Erzählen Sie aus Ihrer Vergangenheit!
CLAIRE GOLL: Wo soll ich anfangen? Ich war mit Romain Rolland, Rainer Maria
Rilke, André Malraux, Louis Jouvet und Jacques Audiberti befreundet. Kokoschka
hat mich gemalt, auch Marc Chagall, mit dem das Verhältnis aber jetzt ein
wenig zerrüttet ist, seit ihm seine Geliebte, eine Engländerin, vierzig Jahre
jünger als er, die aussieht wie die Beatrice von Dante, davonlief und zu mir
flüchtete. Auch Picasso wollte mich malen, aber seine eifersüchtige Frau hat
es verhindert. Mit Rilke war ich liiert, obwohl ich seinen Schnauzbart über
den Negerlippen nicht ausstehen konnte. Als ich von ihm schwanger wurde, habe
ich abgetrieben. Das Kind wäre sowieso idiotisch geworden wie seine Tochter,
die dauernd Schlagsahne aß. Audiberti habe ich einen Korb gegeben. James Joyce,
dieser pedantische Egoist, war mir zuwider.* Nora, seine Frau, seufzte immer:
Er schreibt und schreibt und schreibt. Darauf sagte ich: Sie haben halt ein
Genie zu Hause. Ja, antwortete sie, das sagen alle, ich merke bloß nichts
davon. Er brachte sein ganzes Geschlecht auf's Papier. Ein cerebraler Liebender,
eigentlich gar kein Mensch. Mit Denkern habe ich nie viel anfangen können.
Mich interessieren die einfachen Leute, Menschen aus Fleisch und Blut. Mit
einem Elektriker bin ich sofort Bruder und Schwester. Da sage ich: Danke für
Ihre Arbeit. Die Arbeiter sind meine Lieblinge. Taxifahrer chauffieren mich
heute noch gratis. Klempner und Schuster arbeiten für mich ohne Lohn. Meine
Putzfrau ist mir mit Haut und Haaren ergeben. Ich habe halt dieses gewisse
Fluidum, diese unbewußte Lust an der Verführung. Ich kann nichts dafür.
1950 starb Ihr Mann, Yvan Goll...**
GOLL: Ja, Ich wollte ihm folgen. Ich hatte ihm versprochen, ich würde mich
umbringen nach seinem Tod. Aber er war dagegen. Er sagte: Bring Dich nicht
um! Verwalte mein Werk! Es war nicht einfach. Denn die Männer haben mich auch
im Alter nicht in Ruhe gelassen. Ich war noch sehr schön mit siebzig. Einer
wollte mich sogar aus Liebe ermorden...
Nein!
GOLL: Doch! Er war Scherenschleifer, ein bildhübscher Junge. Er ging in die
Küche, um meine Messer und Scheren zu schleifen. Dabei lächelte er schon so
komisch. Ich hatte gerade noch die Geistesgegenwart, Michel, meinen Sohn,
zu rufen. Da ist er geflüchtet. So was passiert mir andauernd.
Wann haben Sie sich zuletzt verliebt?
GOLL: 1967 während einer Vernissage in Paris. Der Junge sah aus wie Alain
Delon, fünfzig Jahre jünger als ich, ein wilder, göttlicher Knabe. Er konnte
Hölderlin auswendig. Da war es aus mit mir. Ich hatte schreckliche Gewissensbisse,
weil ich meinen toten Yvan betrog, aber Michelangelo hat ja auch noch mit
achtzig geliebt. Ich konnte nicht mehr ohne Liebe leben. Mein junger Freund
blieb jede Nacht bis drei Uhr früh. Das war physisch nicht mehr ganz leicht
für mich. Als er mich mit einem Homosexuellen hinterging, habe ich mich von
ihm losgerissen. Es hat mich viele Tränen gekostet. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch
und beging den dritten Selbstmordversuch meines Lebens. Jetzt ist es endgültig
aus mit der Liebe. Der nächste steht zwar schon vor meiner Tür, schön wie
ein florentinischer Jüngling, aber ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.
Schreiben Sie noch?
GOLL: Ich schreibe an einem Roman über meine letzte Liebe***. Damit will ich
den Frauen in meinem Alter beweisen, daß es für die Leidenschaft nie zu spät
ist. Ich bin zweiundachtzig, aber ich stehe jeden Morgen Kopf und fahre Rad
wie der Kaiser von Abessinien. Ich verehre Unkraut. Ich gehe zu Bett mit Rimbaud
und singe täglich die Bach-Kantate "Ich freue mich auf den Tod".
Mein Lieblingsheiliger ist Franz von Assisi. Meine Lieblingsspeise ist Eis.
Aber in Deutschland ist das Eis so schlecht. Die deutsche Seele liegt in der
Wurst.
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*) Nicht nur über Rilke und Joyce, auch über Paul
Celan äußerte sich Claire Goll extrem negativ. Da ich mich auf den kurzfristig
angesetzten Interviewtermin nicht vorbereiten konnte, wußte ich damals nichts
von den mittlerweile als "Goll-Affäre" bekannten (verleumderischen)
Behauptungen der Dichter-Witwe, Celan hätte in seinem Werk ihren Mann
plagiiert. Aus dem Tonbandprotokoll unseres Gesprächs sei hier nachträglich
zitiert, was sie mir dazu sagte: "Paul Celan hat von Yvan, der ihn
adoptieren wollte, abgeschrieben, endlich kommt es heraus. Er hat einen Toten
besudelt."
**) Der Dichter Yvan Goll starb 1950 an Leukämie.
***) Der Roman (nach dem Gedichtzyklus "Die Flammenträgerin") blieb
unvollendet. Claire Goll verstarb am 30. Mai 1977.
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Erschienen am 31. Juli 1973 in der Münchner "Abendzeitung"