Niemand bis auf den behandelnden Arzt, Dr. Göschel, wußte oder ahnte auch
nur, daß der frühere Gastwirt und jetzige Privatier Franz Althammer, der,
wie es hieß, krankheitshalber sein Haus, ein ehemaliges Jagdschloß nahe der
Ortschaft Zell, nicht mehr verlassen konnte, in Wahrheit völlig gesund war.
Göschel aber behielt das Geheimnis für sich. Weder den Dorfbewohnern, die
nach Althammer fragten, noch diesem selbst offenbarte er, daß er die Krankheit
trotz unleugbarer Symptome für simuliert hielt. Das Motiv für die Täuschung
kannte er nicht. Sie nachzuweisen, war schwierig, da sich der Simulant auf
Leiden beschränkte, deren Ursachen sich nicht überprüfen ließen. Essensverweigerung
gab er als Appetitlosigkeit aus, tagelanges Liegen im verdunkelten Zimmer
als Schlafsucht. Von den auf diese Weise herbeigeführten Beschwerden, Gliederschmerzen,
Magenkrampf, gelegentlichen Fieberanfällen, konnte er dem Arzt, ohne zu lügen,
berichten, so daß dessen wöchentliche Besuche, auf die er Wert legte, unumgänglich
erschienen. Die einzige Person, die darüber hinaus zu ihm Zutritt hatte, war
eine siebzigjährige Haushälterin namens Rosa.
Drei Monate dauerte der Zustand schon an. Göschel kam zu seiner zwölften Visite.
Es war ein milder Septembertag. Er packte das Stethoskop aus, horchte Lunge
und Herz ab, sah sich den Hals an. Plötzlich unterbrach er die Untersuchung
und sagte:
"Alles, was ich Ihnen heute verordne, ist ein Spaziergang."
"Unmöglich", erwiderte Althammer tonlos.
Seine Lippen bewegten sich kaum. Der mit schwarzem Haar dicht bewachsene Kopf
lag schwer in der Kissenmulde. Bartstoppeln bedeckten den unteren Teil des
Gesichts, dessen Teint sich nur wenig vom Weiß der Bettwäsche abhob.
"Sie wissen doch, daß ich nicht aufstehen kann."
"Sie müssen es wollen."
Göschel sah auf die Uhr, als ob er es eilig hätte.
"Die frische Luft wird Ihnen guttun."
Er verstaute die Instrumente, klappte die Tasche zu.
"Also dann", sagte er, um anzudeuten, daß er aufbrechen wollte.
Althammer rührte sich nicht. Sein Atem schien auszusetzen. Der bis zur Hüfte
entblößte Körper erinnerte den Arzt daran, wieviel Überwindung ihn das während
des Studiums unvermeidliche Sezieren von Leichen gekostet hatte. Mit geschultem
Blick musterte er den oberhalb der Magengrube sich wölbenden Brustkorb. Jede
einzelne Rippe war zu erkennen. Er überlegte, an welcher Stelle er schneiden
würde. Seine Skrupel waren im Lauf der Jahre einer nüchternen Betrachtungsweise
gewichen, die sich in Gesprächen oft als Zynismus zeigte. So vertrat er zum
Beispiel, wenn auch scherzhaft, die Meinung, man sollte allen Neugeborenen
das Gehirn amputieren. Die Schädlichkeit dieses Organs sei unbestritten. Nicht
einmal in Gegenwart schwangerer Frauen, die zur Sprechstunde kamen, erschien
es ihm nötig, seine Zunge im Zaum zu halten. Er haßte die Menschen. Die fast
zärtlichen Gefühle, die er für Althammer hegte, waren ihm unbegreiflich. Während
er dem wie aufgebahrt Daliegenden in Gedanken das Herz aus der Brust schnitt,
trat mit zögernden Schritten, ängstlich umherblickend, Rosa ins Zimmer.
Sie hatte dreimal geklopft, aber keine Antwort bekommen. Zwar hatten die Männer
das Klopfen gehört. Doch der eine hatte es für ein Geräusch aus dem Garten
gehalten, der andere wäre, hätte er zum Eintreten aufgefordert, aus seiner
Rolle gefallen, in der er sich inzwischen so sehr gesteigert hatte, daß man
ihn auch bei näherem Hinsehen von einem Toten nicht unterscheiden konnte.
Hinzu kam, daß Göschel mit dem Rücken zur Tür stand. Erst als sich Rosa, da
sie offenbar störte, wieder entfernen wollte, merkte er, daß sie im Raum war.
"Nur keine Angst!" rief er, ohne sich umzudrehen.
Sie wußte nicht, wen er meinte. Reglos verharrend wie manche Tiere, die in
Todesgefahr, statt zu fliehen mit ihrer Umgebung verschmelzen, bot sie das
Bild einer Närrin, die glaubt, es genüge, sich nicht zu bewegen, um mit einem
leblosen Ding, im speziellen Fall einem Möbel, verwechselt zu werden. Sich
ihr zuwendend, gab Göschel den Blick auf das Bett frei.
"Sie kommen im richtigen Augenblick. Ich wollte gerade gehen."
Er streckte den Arm aus und faßte die einen Kopf Kleinere um die Schulter.
Sie bekreuzigte sich. Durch die verhängten Fenster drang, doppelt gedämpft,
das Gedröhn eines Rasenmähers. Obwohl von jedem anders empfunden, vom Arzt
etwa als ein rein akustisches Phänomen, vergleichbar dem Gesumm einer verirrten
Wespe, einte es die drei für Sekunden in dem Gefühl, Gefangene in einer Zelle
zu sein, aus der sie sich nur gemeinsam befreien konnten. Selbst die Gegenstände,
ein Porzellanpferd, ein Stuhl, eine Kommode, wirkten im Dämmer des gefilterten
Lichts, als warteten sie auf ihre Erlösung. Althammer mußte sich zwingen,
nicht aus dem Bett zu springen. Eine brennende Sehnsucht ergriff ihn. Im Geiste
sah er das Grün, die abgezirkelten Wege, das Funkeln der Sonnenreflexe im
Strahl der Fontäne. Hätte nicht Rosa, durch die Arbeit im Garten an ihre Pflichten
erinnert, plötzlich den Drang verspürt, das Zimmer, das für sie ein Sterbezimmer
geworden war, in Ordnung zu bringen, er hätte der Versuchung, zum Zeichen,
daß er lebe, die Augen zu öffnen, nicht widerstehen können.
"Gott hab' ihn selig", sagte sie. "Ein schlechter Mensch war
er nicht."
Ihr gekrümmter Körper erwachte, wie von einem Stromstoß durchzuckt, aus der
Erstarrung. Sie ging auf das Bett zu. Endlich konnte sie ungehindert die Essensreste
vom Nachttisch räumen. Der Lebende hatte sich ihrem Ordnungssinn widersetzt.
Der Tote, so dachte sie, würde bald selbst Teil jener Ordnung sein, in der
sie den Trauernden das Haus präsentieren wollte. Eine Art Andachtsraum schwebte
ihr vor. Das alte Holzbett würde sie mit Hilfe des Gärtners zur Mitte schieben,
die Kommode an die Stelle, wo jetzt ein Schrank stand. Der Schrank schien
ihr überflüssig.
"Wissen Sie, woran er gestorben ist?" fragte sie, während sie sich
nach ausgelesenen Zeitungen bückte, die auf dem Boden lagen.
"Er ist nicht tot", sagte Göschel.
Sie hob die Zeitungen auf, blieb jedoch in gebückter Haltung, als könnte sie
durch die Weigerung, aufrecht zu gehen, die Behauptung des Arztes entkräften.
Das Gesicht in Kniehöhe, tastete sie mit der freien Hand nach dem Druckknopf
der Nachttischlampe. Dabei stieß sie ein Glas um. Limonade tröpfelte auf die
Bettvorlage. Mit der kalten Neugier des Forschers, der einem Tierversuch zusieht,
verfolgte Göschel, wie sie nach und nach in einen Zustand der Verwirrung geriet,
in dem sie, statt Ordnung zu schaffen, ein Chaos erzeugte. Das Tablett mit
dem Frühstück entglitt ihr. Geschirr ging zu Bruch. Sie stieg über die Scherben
und schlurfte, immer noch tief gebeugt, zur Kommode, dem letzten Relikt der
einst barocken Möblierung. Den Arm auf die Kante gestützt, rief sie:
"Er hat es gewollt!"
Der Rasenmäher verstummte.
"Zuerst hat er es mit Frauen versucht, und weil er am Glück nicht gestorben
ist, hat er sich in die Krankheit geflüchtet."
In ihrer Miene spiegelte sich die Wut der Getäuschten. Sie ließ die Zeitungen
fallen. Althammer wußte, was nun geschehen würde. Er hatte sich aufgerichtet.
Sein Blick enthüllte den Schrecken, mit dem er die nächste Bewegung der Frau,
deren Körper sich straffte, voraussah. Sie zog die oberste Lade auf, nahm,
soviel sie mit bei den Händen umgreifen konnte, heraus und warf es dem Arzt
vor die Füße. Es waren Büstenhalter. Einer anderen Lade entnahm sie Schlüpfer
und Strumpfbandgürtel, einer dritten Haarbüschel in Gummiringen. Göschel,
immer noch den Beobachter spielend, tat so, als ginge ihn das alles nichts
an. Der Haufen zu seinen Füßen reichte schon bis zu den Knien. Ein seidenes
Taschentuch, das sich im Flug entfaltet und Auftrieb bekommen hatte, blieb
in Brusthöhe an seiner Jacke hängen. Er entfernte es nicht. Rosa, die leere
Kommode hinter sich lassend, aus der die herausgezogenen Laden wie Zungen
aus offenen Mäulern hingen, strebte der Tür zu. Dabei streifte sie im Vorbeigehen
das Pferd, das auf einer Konsole stand, so daß es, als wollte es den Sprung,
in dem es erstarrt war, vollenden, über die Glasplatte rutschte, zu Boden
fiel und zerschellte.
"Nun ist es gut", sagte sie und verließ das Zimmer.
Der Arzt folgte ihr. Althammer sprang aus dem Bett, schloß die Tür und drehte
den Schlüssel um. Auf dem Vorplatz startete Göschel sein Auto. Der Gärtner
lüftete, obwohl der Arzt ihn nicht sehen konnte, den Hut. Die Abendsonne warf
rötliches Licht auf die Schloßfassade. Rosa hatte sich in die Küche zurückgezogen.
Wie immer um diese Zeit machte sie sich an die Zubereitung des Abendessens.
Dabei unterlief es ihr, daß sie den Salat zweimal wusch, eine geschälte Kartoffel
wie einen Ball in die Luft warf und das Schnitzel, statt es zu klopfen, in
Stücke hackte. Entsetzt ließ sie das Hackmesser fallen, nahm die Stücke vom
Brett und stopfte sie in den Fleischwolf. Schon im nächsten Moment war sie
wieder in Gedanken versunken. Aus dem Fleischwolf quollen als gelbliche Masse
die mitsamt dem Fleisch faschierten Kartoffeln. Sie wischte sich an der Schürze
die Hände ab und setzte sich auf einen der Stühle mit einem Herz in der Lehne.
Althammer hatte sich wieder ins Bett gelegt. Er wollte träumen. Doch da er
nicht müde war, gelang es ihm lange nicht einzuschlafen. Er mußte durch das
Erfinden einer Geschichte, die zum Trauminhalt wurde, den Schlaf erzwingen.
Im Schlaf aber verwandelte sich die Geschichte in einen Alptraum, von dem
er erwachte. Er drehte sich auf die andere Seite und floh in den nächsten
Traum. Dies wiederholte sich mehrere Male, bis schließlich das Grauen vor
den Bildern des Unbewußten die Furcht vor dem Wachsein besiegte. Er schaute
zur Zimmerdecke. Die Arme unter dem Kopf verschränkt, die Knie angezogen,
sprach er in Gedanken die Sätze: Ich bin gesund. Ich bin reich. Ich bin schuldig.
Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Die Augen brannten. Er hörte das Zuschlagen
der Tür zum Geräteschuppen. Unter den Stiefeln des Gärtners knirschte der
Kies. Im Dorf bellten die Hunde.
Dr. Göschel lenkte seinen Mercedes durch das stets offene Tor in den Hof des
einstöckigen Hauses, das er, seit seine Frau nicht mehr lebte, allein bewohnte.
Er stellte den Motor ab, löste den Gurt, blieb aber wie ein Taxifahrer, der
auf Fahrgäste wartet, im Auto sitzen. Zuerst las er Zeitung, dann hörte er
sich rauchend, bei offenem Fenster, beide Klavierkonzerte von Brahms an. Als
er ausstieg, konnte man schon die Sterne am Himmel sehen. Geruch von Dung
und Heu lag in der Luft. Süchtig nach Leben, sog er ihn ein. Um seine Beine
strich eine streunende Katze. Er ging ins Haus, füllte eine Schale mit Milch
und stellte sie auf die Eingangsstufe. Während er dem Tier beim Auflecken
zusah, breitete sich in seinem Kopf jene erholsame Leere aus, die es bisweilen
erlaubt zu existieren, ohne sich dessen bewußt zu sein. Er dachte an nichts
als das Angeschaute. Sein Geist verschmolz mit der vor ihm kauernden Katze.
Als sie, aufgeschreckt durch ein fernes Geräusch, das er nicht wahrnahm, zusammenzuckte,
erschrak er mit ihr. Als sie aufblickte zu ihm, füllten sich seine Augen mit
Tränen. Hinter dem verschwimmenden Katzengesicht erschien das Bild seiner
Frau, die er, um einer Scheidung zuvorzukommen, vergiftet hatte.
Nur er selbst kannte die Wahrheit. Die Polizei hatte etwas anderes als Selbstmord
nie in Betracht gezogen, und auch sonst wäre niemandem eingefallen, ihn für
einen Mörder zu halten.
Er
verscheuchte die Katze. Das durch sie ausgelöste Gefühl erlosch wie eine
erstickte Flamme. Die Gedanken kehrten zurück. Sein erster Gedanke war: Hunger.
Er trug die noch halbvolle Schale ins Haus, zog einen Mantel über und machte
sich zu Fuß auf den Weg zur einzigen Gaststätte des Ortes. Die Nacht war
schwarz, der Mond eine kraftlose Sichel. In den Kuhställen fiel klatschend der
Kot. Auf den Wiesen sammelten sich, nur als Schemen erkennbar, die Hasen. Ein
Traktor fuhr ratternd vorbei. Vom hohen Sitz grüßte der Fahrer. Zum erstenmal
fühlte sich Göschel in dem kleinen Dorf, in das ihn der Zufall verschlagen
hatte, am Ziel. Hier, das spürte er, würde er Ruhe finden. Sein Menschenhaß
würde sich in Gleichmut verwandeln. Mit heiterer Gelassenheit würde er sich
unter die Leute mischen, ihre Feste feiern, ihre Toten betrauern. Sogar zur
Sonntagsmesse würde er gehen. Perle für Perle würde er den Rosenkranz durch die
Finger schieben und die Gebete sprechen. Ein Meister der Verstellung würde er
sein. Selbst der Pfarrer, bei dem er beichtete, würde ihn nicht durchschauen.
In der Gaststube wurde respektvoll genickt, als er eintrat. Die wenigen Gäste,
ausschließlich Männer, saßen, obwohl miteinander bekannt, an verschiedenen
Tischen. Göschel legte den Mantel ab und setzte sich gegen seine Gewohnheit an
einen Tisch in der Mitte, so daß er von den Männern umgeben war. Die Kellnerin
brachte die Speisekarte.
"Was für ein Tag!" sagte er.
Sie trug ein hellblaues Dirndl mit weitem Ausschnitt, das ihre Brüste über der
schlanken Taille zur Geltung brachte. Wie reizend sie ist, dachte er.
"Tragen Sie dieses Kleid heute zum erstenmal?"
"Aber Herr Doktor ... ", sagte sie.
"Ich fürchte, ich habe Sie nie richtig angeschaut."
Über ihr Gesicht flog eine Röte.
"Ich habe mit Ihnen über Gott weiß was geplaudert, aber gesehen habe ich
nichts."
Sie blickte verlegen in die Runde der Männer, die, in dumpfem Schweigen über
ihre Krüge gebeugt, das Geschehen verfolgten. Ein Gefühl, das sie aus Träumen
kannte, in denen sie nackt durch eine belebte Straße ging, stieg in ihr auf.
"Ist Ihnen nicht wohl?" fragte Göschel.
"Doch!" rief sie.
Er sah auf die Speisekarte.
"Würden Sie mir die Kalbsbrust empfehlen oder den Schweinebraten?"
"Kalbsbrust ist aus."
"Dann also Schweinebraten."
"Und zu trinken?"
"Ein Bier."
Sie nahm mit einer raschen Bewegung die Karte vom Tisch und lief, am Tresen, wo
der Wirt stand, vorbei, in die Küche. Mehr noch als die Tatsache, daß ihr der
Arzt Komplimente machte, verwirrte sie, daß er es im gleichen Tonfall, mit dem
gleichen Lächeln, dem gleichen Glanz in den Augen wie Franz Althammer tat,
dessen Geliebte sie einmal gewesen war.
"Ich geh' nicht mehr raus", sagte sie. "Ich bediene ihn
nicht."
Inzwischen hatte Rosa die Folgen ihrer Verwirrung beseitigt. Sie hatte aus dem
Fleisch Hackbraten gemacht, aus den faschierten Kartoffeln Püree, dazu grünen
Salat, als Nachspeise Himbeerpudding. Das Tablett mit dem auf erhitztem Teller
warm gehaltenen Hauptgericht, dem Salat, dem mit Vanillesoße übergossenen
Pudding sowie zwei Gläsern, einem für Wasser, einem für Wein, hatte sie vor
Althammers Zimmer auf einen dafür vorgesehenen Tisch gestellt. Dann hatte sie
geklopft und gewartet.
"Ist gut, Rosa, ich danke Ihnen", hatte Althammer mit, wie ihr
schien, freundlicher Stimme gerufen.
Darauf war sie, vorbei an den ehemaligen Prunkgemächern, über die große
Mitteltreppe in ihre Kammer gegangen, hatte den Fernseher eingeschaltet und wie
jeden Abend damit begonnen, sich alles anzusehen, was in einem der drei
Programme gesendet wurde. Sobald sie sich für eines entschieden hatte,
schaltete sie, ganz gleich, was lief, nicht mehr um. So wie sie sich die
Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, nicht aussuchen konnte, so sollte auch
das Fernsehen ihrem Einfluß entzogen sein.
Althammer hatte, obwohl er so hungrig war, daß es schmerzte, das Essen nicht
angerührt. Er lag jetzt in völligem Dunkel. Trotzdem hielt er die Augen
geschlossen. Er befürchtete, daß, wenn er ins Schwarze schaute, Bilder
entstanden, die nicht seinem Gehirn entsprangen, Materialisationen des Nichts,
die der Zufall formte. Zwar hoffte er Tag für Tag auf ein Zeichen, das ihm
geholfen hätte, die Schuldgefühle, unter denen er seit Monaten litt, zu
verstehen. Doch wollte er es keiner Vision verdanken. Das Denken, dachte er,
hat mich in diesen Zustand gebracht, es wird mir auch einen Ausweg zeigen.
"Als ob er mich ausziehen wollte", sagte die Kellnerin, "so hat
er mich angeschaut."
Daß sie allein in der Küche war, merkte sie nicht. Die Speisekarte hatte sie
auf die Kredenz gelegt. Nun begann sie, während sie zwischen Tür und Schrank
auf und ab ging, ihr Haar zu lösen.
"Dabei hat er mich doch schon ausgezogen gesehen. Man hat ja keine
Hemmungen einem Arzt gegenüber. Sogar angefaßt hat er mich. Damals lebte die
Frau noch. Sicher ist ihm ihr Tod aufs Gemüt geschlagen, so jung, wie sie war.
Etwa mein Alter hat sie gehabt. Und er? Ein Mann in den besten Jahren,
fünfundvierzig vielleicht, höchstens fünfzig... ".
Auf dem Herd lief kochendes Wasser über. Die Wirtin trat ein, schob den Topf
von der Flamme.
"Was ist denn hier los?"
"Nichts!" rief die Kellnerin.
"Und Ihre Haare?"
"Ich hab' die Spange verloren." Sie lachte kurz auf. Dann sagte sie:
"Einmal Schweinebraten für denn Herrn Doktor."
Althammers Denken war auf den Tag gerichtet, an dem das Gefühl der Schuld ihn
befallen hatte. Er war im Gasthaus gewesen, fröhlich wie immer, mit der
Kellnerin schäkernd. An seinem Tisch hatte zunächst nur der Bürgermeister mit
seiner Frau gesessen. Weitere Gäste waren im Lauf des Abends hinzugekommen. Er
erinnerte sich an ein Streitgespräch über die Landflucht, in dem er den Standpunkt
vertreten hatte, eine Kuh zu melken, deren Milch niemand wolle, könne von einem
Bauern, der noch Ehre im Leibe habe, nur als beschämend empfunden werden.
Ebenso von der Kuh, hatte er nach einiger Überlegung hinzugefügt. Auch über das
bevorstehende Schützenfest, einen Sterbefall und ein von der heimischen
Mannschaft verlorenes Fußballspiel war gesprochen worden. Er hielt es für
wichtig, sich auch scheinbar Bedeutungsloses ins Gedächtnis zu rufen. An der
Frau des Bürgermeisters war ihm eine gewisse, vorher nie bemerkte Eleganz
aufgefallen. Sie hatte ihm zugelächelt. Er hatte ihr Lächeln erwidert.
Plötzlich war er so müde geworden, daß er nur noch zu schlafen wünschte.
Diese Müdigkeit! dachte er.
Sein Gedankenfluß stockte. Er schlug die Decke zurück und knipste, indem er
sich auf die Seite drehte, das Licht an. Wäre der Arzt jetzt bei ihm gewesen,
er hätte nicht länger verheimlicht, daß seine Krankheit gespielt war. In
knappen, klaren Sätzen hätte er die wahren Gründe für seine Abkehr von allem,
was ihm einst lieb gewesen war, dargelegt. Er sei ein Gefangener, hätte er zu
Göschel gesagt, das Schloß sein Gefängnis. Er selbst habe es so gewollt.
Freiwillig habe er sich zurückgezogen, um Buße zu tun für eine Tat, die er noch
nicht begangen habe. Um welche Art von Tat es sich handle, wisse er nicht. Doch
käme, da man für Wohltaten keine Strafen verhänge, nur ein Verbrechen in Frage.
Davor graue ihm, hätte er dem Arzt anvertraut, dem einzigen Menschen, so dachte
er, der ihn verstanden hätte. Die Überwindung des Grauens sei nun sein Ziel.
Diese Nacht noch würde es sich entscheiden, ob er durch Schuld sich erlöse vom
Schuldgefühl.
In der Gaststätte tat der Alkohol seine Wirkung. Ein Gast war eingenickt. Ein
anderer schlug von Zeit zu Zeit mit der Faust auf den Tisch, um sich wach zu
halten. Ein dritter kicherte unentwegt. Der Wirt überwachte diskret die
Entwicklung. Göschel trank wenig. Die Kellnerin lehnte am Tresen und sah ihm
beim Essen zu. Sie hatte das Haar wieder hochgesteckt, die Lippen geschminkt
und Rouge aufgetragen. Er spürte, wie ihre Augen den Bissen folgten, die er zum
Munde führte. Als er zum Zeichen, daß sie abräumen könne, Messer und Gabel
parallel auf den Teller legte, zog sie an den Hüften das Dirndl straff und kam
mit wiegenden Schritten. Er bat sie um ihren Kugelschreiber, den sie ihm
bereitwillig gab, und schrieb auf die unbenutzte Papierserviette: 11 UHR
SPRECHSTUNDE MORGEN. Dann faltete er die Serviette zu einem kleinen Quadrat und
schob es unter ihr Schürzenband. Sie hatte das alles vorausgesehen, denn auch
die Liebschaft mit Althammer hatte so angefangen. Ihr Erschrecken über die
Verwandlung des Arztes war einem Erstaunen gewichen. Doch auch das Erstaunen
schwand. Wie ein Kind, das an Märchen glaubt, hielt sie es schließlich für ganz
normal, daß ein Mensch manchmal ein anderer wird.
Göschel, der nun tatsächlich nicht mehr er selbst war, bestellte sich noch ein
Bier und prostete den Betrunkenen zu. Nur solange er den Raum nicht verließ, in
dem Althammer so oft gesessen hatte, konnte er dessen Rolle spielen. Sogar in
die Gefühle des anderen konnte er sich hineinversetzen. Er war in diesem
Augenblick ein zufriedener Mensch. Gedanken, die ihn früher belastet hatten,
lösten in ihm die angenehmsten Empfindungen aus. Er dachte an seine Frau,
schmunzelnd wie jemand, der einen komischen Einfall hat.
"Elisabeth", sagte er, "meine Elisabeth."
Die Kellnerin näherte sich, um zu lauschen. Er zog sein Portemonnaie aus der
Tasche.
"Zahlen gewünscht?" fragte sie.
Da lachte er über das ganze Gesicht.
"Was bin ich schuldig?"
Während sie auf dem Rechnungsblock die Posten zusammenzählte, entnahm er dem
Portemonnaie einen Geldschein, rollte ihn zwischen den Händen und steckte ihn,
wobei er die von den angewinkelten Armen gebildete Lücke nutzte, in ihren Ausschnitt.
Das gleiche hatte schon Althammer getan. Die Kellnerin stieß einen Schrei aus.
Der Wirt wurde aufmerksam. Die Wirtin kam aus der Küche. Göschel erkannte, daß
es Zeit war zu gehen. Doch es gelang ihm nicht aufzustehen. Er schaute zu
seinem Stammplatz unter dem Christuskreuz. Daß der Platz leer war, erschien ihm
rätselhaft. Er versuchte, sich zu erinnern. Rosa, dachte er, die Katze, der
Schrei. Zu jedem Wort fiel ihm eine Geschichte ein. Aber was hatte das alles
mit ihm zu tun? Er faßte sich an den Mund. Das waren nicht seine Lippen. Er sah
sich die Hand an. Er legte sie auf den Tisch, wo sie neben dem Bierglas, dem
Aschenbecher, der kleinen Vase mit Plastikblumen wie ein Gegenstand auf einem
Stilleben wirkte. In den Anblick versunken, verlor er für einen Moment das
Bewußtsein. Als er erwachte, stand Franz Althammer vor ihm und fragte:
"Darf ich mich setzen?"
Er trug einen beigefarbenen Trenchcoat, an dem zwei Knöpfe fehlten. Erdreich
klebte an den Schuhen und Hosenrändern. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn.
Sein Atem flog. Aus der Ferne hörte man das Geheul einer Sirene. Die Tür wurde
aufgestoßen. Zwei Gendarmen betraten den Raum. Göschel erhob sich. Über sein
Gesicht ging ein Leuchten. Er war nun bereit zum Geständnis.
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Erschienen in: "André Müller, "Zweite
Liebe", Bibliothek der Provinz, 1991