Ein Gespräch mit Ihnen muß mit dem Buch "Lust" beginnen, Ihrem bisher
größten Erfolg.
ELFRIEDE JELINEK: Entsetzlich! Ich hasse es, über meine Bücher zu sprechen.
Ich bin darauf gekommen, daß alles, was ich darüber gesagt habe, falsch ist.
Was zunächst auffällt, ist die schier unerschöpfliche Fülle an Wörtern, mit
denen Sie das immer Gleiche des Geschlechtsakts beschreiben.
JELINEK: Ich habe versucht, ästhetisch zu fassen, wovon eine ganze Industrie,
die Pornoindustrie, lebt, nämlich daß in die Frau dauernd etwas hineingesteckt
wird.
Besonders vielfältig ist das Vokabular, das Sie für das männliche Geschlechtsteil
gefunden haben: Binkel, Kleintier, Zipferl, Zapfen, Bohrer, Schwengel, Fleischextrakt,
Sprengkopf, Spargel, Hirtenspieß, Vogerl, Köter, Killerwal ...
JELINEK: Klingt ja wie Ossi Wiener*.
Eher karg ist dagegen Ihr Repertoire bei der Benennung weiblicher Attribute.
JELINEK: Ist mir noch gar nicht aufgefallen.
Ofen, Büchse, ranzige Ratte ...
JELINEK: Unser junger Freund und Ästhet Rainald Goetz hat die Vagina ein faulendes,
blutendes Loch genannt.
Möchten Sie einen anderen Körper haben?
JELINEK: Nein, also einen Schwanz möchte ich noch weniger haben. Am liebsten
hätte ich gar nichts. Engel haben ja auch keine Genitalien. Ein körperloses
Wesen möchte ich sein oder verbrennen wie ein Stück Seidenpapier.
In Ihrem Roman "Die Klavierspielerin" bezeichnen Sie die Heldin
als "formlosen Kadaver", "schlaffen Gewebesack", "krankhaft
verkrümmtes, am Idealen hängendes Witzwesen, veridiotet und verschwärmt, nur
geistig lebend ... "
JELINEK: Ja, so ist das.
Sind das Sie?
JELINEK: Ja, das bin ich in meinem Selbsthaß, der sehr stark ausgeprägt ist.
Das grausamste Bild, das Sie erfunden haben, um diesen Haß zu beschreiben,
ist eine Selbstverletzung.
JELINEK: Das habe ich nicht erfunden.
Die Frau im Buch zerschneidet sich mit einer Rasierklinge die Scheide.
JELINEK: Das habe ich wirklich getan.
Schon der Gedanke bereitet Schmerzen.
JELINEK: Es gibt eine schmerzliche Wahrheit.
Wie ist es möglich, im Selbsthaß so kreativ zu werden?
JELINEK: Ich kann nur aus negativen Emotionen heraus kreativ sein. Wäre ich
mir sympathisch, fände ich das zwar angenehm, aber ich würde nicht schreiben.
Es gibt eine Kreativität, die aus Positivem entsteht, und eine, die errungen
wird, weil sie sich gegen etwas behauptet. Das Buch "Die Klavierspielerin"
ist ja nicht nur gegen mich, sondern auch gegen meine Mutter gerichtet, obwohl
das für mich eigentlich nie eine mütterliche Instanz war. Meine Mutter steht
für die männliche Ordnungsmacht, für Ehrgeiz, Karriere, Geld. Sie war Managerin,
also mit der Verteilung und Verwaltung von Kapital beschäftigt. Sie hat sich
immer nur in Männerberufen bewegt. Mein Vater starb 1972 im Irrenhaus. Also
ich bin sicher von der Mutter zerstört.
Was heißt das?
JELINEK: Ich bin so erzogen, daß ich mich an nichts freuen kann. Ich sollte
Künstlerin werden. Aber auch die Kunst durfte mir keine Freude machen.
Sie verabscheuen, so war zu lesen, sogar Ihre Bücher.
JELINEK: Ja, das ist ganz sicher krankhaft.
Wo lebt Ihre Mutter?
JELINEK: Hier, in diesem Haus, über mir. Gott ist oben. So gehört es sich
auch.
Warum sind Sie nicht weggegangen?
JELINEK: Sie ist jetzt siebenundachtzig und auf mich angewiesen.
Und früher?
JELINEK: War ich offenbar nicht fähig zu gehen. Ich habe mir den Haß gegen
meine Mutter lange nicht eingestanden. Mich haben auch schon einige Journalisten
gefragt: Warum bringen Sie Ihre Mutter nicht um, diese Verbrecherin?
Das brauchen Sie nicht zu tun, aber Sie könnten versuchen, es zu beschreiben.
JELINEK: Das schaffe ich nicht, solange sie lebt. Der Muttermord ist im Matriarchat
das stärkste Tabu. Die Ermordung der Klytämnestra durch Orest ist schon ein
Zeichen des Übergangs in das Vaterrecht. Aber auch da hat es nicht die Tochter
getan. Elektra schürt nur im Hintergrund. Ich habe ein extrem gestörtes Verhältnis
zum Tod. Einerseits ist es ein befreiender, andererseits ein grauenvoller
Gedanke, die Instanz, die mich sozusagen am Ticken hält, diesen Motor, der
mir Stromstöße gibt, nicht mehr zu haben.
Fürchten Sie, ohne die Mutter nicht schreiben zu können?
JELINEK: Ob es mit dem Schreiben weitergeht, weiß ich sowieso nie. Wenn man
nicht lebt und nichts erlebt, gehen einem die Themen aus.
Aber Sie leben doch.
JELINEK: Ich lebe nicht. Oder sehen Sie in mir einen lebensfrohen, gesunden,
vitalen Menschen?
Was verstehen Sie unter Vitalität?
JELINEK: Das, was die anderen tun, zum Beispiel reisen. Der Handke geht zu
Fuß durch den japanischen Urwald. Das finde ich toll.
Ein besonders glücklicher Mensch ist er trotzdem nicht.
JELINEK: Der soll froh sein, daß er überhaupt gehen kann. Ich kann es nicht,
tut mir leid. Für mich müßte es eine Fluglinie geben, die sich bereit erklärt,
Reisende geknebelt und narkotisiert im Gepäckraum zu transportieren, unter
Aufsicht einer sadistischen Krankenschwester. Ich beneide andere Leute, das
muß ich gestehen, um Normalität. Deshalb sehe ich mir wahnsinnig gern Doris-Day-Filme
an, weil die immer mehrere Kinder hat und einen Mann und ein bürgerliches,
geordnetes Leben.
Einen Mann haben Sie auch.
JELINEK: Ja, aber das ist keine normale Ehe. Ich wohne in Wien, mein Mann
wohnt in München. Ich besuche ihn einmal im Monat. Er ist ein extremer Einzelgänger
wie ich, beinahe autistisch. Außerdem haben wir keine Kinder.
Weil Sie keine wollten.
JELINEK: Ja, ich habe das immer vermieden. Ich wollte nicht, daß ein unschuldiges
Wesen meine Neurosen ausbaden muß. Das ist sicher eine Gespaltenheit. Einerseits
würde ich mich gern wohlig einrichten in der Welt, so wie sie ist, andererseits
tue ich alles, um es zu verhindern. Ich wünsche mir, anders zu sein, aber
ich laufe schreiend davon, wenn jemand versucht, mich zu ändern.
Besonders, wenn es ein Mann ist.
JELINEK: Genau.
Sie sind Feministin. Alles Böse auf dieser Welt ordnen Sie, wenn man einmal
von Ihrer Mutter absieht, den Männern zu.
JELINEK: Ja, ich stehe natürlich auf der Seite der Opfer.
Sind das immer die Frauen?
JELINEK: Nicht immer, aber es ist die Regel. Wollen Sie leugnen, daß bis heute
die Macht zum großen Teil in den Händen der Männer liegt?
Nein, aber würden sich Frauen, die Macht haben, anders verhalten?
JELINEK: Es gibt ja Beispiele. Selbst eine Margaret Thatcher ist mit einem
Hitler nicht zu vergleichen. Einen weiblichen Hitler hat es noch nicht gegeben.
Aber natürlich haben Frauen die Hitlers und Eichmanns erzogen. Das muß man
schon sehen. Ich weiß um die dämonische Macht der Mütter. Ich weiß auch, daß
es in den Konzentrationslagern Frauen gab, die zu äußerster Brutalität fähig
waren. Das waren Gehorsamkeitsübungen. Frauen können auf schreckliche Weise
Komplizinnen sein, weil sie die Neigung haben, sich an Mächtige anzulehnen.
Aber sie haben immerhin dieses System nicht hervorgebracht. Frauen vernichten
eher im Hintergrund, schattenhaft, ohne diese brüllende, direkte Gewalt. Ich
kenne Frauen, die eine stille, aber beängstigende Aggressivität entwickeln
aus dem Bewußtsein ihrer Machtlosigkeit. Denen traue ich zu, daß sie in Supermärkten
heimlich Limonadenflaschen vergiften oder auf andere Art unerkannt Leute ermorden.
Wären Sie dazu auch imstande?
JELINEK: Ich habe einmal gesagt, vielleicht wäre ich eine Lustmörderin, wenn
ich meine Aggressionen nicht im Schreiben hätte kanalisieren können. Aber
das ist natürlich ein Quatsch. Ich hatte als Kind sadistische Phantasien mit
kleinen Tieren, die ich durch Einschnürungen und Abreißen von Gliedmaßen gequält
habe, langsam und stundenlang. Aber das war völlig abstrakt. Ich habe Tiere
immer geliebt. Der kleinste Käfer ist mir absolut heilig.
Es geht das Gerücht, Sie wären schuld am Tod des Schauspielers Attila Hörbiger,
weil Sie ihm in Ihrem 1985 uraufgeführten Stück "Burgtheater" seine
Mitwirkung in nationalsozialistischen Filmen zum Vorwurf machten.
JELINEK: Also hören Sie, ich kann Ihnen genau sagen, wie der gestorben ist.
Man hat gesagt, ich sei seine Mörderin. Aber gestorben ist er bei einer Geburtstagsfeier
im Kreis seiner Familie.
Auch seine Frau, Paula Wessely, haben Sie angegriffen.
JELINEK: Ja, mit gutem Grund. Die Wessely war unter Hitler der höchstbezahlte
weibliche Star, eine Kriegsgewinnlerin des Dritten Reichs, die in einem der
schlimmsten Propagandafilme, "Heimkehr", eine Frau spielt, die sagt,
bei Juden kaufe ich nicht. Erst nach meinem Stück hat sie sich, gezwungen
durch ihre Tochter**, halbherzig von ihrer Rolle in diesem Film distanziert.
Verurteilen ist leicht.
JELINEK: Ich verurteile nicht.
Was denn sonst?
JELINEK: Ich nehme mir das Recht zu sagen, was war.
Sie treten, statt dem Bösen in sich selbst nachzuspüren, als Anklägerin auf.
JELINEK: Sie werfen mir vor, daß ich selbstgerecht bin?
Ich möchte wissen, ob Sie sich schuldig fühlen.
JELINEK: Ich stelle mich sicher nicht als eine Schuldlose hin. Meine größte
Schuld ist, am Leben nicht teilzunehmen. Ich lebe aus zweiter Hand. Ich bin
immer nur Zuschauerin.
Gut, aber damit schaden Sie höchstens sich selbst.
JELINEK: Ich fühle mich zum Beispiel auch schuldig meinem Vater gegenüber.
Weshalb?
JELINEK: Er ist durch Krankheit von einem unglaublich klugen Menschen zum
völligen Idioten geworden. Das verzeiht eine Tochter dem Vater nicht. Ich
bin auf ihn losgegangen, habe ihn, obwohl er vollkommen hilflos war, körperlich
angegriffen. Das hat seinen Tod sicher beschleunigt. Diese Schuld bestimmt
seit zwanzig Jahren mein Leben.
Da haben Sie ja das Thema, über das Sie noch schreiben könnten.
JELINEK: Ja, aber dazu fehlt mir die Kraft.
Stattdessen haben Sie ein Buch über die ziemlich exotischen Sexualpraktiken
einer kaputten Ehe verfaßt, in der der Mann mit der Frau, meist über der Badewanne,
rektal verkehrt, sie schlägt und auf ihr seine Notdurft verrichtet.
JELINEK: Finden Sie das exotisch? Das kommt doch in jedem drittklassigen Porno
vor.
Im wirklichen Leben aber doch eher selten.
JELINEK: Gut, ich überhöhe natürlich. Wer die "Buddenbrooks" liest,
darf auch nicht glauben, daß es in jeder Lübecker Kaufmannsfamilie so zugeht.
Trotzdem zeige ich in "Lust" keinen Ausnahmefall. In der österreichischen
Provinz ist das, was da passiert, völlig normal. Sie sind doch Österreicher!
Sie kennen doch sicher solche Honoratiorenehen. Ich beschreibe den Sex in
Kreisen, in denen die Männer Macht haben und es gewohnt sind, daß man vor
ihnen zittert.
Der Mann in Ihrem Buch ist ununterbrochen potent. Untersuchungen haben ergeben:
Das Problem älterer Ehemänner ist heute die Impotenz.
JELINEK: Nicht in der österreichischen Provinz. Kennen Sie Graz? In Graz ist
der unaufhörliche sexuelle Gebrauch der eigenen Ehefrau sehr verbreitet.
Woher wissen Sie das?
JELINEK: Ich habe dort mit vielen Frauen gesprochen, auch mit Männern. Die
haben mir das erzählt.
Wollen Sie von Ihren eigenen sexuellen Erfahrungen sprechen?
JELINEK: Ungern.
Sie haben sich öffentlich als Masochistin bezeichnet.
JELINEK: Schrecklich! Ich habe mich von Journalisten so oft ausziehen lassen.
Der Journalistin Sigrid Löffler gegenüber haben Sie es bedauert, daß Sie nicht
lesbisch sind.
JELINEK: Ja, das stelle ich mir angenehm vor. Ich würde in der Sexualität
gern das Vertraute suchen, nicht immer den Gegensatz.
Für eine "Stern"-Fotografin haben Sie sich an ein Bett fesseln lassen.
JELINEK: Furchtbar, wenn mir eine Frau etwas sagt, tue ich das. Bei einem
Mann hätte ich mich gewehrt.
Bekannt ist auch Ihre Vorliebe, sich im Prostituiertenmilieu aufzuhalten.
JELINEK: Nein, also das ist stark übertrieben. Ich gehe ab und zu in diese
Cafés, weil es mich beruhigt, völlig allein in eine andere Welt einzutauchen.
Aber ich bleibe auch dort Zuschauerin. Ich bin nicht jemand, der sich wirklich
einläßt auf etwas. Ich sitze in diesen Bars als Touristin, die sich verirrt
hat. Andere Frauen, die ich kenne, gehen dorthin, um sich von Zuhältern schlagen
zu lassen. Das tue ich nicht, weil ich im Grunde asketisch lebe. Ich gehöre
nirgends wirklich dazu.
Dann ist die Kunst der richtige Ort für Sie.
JELINEK: Meinen Sie?
Ja, weil Sie Ihre Heimatlosigkeit in Sprache verwandeln können.
JELINEK: Das hilft mir wenig. Ich erlebe es immer wieder, daß eine Künstlerin,
die Erfolg hat, für Männer monströs wird. Die Kunst entsinnlicht mich sozusagen.
Ich werde zum Neutrum. Deshalb suche ich Orte, wo niemand mich kennt. Da schaut
man auf die Beine, auf den Busen, den ich nicht habe. Da werde ich ganz brutal
nach meinem körperlichen Marktwert taxiert.
Ist Ihnen das lieber als Ihrer Bücher wegen geschätzt zu werden?
JELINEK: Ja, man will doch wissen, was man tatsächlich zählt. Ein Mann kann,
auch wenn er mickrig aussieht, dadurch, daß er ein bekannter Intellektueller
ist und ein paar Bücher geschrieben hat, Frauen aufreißen. Für eine Frau gilt
das nicht. Das finde ich ungerecht. Kranke, impotente Männer bekommen mit
siebzig, achtzig Jahren noch junge Frauen, wenn sie durch ökonomische oder
intellektuelle Macht ihre Potenz ersetzen können. Das ist dem Picasso gelungen,
dem Borges, dem H. C. Artmann.
Auch Frauen haben gelegentlich jüngere Partner, Liz Taylor, Joan Collins
...
JELINEK: Ja, aber die haben sich, bitteschön, liften lassen. Das werde ich
auch tun, wenn ich merke, daß der Verfallsprozeß einsetzt.
Wie reagieren Sie, wenn ein Mann sagt, er finde Sie liebenswert?
JELINEK: Man freut sich natürlich. Aber man weiß im Grunde, daß es nicht stimmt.
Sie würden ihm auf keinen Fall glauben?
JELINEK: Nein. Denn ich arbeite seit zwanzig Jahren mit Worten und weiß, daß
sie alle gelogen sind. Wenn mir jemand so etwas sagt, beruhigt es mich kurz,
so als hätte ich Valium eingenommen. Falls es der erotischen Situation nützlich
ist, wird es mich meine Wertlosigkeit eine Zeitlang vergessen machen.
Eben sagten Sie noch, daß Sie asketisch leben.
JELINEK: Jetzt sage ich gar nichts mehr.
Haben Sie das Gefühl, daß ich Sie zu Sätzen verleite, die Sie nicht sagen
wollen?
JELINEK: Ich komme mir vor wie auf dem Eislaufplatz. Ich schlittere ununterbrochen.
In früheren Interviews haben Sie sich über Privates sehr offen geäußert.
JELINEK: Ja, aber das waren Äußerungen, aus denen man trotzdem über mich nichts
erfuhr. Was ich sonst sage, sind Stilisierungen. Ich ziehe mir Kleider an
in Ermangelung eines eigenen Lebens. Ich trage die Sätze vor mir her wie Plakate,
hinter denen ich mich verstecken kann. Aber das geht nicht mit Ihnen. Sie
durchbrechen die Deckung.
Gut, ein anderes Thema. Sie sind seit 1974 Mitglied der Kommunistischen Partei
Österreichs, und Sie haben erklärt, daß die Ereignisse in Osteuropa an Ihrer
politischen Überzeugung nichts ändern werden.
JELINEK: Ja, ich habe das gesagt, obwohl ich weiß, daß es lächerlich ist.
Ich weiß, daß die kommunistische Bewegung nichts verändert und nichts bewirkt
hat und daß jetzt alles aus und im Arsch ist.
Können Sie erläutern, warum Sie Kommunistin geworden sind?
JELINEK: Ich glaube, daß der Mensch schlecht ist, das ist mein Evangelium,
und ich meine, daß man ihn zügeln muß, weil er sich sonst wie die letzte Ratte
verhalten würde. Ich glaube nicht an das Gute im Menschen.
Glauben Sie an die Möglichkeit einer gerechten Welt?
JELINEK: Eigentlich nicht. Aber ich höre trotzdem nicht auf, dafür zu kämpfen.
Ich brauche ein Koordinatensystem, nach dem ich mich orientieren kann. Obwohl
ich weiß, daß es vergeblich ist, strample ich halt verzweifelt und versuche,
eine Schneise der Ordnung in dieses Chaos von Schrecken, das ich täglich vor
Augen habe, hineinzuschlagen.
Tun Sie das nicht schon, indem Sie Bücher schreiben?
JELINEK: Doch, aber offenbar genügt mir das nicht. Ich maße mir, indem ich
schreibe, eine Art Herrschaftsrecht an, das ein Arbeiter am Fließband zum
Beispiel nicht hat. Meine politische Arbeit ist eine Bußübung, um diese Anmaßung
aufzuheben. Das hat vielleicht mit meiner katholischen Kindheit zu tun. Ich
bin vom Katholizismus zum Kommunismus übergetreten. In mir ist ein tiefes
Bedürfnis nach Selbstkasteiung. Um nicht Gefahr zu laufen, mich über andere
zu erheben, solidarisiere ich mich gerade mit denen, mit denen ich eigentlich
gar nichts zu tun haben möchte. Die kleinen Leute sind nicht meine Freunde,
sicher auch nicht meine Leser. Trotzdem lasse ich nicht davon ab, sie zum
Gegenstand meiner Literatur zu machen.
Ja, aber zu wessen Vorteil?
JELINEK: Das weiß ich nicht.
Fest steht, daß Sie von Ihrer Literatur inzwischen gut leben können.
JELINEK: Das hat sich in letzter Zeit so ergeben.
Also nützen Sie vor allem sich selbst.
JELINEK: Ja, was soll ich denn machen?
Sie könnten etwas mehr Ihren Verstand gebrauchen.
JELINEK: Das ist in der Tat meine schwache Seite. Verstand habe ich wenig.
Ich kann zum Beispiel keine philosophischen Texte lesen. Wenn Sie versuchen,
mit mir einen Gedankengang zu Ende zu gehen, kann es sein, daß Sie mich bereits
an der Schwelle verlieren.
Weil Sie sich keine Mühe geben.
JELINEK: Jetzt reden Sie schon wie meine Mutter. Die hat, wenn sie mir Hausaufgaben
in Mathematik erklären wollte, immer gesagt, ich müsse nur wollen, dann würde
ich schon verstehen. Aber ich bin halt nicht klüger.
Wenn man Sie beschimpft, stimmen Sie zu.
JELINEK: Ja, mich muß man loben, dann widerspreche ich.
Irritiert es Sie nicht, daß die Menschen aus den sozialistischen Ländern im
Kapitalismus die Verwirklichung ihrer Träume sehen?
JELINEK: Doch, natürlich, mich irritiert sehr vieles.
Nietzsche sagt, im Sozialismus verberge sich "ein Wille zur Verneinung
des Lebens".
JELINEK: Im Sozialismus, wie er bisher praktiziert wurde, sicher.
Nein, er meint, der Mensch braucht die Chance zum Abenteuer, die ihm durch
staatliche Versorgung genommen wird.
JELINEK: Wollen Sie damit sagen, daß der Sozialismus als Idee schlecht ist?
Ja, weil er das Recht des Menschen auf ein selbst verschuldetes Scheitern
nicht anerkennt. Der Mensch wünscht sich nicht die totale Absicherung, sondern
er will sein Leben, auch auf die Gefahr, daß er untergeht, selbst gestalten.
JELINEK: Ein Arbeitsloser will sicher nicht untergehen. Ich meine, man muß
die Naturwüchsigkeit des Kapitals, das wie eine Pflanze nach Maximierung strebt,
von Staats wegen zügeln, und zwar auf sehr rigide und dirigistische Weise.
Sie vergleichen den Kapitalismus mit einer Pflanze?
JELINEK: Ja, denn er will bei möglichst geringen Investitionen möglichst hohen
Profit erzielen.
Das bedeutet, daß Sie die Natur dirigistisch beschneiden wollen.
JELINEK: Meinen Sie, das regelt sich von alleine ?
Ein gläubiger Mensch würde sagen, Gott legt die Zügel an.
JELINEK: An Gott glaube ich nicht. Im Augenblick habe ich das Gefühl, ich
glaube an gar nichts mehr. Mit keiner meiner Thesen gelingt es mir durchzudringen.
Früher habe ich mir wenigstens durch das, was ich verkünde, eine Art Identität
schaffen können. Dieses Interview hat mich völlig dekonstruiert.
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*) Oswald Wiener, österreichischer Schriftsteller, geboren 1935.
**) Christiane Hörbiger
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Erschienen am
22. Juni 1990 in der ZEIT unter der Überschrift "Ich lebe nicht".