Besuch bei Günter Wallraff



Ja, sagt Günter Wallraff, er habe sich, seit er unter dem Vorwurf stehe, für den Geheimdienst der DDR als Spitzel gearbeitet zu haben, öfter den Tod gewünscht. Wir sitzen einander an seinem Küchentisch gegenüber. Er braucht in seiner Nähe die Kaffeemaschine, damit er sich während des Gesprächs jederzeit aufputschen kann. Mich überrascht seine Antwort. Ich hatte ihn gefragt, ob ihn die Todessehnsucht, unter der er in seiner Jugend litt, eingeholt habe. Aber ich hatte mit einem energischen Nein gerechnet. Denn im Kampf, dachte ich, blüht er auf. Ich war mit der These nach Köln gereist, er brauche, um sich vom Denken an den Tod abzulenken, die Feinde, die er besiegen muß. In einem seiner frühen Gedichte stehen die Zeilen: "Ich werde nie aufhören zu versuchen, nicht mehr zu denken. Ich spüre den Schwellton des wachsenden Todes. Ich fülle meinen Kopf, die Bombe, mit Dynamit. Ich lege die Zündschnur. Ich hoffe auf den zündenden Funken."

"Leben", schreibt Fernando Pessoa, "heißt nicht denken." Günter Wallraff gesteht mir entwaffnend, er sei "gerne blöd". Er sei primitiv, er sei ein Steinzeitmensch. Er schalte die Fernsehnachrichten aus, bevor er mutlos werde. Er lasse sich den Glauben an die Möglichkeit einer besseren Welt nicht nehmen. Er halte, sagt er, Naivität für eine gute Eigenschaft. Und dann schenkt er mir eine Überschrift: "Ich bin ein Neandertaler." Es ist ein gefährlicher Satz. Wallraff hat Ende der Sechzigerjahre in DDR-Archiven nach Beweisen gegen untergetauchte Nazi-Verbrecher geforscht und nicht bemerkt, welche Herren ihm da zu Diensten waren. Heute sagt er, er habe damals beim Wort Agent an James Bond gedacht. Die netten Herren von der Staatssicherheit aber sahen so spießig aus. "Auch Leni Riefenstahl", sage ich, "hat sich damit herausgeredet, sie sei naiv gewesen."

Da stutzt Günter Wallraff. Daß ich ihn mit Hitlers Lieblingskünstlerin vergleiche, verwirrt ihn kurz. Aber er wehrt sich nicht. Nur ein kindliches Staunen huscht über das zerfurchte Gesicht. Später wird er sagen, er sei immer Kind geblieben. Ich denke, ohne es auszusprechen: Das ist sein Verhängnis. Blauäugig schwärmte er trotz Schießbefehl an der deutsch-deutschen Grenze für die vermeintlichen Errungenschaften des Kommunismus. Literatur ließ er, sein lyrisches Frühwerk verdammend, nur gelten "als Waffe im Klassenkampf". "Die DKP ist die Partei, der ich am nächsten stehe", sagte er 1972 in einem Interview. "Für einen lohnabhängigen Arbeiter, dem Zugehörigen der größten und wichtigsten Klasse einer Gesellschaft, sind die Voraussetzungen in der DDR gegeben, die eigene Situation in die Hand zu nehmen und sich zu verwirklichen. Es ist ein langsamer, aber ein im marxistischen Sinne sich entwickelnder Weg der Arbeiterklasse." Und: "Man kann nicht sagen, der Journalist im Westen habe viel größere Freiheiten. Das stimmt nicht. Das ist Quatsch."

Erst die Ausbürgerung seines Freundes Wolf Biermann, sagt er heute, habe ihm die Augen geöffnet. Wie aber erträgt er es, daß ihn der Freund nun als Lügner hinstellt? "Der Wallraff und der Heiner Müller", so Biermann, "glaubten beide, die Stasi über den Tisch ziehen zu können, aber sie wurden von der Stasi gefickt." Ich frage: "Tut das nicht weh?" Wallraff schweigt lange. Seine Züge versteinern. "Darüber müssen Sie mit Biermann sprechen", sagt er dann. Den Kampf um seine moralische Integrität, die er sich, um sein Lebenswerk zu retten, wieder erobern muß, führt er nicht gegen Biermann. Der Feind ist der Axel-Springer-Verlag, dessen Zeitungen "Die Welt" und "Berliner Morgenpost" ihn als informellen Mitarbeiter "IM Wagner" apostrophierten, obwohl nichts bewiesen ist. Zwar existieren unter dem Wallraff seit dem Auffinden seiner Stasi-Akte unstrittig zuzuordnenden Decknamen "Wagner" Berichte über westliche Waffen-Projekte, über das Lehrmaterial einer Hamburger Offiziersschule und anderes. Aber davon, so der Beschuldigte, habe er nichts gewußt: "Ich war vielleicht leichtgläubig. Das mag man mir vorwerfen. Ich rede mit jedem. Ich habe keine Berührungsängste. Aber daß ich in fremdem Auftrag Informationen geliefert habe, ist ausgeschlossen."

Das entspreche nicht seinem Charakter. Dazu sei er zu sehr auf die eigenen Projekte fixiert gewesen, ein Besessener, ein Chaot, ein Egozentriker. In einem Text, den er, 23-jährig, berauscht durch eine Überdosis Meskalin, wie besinnungslos niederschrieb, heißt es: „Gehetzt werden durch sich selbst... Irgendwo in sich selbst etwas suchen, was noch mir gehört, noch ich selbst bin, spezifisch ich bin, aber alles ist durch mich durch und nicht ich, nie ich, vielleicht ich. Fortgeschwemmt von der ewigen Ichbesessenheit und für immer ganz allein gelassen, und damit nie fertigwerden.“ Als Ausweg, so Wallraff damals, „bleibt nur noch der Selbstmord“. Ich frage ihn, ob er je versucht habe, sich umzubringen. Er erzählt, er sei einmal schwer betrunken auf das Dach seines Hauses geklettert, habe sich in die Dachrinne gelegt und trotz Zuredens seiner Frau keine Anstalten gemacht, wieder herabzusteigen. Erst als sie drohte, ihn zu verlassen, und auf die Straße lief, sei er heruntergesprungen und ihr, splitternackt, wie er war, nachgerannt. Da sei die gläserne Haustür hinter ihm zugefallen. Todesmutig habe er sich durch die Scheibe geworfen und so schwer verletzt, daß er beinahe verblutet wäre.

Als Selbstmordversuch ist das auf Anhieb nicht zu erkennen. Aber es zeigt, was Wallraff am meisten fürchtet: "Meine größte Angst ist die Verlustangst." Befragt, ob er jemals für längere Zeit allein gewesen sei, antwortet er: "Gute Frage!" Das Alleinsein erträgt er nicht, weil es ihn zum Nachdenken zwingt. In seinem Text "Meskalin" ahnt er es schon: "Gedankenzwang, Wortzwang... Auf sich selbst zurückgeworfen werden und sehen, daß nichts da ist, und das nicht einsehen wollen und mit allen Mitteln dagegen ankämpfen und dadurch in sinnlose Selbstzerstörungswut fallen." Und dann steht da: "Von allem fliehen wollen." Ich hatte mir die Worte rot angestrichen. Sie sind der Schlüssel zum Verständnis der Rollenspiele, in die Günter Wallraff sich rettete, um nicht zugrunde zu gehen. Er gab sich als Obdachloser aus, als Mönch und Ministerialrat, arbeitete als Tagelöhner bei Thyssen und schlich sich beim Gerling-Konzern als Bürobote ein. Die spektakulärsten Aktionen aber waren seine Verwandlung in den Reporter "Hans Esser", als der er 1977 drei Monate lang für Springers "Bild" recherchierte, und 1985 seine Maskerade als türkischer Gastarbeiter "Ali", dessen erniedrigende Erfahrungen er in dem Weltbestseller "Ganz unten" beschrieb.

Früher, sagt Wallraff, habe er manchmal gedacht, es gebe ihn gar nicht. Nur in der Hülle einer fremden Identität habe er existieren können. "Es ist wie ein Rausch", schrieb er 1989 in einem Aufsatz, der in der "Zeit" erschien. Kaum hatte er eine Rolle abgelegt, stellten sich Entzugserscheinungen ein. Panisch plante er die nächste Verkleidung. Doch seit seinem Auftritt als "Ali" ist ihm kein großer Coup mehr gelungen. Als er sich vor drei Jahren, um aufzuzeigen, daß die Paläste der Herrschenden noch heute von Arbeitssklaven errichtet werden, mit dunkler Perücke und Kontaktlinsen statt der Brille, die er sonst trägt, beim Bau des Berliner Regierungsviertels bewarb, wurde er, obwohl durch die Maske, wie er betont, um zehn Jahre verjüngt, aus Altersgründen nicht eingestellt. Er ist jetzt zweiundsechzig. Doch er weigert sich, sein Alter anzunehmen. Schon den fünfzigsten Geburtstag habe er verdrängt, nicht gefeiert. Als ich ihn frage, ob er sich noch, wie in einem Filmporträt zu sehen war, durch jene verschärfte Art von Liegestützen in Form hält, bei denen er die Arme und Beine vom Boden löst und in der Luft, bevor er wieder aufkommt, in die Hände klatscht, springt er vom Stuhl und ruft: "Mal sehen, ob es noch geht."

Fünf mal stemmt er sich hoch. Der Stolz, daß er seinen durch die vielen Verwandlungen geschundenen Körper noch so beherrscht, stimmt ihn euphorisch. Mehrere Knochenoperationen hat er schon hinter sich. Eine Zeitlang ging er auf Krücken. Nun, da er sich wieder fit fühlt, kann er sogar über sein Alter scherzen. Für sein immer wieder verschobenes Lieblingsprojekt, sich als Rentner in einem Altersheim einzumieten, um die Mißstände dort aufzudecken, müsse er sich, sagt er lachend, bald nicht mehr tarnen. In diese Rolle sei er hineingewachsen. Ich freue mich über seine Heiterkeit. In den Talkshows, in denen er wortreich den Verdacht, er habe für  den Osten spioniert, zu entkräften suchte, wirkte er oft wirr und verstört. Als ihn nach einer Pressekonferenz, in der er sich an der Seite seines Anwalts zu den Vorwürfen geäußert hatte, ein Journalist nach seinem Befinden fragte, brach er in Tränen aus. War ihm das peinlich? "Ich schäme mich nicht meiner Gefühle", erklärt er mir. "Ich weine bei meiner Frau. Aber ich will keine Schwäche zeigen, wenn sie von meinen Gegnern ausgenutzt werden kann."

"So spricht ein Krieger", sage ich. Da sieht er mich wieder mit jenem ratlosen Staunen an, mit dem er, als ich ihn mit Leni Riefenstahl verglich, reagierte. Er sei Pazifist. Er habe sich bei der Bundeswehr geweigert, zu schießen. Ihm fehle die Fähigkeit zur Aggression. "Sie ertragen das Leben nur, wenn Sie kämpfen", insistiere ich. "Sie brauchen Gegner." "Jetzt nicht mehr", sagt Wallraff. Er hat sich zum drittenmal Kaffee eingeschenkt. Im Nebenzimmer klingelt das Telefon. Er geht hinüber. Ich blättere, während er telefoniert, in meinen Unterlagen. Da steht, er sei schon als Jugendlicher auf die Stärkeren losgegangen. "Ich kann mich da an Situationen erinnern", sagte er in einem Gespräch mit Heinz Ludwig Arnold, "daß ich mich in sinnloser Wut als Einzelner diesen mächtigeren Cliquen entgegenschmiß, dann allerdings immer wieder einen in die Fresse bekam, mich aber damit nicht abfand. Da gab es, aus der Wut heraus, den Kürzeren zu ziehen, den Drang, nicht aufzugeben." Der mächtigste Gegner, mit dem er sich anlegte, ist bis heute die Springer-Presse.

In seinem Enthüllungsbuch über die Bild-Zeitung, "Der Aufmacher", nannte er das Blatt "eine gigantische Fälscherwerkstatt", "Zentralorgan des Rufmords" und, in einem Gedicht, "das Gebiß der Finsternis". Das Buch wurde Schullektüre. "Bild" gibt es noch immer. Man schlägt zurück. Günter Wallraff müßte das, wie Claus Peymann ihm jüngst empfahl, "lockerer sehen". Den Beweis, daß er nicht spioniert hat, wird es nie geben. Aber auch das Gegenteil ist nicht zu beweisen. Vielleicht stimmt die Vermutung, auf die er sich verzweifelt stützt, daß sich im Riesenapparat des Ministeriums für Staatssicherheit jemand hervortun wollte, indem er den Ahnungslosen zum Spitzel beförderte und aufschrieb, was dieser leutselig ausplauderte. Man wird es nie wissen. Dieser Kampf ist für Wallraff nicht zu gewinnen, auch wenn er gerichtlich erreicht, daß ihn die Zeitungen nicht mehr als "IM Wagner" bezeichnen dürfen. Mag sein, daß er das spürt. In letzter Zeit schlafe er schlecht, sagt er, als er vom Telefonieren zurückkommt. Sonst könne er sogar im Sitzen und Stehen schlafen.

Die Anschuldigungen zermürben ihn. Ihm schlage der "blanke Haß" entgegen. Man wolle ihn mit "Totschlagzeilen" vernichten. Daß einer wie er, der sich nicht anpaßt, Erfolg habe, könnten jene, die sich dem Zwang der Karriere beugen, nur schwer ertragen. Ich sage: "Wären Sie nur Schriftsteller, hätten Sie Ihren Frieden." "Das Schreiben", sagt Wallraff, "ist für mich eine Qual." Nur in den Aktionen, die er inszeniert wie ein Schauspiel, dessen Hauptdarsteller er ist, kann er den Todesgedanken vergessen. 1974 kettete er sich in Athen an einen Lichtmast und verteilte Flugzettel, auf denen er das Militärregime, das damals dort herrschte, zur Freilassung der politischen Gefangenen aufforderte. Absichtlich begab er sich in Gefahr. Die Folter, die er nach seiner Verhaftung erleiden mußte, hat er genau beschrieben: "Zwei Spezialisten in Zivil schlugen meinen Kopf an einer Tischkante und auf dem Fußboden blutig. Außerdem Schläge mit einer Kette, die an meinem Hals befestigt war. Schläge in Magen und Milz. Schläge mit einer Eisenstange und mit Absätzen von Stiefeln auf die Zehen des linken Fußes." Die Opferrolle ist ihm, sofern er sie freiwillig auf sich nimmt, die liebste Rolle.

Der soziale Furor, mit dem er sich für die Verfolgten und Entrechteten einsetzt, kommt erst zur Ruhe, wenn er sich den Demütigungen, die jene erdulden, selbst unterwirft. Willi Winkler hat das in der "Süddeutschen Zeitung" auf eine "katholisch-masochistische Konstitution" zurückgeführt. Man könnte darin auch eine Neigung zur Selbstbestrafung erkennen. "Morgen Telegramme in alle Himmelsrichtungen schicken und um Entschuldigung flehen, daß alles so ist, wie es ist", schrieb Wallraff im Drogenrausch. Das Schuldgefühl ist sein katholisches Erbe. "Lieber Gott, mach mich kapott", habe er als Kind vor dem Einschlafen gebetet. Erst durch die Arbeit, sagt er, habe er den Todestrieb überwunden. "Durch den Spionageverdacht", sage ich, "werden Sie wieder zurückgeworfen." Er richtet den Blick zur Decke. "Es nervt", stöhnt er. "Es lähmt die Kreativität." Er müsse das hinter sich bringen. Denn er habe schon alles für ein neues Projekt vorbereitet.

Die Idee dazu kam ihm vor einem Jahr, als ihm auf dem Moskauer Flughafen die Weiterreise nach Tschetschenien, wo er sich über Menschenrechtsverletzungen informieren wollte, verweigert wurde. Er hatte sich in einem Interview kritisch über Präsident Putin geäußert. Nun habe er vor, erzählt er mir, sich über die grüne Grenze in das vom Krieg geschüttelte Land einzuschleusen, um sich, als "normaler Bürger" getarnt, den dortigen Lebensbedingungen auszusetzen. "Jetzt haben Sie es verraten", sage ich. "Oh, Gott!" ruft er und lacht. Es ist ein komischer und zugleich befreiender Moment. Günter Wallraff gibt sein bestgehütetes Geheimnis preis, aber es scheint ihm nichts auszumachen. Er reißt ein Blatt von einem rohen Kohlkopf, der neben der Spüle liegt, verzehrt es und bietet mir auch eines an. Davon und von Bananen, sagt er, ernähre er sich, da er nicht kochen könne. Ohne Bananen wäre er längst verhungert. Wenn er ausgiebig speisen wolle, gehe er in ein Restaurant.

"Wo ist Ihre Frau?" frage ich. "Wir wohnen getrennt", antwortet er. Seine Arbeit sei mit einem geordneten Familienleben nicht zu vereinen. "Aber unser Verhältnis ist gut." Die beiden jüngsten Töchter, sechs und zwölf Jahre alt, leben auch bei der Mutter. Wallraff hat noch drei Töchter aus zwei früheren Ehen. Fröhlich berichtet er, ein lesbisches Liebespaar, das sich weiblichen Nachwuchs wünschte, habe sich vor einiger Zeit mit der Bitte um eine Samenspende an ihn gewandt. Er wäre dazu bereit gewesen. Er sei ein hilfreicher Mensch. Zum Glück habe die Rechtslage, die untersagt, daß der Spender erfährt, wer den Samen bekommt, seine Wohltat verhindert. Denn das Paar habe sich mittlerweile entzweit. "Sie sind viel lustiger als man denkt", sage ich. "Ja, sehen Sie mal", stimmt er begeistert zu. "Man kennt mich nicht. Ich habe auch in meiner Arbeit immer wieder gezeigt, wie wichtig es mir war, Spaß zu haben. Ich sehe mich nicht nur in der Opferrolle." "Sie haben es", füge ich hinzu, "eine sinnliche Freude genannte, sich als Schwächerer gegen die Mächtigen zu behaupten."

"Ja", sagt er, "Sinnlichkeit ist ein Begriff, den ich gern verwende. Um die Unsinnlichkeit mache ich einen großen Bogen." Später, beim gemeinsamen Abendessen in einer Gaststätte, verrät er mir, er bevorzuge Frauen mit barocken Formen. Mit magersüchtigen Models könne er nichts anfangen. Daß er die seiner Meinung nach falschen Bilder, die von ihm kursieren, zurechtrücken kann, beflügelt ihn. In der Sexualität, sagt er, könne er sich ganz fallenlassen. Da sei er mit sich identisch. Nur durch die Liebe zu seinen drei Frauen habe er überlebt. Man werde das in seiner Autobiografie, die aber erst posthum erscheinen dürfe, nachlesen können. "Warum posthum?" will ich wissen. Da wird er ganz leise. Er beschreibe darin auch seine Verfehlungen, flüstert er. Ich versuche mir auszumalen, was damit gemeint sein könnte. Hat Günter Wallraff, der Gutmensch, das Böse in sich aufgespürt? Hat er erkannt, daß auch in ihm Abgründe schlummern? Er sei, gesteht er, nicht immer treu gewesen. Seine erste Ehe sei daran zerbrochen. "Fällt Ihnen sonst nichts Schlechtes an Ihnen ein?" frage ich.

"Ich bin jemand", erwidert er, "der Versprechungen ernst meint, sie aber dann oft nicht einhalten kann." "Das ist eine läßliche Sünde", sage ich. Wallraff blickt ratlos. Da schlage ich ihm etwas vor: "Größenwahn." Nun braust er auf: "Da liegen Sie völlig daneben. Das würde ja bedeuten, daß ich mich für etwas Besonderes halte. Das Gegenteil ist der Fall. Ich erhebe mich doch nicht über andere. Ich mache mich kleiner als ich bin." Daß man die Inszenierung der Erniedrigung, die anderen ungewollt widerfährt, auch hybrid finden kann, versteht er nicht. Dazu denkt er zu schlicht. Doch gefühlt hat er schon, daß er nach seiner Aktion in Griechenland und dem Leidensbericht "Ganz unten" Gefahr lief, als Märtyrer dazustehen. Eine Karikatur zeigte ihn damals mit Dornenkrone. Um dem Image als Schmerzensmann entgegenzuwirken, begann er, seine "egoistischen Motive" hervorzukehren. "Zu sagen, ich tue eine Arbeit, weil ich für andere was erreichen will", erläuterte er 1986 in einem Interview, "ist eine sekundäre Rationalisierung, die man ihr überstülpt, um sie zu legitimieren."

Heute formuliert er es kurz und bündig: "Ich habe das auch für mich getan." Und: "Es war ein Spiel." Günter Wallraff hat mit den Jahren zu einer Leichtigkeit, die auch mit Humor zu tun hat, gefunden. Es freue ihn, wenn Leser ihm schreiben, sie hätten über das eine oder andere in seinen Büchern gelacht. Der berühmte Germanist Hans Mayer habe an ihm eine satirische Begabung entdeckt. Es sei doch komisch, wenn er, wie in "Ganz unten" beschrieben, als angeblich todkranker Türke in einem Bestattungsinstitut seine Einsargung und Überführung in die Heimat bestelle. "Wo wollen Sie beerdigt werden?" frage ich. "Gar nicht!" ruft er. Er wolle in einer Baumkrone sterben und von Geiern gefressen werden. Aber leider gebe es ja keine Geier in Deutschland. Er wirkt jetzt fast ausgelassen. Sogar über seine vermutete Agententätigkeit kann er sich lustig machen. Niemals, sagt er, hätte er sich als Deckname "IM Wagner" gewählt. Die Musik Richard Wagners sei ihm ganz fremd. "IM Eulenspiegel" hätte er sich genannt. Der Schalk sei sein Vorbild.

"Stülpen wir uns doch die Narrenkappe über und treten wir auf im ganz großen Zirkus", schrieb er, 16-jährig, in einem Schulaufsatz, der ihm wichtig genug erschien, um ihn in eine Sammlung seiner besten Texte mit dem Titel "Ich - der andere" aufzunehmen. Ich lese ihm die Stelle vor. Ja, sagt er, er sei ein Narr. Denn die Weisheit der Narren bestehe darin, sich dumm zu stellen. 

Erschienen in der "Weltwoche" am 13. Mai 2004