Aus dem Fernsehen kannte ich nur ihr Lächeln. In den Interviews, die offenbar
ohne Schwierigkeit von ihr zu bekommen waren, gab es kaum einen Moment, in dem
ihr Gesicht irgend etwas anderes zeigte als die Maske lächelnder Verbindlichkeit.
Oft stand das Lächeln in keinem Zusammenhang mit dem, was sie sagte. Es bezog
sich nicht auf den Inhalt der Worte, es war schon da, bevor Worte überhaupt
fielen. Es war, wie ich jetzt weiß, Ausdruck einer Verschlossenheit, die, da
sie sich als Offenheit tarnt, weit undurchdringlicher ist als zum Beispiel die
Verschlossenheit eines Rudolf Noelte oder Fritz Kortner, die sich den Medien
immer verweigert haben.
Auf dem Theaterfestival in Avignon gastierte Ariane Mnouchkine zehn Tage lang
mit ihrem Stück »Mephisto« nach dem gleichnamigen Roman von Klaus Mann. Darin
gibt es eine Szene, in welcher der Schauspieler Christian Collin, maskiert als
Hitler, beim Haschen nach Fliegen den Nazigruß »Heil Hitler« entdeckt. Es ist,
von Kritikern vielfach bejubelt, ein hinreißender Einfall, und er entstand,
wie alles bei der Mnouchkine, aus der Improvisation mit den Schauspielern der
Truppe.
Ich fuhr nach Avignon, um mit ihr über diese Szene zu sprechen und, davon ausgehend,
über das ganze Stück, in dem ja von der Faszination des Bösen die Rede sein
soll, von der Verführbarkeit durch das auf den ersten Blick Schöne, das sich
dann, viel zu spät, als Absturz in die Vernichtung entpuppte. Gustaf Gründgens,
im Roman und im Stück Hendrik Höfgen, hat, während Deutschland zugrunde ging,
schönstes Theater gemacht. Er hat mit dem Nationalsozialismus paktiert, um unbehelligt
seiner Idee vom großen Theater nachgehen zu können. Das ist es, was die Mnouchkine
ihm vorwirft, mehr noch: Sie hat aus ihm einen mittelmäßigen, ruhmsüchtigen
Kriecher gemacht, so wie aus Hitler einen Fliegenfänger. In einem Pariser Interview
verglich sie den deutschen Faschismus mit einem Gestank nach »Pisse und Scheiße«.
Der Kern meines Gespräches mit ihr wäre die Frage gewesen, ob man der Monstrosität
des nationalsozialistischen Alptraums, der ja eben kein Traum, sondern Wirklichkeit
war, mit solchen Verkleinerungen gerecht werden könne und ob sie, die Französin
mit englischer Mutter und russischem Vater, Deutschland als eine Ansammlung
von Fäkalien-Fetischisten betrachte, die sich von einem Stück Scheiße, das Hitler
hieß, habe betören lassen. Aber es ist zu dieser Frage dann nicht gekommen.
Es war nicht möglich gewesen, mich bei Ariane Mnouchkine anzumelden. Niemand
in München und Paris wußte oder wollte mir sagen, wo sie in Avignon wohnte.
Als ich auf dem sandigen Vorplatz der Lagerhalle im »Parc Champfleury«, in der
die Aufführung stattfand, auf sie zuging, ahnte sie zunächst nicht, wer ich
war und was ich von ihr wollte. Dann sagte ich »Journalist« und »Deutschland«
und »Interview«, und da war nun gleich dieses Lächeln, das ich schon kannte,
und dann der Satz: »Rufen Sie mich übermorgen um elf Uhr im Hotel Excelsior
an.« Ich hatte sofort den Gedanken, daß das ein Nein war und daß ich, um ein
Ja zu bekommen, das Lächeln zerstören mußte.
Das Stück »Mephisto« spielt abwechselnd auf zwei einander gegenüberliegenden
Bühnen, zwischen denen auf Klappstühlen die Zuschauer sitzen. Auf der einen
Bühne sieht man Privat- und Berufsleben des Schauspielers Höfgen: Bilder aus
der Biografie eines perversen Karrieristen; auf der anderen werden Szenen aus
dem antifaschistischen Kabarett »Der Sturmvogel« gezeigt, darunter auch jene
Hampelmann-Persiflage auf Hitler. Da ein Teil des Publikums nicht in den Sitzreihen
Platz fand, setzten oder stellten sich einige auf das anfangs noch im Dunkel
liegende Podium für die Kabarett-Einblendungen. So auch ich. Dann plötzlich:
der Bühnenwechsel. Aufgescheucht huschten die Zuschauer aus dem Scheinwerferlicht
ins Dunkel des Saales. Ich aber blieb stehen und war von diesem Moment an etwa
zwölf Minuten lang nicht Zuschauer und nicht Journalist, sondern Mitspieler,
Akteur.
Wenn ich heute versuche, rückblickend mein Stehenbleiben, das Folgen hatte,
zu analysieren, kann ich noch immer nur Mutmaßungen anstellen. Natürlich wollte
ich Ariane Mnouchkine auf mich aufmerksam machen. Sie hatte, als ich ihr vor
der Vorstellung erklären wollte, wer ich sei und was mich an ihr interessiere,
nur gelächelt und abgewinkt und mich auf übermorgen vertröstet. Nun, da ich
mitten unter ihren Schauspielern stand, ohne Kostüm und Maske, mußte sie auf
mich blicken. Mich ihr aufzuzwingen, war aber nicht meine Absicht gewesen. Eine
Provokation in dieser Form hatte ich nicht geplant, sondern ganz einfach den
Moment der Flucht von der Bühne verpaßt. Mir fehlt jener Reflex, der andere
Menschen (sofern sie nicht Künstler, die öffentlich auftreten, sind) aus dem
Licht in die Finsternis treibt. Als aber erst einmal der Augenblick meines Abgangs
versäumt war und das Spiel schon begann, wäre alles, was ich getan hätte, also
auch das mühsame Herabsteigen von der Bühne, auf die ich nicht gehörte, ein
viel mehr auffälliger Vorgang gewesen als mein Verharren.
Denn mühsam, wenn nicht unmöglich, wäre dieses Herabsteigen bestimmt gewesen,
da ich ja die Raumverhältnisse der Bühne nicht kannte: im Unterschied zu den
Schauspielern, die monatelang darauf geprobt und jeden Schritt eingeübt hatten.
Also blieb ich regungslos an einen Pfosten gelehnt und dachte an nichts anderes
als daran, keinesfalls den Versuch irgendeiner Geste oder mimischen Eskapade
zu machen. Meinen Gesichtsausdruck stellte ich mir als Ausdruck von Einsamkeit
und Verzweiflung vor. Denn einsam und verzweifelt fühlte ich mich. Während wenige
Meter von mir entfernt Schauspieler, die einander kannten und aufeinander eingespielt
waren, einen grellen Sketch absolvierten, kannte ich niemanden und hatte keinen
Partner für meinen Auftritt.
Dennoch war ich, wie sich herausstellte, nicht wegzudenken. Das Spiel war gestört.
Einer der Darsteller unterbrach seine Rolle, wandte sich an mich und fragte
auf französisch, was ich hier wolle. Ohne zu überlegen, antwortete ich: »Sprechen
Sie deutsch?« Die Folge: Unruhe im Saal, Gekicher, einige Pfiffe. Eine Kulisse
wurde herabgelassen, hinter der ich verschwand. Erneutes Gelächter, Zurufe von
unten, Beifallsgeklatsche. Ariane Mnouchkine stand am Rand der Bühne und machte
mir Zeichen. Ihr Gesicht war mein Zielpunkt. Vorsichtig, um nicht zu stolpern,
tappte ich auf sie zu. Sie nahm meine Hand und half mir über die Stufen, die
von der Bühne führten. Dann lief sie, mich hinter sich her zerrend, durch einen
Nebenausgang in eine Halle, in der die Schauspieler-Garderoben aufgebaut waren.
Ich fragte, wohin sie mich bringe. Sie antwortete: »Ich gebe Ihnen Ihr Geld
zurück.« Da geschah wieder etwas, das vielleicht ein falscher Reflex ist, eine
mir eigene Abnormität. Ich habe die Eigenschaft, auf Worte wörtlich zu reagieren.
Ich denke nicht darüber nach, was sich hinter dem, was jemand sagt, verbergen
könnte. Ich sagte: »Gezahlt habe ich nichts«, drehte mich um und kehrte zurück
auf die Bühne. Hinter mir her: die ihres Lächelns beraubte Regisseuse.
Bei ihrem zweiten Versuch, mich von der Bühne zu holen, hatte sie zwei männliche
Ensemblemitglieder an ihrer Seite. Auch ein Anfang von Gewalt, eine kleine Rangelei,
ereignete sich. Was aber den Ausschlag gab, war Ariane Mnouchkines Zusage: »Ich
werde, wenn Sie herunterkommen, mit Ihnen sprechen.« Aus keinem anderen Grund
war ich nach Frankreich gefahren. Also stieg ich wieder ins Dunkel, verließ
mit ihr das Theater und wartete, was sie mir sagen würde. Das Lächeln, das sie
noch einmal versuchte, stürzte, kaum angefangen, ins Bodenlose. Sie nahm mit
sanftem Griff meine Hände und sagte: »Sie sind konfus. Sie sind krank. Und Sie
wollen Journalist sein?«
Alles, was sie jetzt tat, jeden Satz, den sie sprach, empfand ich als Antwort
auf eine meiner für das Interview vorbereiteten Fragen. Ich hatte sie fragen
wollen, ob ihre therapeutischen Fähigkeiten dem Zusammenhalt ihrer Theatertruppe
zugute kämen. Sie hat ja, wie überall nachzulesen, in Oxford und Paris Psychologie
studiert und eine Zeitlang mit dem Gedanken gespielt, das als Beruf auszuüben.
Ihre psychologische Begabung im Umgang mit Menschen sei, so hatte ich gelesen,
das Fundament ihrer Führungsposition in der Gruppe. Kein anderes Theaterkollektiv
dieser Größenordnung hat so lange so gut funktioniert wie das »Theatre du Soleil«,
das seit über dreizehn Jahren zwar nicht ohne Krisen, aber in produktiver Eintracht
besteht. Einer deutschen Tageszeitung gegenüber hatte Mnouchkine erklärt, sie
könne sich gut vorstellen, etwas anderes als Theater zu machen, aber sie werde,
solange die Gruppe sie brauche, nicht gehen.
Ich halte das für eine kokette Bemerkung. Denn ohne Ariane Mnouchkine gäbe es
dieses Theater nicht, und ohne sie ist es auch in Zukunft nicht denkbar. Sie
gebiert die Ideen, inszeniert, schreibt neuerdings auch die Stücke, und sie
allein ist es auch, die letzten Endes Schwierigkeiten aus dem Weg räumt. Keiner
ihrer Schauspieler, deren Improvisationstalent so gerühmt wird, war in der Lage,
sich mit meinem unverhofften Erscheinen auf der Bühne auseinanderzusetzen. Als
ich Mnouchkine fragte, ob es im Ensemble niemanden gebe, der ihr eine solche
Aufgabe abnehmen könne, sah sie mich an, als hätte ich einen völlig abwegigen
Gedanken geäußert.
Dabei hatte sich doch im Grunde nichts anderes abgespielt als genau das, was
sie seit Jahren als einen der Kernpunkte ihrer Theaterarbeit bezeichnet: die
Einbeziehung des Publikums in das Geschehen auf der Bühne. Mir geht es nicht
darum, Wortklauberei zu betreiben. Natürlich weiß ich, daß mit solchen programmatischen
Sätzen nicht gemeint ist, die Zuschauer dazu einzuladen, sich auf der Bühne
niederzulassen und dort Verwirrung zu stiften. Aber es muß doch erlaubt sein,
die Zielsetzungen der bedeutendsten Theaterleiterin, die es im Augenblick gibt,
einmal ganz wörtlich zu nehmen. Sie hat ja oft genug formuliert, worauf es ihr
ankommt: Das alte Theater, das Theater des Worts, wo die Schauspieler in Kostümen
ihre Texte sprechen, sei tot. In direktem Kontakt mit dem Publikum wolle sie
ihre Erfahrungen machen. »Creation collective« hatte sie das Zusammenwirken
von Zuschauern und Schauspielern genannt, und sie hat das alles bis heute nicht
widerrufen, wenn auch in ihrer Arbeit eine totale Kehrtwendung vollzogen.
In der „Mephisto“-Aufführung beschränkt sich die Aktivität des Publikums auf
das geräuschvolle Umklappen der Stühle, um sich der jeweils bespielten Bühne
zuwenden zu können. In den Revolutionsstücken »1789« und» 1793« hat es noch
mit den Darstellern singen, sie anreden und in Diskussionen verwickeln dürfen.
In der Inszenierung »L'Age d'or« waren die Zuschauer dazu angehalten, hinter
den wandernden Schauplätzen herzulaufen. Der Euphorie über solches Mitmachen
lag der Irrtum zugrunde, die sichtbare Bewegtheit des Theaterpublikums sei schon
der Beweis einer Anteilnahme, die eine konventionelle Inszenierung, vor der
die Besucher stillsitzen müssen, nicht hervorrufen könne. In Wirklichkeit war
auch bei Ariane Mnouchkine, wie in jedem herkömmlichen Theater, einzig und allein
die Qualität der Aufführung ausschlaggebend. Das Publikum spielte den Part,
den die Regisseurin ihm zugeteilt hatte. Es hatte nicht mehr und nicht weniger
Freiheit als das Publikum eines x-beliebigen Stadttheaters, in dem schon ein
Räuspern als peinlich empfunden und das Kommen und Gehen in die Pausen verlegt
wird.
Wenn jemand, wie ich in Avignon, über die für das Publikum vorgesehene Rolle
hinausgeht, reagiert Ariane Mnouchkine wie jeder andere von seinem Werk besessene
Künstler: Sie reagiert panisch. Immer wieder, mit einer an Irrwitz grenzenden
Beharrlichkeit, wiederholte sie mir gegenüber den Satz, sie lasse sich ihr Stück
nicht zerstören. Daß nicht zerstörerischer Ehrgeiz, sondern erklärbare Umstände
mein Verweilen auf der Bühne verursacht hatten, wollte oder konnte sie nicht
begreifen. Mein Erstaunen darüber, wie sie über die destruktive Energie des
Nationalsozialismus habe ein Stück schreiben können, wenn sie schon angesichts
der vergleichsweise harmlosen Störung durch einen Reporter derart aus der Fassung
geriet, behandelte sie als Krankheitssymptom eines psychisch Verwirrten. Mit
mütterlichem Händedruck lud sie mich ein, das Gespräch fortzusetzen, wenn ich
wieder bei Verstand sei.
Ein Interview konnte das nicht mehr werden. Aber auch das Scheitern hat seine
Gesetze. Ich kam zum verabredeten Termin in das Hotel, in dem Ariane Mnouchkine
wohnte. Sie kam zwei Stunden zu spät. Das erste, was sie sagte, war, daß sie
nichts sagen wolle. Trotzdem setzte sie sich und rückte sogar ihren Stuhl zurecht,
als wolle sie es sich für eine längere Unterhaltung gemütlich machen. Ich begann
sofort mit den Fragen. Mein Ausgangspunkt war, wie geplant, die Kabarettszene
mit Hitler. Es ist eine sehr komische, sehr zum Lachen auffordernde Szene. Ich
weiß nicht, ob das Lächerlichmachen oder, wie die Mnouchkine es nannte, »Denunzieren«
einer Person zu deren psychologischem Verständnis beiträgt. Ich habe da meine
Zweifel. Ich fragte: »Halten Sie Hitler für ein Ungeheuer, ein Monstrum, oder
können Sie sich vorstellen, ihn als Mensch zu begreifen?« »Er war kein Ungeheuer«,
gab sie zur Antwort, »aber er war ein Mann.«
Der Satz wäre eigentlich der Beginn einer Auseinandersetzung über das Männliche
und Weibliche im Menschen gewesen, was ja ein Lieblingsthema der Mnouchkine
ist. In einem Interview mit der Zeitschrift "Theater heute" hatte
sie, ohne das näher erläutern zu wollen, behauptet, Kreativität sei immer weiblich.
Ich fragte sie, ob sie dementsprechend die Destruktivität als etwas nur Männliches
und also Hitler als die Verkörperung reinsten Mann-Seins betrachte. Folgender
kurze Wortwechsel entspann sich:
ARIANE MNOUCHKINE: »Ich interessiere mich nicht für das Maskuline oder Feminine
an Hitler.«
FRAGE: »Aber Sie haben doch gerade gesagt, das Entscheidende sei, daß er ein
Mann war?«
MNOUCHKINE: »Ich habe gesagt, daß ich keine Fragen beantworten möchte.«
»Trotzdem tun Sie es.«
MNOUCHKINE: »Bitte, ich möchte jetzt gehen.«
ICH: »Wer hält Sie auf?«
Plötzlich war da wieder, vollkommen unerklärlich, dieses Lächeln. Sie stand
auf und streckte mir ihre Hand entgegen. Ich war aber durch ihr Lächeln so irritiert,
daß ich nicht sofort reagieren konnte. Ich nahm die Hand nicht, und so sind
wir ohne Abschied auseinandergegangen.
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Erschienen in dem Buch: André Müller, "Interviews", Hoffmann und Campe, 1982