Zum Tod von Ingmar Bergman

(Erinnerung an ein Interview)



Er konnte nicht lächeln. Ingmar Bergmans Physiognomie ließ ein über das ganze Gesicht sich ausbreitendes, es öffnendes Lächeln nicht zu. Wir saßen einander in einem spartanisch möblierten Hotelzimmer in München gegenüber. Der Fotograf, der mich begleitete, durfte zu Beginn ein paar Fotos schießen. Darauf sieht man: Bergmans zu den Schläfen hin schräg abfallende Augen, wie verhangen hinter einem Schleier von Traurigkeit, konterkarieren die durch den lächelnden Mund sich ausdrückende Absicht.

Es sind die Augen eines Einsamen, der ein Leben lang darum kämpfte, seiner Einsamkeit zu entfliehen. Er sagte es so: "Mein ganzes Leben als Künstler ist der Versuch, in Kontakt zu anderen Menschen zu kommen, also diese Alleinigkeit zu verlassen." Er sagte nicht "Einsamkeit". Der ungeschliffene Umgang mit der fremden Sprache verwischte diesen entscheidenden Unterschied. Denn allein war der damals zum fünftenmal Verheiratete nie gewesen.

Seine Frau Ingrid stellte stumm Mineralwasser und zwei Gläser auf den kniehohen Tisch.

"Meine Frau ist meine Sekretärin", sagte Bergman und lachte.

Sein Lachen war schallend. Er hatte die schlimmste Katastrophe seines Lebens gerade hinter sich. Am 30. Januar 1976 war er wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung während einer Probe im Stockholmer Königlichen Theater von der Polizei abgeführt worden. In der Haft hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten und versucht, sich das Leben zu nehmen. Obwohl der Verdacht sich als unhaltbar erwies, mied Bergman fünf Jahre lang seine schwedische Heimat, inszenierte am Münchner Staatsschauspiel und drehte unter anderem die Filme "Das Schlangenei" und (in Norwegen) "Herbstsonate".

Mein Interview mit ihm, das ich für die Münchner "Abendzeitung" führte, war das erste, das er nach seiner Emigration einer Zeitung gewährte. "Warum akzeptieren Sie die Einsamkeit nicht?", fragte ich. Darauf folgte, als hätte ich etwas vollkommen Verrücktes gefragt, sein zweiter Lachanfall. "Ich glaube", sagte er, sich kaum beruhigend, "die akzeptiert niemand, niemand in der Welt. Gott im Himmel! Jedes Kind ab vier Jahren weiß doch, dass es diese menschliche Isolierung, diese Einsamkeit gibt. Und jedes menschliche Wesen strebt danach, sie zu verlassen und etwas zu finden, um da herauszukommen. Glauben Sie nicht?"

Er saß vorgebeugt. Sein verschleierter Blick, sah ich jetzt, war ein Kinderblick. Mit seinen feingliedrigen Händen gestikulierend, unterstrich er die Sätze, die er mir auf das Tonband sprach.

"Ich versuche mit meinen Filmen und meinen Inszenierungen, wenigstens in mikroskopischen Graden, die Welt besser zu machen, verstehen Sie? Ganz mikroskopisch. Danach strebe ich mein ganzes Leben, und das mache ich nur aus egoistischen Gründen. Das ist eingebaut in meine... Wie sagt man? Maschine."

Über seine Lippen huschte wieder jenes verunglückende Lächeln.

"Ich bin Regisseur, warum sind Sie Journalist?" "Das kann ich jetzt nicht...", murmelte ich. "Warum denn nicht?", fragte er.

Da schaltete ich kurz das Tonband aus. Ein Interviewer, der plötzlich vom Interviewten befragt wird, noch dazu von einem, den er so verehrt wie ich damals, knapp dreißig, Ingmar Bergman verehrte, verliert die Fassung. Seine Filme hatten meine Pubertät erleuchtet und zugleich verdunkelt wie ein Gewitter. Versteinert hatte ich, fünfzehnjährig, in der letzten Reihe des Wiener "Urania-Kinos" auf die Vergewaltigungsszene in "Die Jungfrauenquelle" gestarrt. Nein, hatte ich gedacht, nein, das will ich nicht sehen! Danach war ich durch die nächtlichen Straßen geirrt, bis der Schock sich zu Gedanken verflüssigt hatte, die vereinbar waren mit dem Alltag eines schon durch den Blickkontakt mit der Nachbarstochter zu beglückenden Gymnasiasten.

Die verstörende Kunst Ingmar Bergmans hat mich für das meiste, was das Kino sonst zu bieten hat, untauglich gemacht. Das hätte ich ihm gerne gesagt, vielleicht sogar vorgeworfen, als er im Juni 1976 so unscheinbar in einer grauen Wolljacke über dem bunt gemusterten Hemd vor mir saß. Er aber stellte mir diese Kinderfrage: Warum? "Ich habe zu meinem Beruf ein gestörtes Verhältnis", sagte ich. "Ja, warum denn?" insistierte er. "Ich würde", antwortete ich, "manchmal, anstatt zu fragen, lieber über mich etwas sagen." Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, war er mir peinlich.

Bergman aber, dieser Menschenfischer, reagierte begeistert: "Ach so, ja, etwas Persönliches? Sie wollen kreativ sein? Dann sind wir ja nicht so weit weg voneinander. Sehr schön! Das finde ich sehr schön. Dann haben Sie ja die Antwort, warum ich sage, dass ich schaffe und Kontakt suche und versuche, die Welt ein bisschen besser zu machen. Ich will meine Erfahrungen anderen Menschen... Wie heißt das? Überreichen?" "Vermitteln", sagte ich, mich an das Korrigieren seiner etwas abseitigen Formulierungen klammernd, obwohl gerade der Zauber des Unkorrekten unser Gespräch so besonders machte.

In seiner 1987 erschienenen Autobiographie "Laterna magica" beschreibt Bergman, wie er während eines chirurgischen Eingriffs seinen Glauben verlor. Als er aus der sechsstündigen Narkose erwachte, kamen ihm die sechs Stunden wie eine Sekunde vor. "Die verschwundenen Stunden der Operation", heißt es im Buch, "gaben einen beruhigenden Bescheid: Du wirst absichtslos geboren, lebst ohne Sinn... und wenn du stirbst, verlöschst du." In unserem Interview, zehn Jahre davor, erzählte er mir die gleiche Geschichte in seinem tastenden Deutsch. Das Wort "verlöschen" gebrauchte er nicht.

Er sagte: "Diese eine Sekunde, diese sechs Stunden, waren ein fantastisches Erlebnis für mich. Denn ich bin dadurch zu der Überzeugung gekommen, man lebt, man wird eingeschaltet, und dann plötzlich, eines Tages, ist man ausgeschaltet. Das ist eine Existenz und dann eine Non-Existenz. Und während dieser fantastischen Zeit, von der Geburt bis zum Tod, ist alles drin, das Grausame, das Schöne, das Ungeheure, das Unwahrscheinliche, das Scheußliche, alles ist da. Und das finde ich fabelhaft. Für mich ist das genug."

Er zeigte zur Decke, von der eine kugelförmige Lampe hing.

"Als ich begriff, dass kein Gott da oben ist und mich niemand beobachtet, das war sehr schön. Da fühlte ich plötzlich eine Geborgenheit. Ich hatte ja immer Angst gehabt vor diesem Herrn da oben. Wenn man jung ist, hat man ja so viel Angst, und dann wird man so unglücklich und so intolerant. Man fürchtet so viele Dinge, und dann wird man so böse..."

"Und dann?"

"Dann muss man dieses Böse erkennen und muss es auch akzeptieren. Erkennt man es und akzeptiert man es und sieht ihm ins Auge und ist damit ein bisschen, ich will nicht sagen, befreundet, aber bekannt, dann kann man dagegen kämpfen."

"Haben Sie je mit dem Gedanken gespielt, sich einer Psychoanalyse zu unterziehen?" fragte ich.

Bergmans knallendes Lachen füllte den kargen Raum. Daß ich ihn so sehr erheiterte, machte ihn mir gewogen. Er hatte zunächst nur zwanzig Minuten mit mir sprechen wollen. Es wurden fast zwei Stunden daraus. "Wissen Sie", sagte er, "ein Künstler therapiert sich ja selbst, und er darf dabei kein schlechtes Gewissen haben. Ein Tiger hat auch kein schlechtes Gewissen, wenn er ein schönes Tier frisst. Der Künstler muss seine Tiere fressen. Das gehört dazu. Wir müssen die besten Konditionen haben für unser Schaffen. Ein Künstler muss frei sein. Sonst geht es nicht."

Mir fiel Dostojewskis so berühmter wie banaler Satz "Geld ist geprägte Freiheit" ein, und schon war ich in Gedanken damit beschäftigt, mir auszurechnen, welches Honorar ich für das Interview mit Bergman würde verlangen können. Da fragte er: "Haben Sie die Freiheit, zu tun, was Sie tun wollen?" Vor Schreck antwortete ich wahrheitsgemäß: "Vielleicht verhelfen Sie mir dazu." Nie sind mir beruflich so viele Peinlichkeiten passiert wie während dieses Gesprächs, und nie hat mich jemand, wenn ich aus meiner Journalistenrolle fiel, so generös aufgefangen wie Ingmar Bergman. "Am Anfang hatte ich auch überhaupt keine Freiheit", sagte er, "nicht im Film und nicht im Theater. Aber heute bin ich hundertprozentig frei." "Sind Sie jetzt glücklich?" fragte ich.

Er schenkte sich Mineralwasser nach, aber er ließ das Glas stehen.

"Nein", antwortete er, "ich bin nicht glücklich. Aber ich fühle mich wohl. Wissen Sie, ich bin wie ein Fisch, und ich habe mein Aquarium. Dieses Aquarium hat Grenzen, aber diese Grenzen lehne ich ab. Die sind für mich nur symbolisch. Natürlich bin ich wie alle Menschen durch die Dinge ringsum und in mir begrenzt. Aber ich habe mein Aquarium, und das habe ich sehr gern, und ich lade Sie ein, mich darin zu besuchen."

Jetzt erst nahm er das Glas und leerte es.

Ich blätterte in meinen Notizen. Ich sollte dem Weltberühmten ja noch Details seines geplanten Films "Das Schlangenei", den er in den Münchner Bavaria-Studios drehte, entlocken. Das hatte mir die Redaktion aufgetragen. Aber er wollte darüber nicht sprechen. Der Film spielt 1923, im Jahr des misslungenen Hitlerputsches, und zeigt, soviel wusste ich damals schon, am Beispiel der sich abzeichnenden Katastrophe den menschlichen Selbstvernichtungsdrang. Ich fragte: "Halten Sie den Menschen für von Natur destruktiv?" Da lächelte er wieder mit seinen traurigen Augen. Dann sagte er:

"Ja."

--------------------------

Erschienen am 9. August 2007 in der Schweizer "Weltwoche"