Daß Paula, wenn sie aus dem Fenster sah, nicht merkte, daß sie es tat, war,
abgesehen von den wenigen Stunden Schlaf, die sie sich gönnte, die einzige Voraussetzung
für Glück in ihrem Leben. Sie schaute auf Dächer. Da die Häuser im Umkreis ihre
Wohnung nicht überragten, mußte sie sich nicht durch Gardinen schützen. Traumverloren
saß sie in sternklaren Nächten vor dem rechteckigen Ausschnitt des gepunkteten
Himmels, suchte im Sichelprofil des Mondes ein Lächeln, in der leuchtenden Scheibe
den milden Blick ihres Vaters. Alle Leiden der Kindheit führte sie darauf zurück,
daß die Eltern nicht im obersten Stock gewohnt hatten. War sie als kleines Mädchen
am Fenster gestanden, hatte sie in andere Fenster gesehen. Hinter den ziehenden
Wolken zu wohnen, benachbart den Schwalben, war ihre Sehnsucht gewesen.
Aus dem Haus ging sie selten. Tat sie es einmal, weil sie etwas zu erledigen
hatte oder eine Freundin besuchte, überlegte sie lange, was sie anziehen sollte.
Ihr Kleiderschrank war voll von billig erworbenen Stücken, die sie erfindungsreich
kombinierte. Sie dachte, die Welt sei ein Kostümfest, an dem sie sich von Zeit
zu Zeit beteiligen müßte, um nicht verrückt zu werden. Seit ihre Mutter mit
Symptomen von Schizophrenie in einer psychiatrischen Anstalt lebte, fürchtete
sie, die Krankheit geerbt zu haben. Ihre gesellschaftlichen Kontakte, für die
sie einen kleinen, treuen Bekanntenkreis zur Verfügung hatte, dienten ihr als
Beweise dafür, daß sie gesund war. In den Gesprächen, die sie in lockerem Konversationston
führte, wählte sie die Worte genau. Noch nie hatte sie in Gegenwart von Menschen
die Beherrschung verloren. Ihre Bewegungen, sogar ihr Gesichtsausdruck, unterlagen
der ständigen Kontrolle ihres Bewußtseins.
Einmal im Monat fuhr sie mit dem Zug in die nahegelegene Ortschaft, an deren
Rand, umsäumt von gepflegtem Rasen, die Gebäude der Anstalt lagen, jedes für
eine andere Spielart des Wahnsinns. Die Mutter erwartete sie an der Pforte.
Sie trug immer denselben zerschlissenen Morgenmantel, darunter ein fleckiges
Nachthemd, löchrige Strümpfe und Schuhe, die sich bei jedem Schritt von den
Fersen lösten. Oft brach sie unvermittelt in Tränen aus. Paula empfand kein
Mitleid. Teilnahmslos ließ sie sich, während sie durch den Park spazierten,
die immer gleiche Geschichte vom Tod eines Geliebten erzählen, den es niemals
gegeben hatte. Am Ende des Rundgangs küßte sie die Mutter auf beide Wangen und
versprach wiederzukommen. Nichts störte das Gleichmaß ihres geordneten Daseins
bis zu dem Tag, als auf dem Dach, gegenüber dem Küchenfenster, fünf Männer erschienen.
Wie durch Geisterhand hatte sich eine Dachluke geöffnet. Nacheinander, gleich
schlüpfenden Küken, kamen sie an die Oberfläche. Es war kurz nach Sonnenaufgang.
Unsichtbar hinter der spiegelnden Scheibe, beobachtete Paula, wie sie zum Dachfirst
stiegen. Der Jüngste hatte die Hemdsärmel hochgekrempelt. Leuchtend hob sich
das Rot der Dachziegel gegen das fahle Blau ab, in dem noch der milchige Mond
stand. Tauben sammelten sich auf einer Fernsehantenne. Da und dort qualmte ein
Schornstein. Die Männer verteilten sich über das Laufbrett. Ihre Blicke wanderten
die Dachkante entlang, so als suchten sie etwas.
"Es sind Arbeiter", sagte Paula, "ganz gewöhnliche Arbeiter."
Zum erstenmal hatte sie mit sich selbst gesprochen. Der Teekessel pfiff. Aus
dem Toaster hüpfte gebräuntes Weißbrot. Sie stürzte zum Herd und goß das siedende
Wasser in eine Kanne. Die zur Zubereitung des Frühstücks nötigen Handgriffe
beherrschte sie, ohne nachzudenken. Eine Brotscheibe bestrich sie mit Käse,
die andere mit Marmelade. In den Tee träufelte sie den Saft einer halben Zitrone.
Als sie zum Fenster hinaussah, waren die Männer verschwunden. Sie spülte rasch
das Geschirr, duschte sich, wählte ein Kleid aus. Es war der Tag, an dem sie
ihre Mutter besuchte.
In der Bahnhofshalle bekam sie Appetit auf Nußschokolade. Während sie ein Stück
nach dem anderen in den Mund schob, umkreiste sie einen mit Illustrierten gepanzerten
Zeitschriftenkiosk. Die Durchsagen aus dem Bahnhofslautsprecher versetzten sie
in eine Art Trance. Sie vergaß einzusteigen. Schon wurden die Wagentüren geschlossen.
In letzter Sekunde erreichte sie den Perron. Ein Fahrgast ergriff ihre Hand,
als sie auf den rollenden Zug sprang. Einen Augenblick spielte sie mit dem Gedanken,
sich ihm, entschuldigt durch die Erschöpfung, in die Arme zu werfen.
"Sind Sie lebensmüde?" frage der Mann mit einem Lächeln, das die Ausgewogenheit
seiner Züge zum Einsturz brachte.
Paula ließ sich, schwer atmend, auf einen als Notbehelf vorgesehenen Klappsitz
nieder. Ihre Augenhöhe sank auf das Niveau der Aborttürklinke. An dem roten
Segment darunter erkannte sie, daß die Kabine besetzt war. Indem sie den rechten
Zeigefinger an ihre Lippen preßte, gab sie dem Mann zu verstehen, daß er schweigen
sollte. Wieder zerfiel seine Miene zu einem unfreiwilligen Lächeln, das aussah
wie eine Grimasse. Er machte eine Bewegung, als wollte er gehen, rührte sich
aber nicht von der Stelle. Paula erhob sich. Knallend schlug der Sitz gegen
die Wandverschalung. Gurgelnd ertönte aus der Toilette die Wasserspülung. Als
die Tür von innen entriegelt wurde, hatten sich die beiden in das nächste Abteil
geflüchtet.
Am Fenster, zusammengekrümmt neben der vorbeifliegenden Landschaft, saß eine
alte Frau, deren Gesicht von einem in die Stirn gezogenen Kopftuch zur Hälfte
verdeckt war.
"Ist hier noch frei?" fragte Paula.
Die Frau umklammerte ihre Einkaufstasche, als fürchtete sie, beraubt zu werden.
"Sie versteht uns nicht", sagte der Mann und griff nach dem Aktenkoffer,
den er auf einem der leeren Plätze abgestellt hatte. Paula kam ihm zuvor, nahm
den Koffer und beförderte ihn mit Schwung in das Gepäcknetz. Es bereitete ihr
Vergnügen, Verblüffung hervorzurufen. Sie setzte sich und schlug die Beine
übereinander.
"Stört es Sie, wenn ich rauche?"
Der Mann zog ein Feuerzeug aus der Manteltasche. Als er sich über Paulas
Haaransatz beugte, an dem die Grenze verlief zwischen ihrem geschminkten
Gesicht und der helleren Kopfhaut, wich seine Unsicherheit einem körperlichen
Verlangen, das er, indem er sprach, zu bezähmen suchte.
"Sie reisen ohne Gepäck?"
Paula blies Rauch in die Flamme, so daß sie erlosch und ein leichter Gasgeruch
aus der Düse strömte. Wie auf einer Großaufnahme sah sie die borstig behaarte
Hand, die das Feuerzeug hielt, die kurz geschnittenen Fingernägel, den
abgestoßenen Rand der Manschette.
"Ich fahre nicht weit", sagte sie, ohne aufzublicken.
Das Feuerzeug schnappte zu. Der von der Anspannung befreite Daumen schob es wie
von selbst in die hohle Faust. Der Handrücken straffte sich. Die Vorstellung
einer Vergewaltigung steigerte die Begierde des Mannes. Er steckte das
Feuerzeug in die Tasche und knöpfte den Mantel auf. Als er sich setzte, drückte
Paula die Zigarette aus und verließ das Abteil. Ihr Hinterkopf schmerzte. Sie
ging in den Speisewagen, um nach einer Aspirintablette zu fragen. Die
Hilfsbereitschaft des Kellners wirkte beruhigend.
"Es ist der Föhn", sagte er, als er das Medikament auf einem kleinen
Teller wie ein Gericht servierte.
Seine Bewegungen waren die eines Tänzers. Unaufgefordert holte er ein Glas
Wasser und stellte es neben den Teller. Die weißen Tischtücher, auf denen
Mimosensträußchen vibrierten, erinnerten Paula an die Betten im Kreißsaal der
Frauenklinik, in der sie ihr totes Kind zur Welt gebracht hatte. Sie nahm die
Tablette mit einem Schluck Wasser. An nichts anderes wollte sie denken als an
die Totgeburt ihres Kindes, nichts anderes sehen als die entlang der Bahntrasse
sich erstreckenden Wiesen, auf denen scheckige Kühe grasten. Der Zug fuhr
langsamer und kam zum Stehen. Das Anhalten setzte in Paula einen Mechanismus in
Gang, der sie zwang auszusteigen. Erst auf dem Bahnsteig sah sie sich nach dem
Stationsschild um. Der Ortsname rief ihr, so als erwachte sie aus einem Traum,
die Realität ins Gedächtnis. Sie folgte den Richtungspfeilen zum Ausgang. An
einer Imbißbude kaufte sie sich ein Schinkensandwich. Während des Kauens fiel
ihr die Schokolade ein, die sie vor der Abfahrt gegessen hatte. Da sie sich
ihren Hunger nun nicht mehr erklären konnte, warf sie das angebissene Sandwich
in einen Abfallkübel.
Ihr Zusammensein
mit der Mutter verlief zunächst wie gewöhnlich. Die kranke Frau, im verfilzten
Haar bunte Schleifchen, als trüge sie eine Haube aus Schmetterlingen, erzählte,
immer wieder unterbrochen von heftigem Schluchzen, ihre Liebesgeschichte. Unter
den Schuhsohlen knirschte der Kies. Hyazinthenduft stieg auf von den Rabatten
am Wegrand. Paula richtete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich auf diesen kleinen
Ausschnitt möglicher Sinnesreize. Sie übertrieb in Gedanken das Knirschen, bis
es ihr in den Ohren dröhnte. Eine leichte Benommenheit, die sie durch das Einatmen
des Duftes bewußt verstärkte, machte sie unempfindlich gegen Einflüsse von außen,
denen sie sich nicht unterwerfen wollte. Die Stimme der Mutter kam wie aus großer
Entfernung. Der Park schien in ein weißliches Licht getaucht, das die darin
umherwandelnden Geisteskranken ins Gespensterhafte entrückte. Paula unterschied
nicht mehr zwischen dem, was sie tatsächlich sah, und dem, was ihre Phantasie
daraus machte. Als einer der in der Anstalt beschäftigten Psychiater sie im
Vorbeigehen grüßte, befiel sie ein Lachkrampf. Sich ausschüttend vor Lachen,
taumelte sie auf eine Bank zu. Der Psychiater, der sie für krank hielt, ging
ungerührt weiter. Die Mutter verstummte.
"Hast du gesehen, mit welch vollendeter Höflichkeit er gegrüßt hat? Das
milde Lächeln, das wortlose Neigen des Kopfes, unübertrefflich! Nur den Hut
konnte er leider nicht lüften, weil er keinen aufgesetzt hatte."
Noch einmal brach kurz das Lachen hervor. Einige Patienten in Hörweite waren
stehengeblieben. Die für ihr Krankheitsbild typischen Merkmale verschwanden,
solange die Neugier anhielt. Mit entspannten Gliedern und wachem Blick verfolgten
sie das Geschehen, ohne sich einzumischen.
"Du willst dich interessant machen", sagte die Mutter, die sich der
Bank zögernd genähert hatte.
Paula war so überrascht, daß sie glaubte, nicht richtig gehört zu haben.
"Was will ich?" fragte sie.
Die Mutter schwieg. Nun war der Satz ihr Geheimnis. Sie zeichnete mit der Fußspitze
ein Quadrat in den Kies, wobei sich der Gürtel ihres Morgenrocks löste und langsam
nach unten rutschte. Als sie fertig war, fiel er zu Boden. Sie hob ihn auf und
warf ihn in die Mitte der umrandeten Fläche. Dort lag er wie eine getötete Schlange.
"Du bist gar nicht verrückt. Du tust nur so!" sagte Paula.
Ihre Aufnahmebereitschaft wuchs sprunghaft. Verzückt lauschte sie dem Gezwitscher
der Spatzen, das schrill aus den Hecken tönte. Ein plötzliches Übermaß an Gefühl
trieb ihr das Blut ins Gesicht. Sie schloß die Augen. Da erschien ihr im Geiste
der junge Dacharbeiter mit den aufgekrempelten Ärmeln. Er stand an der höchsten
Stelle des Daches. Sein Körper verdeckte die Sonne. In seinem blonden Haar fing
sich das Licht und verwandelte es in eine Feuerkrone.
Inzwischen hatte die Mutter begonnen, in aller Ruhe ein Kleidungsstück nach
dem anderen abzulegen. Als Paula die Augen aufschlug, entledigte sie sich gerade
des Nachthemds. Dann lief sie schnurstracks auf das nächste Beet zu und zertrampelte
die Hyazinthen. Die noch verbliebenen Zuschauer spendeten Beifall. In Paulas
Kopf überlagerten sich die Bilder. Wie auf einem doppelt belichteten Film sah
sie hinter der halbnackten Frau die Gestalt des strahlenden Jünglings. Ein Lufthauch
kühlte die fiebrige Stirn. Sie blickte sich um. Der Psychiater trat soeben aus
dem Verwaltungsgebäude. Es gefiel ihr, daß sie nun einen Vorwand hatte, ihn
anzusprechen. Er ging in die Richtung zum Parkplatz. Sie folgte ihm mit ausgreifenden
Schritten, die ihre schlanken Beine unter dem Chiffonkleid zur Geltung brachten.
Als sie ihn eingeholt hatte, klimperte er schon mit den Autoschlüsseln.
"Entschuldigung", sagte sie. Ihre Brüste wogten im Rhythmus der Atemzüge.
"Meine Mutter hat einen Anfall."
"Ihre Mutter?" fragte er spöttisch.
Darauf war sie nicht vorbereitet. Entgeistert starrte sie sein Gesicht an, dessen
ironischer Ausdruck zu einem Grinsen verflachte. Als sie ihm antworten wollte,
stellte sie fest, daß ihr Wortschatz auf die sechs von ihr zuletzt gesprochenen
Wörter geschrumpft war.
"Meine Mutter ... ", wiederholte sie.
"Ja, Ihre Mutter, ich weiß", sagte der Psychiater und musterte sie
vom Kopf bis zur Taille. "Ihre Mutter ist eine humorvolle Frau. Kaum sieht
sie mich, schon muß sie lachen."
Paula faßte sich an die Lippen. In ihrem Gehirn wetteiferte knirschender Kies
mit Vogelgezwitscher. Nun erst empfand sie den Verlust ihrer Sprache als Katastrophe.
Mit ausgestrecktem Arm zeigte sie auf die Stelle, an der sich das für sie Unaussprechliche
abgespielt hatte. Doch nichts Besonderes war zu sehen. Die Mutter saß auf der
Bank, vollständig bekleidet.
"Kommen Sie", sagte der Psychiater väterlich. "Ich bringe Sie
auf die Station zurück."
Dabei nahm er sanft Paulas Hand, damit sie sich unterhake. Geistesgegenwärtig
riß sie sich los und versetzte ihm einen Stoß in die Magengrube. Während er
damit beschäftigt war, den Vorfall in sein durch langjährige Praxis erworbenes
Wissen über Geistesstörungen einzuordnen, rannte sie, so schnell es die hohen
Absätze ihrer Schuhe erlaubten, zum Tor, das ein Pförtner bewachte. Er schaute
gelangweilt aus seiner Glaskabine. Sie tauschte mit ihm den Erkennungsblick
und wurde hinausgelassen.
Verkehrslärm schlug ihr entgegen. Entlang der Anstaltsmauer verlief die Hauptstraße
des Ortes. Ein Sattelschlepper unterbrach die Sicht auf die andere Seite, wo
zwischen Gehöften ein schmaler Ackerstreifen bis zum Straßenrand reichte. Als
er vorüber war, überquerte Paula die Straße und stapfte geradewegs in das vom
Pflügen aufgelockerte Erdreich. Meter für Meter eroberte sie die Weite der sich
endlos hinziehenden Felder. Die Mühe des Gehens auf dem weichen Boden, der leichte
Jauchegeruch, die lastende Stille erzeugten in ihr ein Gefühl der Geborgenheit,
gepaart mit einer Art Stumpfsinn, durch den sich ihr Denkvermögen regenerierte.
An einem Bach zog sie Schuhe und Strümpfe aus. Beim Eintauchen der Füße fielen
ihr Aussprüche ein, die sie gehört oder gelesen hatte: alles ist Spiel, die
Einfachheit des Komplizierten. Sie hob das Kleid, hockte sich in die Mitte des
Bachbetts und urinierte.
Während sie zusah, wie sich das Wasser färbte, dachte sie an die Zeit, da sie
Sonne und Mond für Inseln im Meer des Himmels gehalten hatte. An keiner Pfütze,
keinem Rinnsal war sie vorbeigegangen, ohne hineinzutreten, so sehr hatte sie
sich gewünscht, mit dem Element zu verschmelzen, aus dem in ihrer Vorstellung
das Licht kam. Die Ermahnungen der Eltern hatte sie nicht beachtet. Durch den
strömenden Regen war sie gelaufen und danach wochenlang krank gewesen. Noch
im Alter von vierzehn Jahren hatte sie sich geweigert, die wahre Beschaffenheit
des Kosmos anzuerkennen. Beim Baden im Salzkammergut hatte sie versucht zu ertrinken.
Gegen ihren Willen war sie gerettet worden. Die Wut von damals stieg in ihr
hoch. Der Harnfluß versiegte. Ihre Augen standen voll Tränen. Sie beugte sich
vor, damit sie ins Wasser tropften. Über dem Geröll lichtete sich der urinfarbene
Schleier. Eine grüne Glasscherbe lag zwischen den Steinen. Paula ertastete ihre
schärfste Kante und drückte den Daumen darauf, bis es schmerzte.
"Blut", sagte sie, so als hätte sie dieses Wort noch nie ausgesprochen.
Aus der Wunde quoll eine rötliche Wolke. Mücken schwärmten über dem Gekräusel
der Strömung. Von der Uferböschung neigten sich Weidensträucher. Ein Fischkadaver
verfing sich im Dickicht der herabhängenden Zweige. Inspiriert durch die Vielfalt
des kleinen Stückes Natur, auf dessen Beobachtung sie sich beschränkte, fand
Paula die Sprache wieder. Wie ein Kind, das nur begreift, was es sieht, benannte
sie alles, worauf ihr Blick fiel. "Gummihandschuhe", sagte sie, "Kaulquappe,
Hahnenfuß." Die Worte purzelten aus ihrem Gedächtnis. Kaum hatte sie etwas
wahrgenommen, schon wußte sie die Bezeichnung. Sogar an wenig gebräuchliche
Namen bestimmter Pflanzen und Tiere, die sie in der Schule gelernt, aber gleich
wieder vergessen hatte, konnte sie sich erinnern. Klopfenden Herzens unterzog
sie ihre nächste Umgebung einer Bestandsaufnahme, wobei sie den eigenen Körper
bis zu der Grenze, wo sie, um sich zu betrachten, einen Spiegel benötigt hätte,
nicht ausschloß. An den Zehen fielen ihr die Halbmonde auf, die dank gründlicher
Nagelpflege deutlich zu sehen waren. Sie strich mit der Hand über die Oberseite
des Fußes und sagte: "Armbanduhr, Spann, schlanke Fessel." Assoziationen
vermied sie. Einzig im zufälligen Nebeneinander des sichtbar Vorhandenen forschte
sie, eine entzauberte Pythia, nach den Vorzeichen der Zukunft.
Als sie aufblickte, sah sie auf Gummistiefel. Ein Bauer in Arbeitskleidung mit
Filzhut stand an der Böschung und schaute zu ihr hinunter. Sie lächelte. Er
tippte sich an die Stirn, hob die Handschuhe auf und entfernte sich wortlos.
"Ich bin nicht verrückt!" rief sie ihm nach.
In Gedanken aber sah sie das Bild ihres Vaters. Riesenhaft, sich nach oben verjüngend,
ragte es in die Bläue des Himmels. Den Gesichtsausdruck konnte sie nicht erkennen.
Die Arme waren in die Hüften gestützt. Die gewölbten Kappen der Schuhe, an denen
Erde klebte, glichen den Rundungen aufgeworfener Lippen. Es war eine Kindheitserinnerung.
Paula hatte sich in einer mit Wasser gefüllten Mulde versteckt. Der Vater hatte
sie aufgespürt. Aber was war danach geschehen? Das Bild verschwand. Ihr Wohlgefühl
schlug in Angst um. Fort von hier, dachte sie. Der einzige Ort, an dem sie sich
jetzt noch sicher glaubte, war ihre Wohnung. Barfuß lief sie zur Straße zurück
und winkte den vorbeifahrenden Autos, bis eines sie mitnahm.
"Stellen Sie keine Fragen", bat sie den Fahrer. "Ich bin auf
Sie angewiesen. So wie ich aussehe, kann ich unmöglich ein öffentliches Verkehrsmittel
benutzen."
Der Mann strömte den Duft eines ihr bekannten Parfums aus.
"Wohin darf ich Sie bringen?"
Sie nannte ihre Adresse. Er lachte.
"Nun habe ich eine Frage gestellt und eine Antwort bekommen", sagte
er, ohne den Blick von der Fahrtrichtung abzuwenden. Seine rechte Hand, an der
ein Siegelring steckte, hielt lässig das Steuer. Paula schätzte sein Alter.
Er hätte ihr Sohn sein können. Sie legte den Kopf zurück und preßte ihn gegen
die Nackenstütze. Daß ihr Kind ein Junge sein würde, hatte sie, als sie schwanger
war, nie bezweifelt. Eine Tochter hätte sie als sinnlose Verdopplung empfunden.
Macht zu haben über das Andersartige aus dem eigenen Schoß, es vom ersten Augenblick
an so zu beherrschen, daß es sich nicht zur Bedrohung auswachsen konnte, das
allein war die Lockung gewesen, die sie verführt hatte, nicht abzutreiben.
Eine plötzliche Bremsung warf ihren Oberkörper nach vorn. Die Stirn berührte
die Windschutzscheibe.
"Weil Sie nicht angeschnallt sind", sagte der junge Mann.
Seine Miene strahlte Triumph aus. Aus Paulas Angst wurde Haß. Sie hielt sich
mit beiden Händen an der Sitzkante fest. Nur mit Hilfe der zur Halluzination
gesteigerten Vorstellung, was geschehen würde, wenn sie der Versuchung, durch
Herumreißen des Lenkrads einen Unfall herbeizuführen, nicht widerstünde, gelang
es ihr, ruhig zu bleiben. So wie man Mordlust durch Mordbeschreibung bezähmt,
malte sie sich in allen Einzelheiten die Verstümmelungen des Mannes aus, die
blutbesudelte Kleidung, das zerstörte Gesicht. Als er das Radio einschaltete,
merkte sie, daß sich das Monogramm auf dem Siegelring aus den Anfangsbuchstaben
ihres Namens zusammensetzte.
"Mögen Sie Chopin?" fragte er.
Sie dachte an einen Film mit Ingrid Bergman.
"Ein zweites Mal lassen Sie sich wohl nicht überlisten", fügte er
hinzu, da sie nichts sagte.
Ihr wurde klar, daß er sie schon beim Einsteigen an Anthony Perkins erinnert
hatte. Außerdem benutzte er das gleiche Eau de Toilette wie ihr Vater, mit dem
sie sich jenen Film, in dem Perkins Ingrid Bergman liebt, angeschaut hatte.
In ihrem Kopf entstand ein Geflecht rätselhafter Zusammenhänge, das sie entwirren
mußte, um im Strudel der dadurch erzeugten Gefühle nicht den Verstand zu verlieren.
Aus dem Radio kam die Nachricht vom Absturz einer Bergsteigergruppe. Fünf Leichen
seien geborgen worden. Zwei Männer würden vermißt. Die Hoffnung, sie lebend
zu finden, habe man aufgegeben. Unwillkürlich zählte Paula die entgegenkommenden
Autos. Vereinzelte Pappeln säumten die Straße. Sie versuchte noch einmal, sich
an die Begriffe zu klammem. Doch statt der Autos sah sie Geschosse und in den
Bäumen Zeugen des Untergangs.
"Wir dürfen nicht aufhören zu sprechen", sagte sie. "In den Pausen
zwischen den Sätzen bricht das Unheil herein. Nur solange wir sprechen, ganz
gleich worüber, haben wir eine Chance."
Ihre Stimme klang hohl wie ein Echo. Der junge Mann scheuchte durch mehrmaliges
Hupen ein Motorrad zur Seite. Beim Überholen riskierte er einen Zusammenstoß
auf der Gegenfahrbahn.
"Wir könnten zum Beispiel über die Liebe sprechen", sagte er und erhöhte
das Tempo.
Paula klappte die Sonnenblende herunter.
"Ganz gleich worüber", wiederholte sie tonlos. Ihre Pupillen, zu Punkten
verkleinert, reduzierten das von ihr Wahrgenommene auf einige Farbflecke und
die rasche Folge von Licht und Schatten. Ihr Gehör unterschied die Geräusche
nicht, und die Bewegung empfand sie als Stillstand.
"Ich wußte, daß Sie etwas Besonderes sind", sagte der Mann. "Als
ich Sie sah, war die Entscheidung, Sie mitzunehmen, bereits gefallen. Ich hatte
keine andere Wahl. Einerseits kamen Sie mir bekannt vor, als wäre ich Ihnen
schon oft begegnet, andererseits hielt ich Sie für eine Erscheinung. Ich glaubte
zu träumen, gleichzeitig war mir, als ob wir uns verabredet hätten. Sie standen
sozusagen am vereinbarten Treffpunkt. Nicht anzuhalten, hätte bedeutet, die
Wirklichkeit, letzten Endes mich selbst zu verleugnen."
Er wandte Paula kurz das Gesicht zu.
"Jetzt sitzen Sie neben mir, doch nichts hat sich verändert. Ich formuliere
den Widerspruch. Aber er löst sich nicht auf."
Sie nahm aus ihrer Handtasche die Wohnungsschlüssel.
"Wann kann ich Sie wiedersehen?" fragte er.
Ihr Kopf verneinte mit einer kaum sichtbaren Drehung einen Gedanken. Die Augen
waren auf den Asphalt gerichtet, der ihr wie ein rasender Teppich entgegenstürzte.
Das Laub der nun dichter stehenden Pappeln bildete Wände zu bei den Seiten der
Straße. Sie fühlte sich eingesperrt. Bei nächster Gelegenheit wollte sie aus
dem Wagen springen. Schon lag die Hand auf dem Türgriff. Da prallte ein Insekt
gegen die Scheibe und zerplatzte im Mittelpunkt ihres Blickfelds. Vor Schreck
begann sie zu sprechen.
"Ich hätte trotz allem mit dem Zug fahren sollen. Man hätte mich angestarrt,
mich womöglich für eine Irre gehalten. Aber was hätte das ausgemacht? Irgendwie
sind wir doch alle Verrückte. Es zu erkennen, ist unsere einzige Freiheit."
Der Mann ließ für Sekunden das Lenkrad los.
"Ich liebe Sie", sagte er.
Paula verfiel wieder in Schweigen. Der Wunsch, endlich heimzukommen, überwog
die Beklemmung. Doch war ihr dieser Wunsch nicht bewußt. Gleich einem nicht
abzustellenden Automaten funktionierte ihr Inneres weiter, ohne daß sie es mit
sich in Verbindung brachte. Ihre Gefühle berührten sie nicht, als wären es die
eines anderen, ihr gleichgültigen Menschen. Der trotz aller Vorkehrungen ausgebrochene
Wahnsinn stellte sie mit den Tieren auf eine Stufe. Instinktiv stieg sie aus,
als das Auto vor dem Haus hielt, in dem sie wohnte. Die Kühle unter den bloßen
Füßen verwirrte sie. Schon im Treppenhaus begann sie, sich auszukleiden. Wie
immer, wenn sie nach Hause kam, ging sie sofort in die Küche, um das Fenster
zu öffnen. Nackt beugte sie sich über die Brüstung.
Auf dem Dach gegenüber hatten die Arbeiter ein etwa fünf Quadratmeter großes
Loch freigelegt. Die Dachziegel warfen sie in ein aus mehreren Teilen zusammengesetztes
Metallrohr, das in einen Behälter mündete, der im Hof stand. Als sie Paula erblickten,
verstummte das Gedröhn der fallenden Ziegel. Die vier Älteren verbargen ihr
Staunen hinter obszönen Gesten. Der junge Blonde verlor die Balance. Mit ausgebreiteten
Armen stolperte er die Schräge hinunter, bis ihn die Dachrinne aufhielt. Einen
Augenblick sah es so aus, als höbe er sich in die Lüfte. Dann kippte der Körper
wie ein ausgerasteter Uhrzeiger um die von den Fußspitzen gebildete Achse und
stürzte mit dem Kopf voran in die Tiefe. Paula stieß unbewußt einen Schrei aus.
Da ihr die Männer, abgelenkt durch das Ereignis, keine Beachtung mehr schenkten,
schloß sie das Fenster.
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Erschienen in: "André Müller, "Zweite Liebe", Bibliothek der
Provinz, 1991