Christoph Schlingensief (Oktober 2009)

Eine Betrachtung

Der Mensch giert nach Superlativen. Die Medien liefern sie ihm: den reichsten Mann der Welt (Bill Gates), die mächtigste Frau (Angela Merkel), den ältesten noch aktiven Schauspieler (Johannes Heesters, demnächst 106), die schönste Großmutter (Marlene Dietrich, tot). Christoph Schlingensief hat es immerhin zu “Deutschlands prominentestem Patienten” (Hamburger Morgenpost) gebracht.

Seit Januar 2008 weiß die Öffentlichkeit, er hat Lungenkrebs. Der Schauspieler Udo Kier, einst “bester Freund” und Star einiger seiner Filme, hatte es der Presse verraten. In dem zum Bestseller aufgestiegenen Krankenbericht “So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein” nennt ihn Schingensief nur noch “Dödel”, denn, Zitat: “Warum kann ich nicht selbst bestimmen, wann und wie ich das mitteile?”

Nach dem Geplauder des “Dödels” ließ der Kranke per Anwalt verbieten, sein Leiden öffentlich zu erwähnen. Von da an war er nur noch “angeblich” krank, bis er selbst die Inszenierung seines Leidenswegs übernahm. Sie ist, wie man jetzt sagen kann, monumental geraten. Im September 2008 zeigte er in Duisburg anlässlich der Ruhrtriennale sein aus geliehenen Text- und Musikschnipseln von Hölderlin bis Heiner Müller, von Bach bis Wagner zusammengesetztes Oratorium “Die Kirche der Angst vor dem Fremden in mir”, das auch zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Die Fortsetzung “Mea Culpa” (März 2009) füllte dann schon das Wiener Burgtheater und als Gastspiel die Münchner Oper.

Ich besuchte in München die Zweitvorstellung. Das hochgestimmte Publikum erschien festlich gekleidet wie zu “Lohengrin” oder “Tosca”. Als der Todkranke, ergraut und abgemagert, in einem improvisierten Zwischenspiel selbst auf die Bühne trat, raunte ein Herr in der Reihe vor mir seiner Begleiterin zu: “Das ist er!” Nicht die entwaffnende Schamlosigkeit, mit der Schlingensief seinen Verfall ausstellt, verursacht mir Unbehagen. Wenn es ihm hilft, warum nicht? Mich stört die Sensationslust der Zuschauer, die sich als Mitgefühl tarnt.

Der Romancier und Soziologe Elias Canetti hat in seinem ihm wichtigsten Werk “Masse und Macht” die Trauer über einen Todesfall als verkappten Triumph des Überlebens entlarvt. In einem Interview, das ich 1971 mit ihm führte, formuliert er es so: “Ich glaube, dass der Ursprung der Macht in dem Augenblick liegt, in dem ein Mensch konkret einem Toten gegenübersteht… Darin ist, auch wenn man den Toten beklagt, immer ein Element des Triumphs enthalten.” Schlingensief ist nicht tot, aber er präsentiert sich (obwohl wir doch alle sterben müssen) exemplarisch als Todgeweihter.

Der einstige Provokateur tritt als Schmerzensmann auf. 2001, noch kerngesund, schleuderte er während einer Aufführung seiner an Shakespeare nur vage erinnernden “Hamlet”-Inszenierung im Züricher Schauspielhaus dem murrenden Publikum entgegen: “Sie sind hier und haben eine Karte bezahlt, um die Klappe zu halten.” Einer Theaterbesucherin, die den Saal verließ, rief er nach: “Gehen Sie bitte ins Bett und schlafen Sie durch, bis Sie tot sind, das dauert bei Ihnen ohnehin nicht mehr so lang.”

Der scheinbare Widerspruch zwischen den verletzenden Ausfällen und dem bubenhaften Charme dieses ewigen Jünglings verblüffte viele. Auf seine öffentlich zur Schau getragene “Frechheit” angesprochen, antwortete er in einem Interview: “Alles gespielt.” Seit ihm ein Lungenflügel fehlt, spielt er nicht mehr. Seine Witze sind Galgenhumor. Presse und Publikum feiern ihn als glänzenden Entertainer, der heroisch und dabei auch noch unterhaltsam gegen die Krankheit kämpft. Denn Krebs ist Krieg. Man kann ihn besiegen.

Es gibt aber neben dem von Canetti vermuteten Triumph der Überlebenden auch das Gegenteil. Der Jude George Tabori, Schriftsteller und Theaterlegende, dessen Verwandtschaft in Hitlers Konzentrationslagern umkam, sagte mir 1994 im Interview: “Ich fühle mich schuldig als Überlebender den Toten gegenüber.” Tabori schämte sich, davongekommen zu sein. Als ich Christoph Schlingensiefs Buch über die Krankheit las, erinnerte ich mich an dieses Interview. Denn aus jeder Zeile tönt nur die eine Klage: Warum werde ich, der noch so viel vorhat, so jung abberufen?

Schlingensief ist kürzlich neunundvierzig geworden. In mir wuchs, von Seite zu Seite sich steigernd, die Scham, vierzehn Jahre älter und trotzdem gesund zu sein. Ich bin längst überfällig, dachte ich. Kurz nach Kriegsende von einem französischen Soldaten gezeugt, der auf der Heimkehr aus deutscher Gefangenschaft eine Angehörige des Feindstaates schwängerte und das Ergebnis folglich verleugnete, fehlen mir die Voraussetzungen für Triumphgefühle.

Eher überwiegt in mir eine Tendenz zur Selbstauslöschung, die ich mir aber nicht so spektakulär ausmale wie der krebskranke Schlingensief, der in seiner Not mit dem Gedanken spielte, sich in Afrika in die Landschaft zu setzen und, Zitat, “vielleicht kommt ja eine Kobra vorbei, dann läßt man sich kurz mal beißen und erstickt”. Auch über die Möglichkeiten der Sterbehilfe hat er sich im Internet informiert.

Heute weiß er: Umbringen wird er sich nicht. Dazu ist er immer noch zu katholisch. Als Knabe war er sechs Jahre lang Messdiener in der Herz-Jesu-Kirche in Oberhausen. “Mit Maria, Jesus und Gott, mit diesen dreien, möchte ich auf alle Fälle weiterleben.” Die Krankheit hält er für eine Strafe. Aber wofür? “Vielleicht habe ich nicht richtig gelebt… Ich sage, dass ich mich selbst mehr lieb haben will. Auf der anderen Seite sage ich mir, dass ich zu egoistisch oder zu egozentrisch war, zu viel Rambazamba veranstaltet habe.”

Um diesen inneren Zwiespalt zu lösen, hat er sich vorgenommen, in Zukunft mehr nachzudenken. “Wenn ich  selbst wieder in so einen hektischen Kaffeeklatsch rutsche und rumrasen will… und hier noch und da noch, dann sage ich mir einfach: Hör auf, sei still, es geht nicht, ich muß jetzt denken.”

Aber das Denken ist eine einsame Beschäftigung, und allein kann ein Paniker wie Christoph Schlingensief, der dauend vor sich selbst davonläuft, keine Sekunde sein. Immer muß er seinen Clan, zumindest aber Aino Laberenz, seine Kostümbildnerin und Geliebte, die er jüngst auch geheiratet hat, um sich haben. “Ich sehe ein Haus mit Bäumen und Wiesen, wunderschön an einem See gelegen”, sprach er am 1. März 2008 in sein Diktaphon. “Da sitze ich, schaue aufs Wasser, frühstücke in der Sonne, und dann kommt Aino und hat ein Adoptivkind dabei, weil es mit einem eigenen Kind wohl nicht sein soll.”

Das beschauliche Dasein mit Frau und Kind war in den Wochen, da er sich nicht bewegen konnte, sein Traum. Doch kaum aus der Klinik entlassen,  hetzte er von Talkshow zu Talkshow, gab stundenlange Telefoninterviews, äußerte sich zu allem und jedem (“Merkel ist spießig”, “Westerwelle hat keine Zukunft”) und inspirierte den Presseboulevard zu markigen Überschriften. BILD: “Schlingensief spielt sein wildes Lied von Tod”, “Zum Sterben will er nach Afrika”.

Eine zwecks Erholung unternommene Reise nach Warnemünde, “um dort in einem tollen Hotel lecker zu essen und es mir gut gehen zu lassen”, endete “in einem Desaster, weil ich nicht allein sein konnte”. Er sei “komplett abgestürzt”, habe “dauernd kotzen” müssen und überlegt, “wie ich mein Leben möglichst elegant beenden kann”. Christoph Schlingensief  (“Wie ein Gejagter führe ich mich auf”) kann nicht denken. Er redet zu viel.

Die Sätze purzeln aus ihm heraus, jedoch ohne die "allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" (Kleist), denn er hört sich nicht zu. Eine Zeitlang verfocht er die These, er habe sich den Tumor  während seiner Bayreuther “Parsifal”-Inszenierung geholt. Richard Wagners “Todesmusik”, dieses “Giftzeugs”, sei schuld. Später, im Kuscheltalk mit Reinhold Beckmann, bekannte er: “Das ist Quatsch.” Wagners “Tristan und Isolde” will er noch unbedingt inszenieren. Als er sich im Krankenhaus die Ouvertüre angehört habe, habe er, so steht es im Tagebuch, “am ganzen Körper gebebt… wie jemand, der einen epileptischen Anfall hat.” “Es war wie ein absoluter Rausch.”

Denken aber erfordert Distanz, nicht Berauschung. Nur in seltenen hellen Momenten stellt sich der Umtriebige die entscheidenden Fragen: "Was ist der Kern meiner Arbeit?" "Was willst du denn eigentlich sagen?" Und: "Was bleibt denn dann, wenn man tot ist?" Seine teils erfrischend komischen, teils nur abstrusen Aktionen sichern ihm nicht die Unsterblichkeit im Kunstpantheon. Parolen wie  “Tötet Helmut Kohl” (documenta, Kassel 1997) und “Wähle dich selbst” (Bundestagswahl 1998) oder die Einladung an sämtliche Arbeitslose, im österreichischen Wolfgangsee zu baden, um das Urlaubsdomizil des deutschen Kanzlers zu fluten, machten kurz Aufsehen und wurden vergessen.

Auch von seinen zahlreichen Filmen, Trashorgien, die gewollt dilettantisch den Unsinn zelebrieren, verspricht sich der erst durch die Krankheit zur Selbstbesinnung Gezwungene keinen Nachruhm: “Ich frage mich…, ob ich mein Talent richtig eingesetzt habe oder ob dabei nur irgendein Filmquatsch rausgekommen ist, der nichts bedeutet.” Christoph Schlingensiefs größte Sorge ist, daß er nichts Dauerhaftes geschaffen hat. Nicht einmal sein "Parsifal" wurde aufgezeichnet. Das ärgert ihn. Nun will er sich ein Denkmal setzen.

Ein Festspielhaus im afrikanischen Burkina Faso soll es sein, einem der ärmsten Länder der Welt, von Hungersnöten geplagt. Eineinhalb Millionen Euro sind als Kosten veranschlagt. Das deutsche Auswärtige Amt (unter dem inzwischen abgewählten Frank-Walter Steinmeier) hat zweihunderttausend als Zuschuß versprochen. Der Schriftsteller Henning Mankell, der in Afrika lebt, spendete hunderttausend.

Aber wozu soll es gut sein? Auf der für das Projekt eigens eingerichteten Homepage werden Sinn und Zweck (frei nach Joseph Beuys) so beschrieben: "Das Festspielhaus Afrika ist eine langfristige Initiative zur Eigeninitiative, die vom erweiterten Opernbegriff ausgeht", um den "Kreislauf zwischen der Oper und ihrer ursprünglichen Umgebung" wiederherzustellen und "die Kolonie Oper aus ihrer momentanen Erstarrung" zu befreien durch ein "lebendiges Gefäß mit Löchern, das von seiner Umgebung aufnimmt und in seine Umgebung abgibt".

Ich gestehe, daß ich das für Humbug halte, und bewundere dennoch den fanatischen Überlebenswillen des, wie man nun tagtäglich lesen kann, "von der Krankheit Gezeichneten". In Interviews mit Christoph Schlingensief wird meist nur noch gefragt: "Wie geht es Ihnen?" Bereitwillig gibt er Auskunft: neue Metastasen in der verbliebenen Lungenhälfte, "ein Knubbel am Rücken", der beim nächsten Interview gottlob wieder verschwunden ist, die Chemotherapie schlägt an, die letzte Computertomographie fiel alarmierend oder beruhigend aus...

Das Interview, das ich in München mit ihm verabredet hatte, dauerte nur zehn Minuten. Wie unter Strom, legte er los. Es gehe ihm gut. Die lebensverlängernden Tabletten, denen er das verdanke und deren Namen er mir buchstabierte ("Tarceva"), wirken. Sein Haar sei voller geworden. Er habe Gewicht zugelegt und sogar zweimal gejoggt. Aber durch Fragen wollte er sich nicht unterbrechen lassen.

Als ich, auf den Titel seines Buches anspielend, mich behutsam dessen schlichter Wortwahl bedienend, den Einwand versuchte, ob auf der Erde wirklich alles so toll sei, daß es "im Himmel nicht schöner sein könnte", war ich schon als "Schwätzer" und "Nihilist" abgestempelt. Ein Dialog konnte das nicht mehr werden.

Abends, in den Münchner Kammerspielen, der vierten Station auf der Benefiz-Tour für sein afrikanisches Festspielhaus, ergossen sich dann volle drei Stunden lang die monomanischen Satzkaskaden des Schnellredners über ein begeistertes Publikum. In seinem Buch steht: "Raus aus dem Trubelfaktor!" Aber er braucht den Trubel. Er will geliebt werden, und zwar von allen. Dafür ist ihm kein Scherz zu billig.

Höhepunkt in Schlingensiefs Solo-Show sind seine Erlebnisse mit der Familie Wagner in Bayreuth. Sämtliche Comedians von Michael Mittermeier bis Mario Barth in den Schatten stellend, imitiert er das Nuscheln Wolfgangs und das Lallen der "ständig von Wodka besoffenen" (inzwischen verstorbenen) Ehefrau Gudrun Wagner. Auch einen (unfreiwillig komischen)Brief Gudruns, in dem sie ihr Fernbleiben von der Probe mit einer Zahnwurzelentzündung entschuldigt, liest er genüßlich vor.

Pointe reiht sich an Pointe. Der Künstler läßt sein Künstlerleben als einen einzigen (filmisch festgehaltenen) Spaß Revue passieren. In den Garten des einstigen Ministers und mutmaßlichen Waffenhändlers Jürgen Möllemann schüttet er siebentausend Patronenhülsen. Während seiner Wiener Aktion gegen Jörg Haider, "Ausländer raus", schlägt ihm eine Anhängerin des Rechtspopulisten eine Flasche über den Schädel. Möllemann und Haider sind tot. Christoph Schlingensief lebt. Stehende Ovationen.

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Erschienen am 29. Oktober 2009 in der "Weltwoche"