Das verbotene Interview



Ihre Bilder sind seit Jahren die weltweit teuersten eines lebenden Künstlers ...

Das ist schon falsch.

Auf der von dem Wirtschaftsmagazin "Capital" ermittelten Rangliste stehen Sie an der ersten Stelle.

Das kann man vergessen. Solche Listen sind immer ein bißchen Pfusch. Ich bin nur, glaube ich, der teuerste deutsche Maler.

Eines Ihrer abstrakten Bilder wurde unlängst bei Sotheby's um vier Millionen Euro versteigert.

Ja, aber es gibt Engländer, die teurer sind, und natürlich die Amerikaner. Rauschenberg lebt noch, Jasper Johns, Twombly, Frank Stella ...

In einem "Spiegel"-Interview sprachen Sie von "wahnwitzigen Preisen" und "einem völligen Mißverhältnis zwischen dem Wert und der Relevanz von Kunst". Die Zeiten seien verdorben. Manchmal kämen Sie sich wie ein Betrüger vor.

Das ist eine Weile her. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt und sehe, wie viel Geld für anderes rausgeschmissen wird, für Kleider, Schmuck, Jachten und dergleichen. Da muß man ja sagen, ich bin viel zu billig.

Sie haben keine moralischen Bedenken mehr.       

Gott, ein bißchen schon, weil ich dieses Schamgefühl immer hatte, diese protestantischen Skrupel. Ich habe so eine Moral im Bauch. Aber ich kann ja die Welt nicht verbessern.

Ihr Bild "Tante Marianne", das Sie 1966 für eineinhalb tausend Euro verkauften, wurde voriges Jahr von einem taiwanesischen Unternehmer für über drei Millionen ersteigert.

Ist doch wunderbar.

Stört es Sie nicht, wenn Ihre Bilder zum Spekulationsobjekt werden?

Nein.

Statt in Aktien wird in Kunst investiert.

Ja, aber das ist alles sehr unsicher. Vielleicht sind die Bilder in zehn Jahren gar nichts mehr wert. Das halte ich für möglich.

Zur Zeit, sagen Sie, würde Ihnen der Markt "jeden Quatsch abnehmen".

So ist es. Die meisten Sammler kaufen nicht, weil sie die Bilder so toll finden, sondern weil ich berühmt bin.

Trotzdem, so schreiben Sie in Ihren "Notizen", haben Sie sich immer als ein Gescheiterter gefühlt.

Hehe!

Von Beckett gibt es den Satz: "Künstler sein heißt zu scheitern, wie kein anderer zu scheitern wagt."

Man scheitert immer, ja. Aber das ist normal. Man muß lernen, daß das Scheitern die eigentliche Arbeit ist. Bei mir hat das lange gedauert, weil ich nicht begriff, daß die Kultur, die ich so hoch hielt, mit Malern wie Caspar David Friedrich, Vermeer, Manet und wie sie alle heißen, meine Götter, vorbei ist und daß ich die gar nicht einholen kann. Gemessen daran war es Pfusch, was ich machte, und so kam ich mir als der einzige Dumme vor. Oft zerstöre ich ein Bild oder übermale es. Es gibt nur eine relative Zufriedenheit, wenn man erkennt, daß dieser sogenannte Pfusch eine Wahrheit hat, die akzeptabel ist.

Sie wundern sich, so steht es in Ihren Aufzeichnungen, "daß die Bilder ab und zu überhaupt etwas Ansehnliches aufweisen, denn im Grunde sind sie alle klägliche Beweise des Unvermögens."

Das stimmt, und das ist nicht kokett gemeint. Ich habe mehr Angst als andere vor jedem Urteil, viel mehr Angst als zum Beispiel Baselitz. Den habe ich immer bewundert für seine Selbstsicherheit. Manchmal fand ich sie ekelhaft, aber im Grunde bewundere ich sie.

Georg Baselitz hat sich über Ihren Zyklus "18. Oktober 1977", der sich mit dem Tod der RAF-Terroristen beschäftigt, extrem abfällig geäußert.

Ach, ja.

Er sagte, sie hätten mit diesen Bildern in Ihrer "Alterssentimentalität oder Alterssenilität zuviel Futter unter das Volk geschmissen".

Das hat mich anfangs verletzt. Im ersten Schrecken fragt man sich: Ist da ein Stück Wahrheit dran? Das tut weh. Aber dann überprüfe ich es Wort für Wort. Das ist ein schmerzhafter Prozeß, bis ich mir schließlich sage, nein, es ist Unsinn, und mit mir wieder ins reine komme.

Warum, glauben Sie, sagt Baselitz so etwas?  

Weil es heute in der bildenden Kunst keine Kriterien gibt, und daher auch keinen Anstand. Als Musiker müssen Sie zumindest die Noten beherrschen, als Schriftsteller wenigstens lesen und schreiben können. Wir müssen nichts können, gar nichts, null. Wir können etwas hinstellen und sagen, es ist Kunst. Das geht in keiner anderen Disziplin.

Aber das war nicht immer so.

Nein, die alten Meister mußten noch etwas können. Da gab es etwas zu lernen. Heute muß man nur eine Idee haben. Man muß nicht einmal zeichnen können.

Die Idee, die Sie berühmt gemacht hat, sind Ihre Ölgemälde, die Sie in altmeisterlicher Manier nach projizierten Fotografien malen.

Ja, das ist doch auch Pfusch. Das sieht aus, als könnte man wunderbar malen. Da­bei ist es kinderleicht. Nach ein bißchen Training schafft das eigentlich jeder.

Was ist denn dann Ihre Leistung?

Das frage ich mich auch.

Sie sind ein komischer Mensch. Ich hoffe, Sie lassen diese Sätze, wenn Sie unser Gespräch autorisieren, so stehen.

Das glaube ich schon.

Die Anregung zu Ihrem ersten abgemalten Foto bekamen Sie durch ein Bild von Brigitte Bardot in einer Zeitung.

So fing es an.

Damals notierten Sie: "Ich hatte die Scheißmalerei satt, und ein Foto abzumalen erschien mir das Blödsinnigste und Unkünstlerischste, das man machen konnte."

So dachte ich.

Sie wollten malen, aber Sie wußten nicht, was.

Ja, man hatte die ganze Geschichte der Malerei im Kopf, diese hohen Werte, aber man merkte, daß man das nicht fortsetzen konnte, denn das wären ja nur Plagiate gewesen, Abkupfereien. Was man stattdessen machen wollte, war unklar. Ein Bild zu malen, Farbe auf Leinwand, war ja damals ganz unmodern.

Neuerdings wird wieder ganz konventionell gemalt. Die sogenannte "Leipziger Schule" um Neo Rauch erzielt Spitzenpreise.

Das Malen wird jetzt wiederentdeckt.       

Gefallen Ihnen die Bilder von Rauch?       

Ich habe da keinen Zugang, aber es ist toll gemacht, wie er die Figuren hinsetzt. Es ist illustrativ, aber gut gemalt.      

Fast surrealistisch.      

Ja, aber was es bedeutet, wird er wohl selbst nicht wissen. Das ist der Sinn der Sache. Es soll originell und geheimnisvoll aussehen.      

Mitte der Siebzigerjahre haben Sie begonnen, abstrakte Bilder zu malen. Neo Rauch sagt, es würde ihn langweilen, abstrakt zu malen, weil nie etwas schiefgehen könne.      

Da hat er recht.      

Sie meinen, abstrakt zu malen, ist leichter?      

Ja, aber eine Qualität zu erreichen, ist nicht so einfach.      

Heute wechseln Sie zwischen den Stilrichtungen. Ihre nach Fotos gemalten Landschaften haben Sie Sehnsuchtsbilder genannt.      

Kann sein. Die abstrakten Bilder haben viel mit Zerstörung zu tun. Man baut auf und zerstört. Das ist harte Arbeit, und in gewissem Sinn ist es auch säuisch. Ich sehe dann ganz verdreckt aus. Bei den Landschaften bleibe ich sauber. Die kann ich beinahe im Anzug malen.      

Sie brauche den Wechsel.      

Manchmal.      

Krieg und Frieden.      

Ja, Krieg und Frieden.      

Fällt es Ihnen schwer, Ihre Gefühle zu zeigen?      

Jetzt nicht mehr so. In meinem Alter sieht man das mehr entspannt. Man wird gelassener.

Es gab eine Zeit, da wollten Sie als jemand dastehen, den nichts berührt.      

Das war mein Ideal, ja. Man konnte es daran erkennen, daß ich vermehrt monochrome Bilder malte, meist in Grau. Das war schon sehr depressiv. Ich war damals arg gefährdet.      

Selbstmordgefährdet?      

Das auch. Aber es wäre vielleicht ein schleichender Selbstmord geworden, mit Medikamenten und zunehmender Lebensunfähigkeit. Ich war nicht mehr ganz dicht im Kopf.      

Sie glaubten, verrückt zu werden.      

Es fing ganz harmlos an. Ich hatte mich im Urlaub in Italien an einem Schilfhalm geschnitten und dachte, ich hätte Wundstarrkrampf ... Aber das möchte ich eigentlich nicht erzählen. Diese Geschichte ist mir zu lecker, zu hübsch.    

Schade.     

Wenn ich das erzähle, heißt es dann, ach, das ist der mit dem Wundstarrkrampf.      

Sie haben sich in psychiatrische Behandlung begeben.      

Ich habe vier Jahre, von 1978 bis 1982, eine Psychoanalyse gemacht. Sicher spielte auch das Ende meiner ersten Ehe eine gewisse Rolle. Aber das war nicht ausschlaggebend. Es ging mir schlecht. Die Analyse hat mir geholfen, ein bißchen stabiler zu werden.     

Der Analytiker brachte Sie dazu, Ihre Gefühle herauszulassen.      

So ungefähr. Man verdrängt ja so vieles.      

Die Kindheit.      

Ja.      

Sie sind während des Krieges in Ostdeutschland aufgewachsen. Ihr Vater  war an der Front. Später haben Sie erfahren, daß es gar nicht ihr richtiger Vater war.      

Nein, es war nicht mein richtiger Vater. Ich kam sieben Monate nach der Heirat meiner Eltern zur Welt. Deshalb sagte man, ich sei ein Siebenmonatskind. Aber ich ahnte schon, daß das nicht stimmte. Sicher erfahren habe ich es erst viel später, in den Neunzigerjahren, als man Genanalysen machen konnte. Da habe ich meine jüngere Schwester gebeten, sich Blut abnehmen zu lassen, und so kam es heraus. Für mich war das eine große Erleichterung, denn ich empfand meinem Pflegevater gegenüber immer so eine Herzlosigkeit, und nun konnte ich das erklären. Sonst hätte ich mich verdächtigt, ein Unmensch zu sein.     

Hat sich durch die Gewißheit auch das Bild, das Sie von Ihrer Mutter hatten, geändert?     

Ich hatte auch meiner Mutter gegenüber immer schon so eine merkwürdige Abneigung, und nun wußte ich auch dafür den Grund. Denn sie hat mich ja beschissen. Sie hat mich belogen.      

Fühlten Sie sich alleingelassen als Kind?      

Ich war in dem Dorf, in dem ich aufwuchs, ein Außenseiter. Wir kamen ja aus der Stadt. Meine Mutter war sehr städtisch geprägt, literarisch gebildet, und hat mir schon, als ich fünfzehn war, Nietzsche und Goethe zu lesen gegeben. Ich habe dann so romantische Gedichte geschrieben und fing früh an, zu zeichnen. Ein gewisses Maß an Beschädigung ist nötig, damit man Künstler wird. Wenn man so allein ist, muß man spinnen.      

Die Kunst war die Rettung.      

Ja.      

Aber die Sehnsucht nach der familiären Idylle blieb.      

Nach einem bürgerlichen Leben, ja. Das habe ich immer angestrebt.      

Ist es nicht gelungen?      

Nicht wirklich.      

Sie sind zum drittenmal verheiratet und haben drei Kinder.      

Vier.      

Vier?      

Ja, eine erwachsene Tochter aus der ersten Ehe und drei Kinder mit meiner jetzigen Frau. Das jüngste, der kleine Theodor, ist zehn Monate alt. Ich könnte sein Urgroßvater sein. Also das ist jetzt auch wieder nicht das Normale. Meine Frau ist siebenunddreißig Jahre jünger als ich. Da habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen, weil ich denke, daß ich ihr etwas nehme oder daß sie mich, wenn ich einmal dahinsieche, pflegen muß. 1998 hatte ich einen Schlaganfall. Zum Glück ist es gut ausgegangen, weil mein Assistent in der Nähe war und gleich den Notarzt rief. Nur ein Finger an der rechten Hand ist etwas steif geblieben.      

Wie alt wollen Sie werden?      

Wenn ich gute Laune habe, denke ich, ich schaffe es bis Ende achtzig, und in einem Anfall von Größenwahn kann ich mir sogar vorstellen, zweiundneunzig zu werden. Ich finde diese zeitliche Begrenztheit schlimm. Es ist eine Unverschämtheit. Wenn ich mit anderen zusammen bin, merke ich es nicht. Aber dann gehe ich an einem Spiegel vorbei und erschrecke, denn da sehe ich plötzlich: Es ist ein kleiner alter Mann, der da steht.      

Hauptsache, der Geist bleibt frisch.      

Wer weiß! Über den geistigen Verfall mache ich mich mit meiner Sekretärin oft lustig. Wenn ich etwas vergesse, sage ich, aha, es geht los! Alzheimer! Das hilft.     

Fürchten Sie, Ihr Alterswerk könnte mittelmäßig werden, ohne daß Sie es merken?      

Das wird automatisch mittelmäßig. Da kann man nichts machen. Picasso hat bis ins hohe Alter gemalt. Seine Vitalität fand ich toll. Aber seine späten Bilder finde ich nicht so gut. Vielleicht gelingt es mir, mich zu bescheiden und nur noch kleine Aquarelle zu malen.      

Picasso nannte das Malen "eine Art Tagebuch".      

Ah ja?      

Auch an Ihren Bildern kann man ablesen, in welcher Stimmung Sie gerade sind.      

Ja, wie ich mich fühle.      

1995 haben Sie das Glück Ihrer dritten Ehe in dem Bilderzyklus "S. mit Kind" dokumentiert. Ihre Frau Sabine hält Ihren ersten Sohn Moritz im Arm, der damals ein Säugling war. Doch die heile Welt erscheint trügerisch. Mit einer einzige Ausnahme haben Sie die Bilder nachträglich so bearbeitet, daß sie wie zerstört aussehen.

Ja, denn die gibt es ja nicht, die heile Welt.      

Warum haben Sie ein Bild aus der Serie unbeschädigt gelassen?      

Weil es schon so genug schrecklich war mit diesem Rosa, das fast ins Violett geht, dieser beängstigenden Süße und den Ärmchen, die an Contergankinder erinnern. Wir sind doch alle erschreckend. Dazu fällt mir ein, was Thomas Bernhard in dem Interview, das Sie mit ihm führten, gesagt hat: Die Frauen glauben, sie bekommen ein süßes Baby. Doch in Wahrheit bekommen sie einen Erwachsenen, einen stinkenden, häßlichen Erwachsenen. Den bringen sie auf die Welt.      

Ja, aber den sehen sie nicht, sagt Bernhard, damit die Natur sich weiter durchsetzt.      

Ja, damit es weitergeht.      

Bernhard sagt auch, wir müssen das Scheitern wollen, damit wir vorwärts kommen.      

Soweit bin ich noch nicht. Denn wenn ich ein Bild beginne, muß ich doch wenigstens die Hoffnung haben, daß es gelingt. Ich muß daran glauben. Ich muß sogar glauben, daß ich die Welt damit verändern kann. Denn sonst wäre es doch eine fatale Idiotie, diesen Quatsch zu malen.      

Wie sähe eine Welt aus, die Ihren Wünschen entspricht?      

Wir müssen Herr werden über das Verbrecherische. Wir müssen das domestizieren. Der Mensch ist zu neunundvierzig Prozent schlecht und zu einundfünfzig Prozent gut. Wir müssen das Schlechte beherrschen. Ich ärgere mich schwarz, wenn ich die Zeitung aufschlage und lese, da wurde wieder ein Kind umgebracht oder eine Frau vergewaltigt, und die Täter werden nur mangelnd bestraft. So kann man das Böse im Menschen nicht zähmen.

Das Böse in uns.      

Ja.      

Haben Sie Mordphantasien?      

Ich habe manchmal so Tagträume, in denen ich mir vorstelle, jemanden zu mißhandeln oder totzuschlagen, so aggressive Phantasien. Da frage ich mich dann, he, was soll das? Wie kommst du darauf? Aber diese Aggressivität ist ja ein wunderbares Potential für die Kunst. Da kann man das sublimieren. Es sollte jeder Kunst machen. Dann würde die Welt immer besser.      

Was wäre der Inhalt dieser Kunst?     

Das weiß ich nicht.      

Ihre Bilder über die RAF hätten Sie in einer Welt, in der das Böse fehlt, nicht malen können.      

Die brauche ich doch nicht zu malen. Die hätte ich liebend gern nicht gemalt.      

Dann würden Sie nur noch Blumen malen?      

Ja, oder gar nichts. Ich brauche doch keine Verbrecher, um Stoff für meine Bilder haben. Dann höre ich eben auf, oder ich erfinde etwas. Wir erfinden in den Horrorfilmen pausenlos die schauderhaftesten Morde.      

Aber Sie können doch nicht aus dem Nichts etwas erfinden.      

Nein, aber es reicht ja der Wunsch oder der Trieb, jemandem zum Beispiel ganz langsam den Kopf zu durchbohren. Man braucht das nicht auszuführen. Die Grausamkeit in den Konzentrationslagern war so furchtbar, daß es gar keinen Spaß macht, das zu beschreiben oder zu malen. Ich habe Berichte und Bücher darüber. Die kann ich kaum lesen. Aber es gibt doch die herrlichsten erfundenen Gruselgeschichten.           

Ja, als Spiegel der Wirklichkeit.      

Meinen Sie, das Böse muß es geben, damit es das Gute gibt?      

Natürlich. Denn das Positive ist gar nicht denkbar ohne das Negative, das Schöne nicht ohne das Häßliche.      

Das heißt, ich wüßte nicht, daß ich schön wohne, würden alle so wohnen wie ich?      

Ja, sicher.      

Man könnte doch in den Geschichtsbüchern lesen und sehen, wie ärmlich die Menschen früher lebten.      

Elend gibt es auch heute genug. Sie sind reich, weil andere arm sind. Ohne Armut kann es Reichtum nicht geben.      

Dann gäbe es eben das Wort "reich" nicht mehr.       

Sie denken ganz unlogisch. Sie sind ein Kind geblieben.      

Sie halten mich für kindisch?      

Sie wünschen Unmögliches.      

Das Paradies.      

Sie sind ja ein Kommunist!      

Haha, ja, die Kommunisten wollten das.     

Das ist noch ...      

... in mir drin, ja. Es gab nach dem Krieg eine Zeit der Utopien, die aufgrund der Vergangenheit, der Trümmer und durch all das Grauen, das man erfuhr, entstanden. Aber ich weiß natürlich, daß es unmöglich ist, ein Paradies zu erschaffen. Nur so idiotisch wie jetzt muß es doch nicht zugehen.

Welche Erinnerungen haben Sie an den Krieg?      

Ich war ein Kind und empfand das als spannendes Abenteuer. Wir haben mit gefundenen Karabinern im Wald auf Bäume geschossen. Als die Flüchtlings-Trecks aus dem Osten durch unser Dorf nach Westen zogen, habe ich mir einen Leiterwagen zurechtgeschnitzt mit einer Plane darüber und mir vorgestellt, wie toll es wird, wenn wir jetzt auch flüchten müssen. Es war ein Spiel. Die Schützengräben und die Tiefflieger, die auf die Flüchtlinge schossen, das fand ich super. Einmal ging ich in das Dorfgasthaus, das hatte einen großen Tanzsaal, der war voll mit deutschen Soldaten, die sich ausruhten, die lagen da auf dem Boden, und einer fragte mich: "Na, Junge, was willst du denn einmal werden?" Und ich antwortete: "Soldat!" Und er sagte: "Du solltest von mir eigentlich eine in die Fresse kriegen."      

Das hat Ihnen zu denken gegeben?      

Ja, das vergesse ich nie. Das war das erste Mal, daß ich merkte, es ist kein Spiel.      

Wurde das Dorf bombardiert?      

Nein, aber man hörte so ein schwaches Donnern, als die Bomben auf Dresden fielen, das hundert Kilometer entfernt lag. Der Tod war natürlich ein Thema. Man wußte ja nicht, ob der Vater zurückkommt. Ich erinnere mich, daß in der Nachbarschaft eine Frau die ganze Nacht schrie, weil sie den Brief bekommen hatte, in dem stand, daß ihr Mann gefallen war. Das war schauerlich.     

Dann kamen die Russen.      

Ja, da wurde es auch nicht besser.

Stimmt es, daß Ihre Mutter von einem russischen Soldaten vergewaltigt wurde?      

Ja.

Das wußten Sie?      

Ja. Ich habe es nicht miterlebt, weil ich gerade im Wald war. Aber als ich wiederkam, sah ich die betretenen Gesichter, und dann hat man mir alles haarklein erzählt. Ein russischer Offizier sei hochgekommen mit einem Rekruten. Man hat ihm Uhren und alles mögliche hingestreckt. Aber das half nichts. Die Mutter wurde herausgefischt und aus der Küche ins Schlafzimmer gebracht. Zuerst dachte man, der Offizier wolle etwas. Aber der hat zu dem Jungen gesagt, er soll das jetzt lernen. So war das.      

War es schrecklich für Sie?

So richtig schrecklich war es eigentlich nicht.

Wann haben Sie zum erstenmal eine Leiche gesehen?

In Zittau, auf dem Bahnhof. Ein junge Frau warf sich vor den Zug. Die Leute schrieen auf ...

Jetzt haben Sie Tränen in den Augen.

Ja, das tut mir heute noch weh. Ich wundere mich selbst, daß meine Augen feucht werden. Ich weiß nicht, warum. Ich habe das öffentlich noch nie erzählt.

Der Tod hat Sie erschreckt.

Ja, schon als Kind. Ich weiß noch, als mein Großvater gestorben war, sollte ich mit zur Beerdigung gehen, der war da aufgebahrt. Aber ich habe mich geweigert. Ich hätte mich erschlagen lassen. Ich wollte das nicht sehen. Da war ich elf, und ich hatte schon damals eine mörderische Angst vor dem Tod.

Was ist der Tod?

Das Ende.

Und was kommt danach?

Nichts. In gewisser Weise gibt es jetzt das Weiterleben durch meine Kinder. Das ist ein tröstlicher Gedanke.

Sie sind christlich erzogen worden, aber Sie haben sehr früh Ihren Glauben verloren. Später nannten Sie die Kunst Ihre Religion.

Das würde ich heute nicht mehr so sagen. Die Kunst ist ein Lebensmittel. Wir brauchen sie, um Mensch sein zu können. Es gib nichts Wichtigeres als die Kunst. Die Politiker vergißt man, außer es waren Verbrecher, böse Figuren. Die Künstler vergißt man nicht.

"Die Politiker" schrieben Sie 1983, "sind grundsätzlich ekelerregend, impotent und unfähig, nicht imstande irgendetwas herzustellen, weder ein Brot noch einen Tisch noch ein Bild, und diese Unfähigkeit, irgendeinen Wert zu schaffen, diese totale Minderwertigkeit, macht sie eifersüchtig, rachsüchtig, anmaßend und lebensgefährlich."

Das habe ich geschrieben?

Ja, und sogar publiziert.

Ein bißchen geniere ich mich heute dafür.

Stimmt es nicht?

Wahrscheinlich dachte ich, Politiker müssen sich zu allem äußern, und jedesmal ist es oberflächlich.

Am schärfsten attackieren Sie die Kunstfeindlichkeit der heutigen Politiker, die sich "ganz besonders niederträchtig bei den Kunstinteressierten" zeige.

Die sind die übelsten, ja.

Gerhard Schröder zum Beispiel?

Mit dem habe ich einmal Abendbrot gegessen. Der liegt mir überhaupt nicht, kein bißchen.

Jörg Immendorff hat von ihm ein Porträt in Gold gemalt.

Einen Politiker zu malen, habe ich immer abgelehnt. Als ich einmal Johannes Rau malen sollte, habe ich gesagt, es gibt Fotografien, das wäre zeitgemäßer.

Aber den Staatsauftrag für das Berliner Reichstagsgebäude haben Sie angenommen.

Das ist etwas anderes. Das hat mich interessiert.

Sie haben ein spiegelndes Hochformat gemalt, das die deutsche Nationalflagge zeigt.

Ja, aber das hat mir nur Ärger gebracht. Die damalige Bundestagspräsidentin, Frau Vollmer, sagte, das sei Scharlatanerie, das habe mit Kunst nichts zu tun.

Ursprünglich planten Sie, eine alte Idee wieder aufzugreifen...

Sie meinen die KZ-Fotos.

Ja, Sie wollten eine Bilderserie mit den Toten und den zu Skeletten abgemagerten Überlebenden in den Reichstag hängen.

Ich habe es versucht. Es war mein erster spontaner Gedanke, daß man da so etwas Ernstes machen muß, aber im Verlauf der Arbeit habe ich gemerkt, ich liege falsch. Ich wußte nicht, was ich zu den Fotos, die ja schon an sich eine ganz starke Wirkung hatten, dazutun könnte. Es hatte formale Gründe, und es wäre mir auch wie ein Mißbrauch vorgekommen, hätte ich diese Bilder da hingehängt, so als nehme ich dieses Thema und mißbrauche es, um ein Spektakel zu erzeugen und mich wichtig zu machen. Ich gehöre ja nicht zu den Mahnern, die immer wieder daran erinnern, was für Schweine die Deutschen sind, weil sie solche Verbrechen begangen haben. Es wäre nur eine makabre Dekoration geworden.

Der Kulturphilosoph Klaus Theweleit hat Ihnen im Zusammenhang mit dem RAF-Zyklus vorgeworfen, Sie hätten dieses Thema parasitär benutzt, "um im Focus des öffentlichen Interesses zu bleiben".

Das ist Unsinn, denn das sind ja keine Bilder für ein staatliches Gebäude, sondern die werden, wenn ich Glück habe, im Museum gezeigt. Die muß man nicht anschauen.

Warum haben Sie diese Bilder gemalt?
  
Weil sie mich ganz persönlich betrafen. Ich hatte ja in der Kunstszene nur mit Linken zu tun, auch meine zweite Frau gehörte dazu, und da wurde über diese Leute, Baader, Meinhof, Ensslin und so weiter, viel diskutiert. Meine Freunde waren alle Marxisten, und ich stand außerhalb. Ich war der Bürgerliche.

Sie waren aus der DDR geflohen, weil Sie, Zitat, "dem verbrecherischen Idealismus der Sozialisten" entkommen wollten.

Ja, und nun war ich im Westen von diesen Salonlinken umgeben. Das war für mich furchtbar.

Warum sind Sie in diesen Kreisen geblieben?
  
Weil das die einzigen waren, die sich für Kunst interessierten. Ich hatte keine Wahl. Ich mußte mir das linke Geschwätz ständig anhören und zanken. Es gab auch manchmal so spitze Bemerkungen. Man unterhielt sich über mich, und dann sagte jemand, der liest ja sogar Thomas Mann. Ich habe die RAF-Bilder gemalt, um das Thema auf meine Art zu erledigen.

Sie zeigen die Leichen der Terroristen, die sich in ihren Gefängniszellen umgebracht haben ...

Ja, das Scheitern.

Und Sie empfanden, so sagten Sie, "eine gewisse Sympathie für diese Leute und ihren verzweifelten Willen zur Änderung".

Habe ich wirklich von Sympathie gesprochen?

Ja, 1990 in einem Interview.

Dann bin ich also ein Sympathisant!

Sie konnten die Motive verstehen.

Ja, daß man gegen diese Welt, so wie sie ist, revoltiert, das kann ich verstehen, wahrscheinlich, weil ich es nicht könnte. Man bewundert ja oft an anderen, was man selbst nicht kann.

Sie sind kein Kämpfer.

Nein, dazu bin ich ein bißchen zu feig. Ich stehe nicht gern an der Front.

Aber in Ihnen tobt ein Vulkan.

Das glaube ich nicht.

Sie sollten einmal lesen, was Sie alles geschrieben haben.
  
Das muß man nicht wörtlich nehmen.
  
Die Linksintellektuellen nannten Sie "blasiertes Gesindel".

Ja, diese Typen gab's ja, die sich nicht eingestehen konnten, daß sie mit ihren Ansichten falsch lagen. Die wollten auch gar keine deutsche Wiedervereinigung, vor allem keine westliche.

Auch gegen die Kunsthochschulen und den Kunstbetrieb haben Sie schriftlich gewütet.

Das habe ich meist nachts geschrieben, wenn ich sauer war, weil ich nicht schlafen konnte.

Ich zitiere: "Wir haben mehr als ein Dutzend solcher Hochschulen in der Bundesrepublik, an denen die schlechtesten aller Künstler als Parasiten hausen und ihr Beisammensein zu einem System von Unzucht und Langeweile aufblasen."

Daran kann ich mich gar nicht erinnern.

Sie meinen die Kunstprofessoren. Aber Sie lehrten ja selbst zweiundzwanzig Jahre lang an der Akademie in Düsseldorf.

Na ja, man macht mit. Deshalb schimpfe ich so.

Auf sich selbst?

Auch.

Die Ausstellungsmacher bezeichnen Sie als "Teppichhändler und Zuhälter", die staatliche Kunstförderung als einen "Beitrag zur Kunstverhinderung und Kunstvernichtung".

Das sehe ich heute anders. Denn das ist eine blühende Industrie geworden, die Arbeitsplätze schafft, eine andere Form von Disneyland, die wir uns leisten können. Es wäre doch schlimmer, wenn wir arm wären. Denn dann würde man die nutzlosen Alten, wie es bei manchen Urvölkern üblich war, auf die Bäume hetzen und so lange schütteln, bis die Schwächsten herunterfallen und sich das Rückgrat brechen. Da wäre ich auch schon tot.

Besonders heftig wetterten Sie gegen die sogenannten "Jungen Wilden", die Anfang der Achtzigerjahre mit spontan hingeworfenen Malereien Aufsehen erregten.

Ja, weil das meine Konkurrenten waren, und weil es mir Unbehagen bereitete, zu sehen, wie so viel Dummheit aufblühte, die auch noch honoriert und gefördert wurde.

Heute weiß man: Sie haben recht behalten.

Ja, man kennt kaum noch die Namen. Wer hat denn diese Willy-Brandt-Skulptur im Berliner SPD-Haus gemacht?

Rainer Fetting.

Den habe ich im "Spiegel" angegriffen, und er hat sich etwas hilflos gewehrt.

 
Sie sagten, die Skulptur sehe wie ein Zombie aus, aber darüber wage niemand, sich zu beschweren, sondern man stelle sich blind, weil man nach der Diffamierung der modernen Kunst durch die Nazis nicht als Banause dastehen wolle, der faschistische Töne anschlägt.

Ja, diese Keule wurde geschwungen. Da schwieg man lieber.

Was lassen Sie heute neben sich gelten?

Immer mehr.

Darf ich vorlesen, was Sie 1985 über Anselm Kiefer geschrieben haben?

Diese Schimpferei bringt doch nichts. Das ist sinnloses Zeug.

Sie schrieben, was Kiefer mache, sei "formloser Schmutz als gefrorene, breiige Kruste, ekelerregender Dreck, illusionistisch einen Naturalismus erzeugend".

Ja, aber inzwischen bewundere ich seine Besessenheit und die Kraft, mit der er seine gigantischen Projekte durchzieht. Es ist irre. Unglaublich!

Sie sind altersmilde geworden.

Vielleicht. Früher war ich aggressiver. Da gab es auch noch so eine gewisse Militanz unter Kollegen. Heute ist man tolerant, beinahe desinteressiert. Man sagt, der eine macht es so, der andere so. Wichtig ist nur, daß es verkauft wird. Das einzige, was zählt, ist die Wertsteigerung.

Davon haben auch Sie profitiert.

Ja, ist doch schön! Ich muß ja von etwas leben, und so ganz uninteressant ist es ja nicht, was ich mache. Ich behaupte nicht, daß es gut ist. Aber man muß das in Relation dazu sehen, was es sonst alles gibt. Ich habe mir angewöhnt zu sagen, daß ich großes Glück hatte und daß ich dankbar bin.

Wem?

Niemanden oder dem Zufall. Ich nenne es Zufall. Ich habe kein anderes Wort dafür.

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Unveröffentlicht

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