Das Schreien



Warum schreit der Mensch? Ist nicht alles Reden und Schreiben nur ein gebändigtes Schreien? „Wir sind in Kommunikation gehüllt“, sagt der französische Philosoph Georges Bataille. „Wir sind auf diese unaufhörliche Kommunikation angewiesen, deren Fehlen wir bis in die tiefste Einsamkeit hinein als Suggestion zahlreicher Möglichkeiten, als die Erwartung eines Augenblicks erfahren, in dem sie zu einem Schrei wird, den andere hören.“

Marcel Reich-Ranicki konnte in seinen glänzendsten Momenten das Schreien nur mühsam bändigen. Aber man verstand jedes Wort. Er schrie gleichsam druckreif. Müssen wir nun befürchten, daß ihm, dem durch Martin Walsers Tod eines Kritikers tief Verletzten, die Stimme für immer versagt? Ich wünsche mir, daß er die gewohnte Form wiederfindet. Denn ich habe mich in seinen Ausbrüchen, die ich für Verzweiflungsausbrüche hielt, gespiegelt gesehen.

In einem Interview, das er mir im September 2000, nachdem er Sigrid Löffler aus dem Literarischen Quartett vertrieben hatte, in seiner Frankfurter Wohnung gab, wollte er nur über eines sprechen: den in Deutschland grassierenden Antisemitismus, unter dem er zu leiden habe. Darauf war ich nicht vorbereitet. „Einer der zentralen Fragen meines Lebens haben Sie sich noch nicht mal genähert“, dröhnte er, „Sie haben keine Ahnung!“ Löfflers Schmähung des von ihm vorgeschlagenen und gelobten Romans Gefährliche Geliebte von Haruki Murakami nannte er einen "Haßausbruch". Warum Löffler ihn hasse, fragte ich.

Reich-Ranicki: "Das fragen Sie? Mich haben viele Menschen in meinem Leben gehaßt. Soll ich Ihnen erklären warum?"

"Weil Sie ihre Bücher verrissen haben."

"Ach, nur deshalb?"

"Die anderen Gründe kenne ich nicht."

"Wenn Sie nachdenken, werden Sie die anderen Gründe finden."

"Weil Sie laut sind."

"Das ist wahrscheinlich ein Symptom. Daß ich laut bin, ist nur ein Symptom. Sie wollen, daß ich Ihnen erkläre, warum mich viele Leute nicht leiden können..."

"Sie meinen doch nicht, weil Sie Jude sind?"

Ich wollte es nicht glauben. Meine Bestürzung war nicht gespielt. Daß dieser alte, vitale Mann, der seine Angehörigen im Holocaust, den er mit Glück überlebte, verloren hatte, sich bis heute von Judenhassern umgeben fühlte, machte mich sprachlos. "Das wäre ja schrecklich", murmelte ich. Aber ich bin Interviewer. Ich mußte die Sprache wiederfinden. "Können Sie sich vorstellen", fragte ich, "daß Sie den Leuten vielleicht aus anderen Gründen auf die Nerven gehen?"

"Ach bitte", flehte der Kritiker, den man Papst nennt, mit der ihm eigenen, ihn schützenden, ihm zum Schutzschild gegen das unauslöschliche Grauen gewordenen Theatralik, "verlangen Sie nicht von mir, daß ich mir etwas vorstelle! Ich habe keine Lust, mir etwas vorzustellen. Das kommt mir so vor, als wolle mir jemand an die Gurgel, und Sie fragen: Können Sie sich vorstellen, daß der Mensch Gründe hat? Er ist vielleicht aufgeregt. Er hat mit seiner Frau Krach gehabt. Er muß sich entladen." "Aber warum tut er das ausgerechnet bei Ihnen?" bohrte ich. "Weil ich auffalle!" schrie Reich-Ranicki. "Wenn ich ruhig zu Hause säße, wäre meine Lebenssituation eine andere. Aber ich publiziere Kritiken, und zwar nicht in irgendeiner Literaturzeitschrift, sondern im Spiegel, in der FAZ. Ich trete im Fernsehen auf." "Ihr Schreien hat mit Verzweiflung zu tun", sagte ich.

Da wurde er leise. Fünf Stunden hatte er auf mich eingebrüllt, mich einen begriffsstutzigen, dummen Menschen genannt, eine "Katastrophe als Interviewer". Nun hörte er auf zu schreien. Beinahe unhörbar tröpfelten die Worte ins Mikrophon:

 "Vielleicht, ja, vielleicht hat es damit zu tun, denn ich habe jahrelang schweigen müssen. Ich habe jahrelang mit meiner Frau, als wir im Verborgenen lebten, nur flüstern können..."

"Haben Sie es je verflucht, ein Jude zu sein?"

"Nein, ich hab es nicht verflucht. Aber wenn sich meine Ururgroßeltern hätten taufen lassen, und ich als Nichtjude geboren wäre und gar nicht gewußt hätte, daß da irgendwelche Vorfahren Juden waren, ooohhh..."

"Das wäre Ihnen lieber gewesen."

"Oh Gott, wie viel lieber wäre mir das gewesen! Fragen Sie einen Schwulen, ob er nicht lieber als Nicht-Schwuler geboren wäre! Fragen Sie jeden Angehörigen einer Minderheit! Es ist nicht angenehm, einer Minderheit anzugehören. Das kann ich Ihnen mit voller Verantwortung sagen. Es ist schon viel bequemer, nicht einer Minderheit anzugehören..."

Später erzählte er mir einen Witz: "Es gibt doch diesen Witz, da sagt ein Jude: Lieber Gott, du hast unser Volk auserwählt, es reicht, jetzt wähl dir mal ein anderes aus."

Ja, er konnte noch Witze erzählen. Heiter lud er mich zum Abendessen in sein Stammlokal ein. Ungeniert flirtete er mit der jungen Fotografin, die mich begleitete. Seine Frau mit dem schlohweißen Haarkranz, der ihr feines Gesicht wie ein fernes Leuchten umrahmt, ging wortlos voraus. Er hat sie im Warschauer Getto kennengelernt. Sie blieb seine Schicksalsgefährtin. Zuvor, als ich ihn gefragt hatte, ob ich sie, die stumm neben ihm saß, etwas fragen dürfe, hatte er noch gedonnert: "Nein, dürfen Sie nicht! Hören Sie zu! Hören Sie zu, was ich sage!" Ich hatte aber den Blick nicht von ihr wenden können. Ihr betörendes Lächeln, hinter dem sich ein Geheimnis verbarg, das er nicht lüften wollte, hatte mich alle Vorsicht vergessen lassen. "Ich schaue dauernd Ihre Frau an, während Sie sprechen", hatte ich gesagt. Da sprach er diesen schrecklichen Satz, schrecklicher als alle Verrisse: "Dann muß ich sie rausschmeißen." Die Frau aber lächelte.

Nach dem Essen, Pfifferlingen mit Ei, die er nach jedem Hinunterschlucken genüßlich lobte, und zwei Gläsern Wein, die ihn, der zugibt, daß er nicht viel verträgt, leicht berauschten, sagte die Frau: "Ich habe einen Mann, der viel redet. Deshalb schweige ich." Er war nun milde gestimmt. "Schreiben Sie", diktierte er mir, als ich ihn fragte, was er an diesem Abend noch vorhabe, "ich freue mich auf das Lächeln meiner Frau."

Ohne sie, behaupte ich, würde er nicht mehr leben. Daß sie, die Gleichaltrige, vor ihm sterben könnte, daran will er nicht denken. Ich hatte die Frage gewagt, ob er Angst davor hätte. "Darüber möchte ich mich nicht äußern", hatte er mit dem letzten Rest von Selbstkontrolle hervorgestoßen. "Schluß! Weiter!" "Darüber können Sie sich in Ihren wohlgeformten Sätzen vielleicht gar nicht äußern", hatte ich tollkühn hinzugefügt. Da hatte mich sein Blick, befehlend und bettelnd zugleich, angesprungen: "Sie! Lassen Sie das Thema in Ruhe! Bitte!" "Sie würden weinen", hatte ich tonlos erwidert.

Das Weinen, die Kehrseite jenes Gelächters, an das Novalis dachte, als er notierte, Verzweiflung sei "am fürchterlichsten witzig", hätte ihn vielleicht von dem Schmerz erlöst, den er in seiner Lautheit ertränkt. "Die menschliche Existenz", schreibt Bataille in Die Literatur und das Böse, "ist in uns, an ihren periodisch neuralgischen Punkten, nur noch ein Schreien, qualvoller Krampf, unbändiges Lachen, in dem die Übereinstimmung aus der endlich geteilten Überzeugung von der Unergründlichkeit unserer selbst und der Welt erwächst." Als Fußnote fügt er hinzu: "Es ist mir nicht möglich, auf den tiefsten Aspekt der Kommunikation einzugehen, die paradoxe Bedeutung der Tränen. Ich möchte jedoch anmerken, daß die Tränen wohl den Höhepunkt kommunikativer Gemütsbewegung und der Kommunikation darstellen."

Heute scheint mir, ich war an jenem Septemberabend 2000 von dem irrwitzigen Wunsch erfüllt, diesen Höhepunkt zu erreichen. Ich wollte Marcel Reich-Ranicki zum Weinen bringen. Er aber tobte: "Sie wollen, daß ich mir den Tod meiner Frau vorstelle? Ich finde das bestialisch, und ich werde Sie noch rausschmeißen aus dieser Wohnung. Dazu werden Sie es noch bringen. Weiter! Next question!"

Ein heiliger Zorn trieb ihn an. "Sie sind ein schrecklicher Mensch", sagte er, "ein abscheulicher Mensch, ein furchtbarer Mensch!" Ich war ihm nicht böse. Ich kann diesem gepeinigten Mann im Greisenalter nicht böse sein. Ich habe Respekt vor seiner Vergangenheit. Vielleicht ist das nur möglich, weil ich seiner Allmacht als Literaturkritiker nicht unterworfen bin. Aber ist ihr Walser, der sich der hohen Verkaufszahlen seiner von Reich-Ranicki verrissenen Bücher rühmt, unterworfen? Er kann schreiben, was er will. Es wird gedruckt. Was will er mehr? Mir ist die Märtyrerpose dieses Erfolgreichen unverständlich. Geschmacklos aber wird jene Pose, wenn er verkündet, er spiele mit dem Gedanken, aus Deutschland (ausgerechnet ins Haiderland Österreich) auszuwandern.

Da war mir Peter Handkes unverblümter Haß lieber. In einem Gespräch, das ich vor Jahren an einem sonnigen Herbstnachmittag mit ihm führte, verriet mir der Dichter: "Was in der Literatur herumkrabbelt, das möchte man alles vernichten." In seiner Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire gebe es "ein langes Kapitel über den Kerl aus Frankfurt, wo er als Hund auftritt". Das habe ihm "unglaubliches Vergnügen" bereitet. Ich sagte: "So sehen Ihre geheimen Triumphe aus." "Ja", antwortete Handke, "die linken Sachen mache ich im Vorübergehen, wie Stars das machen. Im Vorbeigehen geben sie dir einen kleinen Tritt. Niemand sieht es, aber der, der den Tritt bekommt, spürt es schon."

Einen kleinen Tritt? Man muß das zitieren: "Vor mir, hinter dem Zaun, stand ein großer Hund - eine Doggenart -, in dem ich sofort meinen Feind wiedererkannte... Sein Körper wirkte bunt, während Kopf und Gesicht tiefschwarz waren. 'Sieh dir das Böse an', dachte ich. Der Schädel des Hundes war breit und erschien trotz der hängenden Lefzen verkürzt; die Dreiecksohren gezückt wie kleine Dolche. Ich suchte die Augen und traf auf ein Glimmen. In einer Brüllpause, während er um Atem rang, geschah nur das lautlose Tropfen von Geifer... Sein Leib war kurzhaarig, glatt und gelbgestromt; der After markiert von einem papierbleichen Kreis; die Rute fahnenlos... Im Blick zurück auf den Hund sah ich, daß ich gehaßt wurde. Doch zu sehen war auch die Qual des Tiers, in dem sich gleichsam etwas Verdammtes umtrieb..."

Welche Qual? Handke läßt keinen Zweifel: "Er, der Wachhund, im Gelände, und ich im Gefilde... und der Stacheldraht zwischen uns..., durch den hindurch ich, geistesgegenwärtig und tagträumend zugleich, den Feind betrachtete, wie er in seiner von dem Getto vielleicht noch verstärkten Mordlust jedes Rassenmerkmal verlor und nur noch im Volk der Henker das Prachtexemplar war." Man kann das nicht mißverstehen.

"In eine schlimmere Situation als jene, in der ich mich im Warschauer Getto während des Zweiten Weltkriegs befand, bin ich nie mehr gekommen", sagte mir Marcel Reich-Ranicki im Interview, "und kann ich auch nicht mehr kommen, es sei denn, in meiner Todesstunde." Dieser vom Schicksal Versehrte, dieser gottlose Wüterich will um jeden Preis auffallen, weil er sich nur lebendig fühlt, wenn man ihn hört. Aber wen hat er hingerichtet? Auch Peter Handke erfreut sich anhaltenden Ruhms. Der Literaturbetrieb ist kein Richtplatz und keine Mörderschule. Kein Dichter wird den verhaßten Rezensenten erschießen. Man will ihn nur zum Verstummen bringen. Doch wenn einer, der nur überlebt, weil er schreit, verstummt, ist er tot.

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Erschienen am 13. Juni 2002 in der Züricher "Weltwoche"