Der tote Sohn



Seit die vor einem halben Jahr pensionierte Lehrerin Inge Spiel über ihre Zeit frei verfügen konnte, unterlief es ihr oft, daß sie etwas begann und nicht zu Ende führte. Sie hatte sich Kaffee eingeschenkt, Milch und Zucker dazugetan und auch schon umgerührt. Doch statt zu trinken, legte sie sich ins Bett, stellte den Wecker und wartete auf das Klingelzeichen. Das durch die Vorhänge fallende Licht erinnerte sie an die Tage, an denen sie es genossen hatte, morgens nicht aufstehen zu müssen. Als wenig später der Wecker schrillte, stellte sie ihn nicht ab, sondern lauschte, bis er von selbst verstummte. Es gab jetzt keine Signale mehr, die sie beachten mußte. Sie ging in die Küche zurück, trank den inzwischen kalten Kaffee und aß eine Buttersemmel. Dann kleidete sie sich zum Ausgehen an. Vor dem Spiegel bekam sie Lust, das Kreuzworträtsel in der von ihr abonnierten Zeitung zu lösen. Wahrend sie blätterte, setzten sich die Kapitelüberschriften in ihrem Gedächtnis fest. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Nachdem sie einige Wörter geraten hatte, verließ sie die Wohnung und fuhr mit dem Auto, das ihr seit dem Tod ihres Mannes allein gehörte, ins Grüne.

Am Rand eines Waldes, der ihr zum Wandern geeignet schien, hielt sie an und stieg aus. Ihr fiel ein, daß sie das Kleid, das sie trug, ein geblümtes, in dem sie jünger wirkte, zuletzt im Theater getragen hatte. Sie war, obwohl ihr die Aufführung, insbesondere die Hauptdarstellerin, gefallen hatte, in der Pause gegangen, genaugenommen am Ende der Pause. Zunächst war sie mit den anderen Theaterbesuchern durch das Foyer gewandelt, hatte eine Zigarette geraucht und ein Glas Sekt getrunken. Als die Pausenglocke ertönte, war sie statt zurück in den Zuschauerraum auf die Straße hinausgegangen. Dort hatte sie ungefähr eine halbe Stunde gestanden und, so als wartete sie auf jemanden, nach links und nach rechts und, indem sie sich auf die Zehen stellte, über die Autodächer hinweg auf die andere Straßenseite geschaut. Hatte sie einer Verabredung wegen das Theater verlassen? Sie machte ein paar Schritte über das Gras auf einen Waldweg zu. Auch die Schuhe, deren Absätze im Erdreich versanken, hatte sie im Theater getragen. Es waren ihre Theaterschuhe. Noch nie war sie in diesen Schuhen in der Natur gewesen.

Sie hatte die falschen Schuhe an, das falsche Kleid. Zwei Spaziergänger, deren Geschlecht nicht zu erkennen war, nickten ihr zu. Sie trugen Kniehosen und Trachtenjacken und dazu passende Hüte mit Quasten. Inge Spiel fuhr in die Stadt zurück und probierte in einem Modegeschäft mehrere Kleider an. Dabei dachte sie an ihren Sohn, den sie seit der Beerdigung ihres Mannes, seines Stiefvaters, nicht mehr gesehen hatte. Er lebte in Rom. Von Zeit zu Zeit kündigte er ihr sein Kommen an. Doch dann verschob er es immer wieder. Er wartet auf meinen Tod, dachte sie. Die Verkäuferin brachte ein blaues Kostüm.

"Blau steht Ihnen gut."

Inge Spiel verließ wortlos den Laden. Zu Hause fand sie im Briefkasten eine Karte aus Rom, auf der die Spanische Treppe zu sehen war. Der Sohn schrieb, er habe in München zu tun und werde sie auf dem Rückweg besuchen. Sie drehte das Radio an und ließ sich ein Bad einlaufen. Aber sie badete nicht. Sie sah zwischen dem Einlassen des Bades und dessen Benutzung keinen Zusammenhang. Die ihr widerliche Schlagermusik aus dem Radio glaubte sie ertragen zu müssen wie das Läuten von Kirchenglocken oder das Gebell eines Hundes im Hof. Den Gedanken, ihr Sohn werde erst zu ihrem Begräbnis kommen, empfand sie als Strafe dafür, daß sie, obwohl sie Kleider genug besaß, ein Modehaus aufgesucht hatte. Ihr fiel keine sinnvolle Beschäftigung ein. Sie löste das Kreuzworträtsel zu Ende. Sie las eine Seite in einem Buch. Sie überlegte, ob sie wie zufällig an der Schule vorbeigehen sollte, in der sie fünfzehn Jahre lang unterrichtet hatte. Plötzlich ging sie zum Telefon und rief den Sohn an.

"Herbert, bist du's? Ich habe deine Karte bekommen."

Er erklärte, er habe ihr soeben eine zweite Karte geschickt, da er nun doch nicht nach München fahre. Er werde aber zu Weihnachten kommen. Ob jemand in ihrer Wohnung sei.

"Nein, es ist nur das Radio", schrie sie so laut, daß er den Hörer vom Ohr entfernte. "Bist du noch da? Geht es dir gut?"

Er murmelte etwas.

"Ich mache jetzt Schluß, sonst wird es zu teuer."

Das sagte sie immer, obwohl sie für nichts lieber ihr Geld ausgab als für die Telefongespräche mit Herbert. Im Radio wurde Werbung gesendet. Sie versuchte, sich Rom vorzustellen, wo sie noch nie gewesen war. Nach der Zeitansage schaltete sie das Radio ab. Er kommt auch zu Weihnachten nicht, dachte sie. Es war früher Nachmittag. Der Ausflug hatte sie ziemlich ermüdet. Da sie nicht schlafen wollte, entschloß sie sich zu einem Museumsbesuch. Sie fürchtete, wenn sie tagsüber schlief, nachts wach zu liegen. Während sie im Kunsthistorischen Museum, das eine oder andere Gemälde betrachtend, die Säle durchschritt, konnte sie nicht vergessen, daß sie es tat, um nicht zu schlafen. Vor der "Bauernhochzeit" von Breughel machte sie kehrt und lief in die entgegengesetzte Richtung zum Ausgang zurück. Von den Wänden hallte das Klacken ihrer Absätze wider. Erschreckte Besucher drehten sich um. Sie stieß das Museumstor auf und lehnte sich wie nach einer gelungenen Flucht an die Brüstung der Außentreppe. Nur eine halbe Stunde war, seit sie zuletzt auf die Uhr geschaut hatte, vergangen.

Die Zeit, die sie früher mit dem mehr oder weniger automatischen Ablauf der Geschehnisse gleichgesetzt hatte, an denen sie handelnd oder auf andere Weise beteiligt war, erschien ihr zu einem Gefäß erstarrt, in das sie jeden Tag ein Stück ihres noch übrigen Lebens füllte. Sie wußte immer, wie spät es war, obwohl sie sich um Termine nicht mehr zu kümmern brauchte. Am Morgen zählte sie die Stunden, die sie geschlafen hatte. Manchmal geschah es noch, daß sie aus Gewohnheit kalt duschte oder sich schminkte, als ob sie zur Schule müßte. Doch meist bereitete ihr schon das Aufstehen Schwierigkeiten. Sie mußte nach Gründen suchen, die es notwendig machten. Dabei schlief sie oft wieder ein. Hatte sie aber, etwa um die Vorhänge aufzuziehen, damit die Topfpflanzen Licht bekämen, das Bett erst verlassen, spielte der Grund keine Rolle mehr.

Vor dem Maria-Theresien-Denkmal postierte sich eine Touristengruppe. Inge Spiel gefiel es, in einer Stadt zu wohnen, in die viele Touristen kamen. So konnte sie sich, ohne verreisen zu müssen, als Fremde fühlen. Erschöpft, aber glücklich über die Aussicht auf eine Nacht, in der sie gut schlafen würde, ließ sie den Blick über die das Denkmal umgebende Anlage gleiten. An einem Zeitungskiosk kaufte sie mehrere Ansichtskarten. Der Berufsverkehr hatte eingesetzt. Sie überlegte, ob sie ihrem Hunger nachgeben und in einem Restaurant etwas essen sollte. Doch statt in ein Restaurant ging sie in eine Kirche, wo sie von einem Gefühlsausbruch überwältigt wurde, den sie sich nicht erklären konnte. Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie kniete nieder und hielt, wie ins Gebet versunken, die Hände vor das Gesicht. Als sie sich wieder gefangen hatte, fuhr sie nach Hause und schaltete den Fernseher an. Die Bilder verstümmelter Krieger, in Ölschlamm verendender Vögel und zu Skeletten abgemagerter Kinder beruhigten sie. Nachdem sie die täglichen Katastrophenberichte in allen Programmen, die sie empfangen konnte, gesehen hatte, fielen ihr vor Erschöpfung die Augen zu.

Zwei Tage später stürzte sie beim Überqueren der Straße und wäre fast überfahren worden. Noch auf dem Boden liegend, nahm sie sich vor, dem Sohn einen Brief zu schreiben. Es treffe sich gut, daß er erst zu Weihnachten komme, sie habe sich, ungeschickt, wie sie sei, einen Arm gebrochen und könnte ihm, käme er jetzt, nicht einmal etwas zu essen machen. Der Autofahrer, der durch scharfes Bremsen das Schlimmste verhütet hatte, stieg aus und fragte, wo sie denn ihre Augen habe. Ein anderer wollte ihr helfen.

"Es ist nichts", sagte sie und stand auf.

Ihre Strümpfe waren zerrissen. Das Kleid war beschmutzt. Doch verletzt war sie nicht. Den Brief schrieb sie trotzdem. Dabei stellte sie sich das Gesicht des Sohnes beim Lesen vor. Sie habe sich einen Arm gebrochen. Gleich am nächsten Morgen schrieb sie ihm wieder. Sie komme besser zurecht, als sie erwartet habe. Zum Glück sei es der linke Arm. Nur auf das Autofahren werde sie eine Weile verzichten müssen. Tatsächlich ließ sie das Auto stehen. Zu ihrer älteren Schwester, die sie seit ihrer Pensionierung öfter besuchte, nahm sie die Straßenbahn. Unterwegs überlegte sie, woran ein gebrochener Arm sie noch hindern würde. Dabei bewegte sie, als spreche sie mit sich selbst, die Lippen. Ein kleines Mädchen, das ihr gegenübersaß, versuchte, sie, indem
es Grimassen schnitt, zu imitieren. Als die Mutter es merkte, zog sie das Mädchen am Kleid und befahl ihm mit einem Blick, damit aufzuhören.

Bei der Schwester gab es Kaffee und Kuchen. Inge Spiel nahm den Kuchen nur mit der rechten Hand, so daß sie die Tasse vorher absetzen mußte. In Gedanken war sie schon wieder mit dem Briefeschreiben beschäftigt. Da sie mit ihrem Gipsarm nicht kochen könne, sei sie gezwungen, im Restaurant zu essen. Das Fleisch lasse sie sich von der Kellnerin schneiden. Es tue ihr gut, so umsorgt zu werden.

"Möchtest du noch Kaffee?" fragte die Schwester.

"Im Theater", sagte Inge Spiel, "habe ich nicht applaudieren können. Als die Leute zu klatschen begannen, kam ich mir wie ein Krüppel vor."

Sie sah in das erstaunte Gesicht der Schwester.

"Aber es hat mir nichts ausgemacht. Ich schaute den Leuten beim Klatschen zu. Manche erhoben sich von den Sitzen, als wollten sie sich mit den Schauspielern auf eine Stufe stellen. Vom Balkon rief jemand bravo. Das hätte ich auch tun können. Ich hatte es mir sogar vorgenommen. Ich hatte beschlossen, da es anders nicht ging, meine Begeisterung auf diese Art auszudrücken. Natürlich hätte ich mich dazu überwinden müssen. Ich bin kein Mensch, der gern aus dem Rahmen fällt. Aber ich hatte doch sozusagen eine Entschuldigung."

Sie hob zur Erklärung den linken Arm.

"Deine Theaterbegeisterung habe ich nie verstanden", sagte die Schwester, nahm die Kaffeekanne vom Tisch und ging in die Küche.

Inge Spiel nutzte die Gelegenheit, um sich davonzustehlen. Die Wohnungstür ließ sie offen. Im Treppenhaus mußte sie lachen, als sie merkte, daß sie auf Zehen ging. In der vollbesetzten Straßenbahn konnte sie bei dem Gedanken an die sie suchende Schwester ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Die Gewissensbisse, die sie früher immer, wenn ihr Verhalten vom Üblichen abwich, empfunden hatte, waren wie weggeblasen. Als die Schwester sie anrief und fragte, warum sie gegangen sei, sagte sie:

"Ich möchte nicht alles begründen müssen. Was nützt es dir, wenn du es weißt oder zu wissen glaubst, denn ich könnte ja lügen? Du bildest dir ein, daß dann alles wieder in Ordnung wäre. Es ist aber nie etwas in Ordnung. Der Herbert hat als Kind immer gefragt, warum er überhaupt da ist. Hätte ich sagen sollen, weil mich sein Vater geliebt hat? Wir erfinden Zusammenhänge, um uns zu beruhigen. Vielleicht bin ich gegangen, weil ich allein sein wollte. Dabei fürchte ich nichts so sehr wie das Alleinsein. Ich glaube, es gab gar keinen Grund."

"Du hättest dich wenigstens verabschieden können", sagte die Schwester.

Inge Spiel legte auf. Sie war gerade nach Hause gekommen. Die Tür stand noch offen. Statt sie zu schließen, ging sie zum Schreibtisch, auf dem ein leerer Briefbogen lag. In fliegender Eile, ohne sich hinzusetzen, schrieb sie dem Sohn, sie habe sich den Arm nicht gebrochen. Es sei ein Vorwand gewesen. Er solle es ihr nicht übelnehmen. Sie werde jetzt öfter schreiben. Daß er antworte, erwarte sie nicht. Es genüge, wenn sie hin und wieder ein Lebenszeichen von ihm bekomme.

Bei allem, was sie von nun an erlebte, dachte sie an die Möglichkeit, es in ihrem nächsten Brief zu erwähnen. Manches tat sie nur, um darüber berichten zu können. Nach einer besonders schlechten Aufführung der "Penthesilea" von Kleist rief sie bravo. Das sich auf höflichen Beifall beschränkende Publikum drehte sich nach ihr um. Sie saß Balkon, erste Reihe. Ermuntert durch die auf sie gerichteten Blicke, klatschte sie mit erhobenen Händen. Als sich die Schauspieler einzeln verbeugten, ertönte ein zweites Bravo. Der Beifall schwoll an. Inge Spiel ließ zufrieden die Arme sinken.

Dem Sohn schrieb sie, die Aufführung sei ein Triumph gewesen. Das Publikum habe die Schauspieler mit Applaus überschüttet. Sie könne sich nicht erinnern, eine solche Begeisterung jemals erlebt zu haben. Tags darauf erwachte sie mit dem Wunsch, aus einem anderen Land zu schreiben. Das erste, das ihr einfiel, war Deutschland. Sie packte das Nötigste in einen Koffer und fuhr mit dem Auto nach München. Kaum angekommen, beschloß sie, mit der nächsten Maschine nach Rom zu fliegen. Um der Befürchtung, ihr sei etwas zugestoßen, zuvorzukommen, schrieb sie der Schwester, sie sei verreist, sie habe es in Wien nicht mehr ausgehalten. Dem Sohn schickte sie eine Karte mit Grüßen. Letzte Grüße, dachte sie unwillkürlich. Im Flugzeug malte sie sich die Sekunden vor dem Aufprall bei einem Absturz aus. Das Schlimmste erwartend, würde sie insgeheim auf ein Wunder hoffen. Es ist aus, würde sie denken. Aber das wäre nur der lächerliche Versuch, der Katastrophe durch eine List zu entgehen.

Sie schaute durch ein Wolkenloch auf schneebedeckte Gipfel. Mit dem Auto, dachte sie, wäre sie nicht weit gekommen. Spätestens in Bozen wäre sie umgekehrt. Eine Stewardess teilte das Essen aus. Der Pilot begrüßte die Passagiere. Man überfliege gerade die Alpen. Die Flugzeit betrage neunzig Minuten. Man werde voraussichtlich pünktlich landen. Inge Spiel entnahm ihrer Tasche ein Foto, das den Sohn im Alter von vierzehn Jahren zeigte. Sie trug es immer bei sich.

"Mein Kind", sagte sie.

Neben ihr saß ein dicker Italiener. Als er ihr seine Brieftasche hinhielt, in der unter einer Klarsichthülle ein Foto steckte, auf dem zwei kleine Mädchen, offenbar seine Töchter, zu sehen waren, löste sie ihren Haltegurt und bedeutete ihm durch Gesten und Mimik, daß sie auf die Toilette müsse. Gegen weitere Kontaktversuche schützte sie sich, indem sie sich schlafend stellte. So konnte sie ungestört Pläne schmieden.

In einer kleinen Pension nahe der Spanischen Treppe wollte sie sich ein Zimmer nehmen. Die Vormittage reservierte sie für Besichtigungen. Danach wollte sie sich unter die Römer mischen, in einem Straßencafé einen Grappa trinken, durch Trastevere schlendern oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel in ein mehr außerhalb gelegenes Viertel fahren. Das Vergangene mit dem Heutigen zu vergleichen an geschichtsträchtigem Ort, hatte sie schon immer gereizt. Keinesfalls flog sie nach Rom, um den Sohn zu besuchen. Man wäre sich wieder nur stumm gegenübergesessen. Anfangs hätte sie sich gefreut, ihn zu sehen, so wie sie sich freute, am Telefon seine Stimme zu hören. Dann hätte die Angst vor dem ersten enttäuschenden Wort die Freude erstickt. Aus Angst hätte sie keine Fragen gestellt. Obwohl sie fast nichts von ihm wußte, nur daß er ledig war und irgendwie im Kunsthandel tätig, beharrte sie auf der These, ihn von Grund auf zu kennen, weil sie die Mutter war.

Die Maschine setzte zur Landung an. Inge Spiel schlug die Augen auf. Da durchzuckte sie der Gedanke, daß sie dem Sohn durch Zufall begegnen könnte. Schon in der Ankunftshalle könnte er plötzlich vor ihr stehen. Was sollte sie dann zu ihm sagen? Sie würde sagen, sie wolle sich nur die Stadt ansehen. In ihrem Alter dürfe man nichts mehr verschieben. Dann würde sie den Sohn auf die Wange küssen und seine Verblüffung genießen. Das Angebot, bei ihm zu wohnen, würde sie nicht annehmen.

Als das Flugzeug gelandet war, wandte sie sich lächelnd dem Italiener zu. Er zeigte auf seine Armbanduhr, machte mit der rechten Hand eine Faust und streckte den Daumen nach oben. Sie nickte, obwohl sie ihn nicht verstand. Beim Aussteigen ließ sie ihre Handtasche fallen. Als ein Fluggast sie aufhob, verzog sie den Mund, als ob es ihr peinlich wäre. An der Paßkontrolle legte sie, scheinbar versehentlich, ihr Notizbuch vor. An der Gepäckausgabe griff sie mit Absicht nach einem fremden Koffer und entschuldigte sich bei der Besitzerin.

Daran, so dachte sie, würde sie sich später erinnern, wie sich ein Schauspieler an eine Rolle erinnert, die er verkörpert hat. Zerstreutheit vorzutäuschen, erwies sich als ein geeignetes Mittel, die Zeit in Rom ihrem Gedächtnis einzuprägen. Je besser sie sich verstellte, desto lückenloser würde ihre Erinnerung sein. In einem Zeitungsladen kaufte sie einen Stadtplan und einen Führer auf englisch. Das Treiben um sie herum nahm sie, da sie es vermied, in der Halle umherzublicken, nur als ein Gewirr von Geräuschen wahr. Auf keinen Fall sollte der Eindruck entstehen, daß sie nach jemandem Ausschau hielt. Als sie in ihrer Nähe ein Lachen hörte, das ihr bekannt vorkam, ging sie zum nächsten Telefon und wählte die Nummer des Sohnes. Zehnmal ließ sie es läuten. Hätte er abgehoben, hätte sie sofort aufgelegt.

Für die Fahrt in die Stadt beschloß sie, sich ein Taxi zu leisten. Sie fand, daß Sparsamkeit zu der Rolle, die sie spielte, nicht paßte. Damit sie der Fahrer nicht für eine Touristin hielt, gab sie als Ziel die Adresse des Sohnes an. Im Zwielicht der Dämmerung huschten die verwahrlosten Außenbezirke an ihr vorbei. Auf Parkplätzen am Straßenrand boten sich Nutten an. Reklameschilder auf hohen Gerüsten verkündeten, weithin sichtbar, käufliches Glück. An den Häusern hing wie zur Zierde Wäsche im Wind. Und wo, dachte Inge Spiel, ist das Meer? Sie hatte sich damit abgefunden, daß die Geschehnisse ihrer Kontrolle entglitten. Ihre Handlungen stimmten mit ihren Absichten nicht überein. Wenn sie die Fahrt zur Wohnung des Sohnes nicht unterbrach, konnte das nur bedeuten, daß sie ihn sehen wollte. Der Fahrer sagte etwas auf italienisch. Sie fuhren am Kolosseum vorbei und bogen in eine Nebenstraße. Vor einem rosa Haus, von dem der Putz bröckelte, hielt das Taxi. Inge Spiel stieg erst aus, als sie auf der anderen Seite die Leuchtschrift eines Hotels entdeckte.

Es war eine ärmliche Unterkunft. Sie nahm das teuerste Zimmer. Nachdem sie ausgepackt und gebadet hatte, ging sie zu Bett und schlief bis zum Morgen. Den Vormittag verbrachte sie im Hotel. Mehrmals wählte sie die Nummer des Sohnes, aber es hob niemand ab. Die Vorstellung, ihn nun, da sie sich dazu entschlossen hatte, ihn aufzusuchen, nicht anzutreffen, belustigte sie. Wahrscheinlich ist er verreist, dachte sie, womöglich nach Wien. Während des Mittagessens in einem kleinen Restaurant wurde sie mit vollem Mund von einem Würgreiz befallen, so daß sie den schon zerkauten Bissen nicht schlucken konnte. Ihr Zustand verschlimmerte sich, da sie ihn komisch fand, das Lachen jedoch unterdrücken mußte. Mit knapper Not gelang es ihr, den Bissen heimlich in die Serviette zu spucken. Aus Furcht vor einem neuen Anfall ließ sie das restliche Essen stehen und ging ins Hotel zurück.

Das Zimmer war aufgeräumt. Durch das geöffnete Fenster rauschte der Straßenlärm. Auf das rosafarbene Haus fiel schräg das Sonnenlicht. Als Inge Spiel an das Fenster trat, um es zu schließen, wurde sie aus der gegenüberliegenden Wohnung durch etwas geblendet. Sie machte zwei Schritte zurück und sah, daß es ein gerahmtes Foto hinter einer Glasscheibe war, das sie ungefähr ein Jahr vor der Geburt Herberts zeigte. Er mußte es ihr entwendet haben. Sein Vater hatte es aufgenommen. Sie versuchte, indem sie die angrenzenden Räume mit jenem, in dem das Bild hing, verglich, herauszubekommen, welche Fenster noch zu der Wohnung gehörten. Manche Gegenstände erkannte sie. Die Schreibmaschine hatte der Sohn schon in Wien benutzt. Die silbernen Kerzenleuchter hatte sie ihm zu seinem dreißigsten Geburtstag geschenkt. Auf einer schwarzen Couch saß regungslos eine Frau mit geschlossenen Augen. Inge Spiel bemerkte sie erst, als die Frau den Hörer vom Telefon abnahm, das neben der Couch auf einem Glastischchen stand. Sie schaute ihr beim Telefonieren zu.

Die Frau hielt, während sie sprach, die Hand vor den Mund, als wollte sie das, was sie sagte, zugleich verschweigen. Als sie aufgelegt hatte, setzte sich Inge Spiel auf das Bett und überlegte kurz. Dann ging sie hinüber. Die Frau öffnete schon nach dem ersten Klingeln und führte sie, als hätte sie ihr Kommen erwartet, wortlos ins Badezimmer. Der Sohn lag, in ein Leintuch gehüllt, in der mit Wasser gefüllten Wanne. Inge Spiel strich ihm das Haar aus der Stirn. Sein Mund stand offen. So, dachte sie, hat er als Kind ausgesehen, wenn er schlief. Sie hielt die Hand in das Badewasser. Warum war es kalt? Minutenlang kreiste ihr Denken um diese Frage. Dann setzte sie sich auf den Boden und zog die Schuhe aus. Das Wimmern, das sich ihr entrang, konnte man auch für ein Kichern halten.

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Erschienen im April 1994 in der Nürnberger Kunst- und Literaturzeitschrift „bateria“