Interview mit Edward Albee 1972



Sie verwenden in Ihren Stücken oft den Tod als Provokation gegen die bürgerlicher Selbstsicherheit.* Wollen Sie die Leute erschrecken?

EDWARD ALBEE: Ich will sie verändern. Ich will, daß sie sich ihrer sozialen und politischen Verantwortung bewußter werden. Leute, die die Tatsache des Sterbens verdrängen, sind auch nicht bereit, das Leben, so wie es ist, anzunehmen.

Glauben Sie wirklich, daß man die Menschen mit Theaterstücken verändern kann?

ALBEE: Das ist meine Hoffnung. Aber ich weiß natürlich, daß man nur bei jenen Leuten etwas erreichen kann, die in einem gewissen Sinn wandlungsfähig sind. Bei den anderen kann man tun, was man will, und trotzdem wird nichts mit ihnen passieren, außer man macht eine Revolution, aber auch das würde nichts nützen, denn solche Leute passen sich jeder beliebigen Gesellschaftsform an. Die sind unfähig, gestört zu werden. Ich fürchte, es gibt eine große Anzahl von Menschen, die sich vorgenommen haben, ihr Leben lang in einem Glashaus zu sitzen und nichts an sich herankommen zu lassen. Kein Schriftsteller der Welt kann diese Menschen erreichen.

Welches Publikum wünschen Sie sich?

ALBEE: Eines, das bereit ist, mir zuzuhören und seine Standpunkte zu ändern oder zumindest zu überprüfen, ein intelligentes, aktives Publikum, das sich nicht schon für alle Zukunft festgelegt hat.

Politisch festgelegt?

ALBEE: Ja, auch.

Sind Sie ein politischer Autor?

ALBEE: Sicher, aber ich möchte meine politischen Absichten nicht so deutlich hervortreten lassen. In all meinen Stücken gibt es Symbole, die man politisch auslegen kann. Aber ich beginne ein Stück nie mit einer politischen oder philosophischen These. Mein Ausgangspunkt ist eine reale Situation, aus der man, wenn man nicht dumm ist, den politischen Gehalt herauslesen kann. Ich zeige Menschen, die sich, da sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht bewußt sind, abschneiden vom Leben und in eine Scheinwirklichkeit flüchten. Das ist nicht spezifisch politisch, aber es ist ein Abbild der sozialen Realität, in der wir leben.

Einer amerikanischen Realität, oder gilt das auch für andere Gesellschaftssysteme?

ALBEE: Jede Gesellschaft lebt bis zu einem gewissen Grad mit der Lüge. Ich habe noch keine gefunden, die sich selbst die volle Wahrheit sagt. Das ist bei uns genauso wie anderswo. Ich kann an Amerika nichts Einzigartiges finden.

Sind Sie Patriot?

ALBEE: Das muß ich wohl sein, sonst würde ich nicht versuchen, die Zustände in meinem Land zu verbessern.

Wann haben Sie angefangen, sich für Politik zu interessieren?

ALBEE: Als ich elf war. Ich bin bei Adoptiveltern, in einem sehr gutbürgerlichen Milieu aufgewachsen. Mit elf Jahren fing ich an, meine eigenen sehr jungen, sehr unreifen politischen Gedanken zu haben, natürlich als Reaktion auf meine Umgebung, und da meine Adoptiveltern erzkonservative Republikaner waren, bin ich eben ein Linker geworden. Sie müssen wissen, ich habe schon mit sechs Jahren geschrieben, und als Schriftsteller fühlt man sich sowieso sehr verschieden von anderen Leuten.

Was haben Sie denn so früh geschrieben?

ALBEE: Gedichte. Bis zu meinem sechsundzwanzigsten Lebensjahr habe ich fast nur Gedichte geschrieben.

Stimmt es, daß Sie eigentlich Komponist werden wollten?

ALBEE: Ja, das stimmt. Aber ich war zu faul, das Notenlesen zu lernen. Ich höre sehr gerne Musik, heute noch, aber ich will sie nicht lesen. Das Merkwürdige ist, daß mir viele Komponisten bescheinigt haben, meine Stücke seien in ihrer Konstruktion musikalisch.

Welche Wünsche hatten Ihre Adoptiveltern, Ihre Zukunft betreffend?

ALBEE: Da gab es die üblichen Schwierigkeiten. Wir redeten selten darüber, aber es war klar, daß sie sich wünschten, ich sollte etwas Anständiges und nicht Schriftsteller werden. Kaum war ich großjährig, mit achtzehn, bin ich von daheim weggegangen. Es gab einen Krach mit meiner Mutter, der hat zehn Jahre gedauert.

Haben Sie sich als Revolutionär gefühlt?

ALBEE: Nein, denn ich habe nie aufgrund irgendeiner politischen Theorie gehandelt. Ich habe immer meine ganz persönliche Entscheidung getroffen. Meine Handlungsweise war instinktiv. Erst danach kam das politische Wissen dazu.

Welche Partei wählen Sie?

ALBEE: Ich bin Sozialist. Jeder vernünftige Mensch weiß, daß der Kommunismus als Idee etwas Gutes ist. Aber die politische Entwicklung eines Landes wird ja nicht durch Parteien bestimmt, sondern durch seine Geschichte. Rußland wird nie kapitalistisch werden. Es wäre töricht, das anzunehmen. Aber genauso lächerlich wäre es, darauf zu warten, daß sich in den Vereinigten Staaten der Kommunismus durchsetzt.

Sondern?

ALBEE: Es wird auf einen demokratischen Sozialismus hinausgehen. Diese Entwicklung hat ja längst angefangen, und auch ein Reaktionär wie Nixon** kann das nicht stoppen. Seit er Präsident ist, rutscht er ganz automatisch immer weiter nach links.

Auf welche Weise unterstützen Sie als Künstler diese Entwicklung?

ALBEE: Ich schreibe Theaterstücke. Ich versuche, die Menschen wacher zu machen. Vielleicht bin ich zu optimistisch, aber ich glaube, daß Menschen, die informiert sind, von selbst die richtigen Entscheidungen treffen.

Sie zeigen in Ihren Stücken oft extreme Situationen.

ALBEE: Ich überhöhe, ja.

Glauben Sie, die Zuschauer können sich damit identifizieren?

ALBEE: Ich denke schon. Nehmen Sie zum Beispiel die Stücke von Beckett, in denen viel seltsamere Situationen vorkommen als in meinen Stücken. Das wird doch heute als vollkommen realistisch akzeptiert, und zwar nicht nur von denen, die sich als Intellektuelle bezeichnen.

Wie verhalten Sie sich, wenn Sie den Spießern, die Sie beschreiben, im Leben begegnen?

ALBEE: Ich bin fasziniert, so wie ich auch von Interviewern fasziniert bin. Ich beobachte sie, höre zu, aber ich vermeide es, mit ihnen viel Zeit zu verbringen.

Empfinden Sie auch Zuneigung?

ALBEE: Bis zu einem gewissen Grad, ja. Denn natürlich ist es unmöglich, über Menschen zu schreiben, die man nicht mag. Es muß ja zuerst ein sehr intensives Interesse da sein. Für jemanden, der mir gleichgültig ist, würde ich mich nicht so quälen, um die richtigen Worte zu finden. Aber da kommen wir jetzt in diesen furchtbaren Bereich, über den ich so ungern spreche, den sogenannten Schöpfungsvorgang.

Fühlen Sie sich als Außenseiter?

ALBEE: Alle schöpferischen Menschen sind Außenseiter. Sie haben ein Gefühl von Individualismus. Es ist für sie unvorstellbar, Teil einer Masse zu sein, ganz gleich, wo sie leben. Ich habe in der Sowjetunion mit vielen jungen Schriftstellern gesprochen. Die isolieren sich dort als Künstler genauso wie wir im Westen. Der denkende Mensch hat die Verpflichtung, sich abseits zu halten. Man kann die Masse nur beeinflussen, wenn man ihr nicht angehört.

Sie sind seit Ihrem Welterfolg "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" ein Star.

ALBEE: Sagen wir besser, ich bin berühmt.

Hat das Ihre Lebensweise verändert?

ALBEE: Überhaupt nicht. Ich mache jetzt genau das gleiche wie vorher. Ich habe meine Freunde, gehe ins Theater, ins Kino, in Galerien, in Konzerte, ich schwimme, spiele Tennis, mache Sex ... 

Besteht nicht die Gefahr, daß Sie in genau jenem Establishment landen, gegen das Sie als Achtzehnjähriger rebellierten?

ALBEE: Nein, denn so gut kann es mir gar nicht gehen, daß ich meinen oppositionellen Standpunkt aufgeben würde. Ich kenne Schriftsteller, die haben, als sie berühmt wurden, jeden Realitätssinn verloren. Bei mir ist das nicht der Fall.

Wie wichtig ist Geld für Sie?

ALBEE: Es ist ein Gebrauchsartikel. Da wir nicht mehr im Zeitalter des Tauschhandels leben, ist es eine Notwendigkeit, Geld zu haben. Aber an sich ist es gar nichts, ein Fetzen Papier.

Trotzdem verdirbt es die Menschen.

ALBEE: Daran ist aber nicht das Geld schuld. Die Dinge an sich sind nie gut oder schlecht, weil sie ja von vornherein keine moralische Wertigkeit haben. Es kommt nur darauf an, was die Menschen aus ihnen machen.

Wie groß ist Ihr Vermögen?

ALBEE: Mein was?

Wie viele Häuser besitzen Sie, wie viele Autos?

ALBEE: Ich besitze ein Haus, ein Auto, drei Hunde, drei Katzen, ein Fahrrad und eine Schreibmaschine.

Fürchten Sie, daß Ihnen eines Tages nichts mehr einfallen könnte?

ALBEE: Eines Tages aufzuwachen und nicht zu wissen, worüber ich schreiben soll, das wäre schon traurig. Aber noch schlimmer wäre es, schlecht zu schreiben. Das wäre die größere Schande.

Können Sie sich erklären, warum Ihr neues Stück in New York ein Mißerfolg wurde?

ALBEE: Es war kein Mißerfolg. Es war gut geschrieben, gut gespielt, gut inszeniert. Nur das Publikum und die Kritiker haben versagt.

-----------------------

*) Anlaß des Interviews war die deutschsprachigen Erstaufführung des Stückes "Alles vorbei" an den Münchner Kammerspielen mit Maria Nicklisch und Grete Mosheim in den Hauptrollen (Regie: August Everding).

**) Richard Nixon (1913 - 1994), von 1969 bis 1974 Präsident der USA

-------------

Erschienen am 7. Januar 1972 in der Münchner "Abendzeitung"