Abschied (1. Ergänzung)
Prosa 2010
... So vergehen die Tage und Nächte.
Ich nage an mir. Bei Dunkelheit sehe ich Berge und Grasland und Wüsten. Bei
Licht sehe ich die Trugbilder der Finsternis, die mir, in meinem Gedächtnis
aufbewahrt, erlauben, mich von allem vermeintlich Existierenden unabhängig zu
fühlen. Zum Schutz gegen trotz aller Vorsichtsmaßnahmen immer noch mögliche
Übergriffe werde ich mich in Ungeziefer verwandeln. Aber allzu vorsichtig muß
ich nicht sein. Man erschlage mich. Man wird mich nicht los.
Ein Staubkorn bleibe ich oder ein anderes winziges Etwas, für das ich
wortschöpferisch eine Bezeichnung erfinde, die außer mir niemand versteht. Die
neue Welt, in der ich zeitlos überdaure, wird mir noch nie gehörte
Sprachkunststücke entlocken. Huzel uni qualt, paleske olum. Noch sind das nur
Spielereien. Kein Bandit macht sich über mich her, kein Zugentführer, kein
Kaperer. Käme es dazu, wäre im Handumdrehen der Zug kein Zug mehr, aber auch
kein Schiff und kein Flugzeug. Kein Mensch werde ich dann sein, aber auch keine
Maus und kein Licht und kein Schatten.
Ungefährdet werde ich mich in den noch nie gedachten Wörtern verstecken. Meine
Stimmungsschwankungen werden in mir, da ich sie nicht so nenne, keine Erregung
erzeugen. Aber noch ist es ja nicht so weit. Eine Kugel durchschlägt das
Fenster und streift mein Haar. Ein Gott fährt nicht hinter Panzerglas. Ein
schallendes Gelächter, wie es sich mir noch nie entrang, füllt den Waggon. Am
schmerzlichsten werde ich in der neuen Sprache die Komik vermissen. Über ein
Ranzolett kann ich nicht lachen, über ein Queiladum, ein Urozon. Ein zweiter
Schuß trifft mein Ohr. Oh, teures Blut!
Man trachtet mir nach dem Leben. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen.
Das Fenster öffnend, biete ich meinen Oberkörper der Durchlöcherung dar. Die
schwarzen Gestalten in der Deckung des Bahndamms aber schießen Salut. Wollten
sie mich denn nur sehen? Jawohl, noch bin ich da als homo erectus, wundertätig.
Ich segne auch. Nun sucht euch andere Beute! Krähen kreisen über Flamingos. Ich
bin entzückt, aber ich kann mein Entzücken nicht teilen. Die Einsamkeit ist
mein Los, bis ich ihr, ihrer überdrüssig, ein Ende setze. In einem Lichtnebel
auf den Sitz mir gegenüber erscheint ein mit Lametta glitzernd behängter Engel.
"Auch ich", sagt, nein, singt er, "sehe das Schwarz über dem
Rosa. Es sind keine Vögel." Willst du streiten? frage ich. "Ja,
streiten wir. Es sind Rußwolken über dem letzten Rest vergänglicher
Schönheit." "Es sind Krähen!" "Nein, es ist Ruß!"
"Es sind Flamingos!" "Nein, es ist das verlorene Paradies."
"Gut, ich gebe dir recht. Wie du es nennst, möge uns nicht
entzweien." "Aber das ist ja kein Streit", sagt nun trotzig der
Engel und entschwindet als weiße Taube. Ich aber will noch oft Fehler begehen
und nichts daraus lernen. Denn es kommt nur darauf an, eine Vielzahl von Sätzen
zu produzieren, damit ich in Sprache ertrinke.
Sie soll fließen. Ich will in ihre Strudel gezogen werden, damit mir die Sinne
vergehen und die Wörter isoliert in ihren Bedeutungen dastehen, ohne daß sich
daraus eine Geschichte ablesen ließe wie die Geschichte des Engels im Ruß. Hat
ihn der Schmutz verschluckt? Oder haben ihn die Krähen gefressen? Meinem
nächsten Kontrahenten gebe ich nicht klein bei. Da sitzt er schon, ein bärtige
Alter. "Sehen Sie" spornt er mich an. "Sehen Sie! So etwas
werden Sie nie wieder sehen. Es ist Gift. Halten Sie sich die Nase zu, bis wir
es hinter uns haben!"
"Mich kann nichts vergiften", erwidere ich. "Ich bin mit allen
Wassern gewaschen und mit allen Giften intoxikiert. Ich kann Ihnen Beweise
meiner Überlebenskunst liefern, da werden Sie sich bekreuzigen. Passen Sie auf!
Ich öffne mein Hemd. Was sehen Sie? Eine behaarte Brust. Und nun? Eine Spalte
und darin mein Gesicht. Wie aber beschreiben Sie diesen Vorgang? Herzgeburt?
Partielle Verdoppelung? Sie können es nicht definieren. Sie haben keinen
Begriff dafür. Sie müssen Ihrer dichterischen Begabung trauen, um zu erfassen,
was da geschah. Der Schoß zwischen den Schenkeln ist eine
Sinnestäuschung."
Monströs wachse ich aus mir heraus und ersetze durch mich den Widersacher. Man
könnte auch sagen, ich habe den Platz gewechselt, um nicht in die Fahrtrichtung
zu blicken. Das Vordere interessiert mich nicht. Das Schwindende zieht mich
jetzt an. Es flieht mich in täuschender Fortbewegung. Warte, du junge Frau!
Wirf mir die Heugabel nach wie einen Kuß! Steh still, Zug! Habe ich das Recht,
dich aus Verzweiflung anzuhalten? Strikt verbiete ich mir die Unterbrechung.
Masken fliegen vorbei. Ein Sturm hat sie von den Köpfen gerissen. Eine knallt
an die Scheibe. Aber nein, das ist keine Maske!
Es ist ein vom Aufprall zermanschtes Gesicht! Es erschreckt mich nicht. Ich
fahre an Dörfern mit abgedeckten Häusern vorbei. Auf Spießen stecken wie
Trophäen die verlorenen Häupter. Die Davongekommenen umtanzen ekstatisch die
Pfähle. Es scheint, als huldige man der Naturgewalt. Ich kenne die
Gepflogenheiten dieses Landstriches nicht. Ich bezeuge sie nur mit stoischem
Gleichmut. Ratata. Ratata. In bin nicht involviert. Sollen sie doch das
Unmenschliche feiern, hohnsprechend allem, was das Leben zu einem erfreulichen
Teil der Ewigkeit macht! Ich mische mich nicht mehr ein.
Im nächsten Dorf werden, wie ich
durch ein Fernglas beobachte, die Neugeborenen bei lebendigem Leib angezündet.
Es sind wohl, denke ich, atavistische Rituale, von denen man sich Regen nach
langer Trockenzeit und ein Aufblühen der Felder verspricht. Ich muß zugeben,
die Menschenfackeln sind eine Augenweide. Kaum habe ich Schöneres je gesehen.
Der dissonante Klang der erstickenden Schreie ist die Musik einer neuen Zeit,
die mir nicht weniger gefällt als eine Allemande an fürstlichen Höfen. Meine
musikalischen Präferenzen sind wie alles, das ich einst liebte, in einer
Teilnahmslosigkeit aufgegangen, die mir alles gleich wertvoll macht.
Auch brennende Kinder sind Musikinstrumente. Bäume lodern grün oder rot. Ein
friedlicher Himmel überdacht das Eisgrab der jungen Recken, der erfrorenen
Blüten einer Nation. Soll ich mich echauffieren über das Unabänderliche? Soll
ich die Vernunft eintauschen gegen ein Gefühl, das mich nicht erleichtert?
Tränen waschen scheinbar das Blut von der Außenscheibe. Die Himmlischen haben
sich doch noch erweichen lassen. Der schon brennende Säugling wird gerade noch
rechtzeitig gelöscht. Ich weine, ohne das Gesicht zu verziehen. Salzwasser
rinnt aus den Augenwinkeln.
Geläutert betrachte ich eine Magd, die sich am Gatter ihres geheimen Refugiums
einen Veilchenkranz flicht. Nun aber die Notbremse! Ich hole mir dieses Bild.
Ich bin in großer Not. Das Mädchen hat in mir etwas geweckt, das ich pflegen
will wie eine vom Verdorren bedrohte Pflanze. Ich stoße die Zugtür auf.
Aussteigen darf ich nicht, "Komm!" rufe ich. Da zerstört es den
Kranz, zerpflückt ihn und zerstreut die Blüten im Wind. Es meinem
Erlebnisbericht beifügend, folge ich weiter dem Vogelzug. Die Vögel dulden
keine Verzögerung. In einem Tunnel erhole ich mich von der Gefühlsanwandlung.
Ungestüm inventarisiere ich die Erscheinungen, die ich aus dem Zugfenster
verfolgen kann und habe sogar begonnen, mir auf einem Zettel einige Notizen zu
machen: Fackeln, Veilchen, süßer Regen statt salziger Schmerz. Die Welt wird
ausgetauscht. Aber man wird die Unterlagen finden, die ich anfertige, damit man
feststellen kann: Es kam nichts Besseres nach. Man hat nur alles umbenannt,
schöngefärbt, mit lachhaftem Fortschrittsglauben und lachhaften Illusionen
getränkt. Ich bin der Buchhalter, der euch die Augen öffnet. Aber nur wenige
lassen sich überzeugen.
Es wird noch eine Weile weitergehen mit den Menschen, bis der Kosmos sie
auslöscht mit schlagkräftigem Spott. Ich aber bin in großer Not. Mein Gleichmut
ist vorgetäuscht. Ich ertrage nicht, was ich sehe und höre. Ich kann aus meiner
Menschennatur nicht heraus, selbst wenn ich mich vorübergehend als Assel unter
dem Sitz verkrieche. Ein Kind habe ich, soweit ich mich entsinne, noch nicht angezündet.
Doch was zählt das schon? Ich habe in Gedanken, Worten und Taten genug
gesündigt. In bin durch Schuld in großer Not. Ich muß diese Bahnfahrt in einen
Bußgang verwandeln.
Ein Sabotageakt hilft mir dabei. Man hat ein Gleisstück herausgerissen. Anfangs,
bis sie bluten, bewege ich mich auf den Knien. Dann erlaube ich mir das Gehen
und das Laufen. Dreimal muß ich den Erdball zu meiner Entsühnung umrunden. Auch
tanzen darf ich und einkehren und mir andere Annehmlichkeiten gestatten. So
wird meine Bußübung eine Vergnügungsreise. Ein Lastauto nimmt mich ein Stück
des Weges mit. "Sie brauchen sich nicht zu kasteien", sagt der
Fahrer. "Die Not überfällt uns zu gegebener Zeit." An Meeresklippen
hüte ich mit einem jungen Hirten die Schafe. Ein paar stürzen ab in die vom
Dunst karminrote Sonne.
Ist die Schuld", frage ich den Hirten, "nie abzutragen?" Er
zuckt nur die Achseln. Das Schöne ist nicht verboten. Die stürzenden Schafe
verlieren sich schwerelos in dem Rot. Meine Gleichgültigkeit ist gespielt.
Weiße Gipfelgrate sehe ich ja auch und höre rauschende Bäche zwischen
Kindergesang. Wer sagt, daß ich sterbe? Ich schlafe nicht mehr. Ich träume
nicht mehr. Meine Augen sind blutig vom Schauen. Wie über das Gesicht des mit
Dornen Gekrönten fließt das Blut über mein für alle Zeit unbekanntes Gesicht.
Nur in der Übertreibung erkenne ich mich. Man soll mich ruhig abstoßend finden.
Ich habe es aufgegeben, auf meine Wirkung Rücksicht zu nehmen. Einen Brief an
mich, den ich mir selbst zustelle, unterzeichne ich mit "Der
Geknebelte", zerreiße ihn, schreibe ihn, so gut ich kann, noch einmal,
unterzeichne mit "Der Geknechtete", zerreiße ihn wieder und so fort,
bis ich eine Sammlung von Unterschriften beisammen habe, die alle nur eines
bedeuten: Ich bin das nicht. Ich bin nur jene Person da, die sich auf Knien, zu
Fuß oder in diversen Fahrzeugen durch eine fremde Gegend bewegt auf der Suche
nach einem Wort, das ihr ein lächelnder Mund zuraunen möge aus einer Welt ohne
Sprache.
Die Tomaten sind reif. Die Kürbisse liegen gelb auf der Scholle. Die Erbsen
zeichnen sich in den Schoten als Punkte ab. Das Obst fällt und fault. Von
wilden Pflaumen naschend, so viel ich kann, bilden meine Lippen bei jedem
Ausspucken eines Kerns stumm das Wort "Glück". Das war es nicht, was
ich suchte. An einen Stamm urinierend, spucke ich den letzten Kern in weitem
Bogen über ein Rübenbeet, wobei sich das Wort "Glück" in das Wort
"Tod" verwandelt. Als Pflaumenpflücker wurde ich philosophisch. Als
Pisser beende ich diesen Exkurs.
Das Wort, das ich suche, flüstert mir niemand zu. Wahrscheinlich bin ich in
Griechenland. Da könnte ich mich zu einer der Inseln einschiffen und es mir,
wie man sagt, gut gehen lassen. Oh, Sehnsucht nach Leben! "Kommen Sie! Wir
legen ab. Halten Sie Ihr Gesicht über Bord und spüren Sie das Salz in den
Augen! Wanken Sie! Kotzen Sie! Stülpen Sie Ihr Inneres aus, damit Sie nicht
länger rätseln müssen, was sich in Ihnen befindet! Singen Sie würgend das Lied
von der Heimkehr zur See!" "Abhold bin ich der See", erwidere
ich. "Festen Boden will ich unter den Füßen, Erdreich, und in der Tiefe
ein Feuer, seit Jahrmillionen bereit für den überspringenden
Sonnenfunken."
Aber das Feste war zuerst flüssig. Ich lasse mich tragen. Ich zahle den Preis
der Seekrankheit, so wie ich gegebenenfalls den Preis der Höhenangst zahle und
den Preis der Angst in der Ebene. Denn überall fürchte ich mich vor dem
Weiterleben, weil ich mir nichts so sehr wünsche. In Kreta gehe ich an Land und
sehe mir Knossos an, das Pflichtprogramm. Ich gehöre zu einer Reisegruppe, die
mir mein Spiegelbild vorhält, in dem ich durch mich hindurch wie auf einem Bild
von Magritte den Hintergrund sehe, vor dem sich ein Adler spreizt. Eilig lasse
ich mich durch das schmale Land zu einer einsamen Bucht chauffieren.
Da kann ich nackt baden und die prickelnde Befürchtung hegen, daß mir ein
Schelm, während ich mit den Wellen kämpfe, meine Kleidung entwendet. Mit
Seetang notdürftig verhüllt, kröche ich über den heißen Sand, ein Urtier,
vermeintlich ausgestorben, eine biologische Sensation, ein Einzelstück,
unerforscht, ohne Nachwuchs, schließlich entdeckt, eingefangen, ausgestopft und
präpariert, einziges Exponat eines Museums, das der fremdenverkehrsarmen Region
zu bescheidenem Wohlstand verhilft. Ein Fanatiker wird mich stehlen, als wäre
ich die Gioconda, deren Lächeln ihm das Masturbieren erspart.
So denke ich, von mir selbst überrascht, und muß es deshalb erläutern: Die
Lächelnde bewirkt eine passive Ejakulation. Der Dieb kann ohne jede Anstrengung
durch meinen Anblick zur Befriedigung kommen. Er kann es zu festgesetzten
Zeiten geschehen lassen, etwa morgens, mittags und abends, oder er kann, wenn
ihn die Lust packt, zu dem Versteck, in dem er mich aufbewahrt, pilgern. Es ist
als Heiligtum in Form einer Felsenkapelle gestaltet, in deren Mitte ich throne,
ein zotteliges Ungetüm, ein unförmiger Haufen, mit Moos und Farnen bewachsen,
einer überwucherten Riesenschildkröte ähnlich.
Aber so bleibt es nicht. Kleingetier nistet sich in meinem Pflanzenpanzer ein.
Da bewegt sich plötzlich zu viel. In einem Verzweiflungsanfall zerschlägt mich
mein perverser Freund mit einer Axt. Molluskenhaft wachsen Weichteile aus mir
heraus, umfangen den Lüstling und bereiten ihm einen letzten Erguß, bevor er
neben dem Objekt seiner Lust entschläft. Glücklicher Tod! Es hebt und senkt
sich die Erde wie ein schlafender Körper. Ich kehre, nachdem ich mich
fortgepflanzt habe, zurück in mein Element. Wer meinem Gedankengang bis hierher
folgte, wird nun zur Belohnung vom Denken entbunden.
Er darf sich aussuchen, ob er die Nacht mit einem Katzenhai oder im schützenden
Geklüft einer Koralle verbringen will. Mehr Auswahl habe ich momentan nicht zu
bieten. Die Lager sind geleert. Aber bitte, da strömt eine Schulklasse in die
verlassene Bucht! Die Lehrerin, ihre pädagogischen Pflichten vernachlässigend,
erliegt meinen Avancen. Die Schüler treiben leblos an Land, während wir uns in
wilder Leidenschaft paaren. Den Schulbus lassen wir stehen. Hand in Hand
stapfen wir durch das Distelwerk zu einer neu angelegten Siedlung im Ödland, wo
schon ein betriebsfertiger Herd und ein Garten pflegeleicht auf uns warten.
Die Verbindungen zur Vergangenheit werden gekappt. Harmonie breitet sich aus
hier wie dort. Ich käme in Schwierigkeiten, müßte ich entscheiden, welchem Bild
ich den Vorzug gebe: der den Kohl besprengenden Schönen oder den im sanften
Geplätscher auf und ab schaukelnden Kinderleichen. Die Frage ist: Warum will
mir die Liebe nicht mehr so recht gelingen? Strebe ich sie zu sehr an wie ei
Projekt, das man verwirklichen kann? Jedesmal stirbt jemand dabei. Stümperhaft
stürze ich mich in ein Abenteuer, das rasch schal wird und wie hinter einem
durchsichtigen Vorhang verblaßt.
Einstudierte Bewegungen oder Verrenkungen, Sportliches oder Choreographiertes:
Es mißlingt mir so vieles. Ein melancholisches Scheitern sind meine Amouren.
Aber irre bin ich noch nicht. Den Irrsinn fürchte ich am allerwenigsten. Komm,
sage ich mir, geh noch ein Stück weiter! Spring in die Tiefe! Das ist hier kein
Zehn-Meter-Brett. Mach eine Kerze! Halte dich grade! Tauche ein mit den
Zehenspitzen! Sei elegant! Beeindrucke mich mit deinen begrenzten Mitteln! Ich
werde dich dafür nicht lieben, aber dein Maßhalten zu schätzen wissen. Die
Quallen erwarten dich schon.
Der Schmerz gewährt Zutritt zu den Unternehmungen, die du dir zutrauen kannst.
Ein Hund bellt am Ufer. Du hast ihn dir abgerichtet. Er folgt dir an der Leine
wie auf den Champs Élysées durch das Dornengestrüpp. Er zittert. Du übst die
Angst mit ihm. Schlangen schnappen nach seinem Körper. Du ziehst nur noch den
halben Hund hinter dir her. Deine Einsamkeit ist eine fleischfressende Pflanze.
Sie duftet ambrosisch. Du nimmst den Rest des Tiers in dein Zimmer mit. Es lebt
noch. Du sprichst mit ihm. Du gibst ihm Kommandos, bis er in einer Lache aus
Blut und Urin verendet. Ja, so war das!
Du brauchtest diese Geschichte nicht zu erfinden. Tags darauf fliegst du
geradewegs zurück in dein geregeltes Leben. Heute da, morgen dort! Du bist
jung. Aber innerlich schreist du. Über Nacht wirst du zum Greis. Ich führe dich
auf die Toilette. Ich säubere dich. Ich sage: "Hier ist die Tür. Hier das
Glas! Möchtest du Musik hören? Soll ich dir etwas vorlesen? Soll ich die Zeit
totschlagen? Du lebst nicht mehr lang. Alter und Krankheit haben dich
angefressen. Du trenzt. Du kannst das Wasser nicht halten. Du hältst die
Zeitung verkehrt. Idiot, willst du ewig leben?"
Ich schüttle den Kopf. "Nur bis morgen." Ein welkes Blatt fällt vom
Ficus. "Was gibt es Neues?" Ich trete dem Alten gegen das Schienbein.
Er spürt es nicht mehr. Ich schlage ihm ins Gesicht. Ich schneide ihm die Kehle
durch. Man wird mir nicht glauben, daß er eines natürlichen Todes starb. Ich
war sein Pfleger. Ich habe Referenzen vorzuweisen. "Er tötet nur
Tote." Das ist die Titelzeile. An Lebenden vergreife ich mich nicht. Sie
nehmen jetzt überhand. Ich vermehre mich zauberisch. Ich brauche Lebensraum. Es
ist kein Krieg. Es ist eine generalstabsmäßig geplante Maßnahme zur
Vereinheitlichung unserer Rasse.
Du deutsch, ich deutsch. Sorglos mischen wir unsere Flüssigkeiten. Ich schenke
dir meine Gallenblase. Du gibst mir dafür deine Niere. Dein Lächeln ist bis in
die Wangengrübchen mit meinem identisch. Wir verstehen uns. Wir haben uns zu
einer Armee von Verstehenden zusammengeschweißt und bauen uns, indem wir alles
andere eliminieren, einen Glückskubus, in dem wir uns immer weiter
zusammenpressen, damit wir als kompakter Würfel die Ewigkeit überdauern. Wir
sprechen nicht. Wir sind ein Fleisch. Wind und Wetter schieben uns über die
Erde. Wir sind gefeit gegen Siechtum.
Mit Frohsinn im Herzen trete ich meinen Dienst als Altenpfleger wieder an. Die
Glocke läutet. Fürsorglich hebe ich eine fast Hundertjährige aus ihrer Starre.
Was ich in der Mittagspause dachte, erfährt sie nicht. Das ist das Neue an
meinen Vermehrungen: Gewisse Gedanken kann ich vor mir verheimlichen, alle noch
nicht. Die Belegschaft des Altenheims weiß, daß ich einer der ihren bin und
abwechselnd den einen oder anderen Part übernehme. "Sie werden auch morgen
noch leben", sagt eine junge Schwester mit Spitzenhäubchen, und wenn Sie
morgen fühlen, Sie leben bis übermorgen ... "
" ... dann habe ich drei Tage gewonnen. Aber wer garantiert mir das? Wer
überprüft mein Gefühl wie ein Formular auf seine Richtigkeit? Ihr Häubchen
gefällt mir. Ich könnte mich, solange Sie es tragen, in Sie verlieben. Doch
sobald Sie es abnehmen, erkenne ich Sie nicht mehr. Kennen Sie das Wort
'Lebensraum'? Mir fehlt der Raum zum Atmen. Sie lassen mir nicht genug übrig.
Sie müßten, damit ich eine Chance habe, die Luft anhalten. Ersticken Sie mir
zuliebe! Ersticken Sie! Ich brauche Ihre Pflege nicht. Ich brauche Luft. Ich
brauche unendlich viel Raum. Geben Sie den Weg frei! Ich muß hinaus!"
"Das ist gegen die Vorschrift", ruft nun in großer Erregung die
Pflegerin und reißt sich das Häubchen vom Kopf. Das hätte sie nicht tun sollen.
Mit ungeahnter Kraft hebe ich sie hoch, drücke ihr des Todeskuß auf ihren
geschminkten Mund und werfe sie aus dem Fenster. Natürlich entsteht sofort
Aufruhr. Aber die Türen sind offen. Ewig jung, unverwüstlich, schreite ich
majestätisch die Treppe hinunter, durchquere den mit einer Sprinkleranlage
gewässerten Park und genieße die Kühle der mich streifenden Spritzer. Niemand
folgt mir. Man hat erkannt, daß ich ein vielgestaltiger Gast an allen Orten
bin.
An den Park grenzt ein betonierter Platz, von martialischen Skulpturen
umstanden. Küken laufen um ihr Leben. Araber in blutbesudelten Kaftanen jagen
sie. Die Hühner in den Käfigen kreischen. Räucherstäbchen verpesten die Luft.
Geschorene Lämmer rühren mich. Jeden Moment kann ich selbst wieder zum Opfer
werden. Wohlwollend lächelnd signalisiere ich Einverständnis, als wäre ich der
Oberaufseher des pittoresken Spektakels. Es werden auch Kinder geschlachtet.
Rinder werden fachmännisch geteilt. Ein Blutstrom ergießt sich über die von den
Stoffhändlern kunstvoll gestapelte Ware.
Sie rauchen seelenruhig ihre Pfeifen. Der Zufall verändert die Dinge.
"Habet Acht!" sagen die Ängstlichen. Ich aber verirre mich gern in
verwinkelten Gassen. Es reizt mich, den Ausweg zu suchen. Erst in äußerster
Panik frage ich einen Einheimischen und erlebe nicht selten, daß er seine
Überlegenheit mir gegenüber zur Schau stellt, indem er mir verächtlich zu
verstehen gibt, daß ich das Labyrinth schon aus eigener Kraft verlassen habe. Ich
habe mich befreit, denke ich, aber ich merke es nicht. Meine Sehnsucht nach
Unfreiheit hat mich blind gemacht.
Ich kann den Raum, in dem ich mich befinde, jederzeit verlassen, aber ich
schließe von innen ab und verschlucke den Schlüssel. Nun habe ich Zeit, mir
über meinen Charakter Gedanken zu machen. Will ich mich ändern? Oder finde ich
es interessanter, zu bleiben, der ich bin mit all den Komplikationen, die
daraus folgen? Ja, das Einfache verabscheue ich. Lieber gehe ich im Kreis, bis
mir schwindlig wird. Mein Ziel ist die Sinnnesverwirrung, damit ich in das
samtweiche Gesicht der Geliebten wie in einen Pfirsich hineinbeißen kann. Denn
alles, was mir gefällt, will ich aufnehmen in mich, damit die quälende
Notwendigkeit des Betrachtens entfällt.
Der Platz hat sich schlagartig geleert. Starr stehen die steinernen Krieger.
Ein hoher, gleichbleibender Ton klingt mir im Ohr. Den will ich mir, denke ich,
indem
ich mich kurz in den Tod wage, einverleiben. Ich will das Instrument dieses
Tones sein. Des Risikos bin ich mir bewußt, aber noch habe ich die Macht zu
sagen: "Ich bin nicht umzubringen. Ich bin der Auferstehende. Mir kann
nichts passieren." Nun also bin ich der Todeston, einen Augenblick lang
der Ton, den nur Verstorbene hören. Kein Licht! Keine Finsternis! Kein
Wiedersehen mit den alten Bekannten!
Nur dieser Ton, denke ich und versuche, ihn abzustellen. Da kommt die Angst.
Habe ich etwa zu viel gewagt? Muß ich mich tatsächlich durch einen
Geburtsschrei retten? Wie abgeschmackt! Ich liege im Stroh eines beheizten
Stalles. Mutter und Vater sind auch da und natürlich die unverzichtbaren Tiere.
"Zerstört dieses Bild!" befehle ich, der Sprache mächtig, zum
Entsetzen der heiligen Schar. "Streicht es durch! Zerreißt es! Zerkratzt
es!" Ein Bilderschänder bin ich, mit Säure bewaffnet, und komme ihnen
zuvor. Während der peinlichen Renovierung bin ich bereits in anderen Museen
zugange.
Ein pathologischer Haß auf alles Tröstliche hat mich erfaßt. Ich rase in
Kirchen und Klöstern. Wer will mir Einhalt gebieten? Es drängt mich, mich
auszutoben nach so viel Disziplinierung. "Weg die Kunst! Weg die
Kunst!" stoße ich im Stakkato hervor. Ich will mich suhlen und von der
Sonne verkrusten lassen und aufbrechen wie ein Ei und herausschlüpfen als
Golem. Auch King Kong war zu der weißen Frau freundlich. Vermähle dich mit der
ungerechtfertigten Furcht vor dem Großen! Bezähme die Vorurteile! Lerne: Das
Große ist das Beschützende. Da mögen Messer blitzen. Sie werden zersplittern
wie dürres Holz.
Doch einen weiteren Tod riskiere ich nicht. Mein Spieltrieb ist befriedigt.
Gemächlich spaziere ich durch meine neue Heimatstadt und sage zu jedem, der
meinen Weg kreuzt: "Du lebst. Ich lebe. Wir leben. Die Toten sehen wir
nicht. Es hat sie vielleicht nie gegeben. Ich glaube den Erzählungen
nicht." Da kommt mir meine tote Mutter entgegegen. Sie trägt, wie sie es
immer trug, das Kopftuch nach hinten gebunden. "Weg!" sagt sie, mich
nicht erkennend. "Weg! Gehen Sie!" An ihrer Haut springen eitrige
Beulen auf und verwandeln die bloßen Stellen, das Gesicht, die Arme, die Beine
unter dem Rocksaum, in eine schleimige Masse.
"Das machst du immer", sage ich, "wenn du mich vertreiben
willst. Es erschreckt mich nicht. Du kannst mich nicht mehr erschrecken. Komm,
gib mir deinen Arm! Wir gehen ein Stück zusammen." "Faß meinen Arm
nicht an!" Will sie mich schützen? Will sie mich bewahren vor dem Unflat
der Welt? Vor dem Unflat der Welt, wiederhole ich in Gedanken, und dann spreche
ich es aus ("Unflat") und küsse den Schleim, küsse den Mund, küsse
die Wangen und Arme und, mich vor sie hinknieend, die Beine. Der Weg am Fluß
ist um diese Zeit stark frequentiert.
Niemanden stört mein, wie jeder weiß, unzüchtiges Treiben. Ich lecke die Wunden
der Mutter. "Du lebst", sage ich. Ich lebe. Wir leben." Ein blauer,
mit Sternen verzierter Gummiball rollt ins Wasser. Das Kind, dem er entglitt,
schreit. Der Vater springt nach und ertrinkt. Jetzt erst sehe ich: Über den
Fluß ist ein Seil gespannt. Aber wo sind die Geleise? Kein Zug rollt in den
Bahnhof. Keine Tür öffnet sich. Kein Tänzer auf dem Seil, auf dessen Absturz
ich warten könnte! Habe ich Frieden gefunden? Wandle ich mit dem
Schleimmonster, das meine Mutter ist, in harmonischer Eintracht an diesem
sonnigen Nachmittag durch die Au?
"Du hast dir das alles ausgedacht", sagt sie. "Es gab nie ein
Seil über dem Fluß. Es gab keinen Seiltänzer, der abstürzt. Es gab auch nicht
diesen lächerlichen Bahnhof, den du andauernd glaubtest, aufsuchen zu müssen,
besessen von der Idee, du müßtest den nächsten Zug besteigen oder eine Person,
zu deren Abholung du bestellst warst, empfangen, als gäbe es diese eine Person,
die nur dazu da ist, um dich zu retten." "Nein, falsch! Alles
falsch!" protestiere ich und stoße die Mutter in den Fluß, wo sie sich
sofort auflöst, so daß nur noch ihr geblümtes Kleid und das Kopftuch wie
umgefallene Segel ausgebreitet an der Oberfläche treiben.
Ich sehe ihnen nach, bis sie in einem Strudel verschwinden. Mein Herz schlägt
jetzt schnell. Das Seil ist ja da. Ich habe mich nicht auf der ganzen Linie
geirrt. Nur zu kleineren Korrekturen bin ich bereit. Der Bahnhof steht
vielleicht nicht so nahe am Wasser. Die Nymphe, die dem Wasser entstieg, habe
ich mir vielleicht eingebildet, ebenso die brennende Rose. Vom Himmel fällt
aber zur Unzeit ein Stern. Alle, die ich eben noch sah, verschluckt er, nur
mich nicht. Es lustwandeln jetzt andere Menschen am Ufer. Sie tragen weiße
Gewänder, als gehörten sie einer Sekte an. Ich aber bin nackt.
Selbst innerhalb dieser Minderheit, sage ich mir, bin ich ein Außenseiter,
obwohl ich ganz innen bin. Ich bin der Kern, um den herum sich eine riesige
Frucht gebildet hat, die, von Schicht zu Schicht weiterwuchernd, alles ist, was
ich nicht bin. Es gibt nur diese eine Frucht und diesen einen Kern. Ich bin am
Ende der Bilder angekommen. Ich fühle mich geborgen im Fruchtfleisch der Masse.
Ich verstehe nur nicht, warum ich leuchte. Es ist ein blinkendes Leuchten wie
eine Abfolge von mikroskopisch winzigen Explosionen.
Nein, das verstehe ich nicht und aale mich in diesem Unverständnis wie ein Kind
in der Dummheit seiner permanenten Fragen nach den Ursachen der Dinge.
"Ich bin zu dumm", sage ich zu einem der weiß Gewendeten, "um zu
begreifen, was hier vor sich geht. Ich bitte Sie aber, es mir nicht zu
erklären." "Es gibt nichts zu verstehen und nichts zu erklären",
sagt der Angesprochene milde. Da nehme ich in aller Ruhe einen Funken aus
meinem Leuchten und vernichte ihn mit einem Feuerstrahl. Die Masse wird nicht
kleiner, wenn einer fehlt. Das weiß ich jetzt. Ein Sektenmitglied in meiner
Nähe legt den Zeigefinger an seinen Mund.
Man wird mich, denke ich, von nun an in Ruhe lassen. Ich schaufle dem Fluß
wieder sein Bett und stelle den Bahnhof daneben. Nun kann alles noch einmal von
vorn anfangen. Die Binsen zwischen dem Geröll schwanken im Wind. Der gefallene
Stern ist erloschen. Euch aber, Mitdenker, Zuhörer, Leser, kündige ich eine
neue Geschichte an. Sie beginnt in diesem Augenblick und endet in genau einer
Sekunde. Sie besteht aus einer Zahl zwischen einundzwanzig und neunundneunzig.
Sagt einer "fünfundfünfzig", schon hat er die Geschichte erzählt!
Neunundsiebzig Geschichten sind möglich.
Es darf zu der Zahl aber nichts Weiteres hinzugefügt werden, zum Beispiel das
Wort "Neger" oder "Hühner" oder Puppenwägen". Indem
ich willkürliche Beispiele des Verbotenen nenne, unterstreiche ich das Verbot.
Dreiundvierzig Neger töten fünfundachtzig Hühner. Doch nicht in jedem
Puppenwagen liegt ein getötetes Huhn. Das wäre eine andere Geschichte, die ich
nicht zu erzählen beabsichtigte, obwohl ich es eben tat. Die Welt besteht aus
Geschichten, muß ich mir wieder und wieder sagen. Die Schreie der Möwen
verhallen über dem Fluß. Ein Faltboot kentert. Es gibt Grund zu Gelächter.
Ich aber lache erst, als ich Luftblasen aufsteigen sehe über einem der Paddler
im feuchten Grab. Meine Begleiterin fragt bestürzt: "Ist jeder Tod
komisch?" "Ja", antworte ich. Wir haben einander nicht einmal
geküßt, so gleichgültig ist sie mir. Hätte sie über der linken Brustwarze nicht
dieses Muttermal, hätte ich sie, obwohl unsere Nackheit uns füreinander
bestimmt, nicht angesprochen. "Wir sind eine Einheit", sagt sie.
"Es scheint so", sage ich. "Man hat uns nicht gefragt. Bist du
mit dem Zug gekommen?" "Daran kann ich mich nicht erinnern. Hast du
mich aussteigen sehen?"
"Nein. Komm, schlafen wir miteinander!" "Hier, vor allen
Leuten?" "Sie wissen, daß es geschehen wird. Sie warten darauf."
"Eigentlich ist es überflüssig." "Eben darum!" Bequem ist
es nicht auf den Steinen, aber wir bringen es hinter uns. "Hast du etwas
gefühlt? Ich bitte dich, sag, daß du etwas gefühlt hast! Es ist alles so
sinnlos." "Immerhin wurden wir gefilmt", sagt die Frau. "In
den weißen Kutten der Männer sind Löcher, durch die sie uns filmten. Wir haben
unsere Pflicht erfüllt." "Aber sie hören ja gar nicht auf zu filmen.
Hörst du das Surren der Kameras? Unser Leben wird dokumentiert. Wen
interessiert denn das?"
Es blitzt und donnert. Ein Platzregen schlägt die Crew in die Flucht. Wir baden
im Fluß. Die Leiche des Paddlers hat sich im Ufergebüsch verfangen. "Ich
fühle mich elend", sage ich. Endet denn diese Geschichte nie? Ein Tanz in
den Wolken bringt uns zur Besinnung. Es hagelt. Tauben taumeln in den Lüften.
Feuer färbt die Dämmerung, Züngelnd umschließt es das Wasser, in dem ich mich
mit der Frau noch einmal vereine. Erledigt, denke ich, endlich erledigt! Meine
fünf Söhne reißen mich aus der Flut und steinigen mich. Die Frau wird
geschändet. Die Kochsendung kann fortgesetzt werden.
"Reich mir das Mehl, mein Leben! Blanchiere den Kohl! Hacke die Petersilie!
Stampfe die Kartoffeln zu Brei! Vergiß nicht die Pilze! Rühre den Reis und
mische die Butter darunter! Schwenke die Köpfe im Öl! Schenk mir dein goldenes
Haar!" Gespannt beuge ich mich über den Pfannenrand. Da sind sie wieder,
die weißen Männchen! Flugs haben sie sich dem Induktionsherd angepaßt. Aber die
Anpassung nützt nichts. Weißer Schorf bildet sich um die erhitzten Kreise. Ich
werfe das rohe Fleisch in die Panade, kratze sie ab und wiederhole den Vorgang
mehrere Male, bis man erkennt, daß es sich dabei nicht um die Zubereitung einer
Speise handelt.
"Sie wollen uns provozieren", bemerkt einer der Studiogäste. "Oh
nein!" entgegne ich. So wichtig sind Sie mir nicht. Ich tue, was ich nicht
lassen kann. Das Panieren ist meine Leidenschaft, nicht das Braten und schon
gar nicht das Essen. Sehen Sie, ich übergebe mich schon, wenn ich das Wort
ausspreche! Ich betrachte das Essen als ein notwendiges Übel so wie das Vögeln,
Sie verzeihen, und überhaupt das ganze Leben, in das wir geworfen sind gegen unseren
Willen." "Warum notwendig?" "Weil es die Sprache gibt, und
weil sie wie alles, was es gibt, benutzt werden muß. Stellen Sie sind diese
Unmenge von Sprache vor in einer Welt ohne Leben!"
Ein kurzer Lachanfall überkommt mich. "Das können Sie sich gar nicht
vorstellen. Es ist eine Antinomie." "Ich liebe die englische
Sprache", sagt nun der Gast. Sie ist die große Vereinfacherin, während das
Deutsche alles durchleuchtet, auch wenn da nichts ist. Das Englische ist ein
Verständigungsmittel, das Deutsche die Sprache für das Unverständliche. Das
Englische ist zur Diplomatensprache geworden, das Deutsche zur Dichter- und
Philosophensprache, womit ich nicht sagen will, es gebe keine englische
Philosophie, ganz zu schweigen von der englischen Dichtung! Shakespeare! Keats!
Byron!"
"Sehen Sie!" rufe ich, "jetzt habe ich das Schnitzel ungenießbar
gemacht. Oder wollen Sie diese Schuhsohle verzehren? Es ist als Koch mein
größter Triumph, aus den Lebensmitteln, die ich vor jeder Sendung, in Schälchen
proportioniert, vorbereite, etwas Ungenießbares zu zaubern. Es sieht schön aus.
Es wird den Gästen serviert. Sie müssen dann 'mmmh' und 'fein' und 'lecker'
sagen. Doch kaum sind die Scheinwerfer ausgeschaltet, kotzen sie das Verspeiste
auf die leeren Teller zurück. Das ganze Leben ist ein Zurück. Wir kommen nicht
voran. Wir zeugen steinalte Menschen."
"Aber ewig ... ", füge ich, in Trauer verfallend, mich selbst
überraschend, hinzu, "ewig lebt keiner!" Die Trauer ist schwarz. Sie
verdunkelt mir die Aussicht auf den nächsten Gedanken, denke ich fälschlich.
Schwarz und tief ist die Trauer, ein Brunnen, in den ich stürze, eine
Depression, die ich mir bei wachem Verstand hätte ersparen können, denke ich.
Das Fernsehteam hat das Studio längst verlassen. Allein auf weiter Flur stehe
ich und färbe sie grün. Immer wieder flüchte ich mich in das Grün, das
Blattwerk, das noch taufrische Gras.
Die Wege meidend, stapfe ich auf ein Haus zu, aus dessen einzigem geöffneten
Fenster mir jemand winkt. Je näher ich komme, desto zögernder wird das Winken,
bis der Arm ganz erlahmt. Als ich endlich unter dem Fenster stehe, ruft die
Person: "Ich kenne Sie nicht." Ist es ein junger Mann oder ein
Mädchen? Mit meiner Unsterblichkeit habe ich auch mein Wissen, die einfachsten
Dinge betreffend, verloren. Nun muß ich, wie man sagt, ganz dumm fragen:
"Welches Geschlecht haben Sie?" Da schließt die Person das Fenster.
Den Sterblichen widerfährt das zu Erwartende, resümiere ich vorschnell.
Denn im nächsten Moment erscheint die Person an der Haustür, ein Mensch ohne
Unterleib, die Arme zur Fortbewegung benutzend. Ach, könnte ich dieses Erlebnis
hier abbrechen und rasch vergessen! "Mich ekelt vor meinen
Einfällen", sage ich. "Ich bin nicht Ihr Einfall", erwidert wie
erwartet der Mensch. Ich nehme ihn auf den Arm und trage ihn zu den Mülltonnen.
In welche Abteilung gehört er? Menschenabfall, denke ich, Krüppeltonne. Er
wehrt sich nicht. Nachdem ich ihn weggeworfen und den Deckel geschlossen habe,
höre ich noch dumpf seine Stimme: "Sie werden mich nicht vergessen."
Ein Gejagter bin ich, von Bild zu Bild. Ein Heer von Beinlosen verfolgt mich.
Drehe ich mich um, ist da aber wieder nur dieses Grün. Die Bäume schießen aus
dem Boden und schlagen im Zeitraffer aus: hinter mir Urwald, die grüne Hölle!
Wider alle Vernunft beginne ich zu laufen, so schnell ich kann, falle in
Schlammlöcher, Schlangengruben, bin vergiftet, raffe mich auf, laufe und laufe,
tot auf der Flucht, um mir zu beweisen, daß ich meine Vergänglichkeit außer
Kraft setzen kann. Ich sterbe nicht, ich sterbe nie, nein, ich habe nur
unbedacht etwas ausgesprochen.
Alles, was ich ausspreche, alles, was ich denke, ist unbedacht. Ich kann gar
nicht bedächtig denken. Vor mir tut sich ein mit Wasser gefüllter Abgrund auf.
Aber es ist nur die Farbe Blau, die mich trägt wie Eis, das nie schmilzt,
ewiges Eis. Alles ewig, denke ich, ewige Hölle, ewiges Heil. Aus den
Geschichten fliehe ich zu mir in das Rot meiner brennenden Sehnsucht, Unsinn
auf Unsinn häufend, aufsteigend, sinkend wie in der Hochschaubahn, die mich als
Kind so enttäuschte. Warum endete die Fahrt immer unten?
Warum öffnete ich nicht den Gurt, um hinausgeschleudert zu werden in etwas, das
mich hielt in der Luft? Die Mutter war unter mir nur ein Punkt in der Menge,
ein roter Hut, aber ich sah ihre Angst. Dein Sohn kann fliegen, "
beruhigte ich sie im stillen und hielt ihre Hand, statt mich loszureißen, und
ließ mich zur Schiffsschaukel führen. In der Geisterbahn saß sie dann neben mir
und schrie auf, bevor das Skelett erschien, damit ich wüßte, an welchen Stellen
der Schrecken lauert. Ich hatte zu viele Mütter. Die, die ich die Sängerin
nenne, weinte bei jedem Lied, das sie sang.
Ihre Stimme aber blieb klar und fest. Kein Ton wackelte. Die anderen zähle ich
jetzt nicht auf, denn ich bin inzwischen in meiner Behausung angekommen, obwohl
ich für alle Zeiten unbehaust bleiben wollte. Die Inkonsequenz ist mein
Prinzip. Die Schuhe stehen in Reih und Glied. Noch schone ich die Bodenbeläge.
"Macht es dir etwas aus, die Schuhe auszuziehen?" frage ich die Bürokollegin.
Da tritt sie nicht über die Schwelle. Die Kerzen werden ausgeblasen. Der Sekt
wird nicht entkorkt. Der Mund bleibt ungeküßt. Es schwellen die Lippen
vergeblich.
Es schluchzen die Geigen. Ich trage die Frau auf das Bett. Die Schuhe darf sie
nun anbehalten, die roten Schuhe, die schwarzen Strapse. Tags darauf trennen
uns wieder die Blicke. Ich will damit sagen: Ich sehe, wenn ich in ihre Augen
sehe, konzentrische Kreise. Ich möchte, ich wage es kaum zu denken, der Frau in
die Augen schießen. Ich möchte die Augen herausschießen aus ihrem Gesicht. Um
mich abzulenken, suche ich eine entlegene Gegend außerhalb des bewohnten
Gebietes auf. Hier werde ich ruhig, hoffe ich, hier begegnet mir niemand.
Doch zu meinem Entsetzen entdecke ich neben einer aufgelassenen Bahnstation
einen Kinderwagen, in dem ein Baby greint, das ich kurzentschlossen erwürge.
Einen Hund, der mir treuherzig folgt, erschlage ich mit einer Eisenstange. Eine
Prostituierte, die es beobachtet, entnimmt ihrer Handtasche ein Messer und reicht
es mir lebensmüde. Das Gesetz der Serie bringt es mit sich, daß ich am Ende
meines ungewollten Ausflugs ins Grauen zwölfmal getötet habe. Meine Faszination
für Zahlen übersteigt meinen Erzähldrang.
Mein letztes Opfer bin nach Art der Amokläufer ich selbst, das heißt, ich liege
in meinem Blut, werde mich aber in Kürze erheben und mir den Staub von den
Kleidern schütteln. Einer Fahndung entgehe ich durch meine Verwandlung in das
wiederbelebte Baby, das außerhalb jeden Verdachtes steht. Es ist, sage ich mir,
alles wie ehedem. Meine Spracharbeit setze ich, als wäre nichts geschehen,
fort. Die Behauptung, daß ich sterblich bin, hat sich als ein Versprecher
erwiesen. Daß er mir widerfuhr, fasse ich auf als Schuß vor den Bug.
Ja, vorsichtiger mit Worten will ich jetzt sein, denke ich. Als Kleinkind kehre
ich, von der sogenannten Rabenmutter geschoben, in meine vier Wände zurück und
entwickle mich zu einem in die Gesellschaft gut integrierten Menschenwesen.
Mein Einkommen reicht für eine vierköpfige Familie und einen Schrebergarten.
Ich bin gesund und feiere jedes Jahr meine Auferstehung. Viel Aufhebens mache
ich davon nicht. Der sakrale Charakter ist verloren gegangen. Mein Größenwahn
ist das Alltägliche. Ich habe mich an ihn gewöhnt. Sonntags gießen wir das
Gemüse.
Zum Fortbestand der Menschheit haben wir das unsere beigetragen. Die
Geburtenrate übersteigt knapp die Todesrate. Die Renten sind sicher. Leider
haben wir einen Busurlaub in die Toskana gebucht. Während der Fahrt schlief der
Fahrer ein. Ich habe jetzt eine neue Frau und neue Kinder. Die Fruchtbarkeit
wurde geprüft, der Schaden ausgeglichen. Ich bestehe auf vierköpfig. Die
Nachbarin, die, wenn wir verreisen, die Pflanzen gießt, muß nicht ausgetauscht
werden. Sogar unseren eigenen Apfelschnaps brennen wir, bis eine radioaktive
Wolke uns die Äpfel verdirbt.
Die Hütte brauche ich nicht abzureißen. Wieder einmal sitze ich allein vor
meiner Tür. Die Goldfische treiben tot an der Oberfläche. Mir kann nichts
passieren. Aber ein betrübliches Gefühl ist es schon, so einzig zu sein und zu
warten, bis ein Lurch aus der Urkraft seines unermeßlichen Daseins aufschaut zu
mir, als wollte er sagen, wir zwei, wir legen die Spur in das Allerneueste, du
Mensch, ich Lurch, ungleiche Brüder. Zeugung kommt nicht in Frage, haha, da
kann ich schon wieder lachen. Wir sind zwei Überbleibsel der Evolution. Die
Last der Fortpflanzung liegt allein auf den Schultern des Lurchs. Das
überfordert ihn, aber er weiß es nicht.
Das Wissen habe ja ich gepachtet, wenn es auch inzwischen Lücken aufweist, die
ich nicht zu kaschieren versuche. Die Lurchpopulation nimmt urplötzlich zu, als
ein Ereignis eintritt, das ich als "Tragen des Mondes" bezeichnen
möchte. Ich trage den Mond wie einen Lampion von Erdteil zu Erdteil. Er gibt
nur gedämpftes Licht, von der Sonne gespiegelt, bis aus den blassen Organismen,
die er hervorbringt, lebensfähige Kreaturen werden, die das Grelle nicht mehr
zu scheuen brauchen. Die naturwissenschaftliche Verifizierung dieses zärtlichen
Vorgangs wird Bibliotheken füllen, denke ich.
Denn der Lurchmensch, zu dessen Spezies ich nicht gehöre, wird sich naturgemäß
für seine Vergangenheit interessieren. Ich werde in Zukunft sehr einsam sein.
Das muß ich mir sagen und muß es ertragen. Du kannst unter den Sieghaften, die
dich gelassen verschmähen, keine Freunde haben. Rein äußerlich ändert sich
nichts. Der Mensch aus dem Lurch sieht nicht anders aus als der Mensch aus dem
Affen, nur etwas kleiner. Ich falle durch meine Größe auf. Meine Beteiligung an
gelegentlich notwendigen Konversationen bereitet mir Pein. Meinen
Wissensvorsprung muß ich verheimlichen.
"Ihr seid die Herrenrasse", sage ich, "denn ihr kommt aus dem
Feuchten." Aber daß ich die neuen Planetenbewohner mit einem einzigen Wort
in einen orientierungslosen Haufen verwandeln könnte, verrate ich nicht. Sie
werden jede Amphibie, die ein Vorfahr sein könnte, erforschen. Sklavisch trage
ich ihnen die Expeditionsausrüstung nach, bis die Erniedrigung mich dazu
treiben wird, sie irrezuleiten. Denn meine Leidensfähigkeit ist nicht
grenzenlos. Mühelos wird der Affenmensch die Lurchmenschen bezwingen. Ein
Armageddon prophezeie ich euch. Das wird ein Wortgemetzel geben.
Die Berge türmen sich. In Klüften schiebt sich der Fels übereinander und
bricht. Ich stecke mir eine Kuhschelle ins Knopfloch. Meine Kleidung weist mich
als Alpenbewohner aus. So mache ich mich den Wasserwesen, die einen Gebirgssee
erkunden, nützlich. Denn noch will ich von Nutzen sein, damit die Heimsuchung
einen starken Kontrast zum Erreichten bietet. Alles in mir zittert schon vor
Erwartung. Ich werde als Feuerball einschlagen in die Welt der Erneuerer, damit
das Alte wieder herrsche ... So, nun ist es geschehen. Ich habe Wort gehalten.
Millionenfach vermehrt es sich zu einer Wortkolonie, deren Statthalter ich bin.
Die Wörter werden Fleisch. Ich sitze vor meinem Seerosenteich und lausche den
Fröschen. Meine flachsblonde Tochter läßt die Katze nach einer Plüschmaus
springen. Die Sonnenkollektoren machen uns energietechnisch unabhängig. Wir
besitzen auch einen Streichelzoo mit einem Kamel, Schafen und Schweinen. Mit
dem Schild "Ferien auf dem Lande" preisen wir unsere bescheidenen,
aber sauberen Unterkünfte als Sommerfrische an. Die Frühstücksmilch darf direkt
von den Kuh gemolken werden. In den Kriegsgebieten, die wir nur aus dem
Fernsehen kennen, brüllen die ungemolkenen Kühe vor Schmerz.
Ein Soldat erbarmt sich und wird erschossen. "Siehst du", sage ich,
"es ist alles eine Erwägungsfrage. Hilfst du der Kuh, hilft es dir nicht.
Wir haben uns dem Egoismus verschrieben und sind damit gut gefahren. Wir
verstoßen gegen die Moral und werden belohnt. Wir sind rücksichtslos unseren
Weg gegangen. Wir spenden zu Weihnachten für die Bedürftigen. Wir haben eine
entzückende und, wohlgemerkt, nicht behinderte Tochter. Wir halten die Waage im
Gleichgewicht. Du nimmst jetzt regelmäßig die Antibabypille. Ich liebe dich.
Aber ich habe natürlich vor dir schon andere geliebt."
"Hör auf damit!" sagt die Frau. "Ja, das willst du nicht
hören", sagt der Mann, "daß ich dich als im Koitus geübter Hengst
eroberte. Aber du warst ja noch Jungfrau. Meine Lenden zucken, wenn ich nur
daran denke. Du brauchst dich nicht zu verstecken. Komm, treiben wir es gleich
hier auf der Couch. Aber laß den Fernseher laufen." Die Frau schlägt eine
Fellatio vor und schneidet dem Mann mit einer Rasierklinge den Penis ab. Es
wird gemunkelt, es sei ein Unfall gewesen. In einem so kleinen Dorf spricht
sich das rasch herum. Das Geschlechtsteil wird angenäht wie ein Ärmel.
Mich aber zieht es wieder ins große Abenteuer, in dem es um die monumentalen,
durch keine Berührung entweihten Gefühle geht. Minütlich warte ich auf einen
neuen Tod. Sitze ich nur so da, denke ich: Jetzt! Lege ich im Supermarkt das
Brot in den Einkaufswagen, ist mir, als bräche ich im nächsten Moment zusammen.
Wozu noch Butter und Käse aus dem Kühlregal nehmen für dieses Leben? Die
Beschäftigung mit dem Todesgedanken, die mich früher beruhigte, bereitet mir
neuerdings Unbehagen. Was hat sich da eingeschlichen? An der Kasse erleide ich
einen Schlaganfall, stehe aber sofort wieder auf und lege das Brot auf das
Förderband.
Den Duft der Akazien nehme ich schwankend zur Kenntnis. Aber warum, frage ich
mich, fürchte ich mich vor der Nacht? In LauersteIlung erwarte ich den Umschlag
vom Denken ins Träumen. Ein Kettenhund fällt mich an und zerfleischt meine
Wade. Statt ihn zurückzuhalten, bindet der Hundebesitzer ihn los. Hätte mich
das zu Zeiten meiner Unsterblichkeit nur ein Schmunzeln gekostet, so versetzt
mich jetzt die Gefahr einer Blutvergiftung in Panik, obwohl ich weiß: In
Träumen gelten keine kausalen Zusammenhänge. Träume ich meinen Tod, um durch
die Zweiteilung in Traum und Leben meine Souveränität zurückzuerlangen?
"Du schläfst unruhig", macht meine feengleiche Geliebte mich
aufmerksam, mit der ich, Klammer auf, siehe oben, Klammer zu, nur sprachlich
verkehre, damit mir keine Ungenauigkeit unterläuft in meinem gefährdeten
Denken. "Ich könnte dich", schlägt sie vor, "an den Stellen, wo
du es liebst, streicheln, damit du ruhiger wirst." "Nein, berühre
mich nicht!" bitte ich. "Ich muß aus meiner Unruhe herausfinden durch
die Aneinanderreihung zunächst sinnloser, dann immer sinnvollerer Wörter und
Sätze. Aber versenge dich nicht an meinem Unglück, bevor ich es
zurückverwandelt habe in Glück!"
"Du brauchst ja nur eine Silbe zu streichen, zwei Buchstaben, zwei
Buchstaben nur!" wirft die Geliebte begeistert ein. "Alles wird hell
sein durch meine Liebe." Ich aber sage: "Es war einmal eine Tulpe,
die füllte sich in einem fort mit flüssigem Gold und leerte sich wieder, bis
eine plötzliche Kälte das Gold erstarren ließ. Die Blütenblätter fielen ab. Was
siehst du nun?" "Ich sehe den Tod unserer Liebe. Und was siehst
du?" "Ich sehe ihre Verewigung." "Ewig, ewig, ewig! Du immer
mir deinem 'ewig'!" Das zarte Geschöpf wirft sich über mich und schlürft
mir das Wort von den Lippen.
Es ist eine Liebesszene. denke ich. Ewiger Kuß! Er brennt mir die untere
Gesichtshälfte weg, die auch durch eine kosmetische Operation nicht
wiederhergestellt werden kann, so daß mir nichts anderes übrig bleibt, als auf
meine Zauberkräfte zurückzugreifen. Ich werde Dressman und habe nun wieder
einen Beruf. Ich mache mich lächerlich und werde bewundert. Ich bin das Model
mit dem intelligenten Blick. Manchmal trage ich eine Brille. Da fällt der
Hüftschwung etwas weiter aus und streift die unsichtbare Grenze meiner
Freiheit. Ich darf mir viel erlauben.
Ich erlaube mir, an die Schmeißfliege im offenen Auge les toten Säuglings zu
denken, dessen Mund sich langsam von der entleerten Mutterbrust löst. Ich
erlaube mir, an die Münder zu denken, die sich nach dem letzten Atemzug nicht
mehr schließen. Ich erlaube mir einen eleganten Sturz auf dem Laufsteg. Er wird
mein Markenzeichen. Ich stürze und rolle mich ab. Es ist ein Räderwerk in
meinem Körper. Ich gehe und gehe und gehe. Ich gehe nach vor und zurück. Ich
stürze. Ich darf mir sogar erlauben, auf dem Catwalk zu weinen.
Während ich die neueste Mode vorführe, erleide ich in Schönheit das Schicksal
der Welt. Mein Gang ist eine Anklage und wird bejubelt. Als ich meinen Haß
nicht mehr zügeln kann, verweigere ich meinen nächsten Auftritt und suche mir
eine unauffälligere Existenz als Schalterbeamter in einer Bahnhofshalle:
zwischen mir und dem Kunden die Scheibe. Ich drücke den Knopf, der die Verbindung
herstellt und sage: "Steigen Sie nicht in diesen Zug! Er wird entgleisen.
Alles entgleist. Bleiben Sie hier! Verzichten Sie auf das Reisen!"
Als man dahinterkommt, wie kontraproduktiv ich meinen Beruf ausübe, muß ich
auch meinen geliebten Bahnhof verlassen und einen Umschulungskurs besuchen.
Denn für irgendetwas muß meine Begabung zur Kassandra doch gut sein, denke ich.
Es ist aber in allen Berufen, die man mir anträgt, Hoffnung gefragt. Ich hoffe
auf das Ende dar Welt, damit ich als einziger Überlebender aufhören kann mit
der Lüge, obwohl ich, käme es dazu, mich wieder belügen müßte. Der Zug wird
ankommen. Das Gras wird grünen. Der Stern wird glühen. Ich höre mir zu und
werde verrückt dabei.
Die Angst ist die Freiheit. Erst im Wahnsinn verwandelt sich mein Unglück in
Glück. Es wäre so still in den durchwachten Nächten, bestünden die Glocken
nicht auf
der voranschreitenden Zeit. Zwei Stunden noch bis zum Amselruf. Die Müllabfuhr
ist schon unterwegs. Putzfrauen schlurfen um die Ecken. Der Bäcker legt seine
Brote aus. Die Zeitungsausträger legen ihre Fracht vor die Türen. Stahlklar ist
die Luft. Ich will mich in diesen neuen Tag rückhaltlos stürzen, entschlossen
zu leben, wie die Mehrheit lebt. Ich will ein Teil dieser Mehrheit sein,
gedankenlos, wie in Trance. Ich will es eilig haben.
Was brauche ich alles für dieses Mehrheitsleben? Eine neue Aktentasche, ein
Kainsmal an meiner Stirn, einen undurchdringlichen Blick für die anstehenden
Konferenzen. Kein Mitgefühl! Es sei denn, mich trifft ein Verhängnis, das mir
den Atem nimmt. Dann bitte ich um einen Schlag auf den Hinterkopf. "Komm
zu dir! Dein Bub wurde zerstückelt in einen Container geworfen. Stähle dich!
Geh in den Saal und eröffne die Sitzung wie alle Tage! Wir sind auf der
Überholspur. Der Fall wird geklärt und im Archiv der Gerechtigkeit abgeheftet.
Das Geschäft aber geht weiter. Die Aktien purzeln. Wenn wir uns jetzt nicht ein
Bein ausreißen, wann dann?"
Der neue Junge wird blond wie der alte sein, und er wird wieder zerstückelt
werden. Aber du gibst nicht auf. Du kämpfst, bis man dir alle Beine und Arme
und Köpfe deiner Sprößlinge fein säuberlich um das Totenbett legt. Geschrien
hast du noch nie. Bei deiner Geburt, als die Bomben fielen, hat man dir den
Mund zugehalten. Ich aber, dein anderes Ich, schreie auf dem
Großglocknergipfel. Neben mir steht ein fast hundertjähriger Mann im
Lodengewand und schreit auch. Ich freunde mich mit ihm an. "Sie schreien
am liebsten auf kahlen Gipfeln", stellt er mit Interesse fest, "ich
schreie sonst nur im Wald."
Leider verstirbt mein neuer Freund noch diese Nacht, was ich bedauere, wie ich
selten etwas bedauert habe. Ich kann sagen, ich bin am Boden zerstört. Ein
zweiter Gipfelschrei gelingt mir nicht. Ich muß den Unterschied zwischen Trauer
und Verzweiflung erkennen. Endlich ein Freund, der mit mir schreit, und nun
das! Die Küchenhilfe des Gipfelrestaurants will mich trösten, aber natürlich
begreift sie meine Bestürzung nicht. "Der Mann hat doch lange genug
gelebt", gibt sie verständnislos zu bedenken. Da nehme ich ihr das
Geschirr aus der Hand und werfe es auf den Boden.
"Ich komme für alles auf", füge ich umgehend hinzu. Auf den Abstieg
verzichte ich und nehme die Seilbahn. Der mit der selben Kabine hinabbeförderte
Tote zwinkert mir zu, was ich in meiner Verzagtheit zuerst für eine optische
Täuschung halte. Er spricht aber auch: "Ich schreie im Jenseits weiter.
Kommen Sie mit!" Der Satz trifft mich ins Herz. Noch nie wäre ich so gern
gestorben. Aber nun geht es nicht. Kerngesund stehe ich da, lehne mich an die
Kabinenwand, prüfe die Möglichkeit, die Tür aufzustoßen, die aber von außen
gesichert ist. Ich muß mich zufrieden geben mit der Einmaligkeit und sie wie
etwas Wertvolles bewahren für alle Zeit.
Das Schreien bleibt das einzige, das mich erlöst, wenn ich im Trubel der
Gedanken an einen Punkt gelange, an dem sie einander aufheben und nur eine
leere Stelle lassen, die ich füllen muß mit etwas Unartikuliertem, damit ich
nicht für immer verstumme. Erst nach dem Schrei kann ich wieder klar denken.
Ich habe geschrien, denke ich dann. Es geht bergauf. Ich werde heute kein
zweitesmal schreien und auch morgen nicht. Die Zeiten zwischen meinen Schreien
sind wohldosiert, damit aus mir, dem Denker, kein Schreihals wird. Es muß die
Notlösung bleiben. Es muß! Bis auf den alten Mann hat mich noch niemand außer
mir schreien gehört.
Oder muß es heißen: Es haben mich, da ich mich hörte, alle schreien gehört? Ich
schließe die Augen und konzentriere mich. Als der vollbesetzte Zug in den
Bahnhof einfuhr, sah ich mich hinter jedem Fenster, aber ich stieg nicht ein.
So war es doch! Hinter jedem Fenster mein Gesicht! Aber ich stieg nicht ein.
Bevor ich weiterdenke, zünde ich mir eine Zigarette an. Über dem Fluß war ein
Seil gespannt. Ich starrte auf die Geleise. Wollte ich mich vor den Zug werfen,
in dem ich saß? Die Türen öffneten sich, aber ich stieg nicht aus. Ich stieg
weder aus noch ein. Worauf wartete ich?
Wäre ich gleichzeitig ein- und ausgestiegen, hätte sich an dem Bild nichts
geändert. Aber es änderte sich alles in diesem Augenblick. Mein neues Leben
begann. Ich glaube, ich habe geschrien. Ich kann es nicht beschwören, aber ich
glaube, ich habe im Zug und außerhalb des Zuges einen Schrei ausgestoßen, der
das Bild löschte. Es war kein Zug mehr da, sondern nur noch de Fluß und das
Seil darüber, auf dem ich tanzte. Der Seiltanz löste den Schrei ab vice versa.
Stumm tanzte ich auf dem Seil. Stürzte ich, schrie ich. Beides bereitete mir
ein Lustgefühl, wie ich es später nie wieder erlebte.
Aber ich konnte ja nicht gleich wieder aufhören zu leben. Ich hatte doch gerade
erst angefangen. Die Wörter fügten sich. Ich brauchte ihnen nur zu folgen, um
die Spur aufzunehmen in eine mehr oder weniger langweilige Existenz, in der sie
gleichwohl leuchteten wie Wegmarken in eine Zukunft, in der sich das Glück des
Anfangs vielleicht wiederholen würde. Hoch über mir tanze ich und freue mich
auf den Strom, der mich verschlingen wird. Auf meinen Höhenflug freue ich mich
und auf meinen Untergang. Die Zecke an meiner Schulter jedoch muß ich
fachgerecht mit einer Pinzette entfernen.
Sie hat sich vollgesogen. Mir fehlt jetzt dieses Blut. Ich gerate in Wut und
bin schon in kleinlichem Ärger gefangen, der die Räume zwischen den erhabenen
Momenten des Lebens füllt. Hätte ich nur diese Wanderung nicht unternommen!
Wäre ich nur nicht durch das Dickicht gestreift! Wäre ich doch nur zu Hause
geblieben, mich geduldend bis zu einem größeren Aufschwung! Oh, wie hadere ich
mit meiner Voreiligkeit! Die erstbeste Frau nehme ich, die sich bereit zeigt für
ein Tête à tête, als hätte ich nicht schon mein Leben mit ihr geteilt. Ist das
nicht ein wunderbarere Gedanke? Ich trinke aus dem geleerten Glas. Ich esse das
vom Kameraden verzehrte Brot. Ich singe erschossen ein Lied aus besseren
Zeiten.
Die Rampe ist voll. Das Blut ist schwarz. Obwohl andere schießen, bin ich es,
der seiner Pflicht nachkommt. Denn natürlich muß es geschehen! Geschieht es
nicht jetzt, geschieht es ein andermal. Keine der Frauen fleht um Gnade. Ich
muß mich lösen aus dem Bann des Geschehens. Es gibt ja da noch den Huflattich
am Abhang, die weißen Punkte der Gänseblümchen. Es gibt an den Sträuchern das
knospende Grün, und es gibt anderswo Grausameres, das ich nur nicht bemerke,
weil ich durch Zufall gerade hier anwesend bin. Aber ich bin doch überall.
Finger werden abgehackt, ganze Hände.
Lynchjustiz wird geübt. Auf einen ans Gitterbett gefesselten Menschenwurm,
wird, bis er verstummt, eingedroschen. Es wird geblendet, gebrandmarkt,
gevierteilt. Überall bin ich zugegen. Von allem versuche ich mich vergeblich
abzuwenden. An den Schrägen des Flußbetts blühen die Leberblümchen. Von einem
Ausflugsdampfer dröhnt Jazzmusik. Es wird geschunkelt und in den Fluß gepißt.
Mit tausend Armen ergreift der Mensch das Leben, auf das er ein Recht hat. Stücke
aus Festbroten reißt er. Ich aber kann, wenn ich das ans Ufer sanft
anschlagende Wasser höre, nur an das Wort "Glück" denken, als wäre es
nicht möglich als Zustand, sondern nur als Vokabel.
"Sie sind kein schlechter Mensch", sagt die Wissende, die ich nun
doch gegen all meine Vorsätze gerettet habe. Ich salze den Fisch auf dem Teller
mit meinen Tränen. Durch die Gassen spazierend, sehen wir uns noch die
Antiquitäten in den Schaufenstern an, bis sich auch dieser Tag der Dämmerung
neigt, in der wir uns, einander nicht berührend, verlieren. "Ich lebe
nicht", flüstert mir die Frau zum Abschied zu. "Ich auch nicht",
flüstere ich zurück. Es bleibt unser Geheimnis. Denn wie beide sind, ob wir
wollen oder nicht, herausgehoben aus der Masse meiner Geschöpfe. Wir sind das
Heilige Paar.
Du gehst zurück in dein endloses Meer, denke ich. Ich bleibe im Trockenen.
Nichts verbindet uns, und nichts trennt uns. Sehen wir einander nackt, begehren
wir einander nicht. Denaturiert befolgen wir das Gesetz größtmöglicher Entfernung
bei größtmöglicher Nähe. Es hat die Welt jetzt für ein kurzes goldenes
Zeitalter ein Herrscherpaar, König und Königin. Wir nützen es zur
Fruchtbarmachung, zum Gedeihen und Prangen. Es wird danach vielleicht keine
solchen Zeiten mehr geben. Die Erinnerung muß uns nähren, aus der die absurde
Hoffung auf Wiederholung erwächst.
Die Verklärung vergoldet uns und wird aufgezeichnet von sich abschottenden
Mönchen, die nur das prunkvollste Zeichengerät zur Verfügung haben. Alles
Häßliche wird ihnen vorenthalten. Dann gibt es die Handschriften, die
illustrierten Bücher, aus denen die Schlachten aufleuchten zum Studium späterer
Generationen, als wäre das Leben ein prächtiges Spiel. Komm, ich setze dir die
diamantene Krone auf, größer als meine! Bist du jetzt der Mann? Bin ich die
Frau? Ich suche die Merkmale an dir und finde die Scham und den Schwanenhals.
Wir dürfen uns nicht wiedersehen, hörst du?
Bleib unter Wasser! Ich baue mir eine Burg. An den Zinnen wehen die Fahnen
meines Geschlechts. Aufgestiegen zur Macht, wünsche ich mir nur ein kleines
Reich. Der Turnierplatz ist gut besucht. Ich schlage das Bilderbuch auf. Die
Ritter postieren ihre Paniere. Zu ernsten Zwischenfällen ist es noch nicht
gekommen. Es ist ein Gedankenspiel: die goldbetreßten Pferde, die Lanzen, die
Abwürfe. Es ist ein Spiel. Ich habe dem Leben das Leben ausgetrieben. Es
genügt, wenn ich mit dem Daumen nach unten zeige. Der Sieger bekommt die
Trophäe. Wir spielen das Händeabhacken, das Köpfen und Lynchen.
Ich sage: "Schlagt dem Verlierer den Kopf ab!" Aber er wächst wieder
an. Aus Fleisch und Blut bist du, sage ich mir. Aber in Wahrheit sind es andere
Materialien: Holz, Draht und Watte. Auf der Geburtstagstorte brennen fünf
Kerzen. Die kannst du schon alle auf einmal ausblasen. Dann wird gesungen. Wir
führen ein Singspiel auf. Deine Stimme hat natürlich noch nicht das volle
Volumen. Du weißt ja noch nicht, was die Vortäuschung von Leben ist. Ich werde
dich den Unterschied lehren, damit du nicht leidest. Sticht man dich, ist es
kein richtiger Stich, sondern nur eine Theaterwunde.
Hab keine Angst! Ich führe dich durch das Unwegsame. Schlägt man dich ins
Gesicht, schlag nicht zurück! Es ist nur der linkische Versuch einer
Liebkosung. Beleidigt man dich, will man dich nicht verletzen, sondern prüfen,
wie weit du schon vorangekommen bist im Studium des Erkennens. Alles ist
Schein. Stirbst du, bist du nicht tot, obwohl der Tod das geringste ist, das du
zu fürchten hast. Soll ich es dir aufschreiben, damit du dich vergewissern
kannst in unsicheren Zeiten? Ein Buch der Irrtümer will ich es nennen. Dir kann
nichts passieren. Vom Himmel fallen verblühte Rosen.
Die Waffe, die auf dich zielt, ist nicht geladen. Aber lache dem Schützen nicht
ins Gesicht! Schenke ihm die kleine Freude, zu meinen, es sei ihm gelungen,
dich zu erschrecken. Ich bin ja an deiner Seite und breite meine Flügel über
dich aus. So, und jetzt laß uns versuchen, ob wir in einem gastlichen Haus ein
Glas Milch bekommen! Wir haben es uns verdient nach so viel Geistesarbeit. Es
zittert der Dachfirst. Es fällt ein Ziegel. Aber das große Beben bleibt aus. Es
kommt überhaupt nichts Großes. Hab keine Angst! Meine Welt ist nur eine
Spielzeugwelt. Stell das Bahnwärterhäuschen neben den Fluß!
Der Bahnhof steht ja schon da. Laß hier im windgeschützten Tal, das die
Papiersonne wärmt, die Kirschen blühen! Setz dich ins Gras, bis sie erröten! Du
hast Zeit. Die Müdigkeit wird dir eine natürliche Grenze setzen. Dann holt dich
der Schlaf mit seinen Schwingen und trägt dich in ein anderes Paradies. Das
verspreche ich dir und muß das Versprechen brechen. Das Haus stürzt ein. Das
Beben verschüttet das Dorf. Warum mußte es nur so ungünstig liegen? Du hast mit
der Kindheit dein Leben verloren. Aber ich ersetze dich gern. "Du bist
schon ein großes Kind", sagt die Tante.
"Ich werde noch größer", sage ich. "Ich werde ein Riese und euch
alle zermalmen." "Hört, wie er redet!" In ihm wächst der Haß. Er
mag die Verwandtschaft nicht, besonders die Tante. Die Tante kauft ihm ein Eis.
Das pappt er ihr wie eine verlängerte Nase mitten in ihr mit preiswerten
Essenzen gepflegtes Gesicht. Darf man das noch als Scherz betrachten? Die
Mutter verbreitet in die Runde einen warnenden Blick. "So ist er eben,
aber im Grunde ein guter Bub. Man darf ihm sein Temperament nicht nehmen. Denn
das wird er im späteren Leben brauchen. Er muß sich ja durchsetzen gegen die
Konkurrenten. Ich wünsche mir, daß er stark wird, stark wie ein Baum."
"Seine Tränen sollen trocknen wie Harz. Sein Laub soll alles andere Laub
verdrängen. Seine Wurzeln sollen jeden Versuch, neben ihm zu bestehen,
ersticken. Kannst du das verstehen, Rosamunde? Ich bin eine schwache Frau. Ich
will einen Giganten als Sohn. Er soll mich beschützen, damit ich nie wieder
einem Mann zu verfallen brauche. Ich verabscheue die Verfallenheit des Weibes
an den Mann, außer der Mann ist mein Sohn, verstehst du das? Kannst du dich
hineinfühlen in die nie verschmerzte Schwäche, die ich mir aufzwang, um dieses
Kind zu gebären? Du hast es leicht, kinderlos!"
"Aber ich wollte dieses Kind! Ich wollte aus meinem Schoß diese männliche
Frucht. Ich hätte abtreiben können. Es war nicht schwer, nach dem Krieg
abzutreiben. Der Arzt fragte: 'Willst du dieses Kind?' 'Ja!‘ antwortete ich mit
fester Stimme. 'Wenn es ein Junge ist, dann will ich es. Wenn es ein Mädchen
wird, ersäufe ich es wie eine räudige Katze.' Ja, so sprach ich, liebe
Schwester. Man war damals mit Worten noch nicht so zimperlich. Der Arzt lachte
nur." "Du bist ein Ungeheuer." "Ich bin die Urmutter aller
Söhne. Ich werde meinen Sohn zu einem Bollwerk gegen die Schwachheit
erziehen." „Maria und Josef", sagt da die Tante.
"Ich will einen Soldaten. Ich will einen, der auf alles schießt, das ihm
in die Quere kommt. Ich will einen Jäger, der sich an keine Schonzeit hält. Ich
will einen Mörder." Die Tante hat sich mittlerweile vom Eis befreit. Sie
sieht jetzt wieder einigermaßen ordentlich aus. Doch der Schock steht ihr noch
ins Gesicht geschrieben. "Aus dir sprichst nicht du." "Nein, aus
mir spricht die Stimme einer tiefen Entschlossenheit. Ich spreche für alle
Frauen, Rosamunde, auch für dich. Wir gründen eine Partei. Mein Sohn wird der
Vorsitzende. Man wird ihn 'mein Führer' nennen. Man wird sagen: Führer,
befiehl!"
"Ja, hast du ihn denn gefragt, ob er das überhaupt will?"
"Sei ganz beruhigt, ich bin die Mutter, mir ist er untertan."
Auf dem nun künstlich beleuchteten Marktplatz wird ein Puppentheater errichtet,
auf dem die Szene Wort für Wort nachgespielt wird. War alles nur Spaß? "Es
wird ein Ungewitter kommen", prophezeit die Mutter, "in dem ich mit
meinem Hexentanz alle, die mich für verrückt halten, Lügen strafe." Die
Frau stampft auf. Es fallen die ersten Tropfen. Es brechen die ersten Knochen.
Sie tanzt und tanzt. Ich halte sie an meinen Marionettenfäden, damit ihr kein
Fehler unterläuft. Sie ist jetzt in Raserei und zugleich hochkonzentriert. Sie
hält das Kind auf dem Arm. Sie ruft: "Du bist mein Alles, mein Gott!"
Sie hat Schaum vor dem Mund. Ich aber wünsche ihr Frieden und begebe mich in
die nächste Szene, in der sich eine Knabenschar zum Ringelreihen um ein weiß
gekleidetes Mädchen aufgestellt hat. Die Parallelen zur vorigen Szene sind
unübersehbar. Die Knaben hüpfen und fallen und purzeln übereinander. Das
Mädchen hat sich auf den Boden gesetzt und glättet die Falten seines von
Spitzen gesäumten Kleides. Es tut so, als langweile es sich. Die Gefahr wird
durch die vorgetäuschte Langeweile vermeintlich entschärft. Im nächsten
Augenblick, denke ich, wird es ein formloser Fleischklumpen sein.
Statt es zu beschützen, spiegle ich mich in ihm. Mir kann nichts passieren. Bis
zum Beweis des Gegenteils werde ich diesen Gedanken von Zeit zu Zeit
wiederholen. Auch andere Gedanken tauchen neuerdings wortwörtlich mehrmals auf.
Durch die Wiederholung vermeide ich, sie zu vergessen. Rotes Gras, denke ich,
und dann gleich noch einmal: rotes Gras. Nicht auf glühenden Kohlen gehe ich,
sondern auf glühendem Gras. Es erzeugt Flammen, wenn ich zu fest auftrete.
Durch Feuer gehe ich. Mir kann nichts passieren. Schwarz wie verkohltes Holz ist
mein Leib. Der Bildhauer, der mich schuf, hat mich angezündet und gelöscht,
bevor ich verbrenne.
Alles nicht Brennbare verabscheut er. Wir sind gleichberechtigt. Ich habe auch
ihn erschaffen, angezündet und rechtzeitig gelöscht. Er hat mich darum gebeten.
"Ich will fühlen wie du", gestand er mir eines Morgens, als er mir
mit dem Schnitzmesser ins Auge stach. Da geschah es: Wir vergaßen, einander zu
löschen, und waren als Asche vereint. Ein Lüftchen erhob sich und wehte uns
fort. Mir aber kann nichts passieren. Ich dünge den Boden und entstehe mir neu
als fruchtbares Land. Ein Rosenspalier friedet mich ein. Die Königskerze wächst
wild. Ich dulde inmitten des Gewollten das Wilde und stimme ein Loblied auf die
Schönheit des Zufalls an.
Ich bin jetzt tönende Asche. Was
soll ich noch wünschen? Was habe ich noch nicht erreicht? Ich zähle auf:
erstens. zweitens. drittens, viertens ... Es folgt aber auf die Zahlen kein
Inhalt. Mein Lebensbuch ist gefüllt. Ich schlage es zu, vergrabe es unter den
Rosen und verabschiede mich von meinem Garten, den Tomaten, Bohnen und Erbsen
und so fort. Endlich tot für immer, denke ich. Da pfeift es aus dem
unterirdischen Buch. "Hier hast du ein Wort vergessen", mahnt eine
Stimme, "hier einen ganzen Satz." "Welches Wort? Welchen Satz?"
"Den mußt du selbst finden. Getrieben von einem fanatischen Willen zur
Vollständigkeit, mußt du wie ein Besessener dein Buch noch einmal lesen, bis
dir das Fehlende auffällt und du dich fragst, wie du es unterschlagen konntest.
Warum hast du an dieser alles entscheidenden Stelle diese Aussparung gelassen?
Jedes Kind wäre stutzig geworden. Du schlägst dir an den Kopf. Du raufst dir
die Haare. Du beißt dir fast einen Finger ab. Die Sonne über deinen Beeten
verfärbt sich. Du fügst den Satz ein und merkst, es fehlen noch viele Sätze. Du
mußt weiterschreiben." Nun bist du Asche, die schreibt.
Bei Tag und Nacht füllst du die Lücken. Es fällt ein Blatt. Es fällt eine
Schote. Das Gestein über dem Vulkan verdunkelt die Sonne. Der Krater speit dich
aus. Du legst dich, dir das Hirn zermarternd, in deine Gartenhütte. Es klopft,
und herein tritt ein Mann, der deine Früchte käuflich erwerben will. Du sagst,
dazu sei es zu früh. Man müsse die Reifung abwarten. "Kommen Sie in zehn
Jahren wieder!" "Stimmt es, daß Sie gar nichts verkaufen
wollen?" fragt der Mann. Dein Gesicht zeigt eine qualvolle Grimasse.
"Kommen Sie in zehn Jahren wieder."
"Zweimal haben Sie diesen Satz nun gesagt", sagt der Mann.
"Schenken Sie mir dafür eine Tomate!" "Nehmen Sie, was Sie
wollen", kapituliere ich. "aber gehen Sie!" Das Buch habe ich
wieder geöffnet und füge ein: Die Tomaten sind in zehn Jahren reif wie auch die
Bohnen und der Kohl und die Erbsen und alles Gemüse und alles Obst. Die Frist
kann ich beliebig verlängern, wenn es mir Freude macht, weiter zu warten. Denn
Warten heißt: in Bewegung sein. Ich schließe mich den Zugvögeln an, fliege über
die Kontinente und sehe aus der Vogelperspektive, was ich versäumt habe
aufzuschreiben.
Es ist eine faszinierende Welt, denke ich. Rentiere fliehen unter einem
Tiefflieger in wilder Hast. Der Wüstenboden entfaltet, als der Regen kommt,
eine Pracht, die mir die Tränen in die Augen treibt. Wie konnte ich nur mein
Leben für beendet erklären? Die Nacht verwandelt die Städte in Lichtermeere.
Ich schlafe im Flug, damit mir mein Dasein im Traum unverzichtbar werde. Ich
schlafe im Aufwind. Ich gewahre ein Licht, das mich lockt. Die Vögel ziehen
weiter ihre vorgeschriebene Bahn. Ich schere aus und verlasse die Route. Das
Licht umfaßt einen begrenzten Raum.
Hier findet also das wahre Weltgeschehen statt, von dem das, was ich bisher
sah, nur ein Abklatsch ist. Die Farben sind kräftiger. Die Gesellschaft, die
sich im großen und ganzen nicht anders verhält, als in den mir bekannten
Gefilden, spricht lauter und gestikulierend. Ich höre das Wort
"Aufbruch". "Wir brechen auf." "Nein, morgen!"
"Morgen kann es zu spät sein." "Wir müssen es jetzt tun."
Aber was? frage ich mich. Aus all dem Hin und er zwischen "jetzt" und
"gleich" oder "später" entnehme ich nicht, wovon die Rede
ist.
Einzugreifen verbiete ich mir. Es muß, sage ich mir, aus sich heraus diese
womöglich alles umstülpende Bewegung entstehen, deren Ziel ich nicht kenne.
"Kommt!" sagt schließlich einer. "Laßt uns den Sturz in die
Tiefe wagen!" Es gibt aber Gegenstimmen. "Wir stürzen morgen."
Wir überstürzen nichts." "Wir handeln überlegt, damit uns nicht
wieder das Mißgeschick eines falschen Eingriffs um den Lohn unseres Wagemuts
bringt." Ich aber kann nicht mehr an mich halten: Einem geflügelten Knaben
neben mir einen Stoß versetzend, bringe ich die Aktion ins Rollen. Der
Engelssturz hat begonnen.
Einer nach dem anderen fällt stumm aus dem Lichtareal. Die Flügel werden
abgeworfen. Der Sturz führt durch die Finsternis ins Diesige der unteren Welt,
die er erleuchtet. "Hier sind wir, meine Freunde", schallt es aus
tausend Mündern. "Werft euer Werkzeug fort! Formiert euch! Wir haben vor
uns einen langen Weg. Leichten Fußes wollen wir marschieren, bis wir angekommen
sind in einem Reich ohne Materie." "Die Idee, nicht die Materie, soll
uns leiten!" rufen die Diesseitsmenschen. "Sie haben es erfaßt",
rufen triumphierend die Engel. "Diesmal ist uns der Umschwung
gelungen."
Unsinn, denke ich, entziehe mich aber nicht, sondern reihe mich ein in die
Kolonne, die auf verborgenen Pfaden in ein Gefangenenlager führt, wo jedem eine
Nummer an den Rücken geheftet wird: auch mir! Es ist die Null, das bedeutet,
ich fehle nicht, wenn ich entkomme. Meine Sonderstellung erlaubt mir, Zeuge zu
sein. Ich habe folgendes zu berichten: Die Gefangenen werden in Baracken
aufgeteilt und müssen in einem fort schlafen. Sie sind nicht müde. Aber der
Befehl lautet: Schlaf! Wer versucht, sich schlafend zu stellen, wird
ausgesondert und füsiliert. Die Aufseher haben ein feines Gespür für den
Betrug.
Tut einer so, als wäre er schwer zu wecken, merken sie es sogleich. Ich bin
natürlich, obwohl mir fast die Augen zufallen, hellwach. Ich muß ja den
Wahnsinn dokumentieren. Heimlich unter der Bettdecke mache ich mir Notizen. Ein
schmächtiger Alter, der mit angstweiten Augen behauptet, er schlafe tief, löst
Gelächter aus, bevor man ihn liquidiert. Ein Kind, das tatsächlich
eingeschlafen war, wird durch das Gelächter aus seinem Schlaf gerissen. Der
Übergang vom Schlafen zum Sterben ist fließend, denke ich. So schlimm wäre es
nicht, würde man die zum Schlummer Verdammten im Schlaf umbringen.
Doch wachen Auges müssen sie ins Verderben. Wer hat sich diese Todesart
ausgedacht? Man flüstert sich zu, er sitze in einem der Wachtürme über dem
Lager. Er sei dort mit allem, was er zu seinem Wächterdienst braucht,
ausgerüstet. Einen Aufseher, der Gnade walten läßt, entdeckt er sofort. Ich
durchschneide den Stacheldraht, steige die Wendeltreppe hoch, und nun stehe ich
vor dem Übeltäter. "Schlaf, Unmensch, schlaf," befehle ich,
"wenn dir dein Leben lieb ist! Ich bin bewaffnet. Du hast keine Chance,
Kretin, Ausgeburt, nur dazu da, von mir eliminiert zu werden. Hoffe auf keine
Verhandlung! Es gibt kein Pardon!"
"Ich schlafe seit tausenden Jahren", sagt in aller Ruhe der Mann. Da
ziehe ich meine Pistolen und schieße in wildem Rausch auf den Kopf und die
Eingeweide, die Augen, den Mund, die Nase, das Zentrum der Stirn und ganz
zuletzt erst ins Herz. Wie ein Fanal krachen die Schüsse über den Platz.
"Freiheit!" rufe ich "Freiheit!" Die Todgeweihten wanken
aus den Baracken, zum Umfallen erschöpft, und sinken im Schlamm der vom Regen
gebildeten Pfützen in einen ewigen Schlummer. Nur wenige überleben die Rettung,
darunter eine Frau, die weiß, daß das Wort "ewig" keine Bedeutung
hat.
"Ewig, welch ein Augenblick!" jubiliert sie und springt durch den
Morast. Ich erinnere sie noch an andere Wörter: "grenzenlos,
unvergänglich, unendlich." Sie erkennt in mir den ehemaligen Lehrer. Doch
auch ich kann von ihr lernen, zum Beispiel, was Liebe ist, holdes Entzücken.
"Liebe", erklärt sie mir, "ist die vorübergehende
Übereinstimmung einer psychischen Konstellation, die ein Feuer entfacht, wenn
der Irrtum zutage tritt. Liebe, der süßeste Irrtum." Ich falle ihr um den
Hals und küsse sie, erspare mir aber ein Liebesgeständnis. Flatterhaft ist die
Psyche.
Wir verlassen den unwirtlichen Ort und flanieren im angrenzenden Wald, der mit
gepflegten Wegen einlädt, um unseren Disput fortzusetzen. "Liebe kann
inspirieren", sagt die Frau. "Liebe kann beseligen." "Liebe
kann töten", werfe ich ein, "uns aber nicht." Sie nennt mich
Romantiker. Wünscht sie ein Liebesgeflüster? Geistesabwesend beginne ich,
herbstliches Laub von den Sträuchern zu pflücken, einen Hagebuttenzweig, Pfaffenhütchen,
Schneebälle. Drüben die Leichen, denke ich, und hier dieser Strauß.
"Wir wollen pervers sein", ruft die Frau, "und uns vergessen im
Feuchten." Da fällt mir ihr Name ein: "Irmgard, du versündigst
dich." Ein Grollen senkt sich über die Szene. "Wir sind
verzweifelt", konstatiert sie begeistert. "Der Erdboden wird uns
verschlucken. In seinem Magma verschmelzen wir. Versteinert überdauern wir
Jahrmillionen. Man wird uns umschlungen finden, Knochen an Knochen, Zahn an
Zahn. Man wird uns bestaunen als das ewige Märchen, das man Liebe nennt."
Sie wirft mich ins Laub und überwältigt mich. Schon wieder, denke ich, fühle
den Schmerz und genieße ihn.
Schreien kann ich nicht. Das Blut rinnt mir über das Kinn und den Nacken. Ganze
Fleischstücke reißt Irmgard aus mir heraus. Sie ist jetzt eine Rasende, ich bin
ihr Opfer, so soll es sein. Die Kirchenglocken läuten. Der Wind erzeugt
Harfentöne. Ich will es so, denke ich: den Schmerz an der
Erträglichkeitsgrenze. Auf dem Lusthöhepunkt stoße ich der Frau ein Messer
zwischen die Rippen. Ich bin ein Ritter auf der Suche nach ungewöhnlichen
Abenteuern. Ich bin auch ein Dichter und Friedensstifter, ein Wanderer durch
den Herbst, ein Berichterstatter an vorderster Front, ein heimlicher
Beobachter, ein Spion. Mir entgeht nichts. Ich vergesse alles.
In meinem Buch steht es geschrieben. Die leeren Seiten, die ich zu füllen habe,
blättern sich um. Nicht so schnell! Das Weiß der Leere spornt mich zu neuen
Taten an. Ich will hinaus aus diesem Wald. Die Wege aber führen immer tiefer in
ihn hinein. Ich frage einen Spaziergänger: "Wo ist der Ausgang?" Er
schüttelt den Kopf. Meine einzige Chance, denke ich: einem Verirrten wie mir zu
begegnen und gemeinsam ins Freie zu wollen. Oder potenziert sich die Verirrung
durch die Verdoppelung? Das ist eine mathematische Frage.
Hätte ich als Schüler die Zeichen an der Tafel nur richtig gedeutet! Ein Reh
flieht ins Gebüsch. Ich erhoffe mir nichts, aber ich werde, wenn die Nacht
anbricht, auf güllegetränktem Acker liegend, die Zeit, die alles löst, preisen.
Ich darf nur nicht aufhören zu gehen, bis es dunkel wird. Den Wald wird es dann
nie gegeben haben. Die Vorzukunft ist mein Lieblingstempus. Irmgard wird man
nie finden. Das Hotel, in dem ich logiere, hat schon geschlossen. Ich muß den
Pförtner wachklingeln. "Sie werden nicht erschossen", beruhige ich
ihn, als er mir schlaftrunken öffnet, und stecke ihm einen Geldschein zu.
"Ich habe nur ein paar Seiten gefüllt."
Der nächste Tag weckt mich mit einem Sonnenstrahl in die blinzelnden Augen. Ich
öffne sie und sehe nur Licht. In einer Welt ohne Gegenstände, denke ich, möchte
ich leben. Dort tränke man nicht aus Gläsern und Bechern und Tassen, äße nicht
von Tellern, spielte nicht mit Holzpferden und Modelleisenbahnen. Mit bloßen
Händen tötete man den Feind. Das wäre noch ein Krieg nach meinem Geschmack,
Mann gegen Mann, ehrenhaft, ohne Lanzen und Bombergeschwader. In so einen Krieg
träume ich mich, um weiterzuschlafen.
Ich will nicht erwachen an diesem Tag, der Hitze verspricht und gleißende Sonne
bis abends und vielleicht kühlendes Naß. Denn Abscheu erfaßt den Kämpfer bei
dem Gedanken an organisierte Erholung. Er will nur das eine: den Gegner
ausschalten, dann den nächsten und übernächsten, bis ihm der Erdkreis allein
zur Verfügung steht für kampflose Stunden, die er sich herrlich vorstellt,
getragen vom Müßiggang, zurückblickend auf die errungenen Siege, bis ihn der
Kitzel von neuem erfaßt und er sich vervielfacht zu einem Heer anstürmender
Widersacher, die er mit geübten Faustschlägen zu Boden streckt. Um Alles oder Nichts
geht es ihm.
Scharmützel hat er in seinem Leben genug bestritten, Teilerfolge erzielt und
sich zufrieden gegeben mit kleinen Gebietsgewinnen. Im Traum aber geht er aufs
Ganze. Erst mittags erwacht er, ein verschwitzter Allesbezwinger. Griesgrämig schlendert
er über die Piazza mit den Andenkenständen. Ja, der schiefe Turm neigt sich.
Ja, die Pieta ergreift auch das kälteste Herz. Ja, der Papst wurde beinahe
erschossen. Ich sah, wie er wankte und zwischen die Leibwächter fiel. Aber wißt
ihr, daß ich in einer Nacht ganz Rom entvölkert habe? Wißt ihr, daß ich die
Bewohner, einen nach dem andern, erschlug und auferstehen ließ, um das Gemetzel
zu wiederholen?
Glaubt ihr mir, daß ich die Stadt unangefochten beherrschte in meinen
glücklichsten Stunden, die Stadt und die ganze Welt? Glaubt ihr mir, daß ich
herrschen will über die Leere, ein Potentat im Nichts? Glaubt ihr mir oder
denkt ihr, er spielt nur mit Worten? Ich brauche eure Bestätigung. Denn mir als
einziger zu sagen, daß es mich gibt, genügt nicht. Ich brauche die Menge, die
sich für mich verbürgt, und ich werde sie gleich wieder auftreten lassen, damit
sie mir mit scheelen Blicken bedeudet: Hier geht einer, der gehört nicht zu
uns.
Er ist seltsam gekleidet. Er blickt so forschend. Er hat eine geheime Absicht.
Wir müssen ihm eine Falle stellen und ihn mit Fragen in die Enge treiben. Was
sucht er in dieser Gegend? Was treibt ihn an? Ich suche den Kampf, werde ich
sagen, der mich langweilt, weil ich ihn sicher gewinne. Ihr werdet alle ins
Gras beißen, haha, auf dem ich dann wieder einsam wandle. Ist das nicht
komisch, sich immer wieder selbst zu besiegen, um sich zu beherrschen? Wie
komisch ich eure Nasen finde, eure Augen und Münder, euer Staunen und eure
Angst! Einer stirbt, ein anderer wird geboren. Ich kann mich kaum halten vor
Lachen. Seht ihr es nicht?
Ich krümme mich. Ich drücke die Hände gegen den Unterleib. Mir rinnen
Lachtränen über die Wangen. Seht ihr nicht, wie sie funkeln? Ich schütte mich
aus. Man sagt, ich solle meinen Humor nicht verlieren. Auch über diesen Satz
lache ich. Man gibt mir Ratschläge. Ich kann immer nur lachen. Jetzt aber geht!
Heute entfällt die Umbesetzung. Ihr bleibt wie ich, die ihr seid. Ich behalte
für einen Tag eure Augen und Nasen und Münder und eure Angst. Einem Greis mit
Gehstock entziehe ich mit einer geschickten Fußbewegung die Krücke und trete
nun selbst Invalide auf.
Der gestürzte Mann ruft mir nach: "Du bist nicht ich!"
Geistesgegenwärtig bekehre ich mich, ihm den Stock retournierend. "Du hast
recht, alter Mann! Ich bin nur das genaue Abbild dessen. den ich mir ausgedacht
habe für meine Bosheit." Heiter wird dieser Tag, denke ich nun. Teufel,
denke ich, Gott. Eine alte Frau rutscht auf einer Bananenschale aus und bricht
sich die Beine. Wer erhebt Einspruch? Wer wirft eine Bananenschale so achtlos
fort, obwohl das Ausrutschen auf ihr ein allseits bekannter Gemeinplatz ist?
Schuldbeladen suche ich, um mich
als Bademeister zu bewerben, ein Schwimmbad auf, werde prompt eingestellt und
nach mehreren Unglücksfällen am Sprungturm wieder entlassen. Auch auf meinen
nächsten Betätigungsfeldern, als Tierpfleger und Museumswärter, versage ich.
Distelblüten färben mit ihrem zarten Lila das Weizenfeld. Stolz erweitere ich
die lange Reihe der Berufe, die ich schon ausgeübt habe. Das Scheitern
schmälert meinen Erfolg als Sammler nicht. Natürlich wäre ich, die Staaten, die
ich bereise, als Inland betrachtend, ein schlechter Außenminister.
Einzig das Amt des Staats-, nein, des Weltpräsidenten, ist mir, sofern ich mich
politisch betätigen will, gemäß. Mein Größenwahn ist die logische Konsequenz
aus meinem Denken über das allumfassende Eine. "Du, mein Ein und
Alles", schreibe ich mir. Nur als ein mich Liebender, denke ich, finde ich
zurück zur Poesie meiner Anfangszeit, als ich noch Goldstaub über mich rieseln
ließ, ein mich Vergoldender. Ein Glanzstück will ich wieder sein im Einerlei
meiner Schöpfung. Eine Gloriole soll mich schmücken. Hier leidet einer für
euch. Seht, wie er sich windet im Schweinekoben!
Er weiß, was ihm bevorsteht. Die Schweine wissen es nicht. Das
Selbstverständliche darf in diesem besonderen Fall nicht verschwiegen werden.
Die Schweine leiden nicht, denn sie wissen nicht, daß sie gekreuzigt werden.
Das Wissen, nicht die Hinrichtung, behaupte ich, ist das Martyrium. Vorsichtig
durchschreite ich das von lila Disteln gefärbte Getreidefeld, nein, das als
ehemaliges Getreidefeld gerade noch erkennbare Distelfeld! Allein auf die
Benennung kommt es jetzt an, denke ich. "Das Wissen, das Wissen!"
rufe ich. Wer befreit mich vom Dünkel des vermeintlichen Wissens?
Mir wird bang, wenn ich bedenke, was alles möglich ist. Hier, diese Glaskugel,
in der es schneit, wenn ich sie schüttle, bringe ich meinem Neffen mit und
erzähle ihm, Schnee auf dem Petersplatz sei eine Seltenheit. Die hat er dann in
seinem Kinderzimmer, um sich an das Ungewöhnliche zu gewöhnen. Ich aber lache
schon wieder. Es ist ein befreiendes Lachen. Ich habe Angst vor mir. In den
Restbeständen meiner philosophischen Bildung kramend, entdecke ich: Es ist die
Angst, die mich befreit. Nun mag man nach dem Trostpflaster suchen im
Bücherschrank! Aristoteles, Platon, Kant, Rousseau ...
Mich mit der Verzweiflung der großen Gelehrten verschwisternd, ritze ich in die
Rinde einer Weide am Feldrain: "Das befreiende Lachen über die Angst
ermöglicht mir das Ausschöpfen ihrer Ressourcen, die unerschöpflich sind."
Durch das Ausschöpfen des Unerschöpflichen, sage ich mir, überwinde ich jede
Begrenzung und werde ewig. Zur Zeit bewohne ich in Salzburg ein an den Berg
angebautes Loft, durch dessen Panoramafenster ich mich, so oft ich will, in die
Tiefe stürze, damit ich erstens den Sturz erleben und, zweitens, mit dem
Fahrstuhl tödlich verletzt einen Fels bezwingen kann.
Gleichgesinnte werden zu Wein und Salzgebäck, wahlweise Kaffee und Kuchen
geladen, um die Freiheit mit mir zu teilen. Salzburg ist weltberühmt. Ich
brauche niemandem zu erklären, daß es nicht in Connecticut liegt. Ich sage
"Mozart". Dann sage ich: "Salzburg". Dann springe ich. Nur
wer mir nachspringt, wird in die Gesellschaft aufgenommen. Es ist eine
Mutprobe. "Die Angst ist die Freiheit", sage ich. "Über die
Wiederholung des uns Ängstigenden lachen wir wie Kinder, wenn sie begreifen,
daß der Wolf sie nicht frißt, sondern hinter dem Zaun nur ohnmächtig die Zähne
fletscht."
"Ich habe so ein Kind noch nie gesehen", wirft einer der Gäste ein.
"In den sogenannten Freigehegen sind die Tiere von den Beobachtern doch zu
weit entfernt. Die Freiheit ist eine Illusion. Die Angst wird ausgeklammert Der
Vergleich des Lachens über unsere Sprünge mit dem Lachen der Kinder ist dir nur
eben so eingefallen." "Du hast recht", stimme ich zu. "Mir
fällt etwas ein, schon gebe ich es als Tatsache aus. Ich sage, wir springen,
aber wir springen natürlich nicht wirklich. Wir sind ja nicht lebensmüde.
"Du irrst! Ich würde auch als Lebensmüder nicht springen." "Du
würdest Tabletten schlucken."
"Nein, ich würde warten. Ich würde auf den Tod warten wie auf den
Schlaf." "Du würdest! Du tust es schon! Zuerst wartest du auf die
Müdigkeit. Du trinkst und ißt und redest bis zur Erschöpfung. Dein Trinken und
Essen und Reden füllt die Wartezeit aus, bis du betrunken bist. Dann schläfst
du. Der letzte Schlaf ist der Tod. Das gefällt mir. Obwohl es eine Platitüde
ist, gefällt es mir." "Du hast die Platitüden schon immer
geliebt." "Das stimmt. Ich hasse sie, deshalb liebe ich sie. Alles,
was ich hasse, liebe ich in Wirklichkeit. Über einen Satz wie 'Der letzte
Schlaf ist der Tod' könnte ich weinen vor Glück."
"Kaum sagst du es, tust du es." "Ja, laßt mich weinen! Laßt mich
statt zu lachen in einem fort weinen! Wir sind doch nichts anderes als
Sprechmaschinen zur Hervorbringung von Platitüden zum Zwecke des Weinens. Wir
haben ein Recht auf das Glück unserer Tränen. Laßt mich euch infizieren mit meinem
Glück!" So plaudern wir. Es fließt keine Träne. Ich zünde mir eine
Zigarette an und tauche meinen Blick in die von den Straßenlampen wie von einem
herabgesunkenenen Sternenhimmel erleuchtete Stadt. Ich tauche ihn in das
Lichtermeer der Lampen und des verschwimmenden Lichtergewimmels des
Straßenverkehrs.
Was überdauert den Tag? Die Astern auf dem Vorplatz werden auch morgen noch
blühen. Der Abendstern wird sich kurz zeigen. Ich werde meinem Enkel eine
Geschichte erzählen, in der sich die Buchstaben nicht auf das Verständliche
einigen können. Mein Gott, wie dem Kleinen, der die Spitze der Menschenpyramide
in meinem Zirkus bildet, die Kniee zittern! Jetzt reißt er die Arme hoch zu
einem Ypsilon und lächelt dabei. Da lasse ich den Tränen ihren Lauf. Als mich
die Mutter vom Spielplatz rief, umgab sie der Balkon wie eine Brüstung, von der
ein Staatsvertrag, der am nächsten Tag nichts mehr gilt, verkündet wird. Ich
bin mein Sohn und mein Enkel.
Ich bin meine Mutter und hänge die Wäsche zum Trocknen auf. Ich habe meine
Unterschrift unter das Dokument gesetzt und den verordneten Jubel
entgegengenommen. Wie Frisbee-Scheiben wirft mir jemand die Sätze zu, die ich
denken soll, damit es nicht still um mich wird. Ein Trommelwirbel leitet den
letzten Salto ein. War ich schon Zirkusdirektor? Habe ich noch den Überblick
über mein Leben? Die blauen Stiefmütterchen tanzen nicht aus der Reihe. Die
violetten umzingeln sie. Im Schloßpark wird der Stiefmütterchen-Krieg
ausgerufen. Ich bin jetz zuständig für die heiteren Wunder. Welch eine Pracht!
Der Gärtner hat freie Hand. Es treten Tänzerinnen auf. Es spielt eine
Musikkapelle. Die Astern sind verblüht. Der Abendstern verblaßt hinter Wolken.
Das Ypsilon springt als ein X in die Arena. Die Standfestigkeit wir der Eleganz
vorgezogen. Es war eine mißglückte Landung. Die leeren Gläser, Tassen und
Kuchenteller werden von der Zugehfrau abgeräumt. Eine Krähe prallt gegen die
Scheibe. In das Bordell auf der anderen Straßenseite schlüpfen die ersten
Kunden. Der Dom schwimmt auf dem Fluß. Es scheint so. Ich gebe der Wahrheit die
Ehre. Das Seil ist gerissen. Der Akrobat ertrinkt.
Wie ein Lauffeuer verbreitet
sich die Neuigkeit in der Bischofsstadt. Die Heiligen marschieren auf in ihren
Faltenwürfen. "Ich seh, ich seh, was du nicht siehst, und das ist
rot." Die Nacht verschluckt es, denn wir befinden uns vorübergehend im
Mittelalter. Über die Zukunft läßt sich sagen, daß man sie als Neuzeit
bezeichnen wird. Aber was hält mich so lange hier? Die sanitären Einrichtungen
lassen zu wünschen übrig. Ich wate in Exkrementen. "Achtung!" ruft
eine Anwohnerin. Ihr Unrat verfehlt mich nur knapp. Nach der neuen Zeit, denke
ich, käme die neueste. Die Hoffnung auf saubere Straßen wird erst erfüllt, wenn
es zum Himmel stinkt.
Die Notwendigkeit wird überprüft. Die Latrinen am Stadtrand werden geschlossen.
Ein Fehler im Prüfungsverfahren leitet den Fortschritt ein. Alles hat seinen
Preis. Es will jetzt auch die Bürgersfrau Wohlgerüche verströmen. Die
Verdauungsbeschwerden jedoch nehmen zu. Man stirbt jetzt später. Das
Überflüssige tritt über die Ufer und überflutet die zarten Pflänzchen der
letzten Aussaat, mit der man das Überschwemmungsgebiet begrünen wollte. Ich
sehe die Stadt nicht mehr. Das Wasser steigt. Der Dom verwandelt sich in ein
Korallenriff. Durch die Taucherbrille betrachtet der Hobbytaucher die
Herrlichkeit.
Es ist sein Zeitvertreib. Ich hüte mich, ihn dafür zu schelten. Was hätte ich
als Ersatz zu bieten, wenn mir die Rückverwandlung mißlingt? Mit leeren Händen
stehe ich da, unsterblich und zugleich, das beteure ich, tot. Die rechte Hand
ist die Schwurhand. Es gibt nichts zu entschuldigen. Ein Toter denkt nicht nach
den gängigen Normen. Ich schwöre, ich werde auch dieses Mal auferstehen. Zuerst
jedoch hefte ich noch diesen Gedanken ans Firmament: Rot ist die Flut, grau das
Erwachen, gelb, beinahe weiß, die Vereinigung. Wir reichen einander die Hände
und geben uns das Wort. "Ich werde dich nie verlassen."
"Der Tod wird uns nicht scheiden." "Der Tod ist ein stumpfes
Messer." Die Hochzeitsgesellschaft erhebt sich. Der Großvater streut
Reißnägel aus. Die Mutter blutet aus Mund und Nase. Ist es ein Blutsturz? Ist
es ein Hilferuf? Die Putzfrau wird das Desaster bereinigen. "Komm, liebe
Frau, gib mir den Hochzeitskuß! Die Flaschen in den silbernen Kübeln warten
schon. Bis zu meinem nächsten Lebensende soll unser Ehebund dauern. Will ich
allein sein, brauche ich mich von dir nicht zu trennen. Ich trage ja deinen
Schmuck und deine Kleider. Sogar deine Frisur steht mir gut."
Ist die Identitätsfrage geklärt, wird alles ganz einfach. Es kann zwar
passieren, daß ich in Herrenschuhen geschminkt dastehe. Doch das sind
Nachlässigkeiten. Durch Übung werden sie ausgemerzt. Ich bin entweder ich oder
meine Frau oder beides. Ich liebe sie wie mich selbst. Es gibt keinen Streit,
ob zum Abendmahl Rot- oder Weißwein gereicht wird. Beim Anblick der
verschneiten Tanne werde ich sentimental. Falsche Gefühle, jederzeit abrufbar,
füllen mein Dasein aus. "Es ist unser letzter Winter", sage ich.
"Aber ich liebe dich so", sagt die Frau. "Du brauchst nur in den
Spiegel zu sehen", sage ich.
Der Nachbar hat eine Karte mit Herzen in den Briefkasten geworfen. Ich trete
als Paar aus der Wohnung und stelle ihm meine Wenigkeit vor. Wir werden uns gut
vertragen. Ich habe die Zwistigkeiten zwischen mir und mir auf einen fernen
Kontinent verlegt. Nur in der kleinen Enklave, die jetzt mein Zuhause ist,
bricht die Friedenszeit an. Der Erstkläßler, der mit dem Lineal nach dem
Mitschüler wirft, wird zurechtgewiesen. Das tut man nicht! Du sollst nicht
lügen. Du sollst nicht töten. Auf der Fahrbahn liegt ein zerfleischtes Reh. In
der Waldeinsamkeit modert eine Geschändete.
Sieh nicht hin! Pflücke die Glockenblume! Pflücke auch diese und diese und
diese und schmücke damit unseren Mittagstisch! Als Vorspeise gibt es
Frittatensuppe mit dem erloschenen Blick darin. Sieh nicht hin! Die Frau hat
sich gewehrt, steht in den Zeitungen. Das war ihr Fehler. Ach, könnten wir
sämtliche Fehler vermeiden! Wie war dein Schlaf? Hat er dir Ruhe ins Herz geträufelt?
Ich werde dich schützen mit meiner Liebe, solange mein Selbsterhaltungstrieb
mich nicht zwingt, die Beine unter den Arm zu nehmen. Ich bin kein Held. Mit
Redensarten rette ich mich. Indem ich mich rette, rette ich dich.
Bist du damit einverstanden? Oder kämpfst du um Gleichberechtigung im Glück wie
im Scheitern? Ich denke mir Fragen aus, die ich nicht stelle. Du siehst an
meinen Stirnfalten, daß ich mir Mühe gebe. Über meinen Schatten aber kann ich
nicht springen. Wir gehen barfuß über ein Stoppelfeld. Ich erinnere mich an
schönere Tage. Der nächste Regen wird unsere Blutspur tilgen. Wir werden
umsonst gelitten haben, es sei denn, der Schmerz ist das Band, das uns, wie man
sagt, unverbrüchlich vereint. Ich schenke dir meine Klagen. Hand in Hand gehen
wir den Bahndamm entlang.
Das Stück, das wir aufführen, heißt "Leidenschaft". Mit meinen
schwieligen Händen umfasse ich deine knospende Brust. Darf ich es sagen,
'knospende Brust'? Darf ich mich ächzend in deinen Schoß ergießen? Darf ich es
denken? Das Pfeifen des Zuges übertönt deinen Schrei. Wie die Hälften eines
gespaltenen Apfels fallen wir voneinander. Dichtes Gesträuch über uns verwehrt
den Blick ins tröstliche Blau. Meine Augen suchen ein Schlupfloch. Die Frau
klagt über Atemnot. Ich denke: Punkt, Komma, Strichpunkt. Es fallen die Früchte
vom Baum der Erkenntnis. Er ragt sich verjüngend in den sich verdunkelnden
Himmel.
"Tötende Tote", denke ich, wäre eine Schlagzeile, die meine Interesse
weckt. Es gibt nicht viel, das mich noch überraschen kann. Mein Denken überholt
das Geschehen. Aber liebe ich wirklich? Ist die Liebe etwas, das mal beweisen
kann? Ich küsse die Geliebte. Habe ich sie vor dem Kuß schon geliebt? "Der
Tod ist ein Gefühl", behaupte ich plötzlich. "Der Todesgedanke war
schon da, als ich dich küßte." "Du verabreichst mir Todesküsse",
sagt die Frau, "aber ich lebe! Mein Schrei war ein Jubelschrei. Du hast
ihn absichtlich mißverstanden. Das absichtliche Mißverstehen ist deine
Spezialität."
Sie steht auf, nimmt meine Hand und zieht mich hoch. Das Wolkengetümmel über
uns kontrastiert mit der Ruhe in mir. Die Liebe ist die Ruhe, denke ich. Wir
haben genug Zeit, alles nachzuholen. "Schlügest du mich ins Gesicht, hätte
ich es zuvor schon gedacht." Als der Zug pfiff, dachte ich, er übertönt
einen Schmerzensschrei. Das Rotkäppchen fürchtet sich als sogenanntes Naturkind
nicht vor dem Wolf. Das Kind, das mit seinen Eltern den Zoo besucht, ist von
Beginn an verdorben. So spreche ich zu mir selbst. Aber habe ich auch die
Gläser, Tassen und Kuchenteller vervielfacht, bevor die Gäste kamen?
Nicht, um zu wissen, was es geschlagen hat, habe ich mir eine mechanische Uhr
gekauft. Die Wortakrobatik interessiert mich nicht mehr. "Geh du nach
rechts!" sagt das A. "Ich weiche nicht, geschehe, was wolle",
wehrt sich das B. Die Buchstaben warten gespannt auf meinen Auftritt und haben
ihn schon versäumt. Es ist gleichgültig, denke ich. Du wirst nie ein Anführer
sein. Die Tränen sparst du dir auf für das Entsetzliche. "Es wird Asche
regnen. Schreib es auf und lies es mir zuliebe laut vor. Ich will es aus deinem
Munde hören."
Die Reihenfolge meiner Gedanken
läßt nicht auf ihre Rangfolge schließen. Zur körperlichen Ertüchtigung
vollführe ich zwanzig Liegestütze. Es sollen zwanzig Kniebeugen folgen. Doch
schon nach der ersten gebe ich auf, denn ich brauche meinen Körper nicht mehr.
Als Ungeborenes werde ich wiedergeboren. Du sollst mein Leitstern sein. Doch
wenn du mir widersprichst, werde ich dich mit allen Gedanken, die ich in mir
gespeichert habe, finessenreich widerlegen. Du hast keine Chance. Nur scheinbar
folge ich dir ins traute Leben. Im Lesezimmer steht schon mein Lesestuhl.
Blätternd schreibe ich die Bücher, die ich dem Regal zur Lektüre entnommen
habe. Es war einmal ein Mensch, der stürzte sich, um zu überleben, in tödliche
Abenteuer. Eine Stubenfliege kreist um die Leselampe. Die muß er töten, denkt
er. Aber er schreibt es nur in das Buch, in dem ein Mensch, der sich zum Lesen
hingesetzt hat, eine Fliege erschlägt. Man nennt ihn Bücherwurm. Er liest nur, was
er selbst soeben geschrieben hat. Das ist ein Kuriosum. Das spricht sich herum.
Der Mensch wird berühmt. Er tritt im Fernsehen auf. Er darf jetzt überall
schreiben und lesen.
Er nennt seine Bücher "Mein glückliches Leben, Teil eins, Teil zwei, Teil
drei" und so fort. Ein fertiges Buch liest er nie. Seine Bibliothek
besteht ausschließlich aus leeren und von ihm geschriebenen Büchern. Die
vollendeten entsorgt die Frau, um aufzuräumen, wie sie sagt, nach einer
gewissen Zeit in der Abfalltonne. Auch für den Nachschub an unbeschriebenen
Blättern sorgt sie, damit es nicht aussieht, als wäre der Mann für sie ein
unbeschriebenes Blatt. Seine Vorliebe für Redensarten macht sie sich zu eigen.
Seine Verrücktheiten teilt sie. Nein, denkt sie, du entkommst mir nicht! Nie
fragt sie, was das Geschriebene zu bedeuten hätte.
"Allwissend bist du", sagt sie. "Ein Kampf auf Leben und Tod ist
zwischen uns ausgebrochen. Ich werde dein überhebliches Lächeln besiegen. Ich
werde dir den Tod in meinen Armen schenken, den du so ersehnst. Du wirst von
deinem letzten Schlaf nicht erwachen. In streue dir Blütenblätter auf den Weg
ins Paradies." "Aber da sind wir doch schon", sagt der Mann und
schreibt es auf. Als ihm die Frau den Bleistift aus der Hand reißt und auf den
Boden wirft, konstatiert er nur: "Jegliche Gewaltanwendung ist laut
Ehevertrag verboten." Eine Formation von Engeln tritt auf, bildet ein U
und schmettert zum Abschluß: "Sieg heil!"
Für dieses Mal muß sich die Frau geschlagen geben. Ich hebe den Bleistift auf
und schreibe weiter. Durch die exakte Beschreibung halte ich die Episode fest,
die mir bestätigt: Du darfst dich von Gefühlen nicht mitreißen lassen. Es
lauern überall Häscher, die dir ans Leder wollen. Mein Verfolgungswahn ist
neben meinem Größenwahn das zweite große Fragezeichen in meinem ewigen Leben.
Denn was, frage ich mich, kann mir passieren, da sich meine Gedankenarbeit
ausschließlich nach dem einen bemißt: ihrer Genauigkeit?
"Schon wieder so ein Verrückter!" riefen die Polizisten, als mir auf
der Polizeistation an Stelle der Arme Flügel wuchsen. Da die Fenster und Türen
geschlossen waren und ich die Fähigkeit, sie zu öffnen, eingebüßt hatte, blieb
mir, wollte ich mich den Blicken der Ordnungshüter entziehen, nur übrig. mich
unsichtbar zu machen oder mich in etwas sehr Kleines, etwa ein Fluginsekt, zu
verwandeln. Nachdem ich mich für Letzteres entschieden hatte, meine
Menschengestalt jedoch beibehielt, hätten sich die Beamten nach einem
ameisengroßen Menschen umsehen müssen, was ihnen nicht einfiel.
Es muß aber, dachte ich, vor mir schon ein anderer hier gewesen sein, dem in
der Not Flügel wuchsen. Beruhigt stellte ich fest: Wir befinden uns in einem
Märchen. Ich bin, ob ich will oder nicht, ein Märchenerzähler. Als einer der
Polizisten ein Fenster öffnete, entfloh ich und stand nun vor der Frage, ob ich
wieder zu meiner normalen Größe mutieren sollte. Doch was ist normal? Ich
geriet in einen Gedankenstrudel und mußte dabei unweigerlich an einen Stollen
denken, in dem behelmte Flugameisen nach wertvollen Erzen schürfen.
"Du bist wirr", sagte ich zu mir, es notierend, und traf auf die
begeisterte Zustimmung meiner plötzlich anwesenden Frau. "Wir sind beide
wirr", fuhr sie fort, "und wir werden es uns in der Wirrnis gemütlich
machen. Du schreibst deine Bücher. Ich werfe sie weg. So werden wir leben,
unbehelligt vom Rest der Menschheit." Wir befanden uns in meinem
Arbeitszimmer. Ich schrieb wie eine Sekretärin auf, was meine Frau sagte. Ich
schrieb aber auch auf, daß ich es aufschrieb. Aus meinem Gedankenstrudel war
ich in einen Schreibstrudel geraten und mußte auch das sofort niederschreiben.
Ein Schreibzwang hatte mich befallen, dem ich nur entkam, wenn ich das Schreib-
und zugleich Lesezimmer verließ und mich in einen Raum begab, in dem weder
Bücher noch Schreibutensilien vorhanden waren. Ich sagte aber: "Ich
wünschte, mir fielen die Hände ab." Und es geschah. Indem ich meine
göttliche Allmacht zurückerlangte, erfüllte sich augenblicklich jeder Wunsch,
den ich aussprach oder nur dachte. Spontan bot meine Frau sich an: "Du
sagst, was du denkst, und ich schreibe." "Ich denke", sagte ich,
"mir wachsen die Hände wieder an." Da mußte sie zum zweiten Mal die
Segel streichen.
Ich aber triumphierte nicht, sondern blickte verstört auf das sich auf dem
Papier wie ein Schnellzug fortbewegende Schreibwerkzeug. "Mein Projekt
'Glück durch Schreiben' ist hiermit beendet. Wirf alles weg!" sagte ich
und zerriß die angefangene Seite. "Und unsere Ehe?" fragte die Frau.
" ... hat sich erübrigt. Ich war zu Gast in einem fremden Leben. Ich war
nicht mehr ich. Du hast mich zerstört. Das Ziel deiner Liebe war einzig und
allein meine Zerstörung." "Einzig und allein", murmelte die
Frau, "einzig und allein, das sind wir alle." Im Einvernehmen
trennten wir uns.
Tieftraurig packte ich wie zu einer langen Reise zwei Koffer und fuhr, um mich
abzuholen, zum Bahnhof. Aber ich kam nicht an. Ich war ja schon da. Ich mußte
mir sagen: Du kannst dich nicht neu erfinden. Du bist verheiratet. Du hast nur
die Wahl, dich scheiden zu lassen oder deine Frau zur Witwe zu machen. Du
kannst nicht weiter mit deinen Sätzen spielen wie ein Jongleur ohne
Arbeitsbewilligung. Du lebst in einem Staat, der hat seine Gesetze. Die Koffer
gab ich bei der Gepäckaufbewahrung auf. In einem billigen Hotel stieg ich ab.
Die Bibel, die ich in der Lade des Nachttisches fand, verbrannte ich in der
Badewanne. Denn ein Badezimmer hatte ich mir ausgebeten.
Es schimmelte in den Ecken. Ich rief meine Frau an, erkannte jedoch ihre Stimme
nicht und legte auf. Ich hatte mir zu sehr gewünscht, es gäbe sie nicht, und
ich wußte, es galt nun, einen bitteren Kampf auszufechten zwischen meinen
Wünschen und dem, was man gemeinhin für möglich hält. Ein Insekt war ich nicht
mehr. Aber ein Mensch? Meinem Reisepaß entnahm ich, daß ich ein Deutscher war.
Ein Mensch, und ein Deutscher! Ich sprach ja deutsch. Ich dachte deutsch. Ich
hielt mich in einem deutschen Hotel auf, in einer deutschen Stadt. Mehr wollte
ich vorerst nicht wissen.
Die Handtücher fehlen, dachte ich und rief, um einen Grund zu haben, den Satz
auszusprechen, den Pförtner an: "Die Handtücher fehlen." Eine
offenbar nicht deutsche Hotelangestellte brachte sie mir. Ich gab ihr das
übliche Trinkgeld. Doch die Wahrheit ist: Die Handtücher fehlten mir nicht. Es
waren keine da. Aber sie fehlten mir nicht. Und wie, fragte ich mich, komme ich
zurück in die Gegenwart? Das Hotel war nur eine Zwischenstation. Ich bin, ja,
ich bin ... ich schlafe nicht ... Ich strecke den rechten Arm aus und fasse in
etwas Weiches, das pulst. Ich liege, und neben mir liegt ein Hund.
Ich bin in der Gosse gelandet. Es ist früh am Morgen. Die Wolken bilden
Schäfchen am Himmel. Der Straßenreinigung bin ich sichtlich ein Dorn im Auge.
Meine nächste Rolle ist die eines verwahrlosten Streuners, der sich, um nicht vor
die Hunde zu gehen, seiner Allmacht besinnen muß. Aber mir fehlen die Wünsche.
Will ich den Hund in eine Katze verwandeln? Will ich wieder als Zauberer mein
Brot verdienen? Ich will einen Freund. denke ich und werde prompt von hinten
auf die Schulter geschlagen. "Da bist du ja, altes Haus! Wo warst du so
lange?" Das ist eine schwere Frage. Wann fängt die Zeit an? Wann hört sie
auf?
"Ich war, wo ich bin", sage ich. "Es gibt kein Heute und Morgen.
Ich habe auf dich gewartet." "Brauchst du Geld?" Ich greife in
meine Hosentasche und kann die Frage reinen Gewissens verneinen. Der Mann ist
vornehm gekleidet. "Ich will fort!" rufe ich. "Ich will nicht
sein, wo ich bin, und auch nicht, wo ich war. Ich will fort, verstehst
du?" "Dann komm!" "Nein, verschwinde!" War das ein
Befehl? War es ein Wunsch? Der Mann ist jedenfalls nicht mehr da, und so muß
ich mir überlegen, wo meine Gegenwart endete, um an sie anknüpfen zu können.
Ich war in Gefühlen. Auch ein Gefühl ist ein Ort, sage ich mir.
Er schimmert oder verdunkelt sich. Es war ein heller Ort. Ich sprach und ich
schrieb. Eine Frau hörte mir zu. Du mußt zum Bahnhof zurück! Der Bahnhof ist
deine Rettung. Die Koffer werden dir Aufschluß geben. Die Frage ist: Willst du,
was du mußt? Der Hund leckt mein Gesicht. Mühsam wie jemand, der zu lange
gelegen ist, erhebe ich mich und folge ihm, denn er weiß, was er will. Mein
Hund will nach Hause. Aber wie sieht es denn jetzt dort aus? In einem kleinen
Vorgarten lassen die Gladiolen die Köpfe hängen. Hier war ich noch nie, denke
ich. Meine Frau tritt mir entgegen. Ich erkenne sie wieder.
"Du kannst auch glücklich werden", sagt sie, "ohne zu
schreiben."
Ich laufe durch sämtliche Zimmer: nirgends ein Buch. Mein Hund aber findet
sofort den Futternapf.
"Komm, beten wir!" sagt die Frau. "Vater unser, der du bist im
Himmel ... Unser tägliches Brot gibt uns heute ..."
"Ja, ich weiß, ich kann nur dieses eine."
"Gegrüßet seist du, Maria'"
"Ja, das auch. Schuld und Sünde. Überall verfolgt uns die Schuld, die
ewige Sünde. Was habe ich verbrochen? Sag mir, Weib, was ich verbrochen
habe!"
"Du hast dich von mir entfernt, ohne zu hinterlassen, wohin du gehen
willst."
"Ich wußte es nicht." Wir setzen uns in die Küche.
"Hast Du schon gefrühstückt?"
"Ich mache uns einen Kaffee. Oder willst du Tee?"
"Wenn ich das wüßte! Mach mir einen Kakao. Das ist das dritte Getränk, das
zur Auswahl steht. Du hast es in deiner Aufzählung vergessen."
"Wir knüpfen an!" jubelt die Frau. "Ich hole Milch. Ich habe mit
deiner Wiederkehr nicht mehr gerechnet."
"Der Hund ist schuld."
"Ich wußte gar nicht, daß wir einen Hund besitzen."
"Aber du hast ihm Futter bereitgestellt."
"Ich habe ein weiches Herz."
Wie schade um diesen Dialog, denke ich.
"Wenn du willst, schreibe ich ihn auf.", sagt die Frau, die offenbar
meine Gedanken liest. "Ich habe mir für alle Fälle ein leeres Buch
aufgehoben."
Als sie beim Hinausgehen über den Schirmständer stolpert, springe ich ihr bei
und fange sie auf.
"Du kannst dich an das, was wir sprachen, doch nicht mehr erinnern. Etwas
aus der Erinnerung aufzuschreiben, ist schon Fälschung. Nein, es ist vorbei mit
dem Schreiben. Wir tauschen unsere Gedanken aus und müssen hoffen, daß wir
einander nicht mißverstehen."
"Du denkst, auch du hast ein weiches Herz, weil du mir beigesprungen
bist", sagt die Frau.
"Ja, ich liebe dich. Das Problem dabei ist, daß es dich gar nicht
gibt."
"Aber ich sitze doch da. Faß mich an! Spürst du mich? Spürst du
dich?"
"Nein, nichts."
"Das ist ein Fortschritt. Denn es würde, falls du mich nicht anlügst,
bedeuten, daß hier niemand ist außer dir und dem Hund."
"Wer weiß?"
"Ich bin nicht du."
"Bist du der alte Mann", frage ich, "dem ich auf der Piazza die
Krücke wegschlug?"
"Nein, das war mein Vater ...
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