Interview mit Claire Goll 1973

(anläßlich der Münchner Premiere der Oper "Melusine" von Aribert Reimann nach dem gleichnamigen Theaterstück von Claires Ehemann Yvan Goll)


Erzählen Sie aus Ihrer Vergangenheit!

CLAIRE GOLL: Wo soll ich anfangen? Ich war mit Romain Rolland, Rainer Maria Rilke, André Malraux, Louis Jouvet und Jacques Audiberti befreundet. Kokoschka hat mich gemalt, auch Marc Chagall, mit dem das Verhältnis aber jetzt ein wenig zerrüttet ist, seit ihm seine Geliebte, eine Engländerin, vierzig Jahre jünger als er, die aussieht wie die Beatrice von Dante, davonlief und zu mir flüchtete. Auch Picasso wollte mich malen, aber seine eifersüchtige Frau hat es verhindert. Mit Rilke war ich liiert, obwohl ich seinen Schnauzbart über den Negerlippen nicht ausstehen konnte. Als ich von ihm schwanger wurde, habe ich abgetrieben. Das Kind wäre sowieso idiotisch geworden wie seine Tochter, die dauernd Schlagsahne aß. Audiberti habe ich einen Korb gegeben. James Joyce, dieser pedantische Egoist, war mir zuwider.* Nora, seine Frau, seufzte immer: Er schreibt und schreibt und schreibt. Darauf sagte ich: Sie haben halt ein Genie zu Hause. Ja, antwortete sie, das sagen alle, ich merke bloß nichts davon. Er brachte sein ganzes Geschlecht auf's Papier. Ein cerebraler Liebender, eigentlich gar kein Mensch. Mit Denkern habe ich nie viel anfangen können. Mich interessieren die einfachen Leute, Menschen aus Fleisch und Blut. Mit einem Elektriker bin ich sofort Bruder und Schwester. Da sage ich: Danke für Ihre Arbeit. Die Arbeiter sind meine Lieblinge. Taxifahrer chauffieren mich heute noch gratis. Klempner und Schuster arbeiten für mich ohne Lohn. Meine Putzfrau ist mir mit Haut und Haaren ergeben. Ich habe halt dieses gewisse Fluidum, diese unbewußte Lust an der Verführung. Ich kann nichts dafür.

1950 starb Ihr Mann, Yvan Goll...**

GOLL: Ja, Ich wollte ihm folgen. Ich hatte ihm versprochen, ich würde mich umbringen nach seinem Tod. Aber er war dagegen. Er sagte: Bring Dich nicht um! Verwalte mein Werk! Es war nicht einfach. Denn die Männer haben mich auch im Alter nicht in Ruhe gelassen. Ich war noch sehr schön mit siebzig. Einer wollte mich sogar aus Liebe ermorden...

Nein!

GOLL: Doch! Er war Scherenschleifer, ein bildhübscher Junge. Er ging in die Küche, um meine Messer und Scheren zu schleifen. Dabei lächelte er schon so komisch. Ich hatte gerade noch die Geistesgegenwart, Michel, meinen Sohn, zu rufen. Da ist er geflüchtet. So was passiert mir andauernd.

Wann haben Sie sich zuletzt verliebt?

GOLL: 1967 während einer Vernissage in Paris. Der Junge sah aus wie Alain Delon, fünfzig Jahre jünger als ich, ein wilder, göttlicher Knabe. Er konnte Hölderlin auswendig. Da war es aus mit mir. Ich hatte schreckliche Gewissensbisse, weil ich meinen toten Yvan betrog, aber Michelangelo hat ja auch noch mit achtzig geliebt. Ich konnte nicht mehr ohne Liebe leben. Mein junger Freund blieb jede Nacht bis drei Uhr früh. Das war physisch nicht mehr ganz leicht für mich. Als er mich mit einem Homosexuellen hinterging, habe ich mich von ihm losgerissen. Es hat mich viele Tränen gekostet. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch und beging den dritten Selbstmordversuch meines Lebens. Jetzt ist es endgültig aus mit der Liebe. Der nächste steht zwar schon vor meiner Tür, schön wie ein florentinischer Jüngling, aber ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.

Schreiben Sie noch?

GOLL: Ich schreibe an einem Roman über meine letzte Liebe***. Damit will ich den Frauen in meinem Alter beweisen, daß es für die Leidenschaft nie zu spät ist. Ich bin zweiundachtzig, aber ich stehe jeden Morgen Kopf und fahre Rad wie der Kaiser von Abessinien. Ich verehre Unkraut. Ich gehe zu Bett mit Rimbaud und singe täglich die Bach-Kantate "Ich freue mich auf den Tod". Mein Lieblingsheiliger ist Franz von Assisi. Meine Lieblingsspeise ist Eis. Aber in Deutschland ist das Eis so schlecht. Die deutsche Seele liegt in der Wurst.

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*) Nicht nur über Rilke und Joyce, auch über Paul Celan äußerte sich Claire Goll extrem negativ. Da ich mich auf den kurzfristig angesetzten Interviewtermin nicht vorbereiten konnte, wußte ich damals nichts von den mittlerweile als "Goll-Affäre" bekannten (verleumderischen) Behauptungen der Dichter-Witwe, Celan hätte in seinem Werk ihren Mann plagiiert. Aus dem Tonbandprotokoll unseres Gesprächs sei hier nachträglich zitiert, was sie mir dazu sagte: "Paul Celan hat von Yvan, der ihn adoptieren wollte, abgeschrieben, endlich kommt es heraus. Er hat einen Toten besudelt."

**) Der Dichter Yvan Goll starb 1950 an Leukämie.

***) Der Roman (nach dem Gedichtzyklus "Die Flammenträgerin") blieb unvollendet. Claire Goll verstarb am 30. Mai 1977.

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Erschienen am  31. Juli 1973 in der Münchner "Abendzeitung"