Robert, der sich in der angenehmen Lage befand, keiner geregelten Arbeit nachgehen
zu müssen, wußte, seit er die Nächte wieder allein verbrachte, nicht so recht,
weshalb er morgens aufstehen sollte. Er sah auf die Armbanduhr, die er wie immer
vor dem Einschlafen neben das Bett gelegt hatte. Es war zu früh, um Marion anzurufen.
Sonntags schlief sie gewöhnlich länger. Er beschloß, mit dem Anruf so lange
zu warten, bis er sicher sein konnte, daß sie ihm, selbst wenn er sie weckte,
dies nicht vorwerfen würde. Nachdem er gefrühstückt hatte, machte er den Versuch
eines Spaziergangs. Schon die Begegnung mit dem Hausmeister, der einen Kothaufen
vom Gehsteig entfernte, veranlaßte ihn umzukehren. Als er die Wohnungstür aufschloß,
hörte er das Telefon klingeln.
"Marion, du!"
Er war zu sehr außer Atem, um weiterzusprechen.
"Ich rufe nur an, um dir zu sagen, daß ich dich liebe."
Sie legte auf, ohne sich verabschiedet zu haben. Robert hielt den Hörer ans
Ohr, bis der Rhythmus seines Luftholens ruhiger wurde. Die Tür stand noch offen.
Er lief aus der Wohnung, die Treppe hinunter. Dem Hausmeister rief er zu, er
habe den Autoschlüssel vergessen. Eine Lüge, dachte er, als er am Steuer saß,
schmunzelnd, weil er dem Mann Gott weiß was erzählen konnte, ohne seinen Verdacht
zu wecken. Mit Marion verband ihn ein exklusives Wahrheitsverhältnis. Nie zuvor
hatte er sich einem Menschen so preisgegeben. Er hielt vor ihrem Haus, stellte
den Motor ab, blieb aber im Wagen sitzen. Sie hatte nicht gesagt, daß er kommen
sollte. Eine Liebeserklärung ist keine Einladung. Er steckte sich eine Zigarette
an und behielt dabei das Haustor im Auge. Sie trat heraus in einem roten Kleid
und ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Im Rückspiegel sah er noch, wie
sie in eine Seitenstraße einbog. Seit einiger Zeit weigerte sie sich, mit ihm
zusammenzutreffen.
Den Grund dafür kannte er nicht, hatte auch nicht danach gefragt. In der Ungewißheit
blieb ihm wenigstens Hoffnung.
Er rauchte die Zigarette zu Ende, den Blick geistesabwesend auf eine Gruppe
von Knaben gerichtet, die auf einem Rasenstück Fußball spielten. Vielleicht
ist sie es gar nicht gewesen, dachte er, vielleicht eine Sinnestäuschung. Er
wünschte, daß etwas geschähe, wodurch seine Erinnerung ausgelöscht würde. Da
schoß einer der Jungen den Ball über das Trottoir auf die Straße. Ein anderer
lief hinterher, wurde von einem Auto erfaßt und zu Boden geworfen. Robert hörte
den dumpfen Aufprall. Passanten umringten die Unfallstelle. Er drückte die Zigarette
aus und verließ fluchtartig den Schauplatz. In seinem Kopf fügten sich die Ereignisse
wie die Indizien eines Verbrechens zu einem noch unvollständigen Ganzen, nach
dessen fehlenden Teilen er sich auf die Suche machte.
Marion rief am frühen Nachmittag wieder an, erzählte, sie sei mit einer Freundin
in der Alten Pinakothek gewesen, zum erstenmal, wie sie zu ihrer Schande gestehen
müsse. In Madrid würde sie sofort den Prado besuchen, in Florenz die Uffizien,
aber in der Stadt, in der man zu Hause sei, gehe man nie ins Museum, weil man
denke, es jederzeit tun zu können. Robert versuchte sich vorzustellen, wie sie
aussah. Sein Gedächtnis erzeugte ein Bild, das in ihm, so sehr es der Wirklichkeit
auch entsprechen mochte, keine Gefühle hervorrief. Er ging mit dem Telefon in
der Hand, die Telefonschnur hinter sich herziehend, zum Schreibtisch, entnahm
der obersten Lade eine Fotografie, die Marion mit Sonnenhut in südlicher Landschaft
zeigte. Zwar kehrten beim Betrachten des Fotos die alten Empfindungen wieder,
doch gelang es ihm nicht, sie mit der Frau, deren Stimme er hörte, in Verbindung
zu bringen.
"Du erzählst gar nichts von dir", sagte sie, und da er schwieg: "Weißt
du übrigens, daß du mir heute einen Moment lang gefehlt hast? Ich hatte vor
diesen Bildern plötzlich den Wunsch, dich an meiner Seite zu haben. Ich wollte
dich spüren. Du kannst es auch Sehnsucht nennen."
"Es war wohl der falsche Moment", sagte Robert.
Marion lachte.
"Du hast deinen Humor nicht verloren."
Sie verabschiedeten sich mit den üblichen Floskeln. Robert ergänzte seine Indizienkette.
Alles deutete auf ein Spiel hin, das er nicht durchschaute. Er schaltete den
Fernsehapparat ein, ließ aber den Ton weg. Auf dem Bildschirm erschien ein bekannter
Schauspieler, der ein gekochtes Ei in die Luft warf, anschließend in eine Wurst
biß, sich mit einer bis zur Hüfte entblößten Frau unterhaltend, die auf einem
Stuhl saß. Auch das scheinbar Zufällige konnte Bedeutung haben. Der Schauspieler
sagte etwas, das die Frau in Staunen versetzte. Sie starrte ihn fassungslos
an, sprang dann auf und lief aus dem Zimmer, wobei ihre Nacktheit, die vorher
reizvoll gewesen war, abstoßend wirkte. Robert schaltete auf ein anderes Programm
um. Sein Blick durchstreifte, der Kamera folgend, die Elendsviertel einer afrikanischen
Großstadt, drang in die Behausungen ein, wo sich die Menschen wie lichtscheues
Getier in die Ecken drückten. Obwohl das, was der Fernsehfilm zeigte, außerhalb
dessen lag, was er jemals erleben würde, empfand er keinen Unterschied zu der
vorigen Szene. Er drehte den Ton auf. Ein Sprecher berichtete über das Ausmaß
der Not, indem er Zahlen nannte. Soundsoviele Menschen lebten auf soundsoviel
Quadratmetern am Rande des Hungertods. Soundsoviele starben im Durchschnitt
täglich.
Den ganzen Abend, bis ihn Müdigkeit übermannte, blieb Robert vor dem Fernseher
sitzen, sah sich noch eine Quizsendung an, Nachrichten, zuletzt einen amerikanischen
Kriminalfilm. Es war schon fast Mitternacht, als er zu Bett ging. Sein Schlaf
wurde durch eine Folge von Träumen zusammengehalten, aus denen er nicht erwachen
wollte, so schrecklich sie waren. Bohrende Kopfschmerzen weckten ihn schließlich.
Er nahm zwei Tabletten. Die Wirkung erinnerte ihn an langsam sich auflösende
Wolken. Traumreste verflüchtigten sich. Er sah auf die Uhr. Sie war stehengeblieben.
Als er die Zeitansage anrufen wollte, wählte er Marions Nummer. Sie meldete
sich mit verschlafener Stimme. Als hätte er sich die Hand verbrannt, legte er
den Hörer rasch auf die Gabel. Für den Fall, daß sie ihn anriefe und fragte,
ob er es gewesen sei, nahm er sich vor, so zu tun, als sei er noch gar nicht
aufgestanden. Das Telefon klingelte. Er ließ es mehrere Male läuten, bevor er
abhob.
"Habe ich dich geweckt?"
Es war seine Schwester.
"Aber nein", sagte er und räusperte sich, als wäre seine Stimme nur
etwas belegt gewesen.
Wie es ihm ginge, fragte sie, warum er so lange nichts von sich habe hören lassen,
ob er schon wüßte, daß sich die Eltern an der Riviera ein Haus gekauft hätten,
zwar renovierungsbedürftig, aber in herrlicher Lage, mit Blick auf das Meer,
paradiesisch, mitten im Grünen. Robert schnitt ihr das Wort ab. Er sei des Telefonierens
so überdrüssig, sein Kopf so angefüllt mit sprachlichen Abstraktionen, in denen
das Wirkliche sich verliere. Er wolle sie treffen. Das Wetter sei ideal für
einen Spaziergang. Er würde sie von der U-Bahn-Station am Isartor abholen. Die
Schwester war sofort einverstanden.
"Du hast ein Problem", sagte sie, als er sie zur Begrüßung auf beide
Wangen küßte.
Der Geruch ihrer Haut machte ihn süchtig nach Zärtlichkeiten, die er nun schon
so lange entbehren mußte. Hand in Hand wie ein Liebespaar gingen sie zur Isar
hinunter, dem Gestank der Abgase entfliehend, der wie ein Dunstschleier über
der Stadt lag. Ein Möwenschwarm flog vom Wasser auf und zeichnete über ihren
Köpfen elliptische Bahnen. Ein Moped lärmte trotz Fahrverbots an der Uferböschung.
"Ist mit Marion alles in Ordnung?"
Robert, durch ein Geräusch aufgeschreckt, das er an diesem Ort nicht erwartet
hätte, gab keine Antwort. Eine alte Frau, deren Kleid einmal teuer gewesen sein
mußte, bevor es die Motten zerfressen hatten, stand am Flußufer und applaudierte.
"Sieh dir einmal die Frau an! Eine Verrückte."
Die Schwester sah in die Richtung, in die er zeigte.
"Wieso verrückt? Sie klatscht in die Hände, damit die Möwen nicht den Enten
das Futter wegschnappen."
"Du hast aber auch für alles eine Erklärung", sagte er und ließ ihre
Hand los.
Sie hatten den Weg verlassen und stapften über die von den Leuchtpunkten des
Löwenzahns übersäte Wiese. Ihre Schuhe versanken in Maulwurfshügeln. An einem
Weidenstrauch setzte sich Robert so unvermittelt ins Gras, daß es aussah, als
ob er zu Boden stürzte.
"Hier bin ich mit Marion oft gesessen."
Er streckte die Beine aus, ließ den Oberkörper zurückfallen, stützte ihn mit
den Armen.
"Sie liebte es, hier zu sitzen. Dabei hat der Platz so gar nichts Besonderes
an sich. Überall Hundescheiße. Man muß aufpassen, daß man sich nicht hineinsetzt.
Wenn es dunkel ist, merkt man es erst zu Hause. Mir hat das nachträglich immer
die Freude verdorben. Kann einem eigentlich nachträglich eine Freude verdorben
werden? Wahrscheinlich kam es mir nur so vor, weil mir die Erinnerung wichtiger
war als das Erlebnis. Marion war da anders. Sie hat den Dreck einfach abgewaschen.
Sie war so lebendig."
"Du redest, als wäre sie tot", sagte die Schwester.
Robert drehte ihr das Gesicht zu.
"Du hast recht! Siehst du, das wäre mir gar nicht aufgefallen."
Noch am selben Tag, es dämmerte schon, ging er ein zweitesmal zu der Stelle.
Hunde jagten, an Duftspuren schnuppernd, über die Wiese, sonderten da und dort
einen Spritzer Urin ab oder erheiterten ihre Besitzer durch groteske Kopulationsversuche.
Schwalben durchschnitten den von rasch ziehenden Wolkenfetzen verdüsterten Abendhimmel.
Robert war noch nie allein hier gewesen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, daß
er Marion nicht vermißte.
Auf dem Heimweg kam er an einem Kino vorbei, aus dem die Besucher einer gerade
zu Ende gegangenen Vorführung strömten. Er versuchte, in ihren Gesichtern zu
lesen, welche Gefühle der Film in ihnen ausgelöst hatte. Doch die zu Masken
erstarrten Züge verrieten nur eine Vielzahl von Möglichkeiten, die unter dem
Schock der Erkenntnis, wieder ins wirkliche Leben auftauchen zu müssen, nicht
zur Entfaltung kamen. An der Kinokasse hatte sich eine Menschenschlange für
die nächste Vorstellung gebildet. Robert sah sich die Fotos in den Schaukästen
an. Sie machten ihn neugierig. Er kaufte sich eine Eintrittskarte. Als der Film
begann, erkannte er, daß er ihn schon gesehen hatte.
Hätte er nicht in der Mitte einer voll besetzten Reihe gesessen, er wäre hinausgegangen.
Aber er wollte kein Aufsehen machen. Um Langeweile, so gut es ging, zu vermeiden,
richtete er seine Aufmerksamkeit auf die kleinen Begebenheiten am Rande, die
er beim ersten Sehen nicht bemerkt oder nicht für bedeutsam gehalten hatte.
War für ihn damals der Schluß des Films, die Ermordung eines gefeierten Violinvirtuosen,
völlig überraschend gekommen, so erschien es ihm nun ganz natürlich, daß die
Geschichte so enden mußte. Fast jede Szene enthielt einen versteckten Hinweis,
durch den sich das Verbrechen ankündigte, so als vollzöge sich ein unausweichliches
Schicksal, das nur der Autor des Films hätte anhalten können. Einmal sah man
im Hintergrund einen verdächtig umherspähenden Mann, der einen runden Gegenstand
in einem Hauseingang deponierte, ein anderes Mal, als der Geiger und seine Geliebte
beim Frühstück saßen, kam aus dem Radio eine Vermißtenmeldung. Die Vorzeichen
häuften sich. Der Mord geschah während eines Konzertauftritts. Der Virtuose
nahm gerade die Ovationen der begeisterten Menge entgegen, als in der Nähe der
Bühne mehrere Schüsse fielen. Blutüberströmt brach er zusammen, das durchlöcherte
Instrument wie einen Schild vor den Körper haltend. Das letzte Bild zeigte den
von Panik erfüllten Konzertsaal. Wer der Mörder war, konnte man nicht erkennen.
Robert suchte nach Verlassen des Kinos sofort eine Telefonzelle auf, um Marion
anzurufen. Ihr Anrufbeantworter war eingeschaltet. Sie sei verreist. Man solle
eine Nachricht für sie auf das Tonband sprechen. Sekundenlang konnte er keinen
Gedanken fassen. Erst durch heftiges Klopfen an der Zellentür wurde er
wachgerüttelt. Ein Herr, der trotz Hitze Mantel und Hut trug, machte durch Gesten
und Mienenspiel deutlich, daß er telefonieren wollte. Schließlich riß er die
Tür auf.
"Sagen Sie, wollen Sie hier übernachten?"
"Nein", antwortete Robert und überließ ihm die Zelle.
Erste, schwere Tropfen eines Wärmegewitters erzeugten auf dem Asphalt dunkle
Flecken. Schirme wurden aufgespannt. Jene, die keinen Schirm bei sich hatten,
beschleunigten ihre Schritte. Minuten später ging ein Wolkenbruch nieder, der
den Mann in der Telefonzelle zum Gefangenen machte. Robert, der unter einem
Torbogen Zuflucht gefunden hatte, sah die verschwimmenden Konturen hinter den
vom Regen gepeitschten Scheiben. Nun begann es auch noch zu hageln. Im
Rinnstein sammelten sich die Hagelkörner. Blitze verwandelten die Häuser in
Schattenrisse. Die wechselnden Farben sinnlos gewordener Ampeln an einem
Fußgängerübergang spiegelten sich in der Nässe. Als der Niederschlag nachließ,
trat der Mann aus der Zelle und winkte ein Taxi herbei. Das Bild normalisierte
sich. Robert fuhr mit der Straßenbahn zum Englischen Garten und nahm sich in
einer kleinen Pension ein Einzelzimmer.
Es war, dem niedrigen Preis entsprechend, nur mit dem Nötigsten ausgestattet,
einem einfachen Holzbett, Tisch und Stuhl, einem Kleiderschrank, einer
gefliesten Waschecke mit Waschbecken, Spiegel und Handtuchhalter. Nach dem
Geruch zu urteilen, war es lange nicht mehr bewohnt gewesen. Das einzige
Fenster ging auf einen Hinterhof mit Mülltonnen und einer Teppichklopfstange.
Als er jünger gewesen war, hatte Robert oft in Unterkünften dieser Art
übernachtet, so daß es ihm leichtfiel, sich vorzustellen, er habe die Stadt
verlassen. Auch im Frühstücksraum am nächsten Morgen bereitete ihm die
Herstellung der Illusion, er sei verreist, keine Schwierigkeiten. Er löffelte
das weiche Ei, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, trank den Kaffee in
kleinen Schlucken. An den anderen Tischen saßen Ausländer, die sich gedämpft
unterhielten. Solange er nicht auf die Straße ging, brauchte er ein Scheitern
seines Experiments nicht zu befürchten.
Dem
Stubenmädchen, dem er im Flur begegnete, als es gerade mit dem Saubermachen der
Zimmer beginnen wollte, erklärte er, sein Zimmer müsse nicht aufgeräumt werden.
Er sei müde und wolle noch etwas schlafen. Der Blick des Mädchens zeigte, daß
es ihn nicht verstanden hatte.
"Müde", wiederholte er, wobei er den Kopf ein wenig zur Seite neigte
und an die gefalteten Hände legte.
Das Mädchen lächelte hilflos. Er versuchte nicht länger, sich verständlich zu
machen. Allzu deutlich war das Mißverhältnis zwischen der Energie, die er hätte
aufwenden müssen, um sich vor einer möglichen Störung zu schützen, und der
Tatsache, daß er gar keine Beschäftigung hatte, bei der man ihn hätte stören
können. Er ging in sein Zimmer, legte sich auf das Bett und erwartete das
Klopfen des Mädchens. Während er sich darauf konzentrierte, es nicht zu
versäumen, erlag er der einschläfernden Wirkung, die von den nur halb
wahrgenommenen Geräuschen ausging, die durch das geschlossene Fenster drangen.
Sein Schlaf war so tief, daß er das Klopfen nicht hörte.
Im Traum befand er sich wieder in seiner Wohnung, gepeinigt von dem
fortwährenden Schrillen des Telefons, zu dem er aus einem unerfindlichen Grund
nicht gelangen konnte. Als er, sich von der Folter erlösend, erwachte, stellte
er fest, daß der Lärm, wenn auch abgeschwächt, aus dem Hof kam. Er öffnete das
Fenster und sah, wie ein Kind, in einem fort klingelnd, auf seinem Dreirad um
eine Gully kreiste. Ein so harmloser Vorgang, dachte er, verwandelt in einen so
quälenden Alptraum. Vielleicht machte er überhaupt den Fehler, zu übertreiben.
Vielleicht lag in seinem Briefkasten schon eine Postkarte von Marion, auf der
sie ihm mitteilte, sie habe ihre Mutter, die plötzlich erkrankt sei, besuchen
müssen.
Er wusch sich Gesicht und Hände mit kaltem Wasser. Zum Abtrocknen benutzte er
einen Zipfel des Leintuchs. Als er sich im Spiegel erblickte, gelang es ihm
nicht, sich über seine Erscheinung ein Urteil zu bilden. Was sollte liebenswert
sein an diesen Augen, diesen schon etwas herabhängenden Wangen, diesen
durchschnittlichen Lippen? Er hätte sich nicht beschreiben können. Um keine
Spuren zu hinterlassen, zog er das Bett ab, verknotete das Bettzeug zu einem
Bündel und stellte es zu der im Gang aufgehäuften Schmutzwäsche aus den anderen
Zimmern. Den Betrag für eine Übernachtung mit Frühstück legte er, da an der
Rezeption niemand Dienst tat, abgezählt auf das Empfangspult. Beim Hinausgehen
stieß er mit dem Fuß an eine Geldbörse, die jemand verloren hatte, hob sie auf
und steckte sie in die Hosentasche.
Eine Lust zum gedankenlosen Zeitvertreib überkam ihn. Er ging in das nächste
Restaurant und bestellte das teuerste Gericht auf der Speisekarte. Als die
Bedienung das hohe Trinkgeld, das er ihr hinschob, nicht annehmen wollte, faßte
er sie um die Taille und zog sie so nahe an sich heran, daß seine Knie ihre
Schenkel berührten.
"Was muß ich tun, damit Sie sich genügend beleidigt fühlen? Ist es Ihnen
erlaubt, sich zu mir an den Tisch zu setzen? Ich bezahle jede Minute, die Sie
mir schenken. Ihre Brüste sind eine Herausforderung. Wenn Sie nicht bleiben,
werde ich mich in den Finger schneiden und das Tischtuch mit meinem Blut
beträufeln. Dürfen Sie das geschehen lassen?"
Die Frau befreite sich und nahm den Teller mit Speiseresten.
"Essen Sie das noch?"
"Nein", sagte Robert.
Er war schon mit der Frage beschäftigt, welchen der Gegenstände er mitnehmen
sollte, die sie auf dem Tisch zurücklassen würde, den Aschenbecher, den
Salzstreuer, die kleine Vase mit Plastikblumen? In gespielter Zerstreutheit
knickte er einen Bierdeckel, bis er entzweibrach, und behielt die kleinere
Hälfte. Noch kam es ihm nicht darauf an, sich strafbar zu machen.
In den Straßen tummelten sich die Menschen, als gälte es, eine dem sonnigen
Frühlingstag angemessene Atmosphäre zu schaffen. Die Geschäfte der Obdachlosen florierten.
Den Vergleich der eigenen Unversehrtheit mit ihren Verkrüppelungen ließ man
sich gern etwas kosten. In ihren Mützen und Hüten klirrte das verächtlich
hingeworfene Kleingeld. Manche unterstrichen ihre Erniedrigung durch
ununterbrochenes Musizieren, andere trugen um den Hals selbst gefertigte
Schilder aus Pappe, auf denen in wenigen Worten geschrieben stand, wodurch sie
in eine so mißliche Lage geraten waren. Eine leicht bekleidete Dame, die in
einem Straßencafé an einem Campari nippte, tauschte Blicke mit Robert. Als sie
den Stummel ihrer Zigarette wegwarf und austrat, bückte er sich und nahm ihn
wie etwas Kostbares an sich.
"Ich vergesse so leicht", sagte er. "Es ist eine
Gedächtnisstütze. Ich würde mich an unsere Begegnung morgen nicht mehr erinnern
können."
Die Dame verzog keine Miene, stand auf und ging fort, sich in den Hüften
wiegend. Paris, Rom, New York, dachte Robert, wertlose Souvenirs aus
Millionstädten, Muschelschalen von Meeresstränden. Auf den sonnenbestrahlten
Bänken im Englischen Garten drängten sich Rentner und Arbeitslose. Mütter
gewährten ihren Kindern begrenzte Freiheit. Ein letztes Erinnerungsstück
brauchte er noch, um sich gewappnet zu fühlen. Kondom, Schnupftuch, Ohrklips?
Nein, er suchte etwas Bestimmtes. Ein blondlockiges Mädchen achtete einen
Augenblick nicht auf den Puppenwagen, den es stolz vor sich herschob. Robert
nahm die Puppe heraus, barg sie an seiner Brust und entfernte sich unauffällig.
Als das Mädchen den Diebstahl entdeckte, hatte er den Park schon verlassen. Obwohl
er nun außer Gefahr war, begann er zu laufen, lief immer schneller, bis zu der
Straße, in der er wohnte. Eine Hauspartei grüßte ihn. Er vergaß zu erwidern.
Selbst das Vertrauteste war ihm fremd geworden. Im Briefkasten fand er eine
Zahlungsaufforderung wegen vorschriftswidrigen Parkens, von Marion keine
Nachricht.
Langsam stieg er die Treppe hoch, zählte die Stufen. Als er die Wohnung betrat,
fiel von dem Gummibaum gegenüber der Tür gerade ein Blatt ab. Sein Erschrecken
äußerte sich in einem kurzen Schrei. Er inspizierte die Zimmer, zuletzt die
Toilette, setzte sich auf das Klosett und legte die Geldbörse, den halben
Bierdeckel, den Zigarettenstummel und die Puppe vor sich auf den Boden. Waren
das die Beweise? Welcher Tat war er überhaupt auf der Spur? Ihm schien, als
hätte er nur eine Zeit überbrückt, ohne den kleinsten Fortschritt. Er fühlte
sich in Zusammenhänge verstrickt, die umfassender waren als ein Kriminalfall,
in dem man unterscheiden kann zwischen Opfer und Täter. Nirgends boten sich
Anhaltspunkte. Er hörte auf, sich an eine Hoffnung zu klammern. Er sah die
Geliebte in Gedanken auf einem Scheiterhaufen, festgebunden, die Augen zum
Himmel erhoben. Während sich das Feuer in ihren Leib fraß, entspannten sich
seine Eingeweide. Er öffnete die Gürtelschnalle, den Reißverschluß. Die
Entleerung hatte schon angefangen, als es an der Tür klingelte. Er drückte den
Spülknopf, zog die Hose hoch.
"Ich komme! Ich komme!"
Marion stand im Treppenhaus mit geröteten Wangen vom Treppensteigen. Daß sie in
einem Haus ohne Lift niemals wohnen könnte, sagte sie wie immer, wenn sie zu
Besuch kam. Alles an ihr war so, als wäre nichts Ungewöhnliches vorgefallen.
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Erschienen in: André Müller, "Zweite Liebe",
Bibliothek der Provinz, 1991