Die gestohlene Puppe



Robert, der sich in der angenehmen Lage befand, keiner geregelten Arbeit nachgehen zu müssen, wußte, seit er die Nächte wieder allein verbrachte, nicht so recht, weshalb er morgens aufstehen sollte. Er sah auf die Armbanduhr, die er wie immer vor dem Einschlafen neben das Bett gelegt hatte. Es war zu früh, um Marion anzurufen. Sonntags schlief sie gewöhnlich länger. Er beschloß, mit dem Anruf so lange zu warten, bis er sicher sein konnte, daß sie ihm, selbst wenn er sie weckte, dies nicht vorwerfen würde. Nachdem er gefrühstückt hatte, machte er den Versuch eines Spaziergangs. Schon die Begegnung mit dem Hausmeister, der einen Kothaufen vom Gehsteig entfernte, veranlaßte ihn umzukehren. Als er die Wohnungstür aufschloß, hörte er das Telefon klingeln.

"Marion, du!"

Er war zu sehr außer Atem, um weiterzusprechen.

"Ich rufe nur an, um dir zu sagen, daß ich dich liebe."

Sie legte auf, ohne sich verabschiedet zu haben. Robert hielt den Hörer ans Ohr, bis der Rhythmus seines Luftholens ruhiger wurde. Die Tür stand noch offen. Er lief aus der Wohnung, die Treppe hinunter. Dem Hausmeister rief er zu, er habe den Autoschlüssel vergessen. Eine Lüge, dachte er, als er am Steuer saß, schmunzelnd, weil er dem Mann Gott weiß was erzählen konnte, ohne seinen Verdacht zu wecken. Mit Marion verband ihn ein exklusives Wahrheitsverhältnis. Nie zuvor hatte er sich einem Menschen so preisgegeben. Er hielt vor ihrem Haus, stellte den Motor ab, blieb aber im Wagen sitzen. Sie hatte nicht gesagt, daß er kommen sollte. Eine Liebeserklärung ist keine Einladung. Er steckte sich eine Zigarette an und behielt dabei das Haustor im Auge. Sie trat heraus in einem roten Kleid und ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Im Rückspiegel sah er noch, wie sie in eine Seitenstraße einbog. Seit einiger Zeit weigerte sie sich, mit ihm zusammenzutreffen.

Den Grund dafür kannte er nicht, hatte auch nicht danach gefragt. In der Ungewißheit blieb ihm wenigstens Hoffnung.

Er rauchte die Zigarette zu Ende, den Blick geistesabwesend auf eine Gruppe von Knaben gerichtet, die auf einem Rasenstück Fußball spielten. Vielleicht ist sie es gar nicht gewesen, dachte er, vielleicht eine Sinnestäuschung. Er wünschte, daß etwas geschähe, wodurch seine Erinnerung ausgelöscht würde. Da schoß einer der Jungen den Ball über das Trottoir auf die Straße. Ein anderer lief hinterher, wurde von einem Auto erfaßt und zu Boden geworfen. Robert hörte den dumpfen Aufprall. Passanten umringten die Unfallstelle. Er drückte die Zigarette aus und verließ fluchtartig den Schauplatz. In seinem Kopf fügten sich die Ereignisse wie die Indizien eines Verbrechens zu einem noch unvollständigen Ganzen, nach dessen fehlenden Teilen er sich auf die Suche machte.

Marion rief am frühen Nachmittag wieder an, erzählte, sie sei mit einer Freundin in der Alten Pinakothek gewesen, zum erstenmal, wie sie zu ihrer Schande gestehen müsse. In Madrid würde sie sofort den Prado besuchen, in Florenz die Uffizien, aber in der Stadt, in der man zu Hause sei, gehe man nie ins Museum, weil man denke, es jederzeit tun zu können. Robert versuchte sich vorzustellen, wie sie aussah. Sein Gedächtnis erzeugte ein Bild, das in ihm, so sehr es der Wirklichkeit auch entsprechen mochte, keine Gefühle hervorrief. Er ging mit dem Telefon in der Hand, die Telefonschnur hinter sich herziehend, zum Schreibtisch, entnahm der obersten Lade eine Fotografie, die Marion mit Sonnenhut in südlicher Landschaft zeigte. Zwar kehrten beim Betrachten des Fotos die alten Empfindungen wieder, doch gelang es ihm nicht, sie mit der Frau, deren Stimme er hörte, in Verbindung zu bringen.

"Du erzählst gar nichts von dir", sagte sie, und da er schwieg: "Weißt du übrigens, daß du mir heute einen Moment lang gefehlt hast? Ich hatte vor diesen Bildern plötzlich den Wunsch, dich an meiner Seite zu haben. Ich wollte dich spüren. Du kannst es auch Sehnsucht nennen."

"Es war wohl der falsche Moment", sagte Robert.

Marion lachte.

"Du hast deinen Humor nicht verloren."

Sie verabschiedeten sich mit den üblichen Floskeln. Robert ergänzte seine Indizienkette. Alles deutete auf ein Spiel hin, das er nicht durchschaute. Er schaltete den Fernsehapparat ein, ließ aber den Ton weg. Auf dem Bildschirm erschien ein bekannter Schauspieler, der ein gekochtes Ei in die Luft warf, anschließend in eine Wurst biß, sich mit einer bis zur Hüfte entblößten Frau unterhaltend, die auf einem Stuhl saß. Auch das scheinbar Zufällige konnte Bedeutung haben. Der Schauspieler sagte etwas, das die Frau in Staunen versetzte. Sie starrte ihn fassungslos an, sprang dann auf und lief aus dem Zimmer, wobei ihre Nacktheit, die vorher reizvoll gewesen war, abstoßend wirkte. Robert schaltete auf ein anderes Programm um. Sein Blick durchstreifte, der Kamera folgend, die Elendsviertel einer afrikanischen Großstadt, drang in die Behausungen ein, wo sich die Menschen wie lichtscheues Getier in die Ecken drückten. Obwohl das, was der Fernsehfilm zeigte, außerhalb dessen lag, was er jemals erleben würde, empfand er keinen Unterschied zu der vorigen Szene. Er drehte den Ton auf. Ein Sprecher berichtete über das Ausmaß der Not, indem er Zahlen nannte. Soundsoviele Menschen lebten auf soundsoviel Quadratmetern am Rande des Hungertods. Soundsoviele starben im Durchschnitt täglich.

Den ganzen Abend, bis ihn Müdigkeit übermannte, blieb Robert vor dem Fernseher sitzen, sah sich noch eine Quizsendung an, Nachrichten, zuletzt einen amerikanischen Kriminalfilm. Es war schon fast Mitternacht, als er zu Bett ging. Sein Schlaf wurde durch eine Folge von Träumen zusammengehalten, aus denen er nicht erwachen wollte, so schrecklich sie waren. Bohrende Kopfschmerzen weckten ihn schließlich. Er nahm zwei Tabletten. Die Wirkung erinnerte ihn an langsam sich auflösende Wolken. Traumreste verflüchtigten sich. Er sah auf die Uhr. Sie war stehengeblieben. Als er die Zeitansage anrufen wollte, wählte er Marions Nummer. Sie meldete sich mit verschlafener Stimme. Als hätte er sich die Hand verbrannt, legte er den Hörer rasch auf die Gabel. Für den Fall, daß sie ihn anriefe und fragte, ob er es gewesen sei, nahm er sich vor, so zu tun, als sei er noch gar nicht aufgestanden. Das Telefon klingelte. Er ließ es mehrere Male läuten, bevor er abhob.

"Habe ich dich geweckt?"

Es war seine Schwester.

"Aber nein", sagte er und räusperte sich, als wäre seine Stimme nur etwas belegt gewesen.

Wie es ihm ginge, fragte sie, warum er so lange nichts von sich habe hören lassen, ob er schon wüßte, daß sich die Eltern an der Riviera ein Haus gekauft hätten, zwar renovierungsbedürftig, aber in herrlicher Lage, mit Blick auf das Meer, paradiesisch, mitten im Grünen. Robert schnitt ihr das Wort ab. Er sei des Telefonierens so überdrüssig, sein Kopf so angefüllt mit sprachlichen Abstraktionen, in denen das Wirkliche sich verliere. Er wolle sie treffen. Das Wetter sei ideal für einen Spaziergang. Er würde sie von der U-Bahn-Station am Isartor abholen. Die Schwester war sofort einverstanden.

"Du hast ein Problem", sagte sie, als er sie zur Begrüßung auf beide Wangen küßte.

Der Geruch ihrer Haut machte ihn süchtig nach Zärtlichkeiten, die er nun schon so lange entbehren mußte. Hand in Hand wie ein Liebespaar gingen sie zur Isar hinunter, dem Gestank der Abgase entfliehend, der wie ein Dunstschleier über der Stadt lag. Ein Möwenschwarm flog vom Wasser auf und zeichnete über ihren Köpfen elliptische Bahnen. Ein Moped lärmte trotz Fahrverbots an der Uferböschung.

"Ist mit Marion alles in Ordnung?"

Robert, durch ein Geräusch aufgeschreckt, das er an diesem Ort nicht erwartet hätte, gab keine Antwort. Eine alte Frau, deren Kleid einmal teuer gewesen sein mußte, bevor es die Motten zerfressen hatten, stand am Flußufer und applaudierte.

"Sieh dir einmal die Frau an! Eine Verrückte."

Die Schwester sah in die Richtung, in die er zeigte.

"Wieso verrückt? Sie klatscht in die Hände, damit die Möwen nicht den Enten das Futter wegschnappen."

"Du hast aber auch für alles eine Erklärung", sagte er und ließ ihre Hand los.

Sie hatten den Weg verlassen und stapften über die von den Leuchtpunkten des Löwenzahns übersäte Wiese. Ihre Schuhe versanken in Maulwurfshügeln. An einem Weidenstrauch setzte sich Robert so unvermittelt ins Gras, daß es aussah, als ob er zu Boden stürzte.

"Hier bin ich mit Marion oft gesessen."

Er streckte die Beine aus, ließ den Oberkörper zurückfallen, stützte ihn mit den Armen.

"Sie liebte es, hier zu sitzen. Dabei hat der Platz so gar nichts Besonderes an sich. Überall Hundescheiße. Man muß aufpassen, daß man sich nicht hineinsetzt. Wenn es dunkel ist, merkt man es erst zu Hause. Mir hat das nachträglich immer die Freude verdorben. Kann einem eigentlich nachträglich eine Freude verdorben werden? Wahrscheinlich kam es mir nur so vor, weil mir die Erinnerung wichtiger war als das Erlebnis. Marion war da anders. Sie hat den Dreck einfach abgewaschen. Sie war so lebendig."

"Du redest, als wäre sie tot", sagte die Schwester.

Robert drehte ihr das Gesicht zu.

"Du hast recht! Siehst du, das wäre mir gar nicht aufgefallen."

Noch am selben Tag, es dämmerte schon, ging er ein zweitesmal zu der Stelle. Hunde jagten, an Duftspuren schnuppernd, über die Wiese, sonderten da und dort einen Spritzer Urin ab oder erheiterten ihre Besitzer durch groteske Kopulationsversuche. Schwalben durchschnitten den von rasch ziehenden Wolkenfetzen verdüsterten Abendhimmel. Robert war noch nie allein hier gewesen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, daß er Marion nicht vermißte.

Auf dem Heimweg kam er an einem Kino vorbei, aus dem die Besucher einer gerade zu Ende gegangenen Vorführung strömten. Er versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen, welche Gefühle der Film in ihnen ausgelöst hatte. Doch die zu Masken erstarrten Züge verrieten nur eine Vielzahl von Möglichkeiten, die unter dem Schock der Erkenntnis, wieder ins wirkliche Leben auftauchen zu müssen, nicht zur Entfaltung kamen. An der Kinokasse hatte sich eine Menschenschlange für die nächste Vorstellung gebildet. Robert sah sich die Fotos in den Schaukästen an. Sie machten ihn neugierig. Er kaufte sich eine Eintrittskarte. Als der Film begann, erkannte er, daß er ihn schon gesehen hatte.

Hätte er nicht in der Mitte einer voll besetzten Reihe gesessen, er wäre hinausgegangen. Aber er wollte kein Aufsehen machen. Um Langeweile, so gut es ging, zu vermeiden, richtete er seine Aufmerksamkeit auf die kleinen Begebenheiten am Rande, die er beim ersten Sehen nicht bemerkt oder nicht für bedeutsam gehalten hatte. War für ihn damals der Schluß des Films, die Ermordung eines gefeierten Violinvirtuosen, völlig überraschend gekommen, so erschien es ihm nun ganz natürlich, daß die Geschichte so enden mußte. Fast jede Szene enthielt einen versteckten Hinweis, durch den sich das Verbrechen ankündigte, so als vollzöge sich ein unausweichliches Schicksal, das nur der Autor des Films hätte anhalten können. Einmal sah man im Hintergrund einen verdächtig umherspähenden Mann, der einen runden Gegenstand in einem Hauseingang deponierte, ein anderes Mal, als der Geiger und seine Geliebte beim Frühstück saßen, kam aus dem Radio eine Vermißtenmeldung. Die Vorzeichen häuften sich. Der Mord geschah während eines Konzertauftritts. Der Virtuose nahm gerade die Ovationen der begeisterten Menge entgegen, als in der Nähe der Bühne mehrere Schüsse fielen. Blutüberströmt brach er zusammen, das durchlöcherte Instrument wie einen Schild vor den Körper haltend. Das letzte Bild zeigte den von Panik erfüllten Konzertsaal. Wer der Mörder war, konnte man nicht erkennen.

 
Robert suchte nach Verlassen des Kinos sofort eine Telefonzelle auf, um Marion anzurufen. Ihr Anrufbeantworter war eingeschaltet. Sie sei verreist. Man solle eine Nachricht für sie auf das Tonband sprechen. Sekundenlang konnte er keinen Gedanken fassen. Erst durch heftiges Klopfen an der Zellentür wurde er wachgerüttelt. Ein Herr, der trotz Hitze Mantel und Hut trug, machte durch Gesten und Mienenspiel deutlich, daß er telefonieren wollte. Schließlich riß er die Tür auf.

"Sagen Sie, wollen Sie hier übernachten?"

"Nein", antwortete Robert und überließ ihm die Zelle.

Erste, schwere Tropfen eines Wärmegewitters erzeugten auf dem Asphalt dunkle Flecken. Schirme wurden aufgespannt. Jene, die keinen Schirm bei sich hatten, beschleunigten ihre Schritte. Minuten später ging ein Wolkenbruch nieder, der den Mann in der Telefonzelle zum Gefangenen machte. Robert, der unter einem Torbogen Zuflucht gefunden hatte, sah die verschwimmenden Konturen hinter den vom Regen gepeitschten Scheiben. Nun begann es auch noch zu hageln. Im Rinnstein sammelten sich die Hagelkörner. Blitze verwandelten die Häuser in Schattenrisse. Die wechselnden Farben sinnlos gewordener Ampeln an einem Fußgängerübergang spiegelten sich in der Nässe. Als der Niederschlag nachließ, trat der Mann aus der Zelle und winkte ein Taxi herbei. Das Bild normalisierte sich. Robert fuhr mit der Straßenbahn zum Englischen Garten und nahm sich in einer kleinen Pension ein Einzelzimmer.

Es war, dem niedrigen Preis entsprechend, nur mit dem Nötigsten ausgestattet, einem einfachen Holzbett, Tisch und Stuhl, einem Kleiderschrank, einer gefliesten Waschecke mit Waschbecken, Spiegel und Handtuchhalter. Nach dem Geruch zu urteilen, war es lange nicht mehr bewohnt gewesen. Das einzige Fenster ging auf einen Hinterhof mit Mülltonnen und einer Teppichklopfstange. Als er jünger gewesen war, hatte Robert oft in Unterkünften dieser Art übernachtet, so daß es ihm leichtfiel, sich vorzustellen, er habe die Stadt verlassen. Auch im Frühstücksraum am nächsten Morgen bereitete ihm die Herstellung der Illusion, er sei verreist, keine Schwierigkeiten. Er löffelte das weiche Ei, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, trank den Kaffee in kleinen Schlucken. An den anderen Tischen saßen Ausländer, die sich gedämpft unterhielten. Solange er nicht auf die Straße ging, brauchte er ein Scheitern seines Experiments nicht zu befürchten.

Dem Stubenmädchen, dem er im Flur begegnete, als es gerade mit dem Saubermachen der Zimmer beginnen wollte, erklärte er, sein Zimmer müsse nicht aufgeräumt werden. Er sei müde und wolle noch etwas schlafen. Der Blick des Mädchens zeigte, daß es ihn nicht verstanden hatte.

"Müde", wiederholte er, wobei er den Kopf ein wenig zur Seite neigte und an die gefalteten Hände legte.

Das Mädchen lächelte hilflos. Er versuchte nicht länger, sich verständlich zu machen. Allzu deutlich war das Mißverhältnis zwischen der Energie, die er hätte aufwenden müssen, um sich vor einer möglichen Störung zu schützen, und der Tatsache, daß er gar keine Beschäftigung hatte, bei der man ihn hätte stören können. Er ging in sein Zimmer, legte sich auf das Bett und erwartete das Klopfen des Mädchens. Während er sich darauf konzentrierte, es nicht zu versäumen, erlag er der einschläfernden Wirkung, die von den nur halb wahrgenommenen Geräuschen ausging, die durch das geschlossene Fenster drangen. Sein Schlaf war so tief, daß er das Klopfen nicht hörte.

Im Traum befand er sich wieder in seiner Wohnung, gepeinigt von dem fortwährenden Schrillen des Telefons, zu dem er aus einem unerfindlichen Grund nicht gelangen konnte. Als er, sich von der Folter erlösend, erwachte, stellte er fest, daß der Lärm, wenn auch abgeschwächt, aus dem Hof kam. Er öffnete das Fenster und sah, wie ein Kind, in einem fort klingelnd, auf seinem Dreirad um eine Gully kreiste. Ein so harmloser Vorgang, dachte er, verwandelt in einen so quälenden Alptraum. Vielleicht machte er überhaupt den Fehler, zu übertreiben. Vielleicht lag in seinem Briefkasten schon eine Postkarte von Marion, auf der sie ihm mitteilte, sie habe ihre Mutter, die plötzlich erkrankt sei, besuchen müssen.

Er wusch sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser. Zum Abtrocknen benutzte er einen Zipfel des Leintuchs. Als er sich im Spiegel erblickte, gelang es ihm nicht, sich über seine Erscheinung ein Urteil zu bilden. Was sollte liebenswert sein an diesen Augen, diesen schon etwas herabhängenden Wangen, diesen durchschnittlichen Lippen? Er hätte sich nicht beschreiben können. Um keine Spuren zu hinterlassen, zog er das Bett ab, verknotete das Bettzeug zu einem Bündel und stellte es zu der im Gang aufgehäuften Schmutzwäsche aus den anderen Zimmern. Den Betrag für eine Übernachtung mit Frühstück legte er, da an der Rezeption niemand Dienst tat, abgezählt auf das Empfangspult. Beim Hinausgehen stieß er mit dem Fuß an eine Geldbörse, die jemand verloren hatte, hob sie auf und steckte sie in die Hosentasche.

 
Eine Lust zum gedankenlosen Zeitvertreib überkam ihn. Er ging in das nächste Restaurant und bestellte das teuerste Gericht auf der Speisekarte. Als die Bedienung das hohe Trinkgeld, das er ihr hinschob, nicht annehmen wollte, faßte er sie um die Taille und zog sie so nahe an sich heran, daß seine Knie ihre Schenkel berührten.

"Was muß ich tun, damit Sie sich genügend beleidigt fühlen? Ist es Ihnen erlaubt, sich zu mir an den Tisch zu setzen? Ich bezahle jede Minute, die Sie mir schenken. Ihre Brüste sind eine Herausforderung. Wenn Sie nicht bleiben, werde ich mich in den Finger schneiden und das Tischtuch mit meinem Blut beträufeln. Dürfen Sie das geschehen lassen?"

Die Frau befreite sich und nahm den Teller mit Speiseresten.

"Essen Sie das noch?"

"Nein", sagte Robert.

Er war schon mit der Frage beschäftigt, welchen der Gegenstände er mitnehmen sollte, die sie auf dem Tisch zurücklassen würde, den Aschenbecher, den Salzstreuer, die kleine Vase mit Plastikblumen? In gespielter Zerstreutheit knickte er einen Bierdeckel, bis er entzweibrach, und behielt die kleinere Hälfte. Noch kam es ihm nicht darauf an, sich strafbar zu machen.

In den Straßen tummelten sich die Menschen, als gälte es, eine dem sonnigen Frühlingstag angemessene Atmosphäre zu schaffen. Die Geschäfte der Obdachlosen florierten. Den Vergleich der eigenen Unversehrtheit mit ihren Verkrüppelungen ließ man sich gern etwas kosten. In ihren Mützen und Hüten klirrte das verächtlich hingeworfene Kleingeld. Manche unterstrichen ihre Erniedrigung durch ununterbrochenes Musizieren, andere trugen um den Hals selbst gefertigte Schilder aus Pappe, auf denen in wenigen Worten geschrieben stand, wodurch sie in eine so mißliche Lage geraten waren. Eine leicht bekleidete Dame, die in einem Straßencafé an einem Campari nippte, tauschte Blicke mit Robert. Als sie den Stummel ihrer Zigarette wegwarf und austrat, bückte er sich und nahm ihn wie etwas Kostbares an sich.

"Ich vergesse so leicht", sagte er. "Es ist eine Gedächtnisstütze. Ich würde mich an unsere Begegnung morgen nicht mehr erinnern können."

Die Dame verzog keine Miene, stand auf und ging fort, sich in den Hüften wiegend. Paris, Rom, New York, dachte Robert, wertlose Souvenirs aus Millionstädten, Muschelschalen von Meeresstränden. Auf den sonnenbestrahlten Bänken im Englischen Garten drängten sich Rentner und Arbeitslose. Mütter gewährten ihren Kindern begrenzte Freiheit. Ein letztes Erinnerungsstück brauchte er noch, um sich gewappnet zu fühlen. Kondom, Schnupftuch, Ohrklips? Nein, er suchte etwas Bestimmtes. Ein blondlockiges Mädchen achtete einen Augenblick nicht auf den Puppenwagen, den es stolz vor sich herschob. Robert nahm die Puppe heraus, barg sie an seiner Brust und entfernte sich unauffällig. Als das Mädchen den Diebstahl entdeckte, hatte er den Park schon verlassen. Obwohl er nun außer Gefahr war, begann er zu laufen, lief immer schneller, bis zu der Straße, in der er wohnte. Eine Hauspartei grüßte ihn. Er vergaß zu erwidern. Selbst das Vertrauteste war ihm fremd geworden. Im Briefkasten fand er eine Zahlungsaufforderung wegen vorschriftswidrigen Parkens, von Marion keine Nachricht.

Langsam stieg er die Treppe hoch, zählte die Stufen. Als er die Wohnung betrat, fiel von dem Gummibaum gegenüber der Tür gerade ein Blatt ab. Sein Erschrecken äußerte sich in einem kurzen Schrei. Er inspizierte die Zimmer, zuletzt die Toilette, setzte sich auf das Klosett und legte die Geldbörse, den halben Bierdeckel, den Zigarettenstummel und die Puppe vor sich auf den Boden. Waren das die Beweise? Welcher Tat war er überhaupt auf der Spur? Ihm schien, als hätte er nur eine Zeit überbrückt, ohne den kleinsten Fortschritt. Er fühlte sich in Zusammenhänge verstrickt, die umfassender waren als ein Kriminalfall, in dem man unterscheiden kann zwischen Opfer und Täter. Nirgends boten sich Anhaltspunkte. Er hörte auf, sich an eine Hoffnung zu klammern. Er sah die Geliebte in Gedanken auf einem Scheiterhaufen, festgebunden, die Augen zum Himmel erhoben. Während sich das Feuer in ihren Leib fraß, entspannten sich seine Eingeweide. Er öffnete die Gürtelschnalle, den Reißverschluß. Die Entleerung hatte schon angefangen, als es an der Tür klingelte. Er drückte den Spülknopf, zog die Hose hoch.

"Ich komme! Ich komme!"

Marion stand im Treppenhaus mit geröteten Wangen vom Treppensteigen. Daß sie in einem Haus ohne Lift niemals wohnen könnte, sagte sie wie immer, wenn sie zu Besuch kam. Alles an ihr war so, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen.

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Erschienen in: André Müller, "Zweite Liebe", Bibliothek der Provinz, 1991