle ich auf der Stelle tot um.

Sie rühren mich.

JELINEK: Ja, ich finde auch, daß ich rührend bin in meiner Bescheidenheit. Ich habe keine großen Ansprüche ans Leben. Ich bin schon glücklich, wenn ich mir im Fernsehen einen alten Film anschauen kann. Denn ich bin ja abhängig vom Fernsehen, weil ich nicht ins Kino gehen kann.

Nicht einmal das?

JELINEK: Nein, denn da sind Türen, die schließen sich, und es wird finster, da fühle ich mich eingesperrt, obwohl ich weiß, daß ich jederzeit flüchten kann.

Die Literaturkritikerin Iris Radisch hat in der Zeit unlängst bemängelt, daß Sie Ihre Weltsicht allein aus dem Fernsehen beziehen.

JELINEK: Frau Radisch kennt mich nicht. Ich kenne sie auch nicht. Aber natürlich bezieht sie ihre Weltsicht auch aus dem Fernsehen, nur weiß sie es nicht, das ist der Unterschied. Wenn sie vor der Kamera ihre schönen Beine übereinanderschlägt, dann macht sie das, weil sie es in einem Film so gesehen hat. Es gibt ja nichts Authentisches. Was wir heute für die Wirklichkeit halten, ist eine Fernsehwirklichkeit. Darüber schreibe ich.

Iris Radisch will, Zitat, über die „flüchtige, vielsagende Welt“ vor Ihrer Tür etwas lesen.

JELINEK: Ja, weil sie nicht begreift, daß man das Leben auch mitbekommt, wenn man zu Hause bleibt. Ich finde das so zum Kotzen, wenn gesagt wird, meine Literatur sei nicht welthaltig, da seien keine Inhalte, keine Figuren. Denn die Literatur ist doch, spätestens seit Joyce oder Beckett, viel weiter. Ich habe ja nichts dagegen, wenn einer Geschichten erzählt. Ich les ja selbst gerne Krimis. Aber daneben kann es doch anderes geben. Man will heute wieder realistische, saftige Erzählungen haben. Jemand, der wie ich mit der Sprache arbeitet und die privaten Dinge wie ein Arzt auf ihre Symptomatik abklopft oder wie ein Pantoffeltierchen die Realität abflimmert, um auf witzige Art die sozialen Klischees zu entlarven, den läßt man nicht gelten. Der wird vernichtet.

Weil man den Humor nicht versteht.

JELINEK: Im Ausland versteht man den. Meine Lebenstragödie ist, daß man in Deutschland die Juden ausgerottet hat und es dieses jüdische Biotop, diesen Witz, den ich von meinem Vater habe, hier nicht mehr gibt. Was ich so ironisch hinsage, wird hier todernst genommen. Für Ironie haben die Deutschen keinen Sinn. Auch Frau Radisch nicht.

Die schwedische Akademie hat die Vergabe des Nobelpreises an Sie unter anderem damit begründet, daß Sie es als „unerschrockene Gesellschaftskritikerin“ verstehen, „das Unvermögen der Frau“ zu beschreiben, „in einer Welt zum Leben zu gelangen, in der sie von stereotypen Bildern zugedeckt wird.“

JELINEK: Ja, Männerbildern.

Das Bild der Frau, sagen Sie, wird von den Männern bestimmt.

JELINEK: Ja, wir Frauen müssen alle durch die männliche Beurteilungsschleuse, und die da bestehen wollen, erreichen das nicht durch Leistungen irgendwelcher Art, sondern müssen sich auf den Markt der Körper werfen. Ich hab früher oft so als Witz erzählt, ob man Nobelpreisträgerin ist oder eine sechzehnjährige Schülerin, ist ganz egal, entweder die Männer pfeifen einem nach oder sie rufen einem „fette Sau“ hinterher. Jetzt bin ich selbst Nobelpreisträgerin. Aber das erhöht meinen Wert in den Augen der Männer nicht, eher im Gegenteil. Ich werde dadurch für sie noch monströser.

Für mich nicht.

JELINEK: Sie sind eine Ausnahme. Sie haben mir bei unserem ersten Interview etwas gesagt, an das ich oft denken muß, nämlich daß es nicht nur das Problem der Frauen ist, nicht leben zu können. Lebensunfähig können auch Männer sein.

Kafka, Robert Walser...

JELINEK: Ja, da gebe ich Ihnen inzwischen recht.

Als lebensuntauglicher Mann hätten Sie es womöglich noch schwerer, weil Sie sich nicht als Feministin mit den unterdrückten Frauen identifizieren könnten.

JELINEK: Das stimmt. Als Mann hätte ich mich wahrscheinlich längst umgebracht. Andererseits könnte ich als Mann den Nobelpreis besser genießen. Denn ein Mann wird attraktiv durch den Erfolg. Ich bin ja nicht Feministin, weil ich Männer bekämpfe, die Frauen verprügeln und vergewaltigen. Daß man dagegen ist, ist ja klar. Ich bin Feministin, weil dieses erdrückende phallische, phallokratische Wertsystem, dem die Frau unterliegt, über alles gebreitet ist. Die Unterwerfung unter das taxierende männliche Urteil ist für mich eine ewige narzißtische Kränkung.

Heute werden auch die Männer von den Frauen taxiert.

JELINEK: Gut, ich kann sagen, der Mann ist ein Schlappschwanz, ein lächerliches Männchen wie unser Bundeskanzler Schüssel oder der Jörg Haider, der ist ja auch klein und aufgeblasen. Aber das zählt nicht. Die Macht, zu definieren, was schön ist, hat immer der Mann.

Hat sich das nicht geändert? In der Werbung sieht man zunehmend junge, muskulöse Männer mit Waschbrettbauch, die offenbar den Frauen gefallen wollen.

JELINEK: Nein, denn das sind Männer für Männer. Auch das Schönheitsideal des Mannes wird von ihm selbst bestimmt. In der Modebranche sind doch alle schwul.

Ich wage es kaum zu sagen, aber ich finde, Sie sind eine schöne Frau.

JELINEK: Das freut mich natürlich. Aber es stimmt nicht. Ich bin nicht schön. Ich habe eine zu große Nase, engstehende Augen. Mein Gesicht ist eher charaktervoll. Nicole Kidman ist schön. Das weibliche Ideal, dem die meisten Filmstars entsprechen, ist die größtmögliche Annäherung an das Kindchenschema: große Augen, kleines Näschen, aufgeworfene Lippen, herzförmige Backenknochen.

Es finden doch nicht alle das gleiche schön.

JELINEK: Ja, Sie haben halt einen seltsamen Geschmack.

Obwohl Sie es ablehnen, nach Ihrem Äußeren beurteilt zu werden, sind Sie stets auffällig geschminkt und gekleidet.

JELINEK: Das sind Stilisierungen, und das weckt natürlich die Neugier. Vielleicht sollte ich es aufgeben. Aber warum eigentlich?

In unserem ersten Gespräch haben Sie es nicht ausgeschlossen, sich liften zu lassen.

JELINEK: Das schließe ich auch heute nicht aus. Noch brauch ich es nicht. Aber irgendwann kommen die Augenlider dran. (Sie zieht mit beiden Händen die Haut an den Schläfen nach oben und sieht nun wie eine Chinesin aus.) So ist es doch schöner, oder?

So erkenne ich Sie gar nicht mehr.

JELINEK: Ich kann mir ja ein Schild umhängen, wo draufsteht, daß ich es bin.

Ich dachte, Sie ertragen es nicht, wenn man Sie anschaut.

JELINEK: Das ist wahr. Also wäre es schad um’s Geld. Als wir uns das erstemal trafen, war ich um einiges jünger und wollte noch mitspielen auf diesem Markt der Körper. Das will ich jetzt nicht mehr.

Damals sagten Sie, Sie wären gern lesbisch.

JELINEK: Ja, das wäre angenehm.

Sie würden in der Sexualität gern das Vertraute suchen.

JELINEK: Ich hätte es leichter, ja, weil in einer lesbischen Beziehung das Alter und das Aussehen nicht so wichtig sind. Ich fühle mich in Gesellschaft von Frauen wohler. Von Männern fühle ich mich eher bedroht. Ich habe Angst vor ihnen.

Alice Schwarzer vertritt den Standpunkt, die Frau könne sich zwischen Homosexualität und Heterosexualität frei entscheiden. Sie meint, das sei nicht vorherbestimmt.

JELINEK: Schön wär’s.

Sie schlägt die weibliche Homosexualität als strategische Maßnahme vor, um von den Männern unabhängig zu werden.

JELINEK: Das ist mir ganz neu. Heißt das, ich könnte jetzt sofort lesbisch werden?

Ja, wenn Sie nur wollen.

JELINEK: Das geht nicht, denn ich weiß ja um die Triebkraft des Begehrens. Die ist viel stärker als jeder Wille. Ich kann mich doch nicht zu einem bestimmten Begehren zwingen.

Sie könnten asketisch leben.

JELINEK: Ja, das kann ich natürlich. Die Triebhaftigkeit läßt sowieso nach mit dem Alter, bei mir jedenfalls, nicht bei allen. Die, bei denen sie nicht nachläßt, tun mir entsetzlich leid. Es gibt Frauen, die Männer regelrecht angehen im Alter. Die haben ein schweres Leben. Aber so bin ich nicht, Gott sei Dank. Ich bin am liebsten allein.

Trotzdem sind Sie seit dreißig Jahren glücklich verheiratet.

JELINEK: Ja, aber das ist keine normale Ehe.

Sie wohnen in Wien. Ihr Mann wohnt in München. Sie besuchen ihn gelegentlich...

JELINEK: Mein Mann hat mir die schwersten Strafen angedroht, wenn ich über ihn etwas sage. Er möchte nicht in die Öffentlichkeit.

Ich zitiere aus unserem ersten Interview: „Er ist ein extremer Einzelgänger wie ich, beinahe autistisch.“

JELINEK: Ja, wir passen halt gut zusammen.

Kinder zu bekommen, sagten Sie, haben Sie immer vermieden, weil Sie nicht wollten, daß ein unschuldiges Wesen Ihre Neurosen ausbaden muß.

JELINEK: Da habe ich aufgepaßt, ja. Zum Glück ist das für mich heute kein Thema mehr. Ich war neulich beim Röntgen. Da hat mich die Ärztin gefragt, ob ich schwanger bin, weil man das vor dem Röntgen fragen muß, denn der Fötus könnte geschädigt werden. Ich hab gelacht und gesagt, das habe ich ja wohl hinter mir. Also Mutter kann ich nun nicht mehr werden. Auf dieses Einzige, wodurch die Frauen den Männern überlegen sind, habe ich freiwillig verzichtet, obwohl ich mich nach einem geordneten, bürgerlichen Leben mit Familie sehne. Ich möchte sein wie die anderen, aber ich bin es nicht.

Sie sollten sich damit abfinden, daß Sie etwas Besonderes sind.

JELINEK: Das kann ich nicht. Ich empfinde die Menschen, die mit dem Leben zurechtkommen, als eine erdrückende Mehrheit, zu der ich nicht gehöre, und, das muß ich, bitteschön, dazusagen, ich empfinde dabei keinen Stolz, das schwöre ich, Ehrenwort!

Ist ja gut!

JELINEK: Das müssen Sie mir glauben.

Ich will Ihnen Ihr Unglück nicht nehmen. „Eine gewisse Beharrlichkeit im Verzweifeln“, schreibt Albert Camus in seinem Tagebuch, „erzeugt schließlich Freude.“

JELINEK: Nicht bei mir.

Sie müssen Geduld haben.

JELINEK: Vielleicht sollte ich mich wieder behandeln lassen. Ich habe ja schon einige Therapien hinter mir. Wenn ich einen Psychiater bei mir in der Nähe fände, wäre es leichter, weil ich nicht so weit fahren müßte. Ich könnte mir denken, daß mir eine Verhaltenstherapie nützt. Man müßte mich dressieren wie einen Hund. Denn der Mensch ist ein Tier. Mein Psychiater müßte mich jeden Tag am Abend durch fünf Theater oder ins Kino schleifen, und wenn ich hinaus will, müßte er mich festhalten und sagen: „Nein, Sie bleiben da sitzen!“

Das ist nicht Ihr Ernst.

JELINEK: Doch! Ich brauche Erziehung, eine harte Dressur. Dann würde ich vielleicht ein wenig besser funktionieren, wie eine Maschine, die man repariert. Ich wäre ja schon froh, wenn ich ohne Angst aus dem Haus gehen könnte. Das wäre für mich schon ein Fortschritt.

Sie waren viele Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs. Ihr politisches Engagement hat Ihnen Halt gegeben.

JELINEK: Ja, aber das ist nun auch vorbei.

1991 sind Sie aus der Partei ausgetreten.

JELINEK: Ich wollte, indem ich einer Gruppe beitrete, die die sogenannten kleinen Leute vertritt, etwas gegen dieses wuchernde Kapital unternehmen, das alles frißt. Ich wollte politisch etwas bewirken, aber nicht nur so elegant vom Schreibtisch aus, sondern konkret.

Sie sind gescheitert.

JELINEK: Vollkommen! Der Kapitalismus hat auf der ganzen Linie gesiegt. Mein Kampf war sinnlos wie das meiste im Leben.

Auch das Schreiben?

JELINEK: Auch das Schreiben. Ich strebe heute mit meinem Schreiben nur noch das Überleben an. Ich werfe mich, indem ich schreibe, aus mir heraus. Denn wenn ich mir meiner Identität bewußt werde, bin ich tot. Ich will mich nicht kennenlernen. Ich lebe aus zweiter Hand, aber ich beklage mich nicht. Ich bin an der Lebensferne, die meine Krankheit ist, selber schuld. Mein Selbsthaß kommt jeden Tag. Ich weiß, daß ich mit dem Schreiben nichts ändere. Aber was soll ich sonst tun? Ich kann ja nichts anderes. Das Schreiben ist für mich ein Segen, weil ich dazu das Haus nicht verlassen muß. Wäre ich nicht Schriftstellerin, wäre ich Sozialrentnerin.

------------------------------------

 Erschienen im November 2004 in der "Weltwoche", der "Berliner Zeitung" und dem Wiener "profil"