(Prosa von 2001 bis 2010)

 

Der Zug rollt in den Bahnhof. Über den Fluß ist ein Seil gespannt. Ich starre auf die Geleise. Die Vorführung beginnt. Die Türen öffnen sich. Der Seiltänzer setzt einen Fuß vor den anderen. Ich aber steige nicht ein. Ich lasse der Gedankenflut freien Lauf. Die Finsternis löscht alle Bilder. Ich nenne sie den Schatten der Angst. Ich werde nicht aufhören, in Gedanken zu sprechen. Ich wiederhole die Sätze in meinem Kopf wie ein Gebet. Der Seiltänzer verliert die Balance und stürzt ab. Der Fluß reißt ihn fort. Applaus brandet auf. Die Blätter rauschen. Die Vögel singen. Der Brust entschwebt ein geflügeltes Herz.

Ich weiß kein besseres Wort. Dem Wasser entsteigt eine Nymphe. Dem Priester entfährt ein Fluch. Vom Himmel fällt eine brennende Rose. Der Gottesdienst findet im Freien statt. Ich habe die Augen geschlossen. Ein Kind fragt: "Bist du tot?" Die Gläubigen senken die Köpfe. Ich antworte: "Ja." Der Segen erübrigt sich. Denn der Flut folgt keine Ebbe. Die Gezeiten sind außer Kraft gesetzt. Durch einen Schachtelsatz kündigt sich, da ich der Versuchung, mich in Spannung zu halten, nicht widerstehe, die Rettung an. Ich schlage in Gedanken ein Kreuz. Die Rose, in einer Schaumkrone verlöschend, verwandelt sich, weil ich es wünsche, in eine Felseninsel.

Die Nymphe kämmt sich das goldene Haar. Es blitzen die Sterne. Die Zeit steht still. Ich will geduldig den nächsten Tag erwarten. Der Widerspruch ist mir bewußt. Der Unsinn hat Methode. Aus dem Haar rieselt Blütenstaub. Das endlose Warten läßt mehrere Schlüsse zu. Ich spiegle mich in meinen Einfällen alterslos. Wird meine Geburt annulliert? Tagt schon das letzte Gericht? Der fröhliche Knabe, der ich einst war, stürzt die Treppe hinunter und entfernt sich, so schnell er kann. Die Mutter ruft: "Es ist angerichtet!" Die Erinnerung holt mich ein.

Man mag das als Glücksfall bezeichnen. Die Meinungen sind geteilt. Die Reihen schließen sich. Der schwarze Bauer rückt vor. In Ermangelung eines Gegners darf sich der Spieler verdoppeln. Unversöhnlich sitzt er sich selbst gegenüber. Die Jahre gehen ins Land. Das Fleisch verdorrt. Der nächste Gedanke muß die Entscheidung bringen. Ich zittere vor Erregung. Die Nebel lichten sich. Der Schleier wird gelüftet. Ich bin umgeben von Glanz. So könnte ein Märchen beginnen. Die Zeit heilt alle Wunden. Der erste ist schon der letzte Satz.

Aber noch schlägt das Herz. Die Glieder zucken. Die Vorstellung ist gut besucht. Wann tritt der Tod bei einem Kopflosen ein? Ich bin befugt, das zu fragen. An der Wand hinter mir hängt der Gekreuzigte. Ein Hammerschlag besiegelt das Schicksal des Delinquenten. Er sieht einer geordneten Zukunft entgegen. Doch Wunder gibt es immer wieder. Das Leben ist kein Roman. Ich stelle Behauptungen auf, weil ich, um weiterzukommen, den Irrtum riskieren muß. Ein geglückter Kausalsatz deckt alle Zweifel zu. Erfrischungen werden gereicht. Die Mühe wird belohnt. Die Geladenen dürfen jetzt zwanglos parlieren. Mich aber treibt es fort.

Die Freiheit soll mein Gefängnis sein. Aus luftiger Höhe blicke ich über das weite Land. Der Sprache vertrauend, widersetze ich mich dem Gebot der Vernunft. Die Aufenthaltserlaubnis, die ich mir ausstelle, gilt unbefristet. Entschlossen zum Äußersten, schichte ich Satz auf Satz. Ein Luftschloß ist mein Zuhause. Ich nehme den Kopf vom Rumpf und setze das Messer an. Die Hirnschale löst sich. Das Ärztekollegium zollt mir Bewunderung. Ich habe die Prüfung bestanden. Der Abstieg bleibt mir erspart. Nun tanzt, meine Freunde! Ich schlinge die Arme um mich. Ich versuche, ein Bein zu heben.

Doch meine innere Stimme sagt: "Du wirst fliegen!" Mir bleibt das Lachen im Halse stecken. Der Selbstbetrug hält mich wach. Der Wind pfeift im Gebälk. Ein Wasserhahn tropft. Ich fülle die Wartezeit mit erfundenen Träumen aus. Der Schmetterling schlüpft aus der Larve. Die Blüte, an der er nippt, verblaßt unter der Farbenpracht. "Sieh doch!" ruft meine innere Stimme. Ich wende mich ab und lasse zum Angriff blasen. Mitten im Frieden werfe ich mich in die Schlacht. Das Kampfziel heißt Lebensfreude. Wie Sektkorken knallen die Schüsse. Jeder Vergleich, der meine Zuversicht stärkt, ist mir recht. Ich bin mir ein ebenbürtiger Feind.

Der Sieg ist mir gewiß. Wo aber bette ich, von allen guten Geistern verlassen, mein Haupt? Ruhelos irrt der erschöpfte Sieger durch die Straßen der Stadt, in der er polizeilich gemeldet ist. Ein Fenster öffnet sich. Eine Frau springt heraus. Er kann sie nur noch beweinen. Blut mischt sich mit Tränen. Schnee deckt die Tote zu. Warum, denkt der Mann, kommt denn niemand? Wäre er der Held der Geschichte, wäre sie hier nicht zu Ende. Die ungenutzten Möglichkeiten erfordern den Konjunktiv. Auf weitere Beispiele muß ich verzichten. Denn das nächste Unheil wirft seine Schatten voraus.

Ein guter Freund ist zur Stelle. "Nun sag doch endlich, was los ist", unterbricht er den Redefluß. Die Flasche ist leer. Eine Zigarette wird angezündet. Ein Flugzeug stürzt ab. Die Zeitungen werden es morgen berichten. Der Freund verliert die Geduld. Auf der Liste der Verunglückten wird er den Namen seiner Geliebten finden. Ich habe im voraus getrauert. Eine Rückblende zeigt mich in einer Menschenmenge, deren Aufmerksamkeit auf etwas außerhalb des Bildes gerichtet ist. Mein Kopf wird durch einen Lichtkreis hervorgehoben. Ein Raunen geht durch den Saal. Ein Liebespaar sucht, sich umklammernd, Vergessen. Ich drücke die Zigarette aus. In die Fleischeslust mischt sich der Schmerz über das Unausweichliche. Kein Tod ist natürlich. Der Plural wird hier selten gebraucht.

Der Tag geht zur Neige. Der Himmel über den Liebenden verwandelt sich in ein Flammenmeer. Möwen kreischen über der Gischt. Im Saal explodiert eine Bombe. Panik bricht aus. Das Publikum drängt den Ausgängen zu. Ich bleibe sitzen. Der Sturm in meinem Inneren legt sich. Das Feuer verlischt. Die Farben erkalten. Die Fischer rüsten ihre Boote zum Fang. Mir hilft ein Arzttermin aus der Verlegenheit. Ich darf mich in Eile fühlen. Die Entfernung der Blutspuren muß auf später verschoben werden. Ob die Untat ans Licht kommt, hängt von Umständen ab, auf die ich kaum Einfluß habe.

"Sind Sie angemeldet?" fragt die Sprechstundenhilfe. Nur ein leichtes Zucken um meine Lippen verrät, daß ich aus allen Wolken falle. Bis zur nächsten Redewendung wird noch so manches Hindernis zu überwinden sein. Ein Pferd steht nicht zur Verfügung. "Auf mir lastet Schuld", sage ich und werde ins Wartezimmer verwiesen. Wenigstens kein Abwurf, denke ich hoffnungsvoll. Doch der Schein trügt. Die Hoffnung war schon immer mein größter Fehler. Mit knapper Not rette ich mich über die erste Hürde. Ein Gedankensprung mildert die Folgen meines sträflichen Leichtsinns. Im Staube liegend, trage ich meine Bitte um Gnade vor.

Man netzt mir die Lippen. Ein Schluck, das weiß der Fachmann, wäre zuviel. "Wir glaubten Sie nicht mehr unter den Lebenden", erklärt er den unentschuldbaren Irrtum. Nun sind wir quitt. Erleichtert lasse ich mir ein Rezept ausschreiben und kehre zu meinen Alltagssorgen zurück. Das Bad muß gesäubert werden. Die Hausfrau macht einen Plan. Die Blutflecken am Boden jagen ihr einen gehörigen Schrecken ein. Daß ihr erster Verdacht richtig ist, will sie nicht glauben. Nein, denkt sie, Unsinn, als wäre die Phantasie mit ihr durchgegangen. Aber ein Schmunzeln kann sie nicht unterdrücken.

Einen Moment zögert sie mit dem Lappen in der Hand. Es ist ein erregender Moment. Dann schlüpft sie in die Rolle der Putzfrau, die sie dazu verdammt, ihre Gedanken wie Schmutz wegzuwischen. Ich aber will sie nicht länger für mich behalten. Wer leiht mir sein Ohr? Wer bricht den Stab über mich? Ich hebe, dem Akkusativ zum Trotz, beide Arme und tue es selbst. Als Dirigent verfüge ich über das nötige Utensil. Ein Paukenschlag begleitet den Regelverstoß. Die Strafe folgt auf dem Fuß. Ich werde dazu verurteilt, dem weiteren Geschehen als Zuschauer beizuwohnen. Da ich mich der Notwendigkeit, zu handeln, nicht werde entziehen können, bleibt mir nichts anderes übrig, als mir selbst zuzusehen.

Denn tatenlos ertrage ich die Verzweiflung nicht. Das Konzept des durch Lähmung herbeigeführten Endes der Menschheit darf als gescheitert betrachtet werden. Der Dichter publiziert sein Poem. Der General knüpft einen Bombenteppich. Das Wortspiel steht hoch im Kurs. Die Toten bezahlen die Zeche. Sie haben zu Lebzeiten dem Alkohol zugesprochen. Sie haben geliebt und gelacht. Sie haben auch Tränen vergossen. Sie haben dem Tod ins Auge geblickt. "Nun fehlen ihnen die Worte", behaupte ich, um Widerspruch auszulösen. "Woher wollen Sie wissen, daß wir im Tod sprachlos sind?" fragt einer der Diskussionsteilnehmer. Meine Antwort ist Schweigen. Der Schrei, der es beendet, erzwingt einen Szenenwechsel.

In Frage kommt, damit niemand mich hört, nur ein schalldichter Raum. Denn um Hilfe schreie ich nicht. Es genügt mir, mich selbst zu hören. Doch es bleibt still. Habe ich schon geschrien? Habe ich den Schrei überhört? Bin ich taub? Bin ich niemand? Man hält mir den Spiegel vor. "Ich kenne mich gut genug", sage ich. Man schlägt mich. Ich spüre nichts. Man beschließt, mich zu töten. Ich bin damit einverstanden. Rückblickend werde ich sagen können: "Ich habe gelebt." Kleinlaut gestehe ich meinen Denkfehler ein. Bußfertig erkläre ich mich bereit zur Nächstenliebe.

Ein Bankrotteur weiß das zu nutzen. Ich gebe das letzte Hemd. Der Not gehorchend, überwinde ich alle Scham. Nun habt Erbarmen! Mich gelüstet nach willigem Fleisch. Ich habe genug gekämpft. Ich strecke die Waffen. Im trauten Heim wünscht sich der Gatte ein üppiges Mahl. Danach wird geschwängert. Die Frau gehorcht der Empfängnispflicht. Die Empfangsbestätigung trifft termingerecht ein. Der Nachwuchs macht sich durch Schreien bemerkbar. Der Gedankenkreis schließt sich. Man darf gespannt sein, wie sich der Kandidat nun verhält. Gibt er auf, oder wagt er den Kopfsprung ins Ungewisse?

Ihm bleiben zwanzig Minuten Zeit. Als Preis winkt eine Kreuzfahrt ins Glück. Hochmut, denkt er, Bescheidenheit, Geduld, Liebe, Haß. In letzter Sekunde fällt die Entscheidung. Ich werde sie nie erfahren. Ein plötzlicher Einfall verlockt mich zu einer Landpartie. Vorbei an saftigen Wiesen und wogenden Feldern, an deren Rändern sich die ungezähmte Natur in einem Rest von Wildwuchs behauptet, gelange ich zu einem nahen Forst, in dem ich mich schon öfter erging. Diesmal aber halte ich mich nicht an die markierten Wege. Es zieht mich ins Unterholz. Um das Moos unter den Füßen zu spüren, entledige ich mich der Schuhe und Socken.

Hemd und Hose nehmen Schaden im Dickicht der Himbeersträucher. Dornen fügen mir Wunden zu. Ich bleibe stehen und lausche dem Hämmern des Buntspechts, der sich hervortut, weil er nichts zu befürchten hat. Wie eine nach oben offene Säulenhalle umgibt mich der von schräg einfallenden Lichtbalken erleuchtete Wald. Hier bin ich Mensch. Aber kann ich mir sicher sein, daß das andere auch so sehen? Der Begegnung mit einem Holzfäller, der auf einem Traktor gefahren kommt, weiche ich aus, indem ich mich in ihm widerspiegle. Er steigt ab. Er weiß, was er zu tun hat. Er ist am richtigen Ort. Das Geräusch seiner Motorsäge wird das Hämmern des Spechts übertönen.

Meine Gedanken werden in seinem Kopf einen Nistplatz finden. Wie ein Kuckucksei wird er sie ausbrüten, ohne zu merken, daß es nicht seine sind. Wer aber übernimmt die Last meiner Vergangenheit? Ich muß sie, bevor ich mich auslösche, aus meinem Gedächtnis tilgen. Nur das Gegenwärtige zählt. Der Mann setzt die Säge an. Krachend neigt sich die Fichte und fällt. Nun liegt er erschlagen da. Die Großmutter, die eine Gutenachtgeschichte vorlesen will, blättert weiter. "Warum liest du nicht?" fragt der Enkel. "Es war einmal...", beginnt sie, um ihn zu beruhigen. "Du lügst!" fährt er dazwischen. "Nichts war, kein Prinz, kein Schloß, kein goldener Schuh..." Die Tränen schießen ihm in die Augen. Die Stimme bricht. Ich habe mir Zukunft erobert.

Der Blondschopf wächst zum Jüngling heran. Besessen von der fixen Idee, auf Gräbern zu wandeln, hält er sich aufrecht. Den Schulgang trotzt er sich ab. Auf die Fragen des Lehrers reagiert er mit einem kaum merklichen Lächeln. Nur ungefragt gibt er sein Wissen preis. Die Gelegenheit dazu bietet sich auf Spaziergängen mit der taubstummen Nachbarstochter. Er sieht sie nicht, während er spricht, doch er spürt, daß sie neben ihm geht. Eines Tages ergreift er unter einem Holunderstrauch ihre Hand und zeigt mit dem Finger auf seine Lippen. Dann formt er mit dem Mund so, daß sie die Worte ablesen kann, den Satz: "Könntest du mich hören, würde ich nicht mit dir sprechen."

Sie nickt zum Zeichen, daß sie verstanden hat. Ich gebe mich damit zufrieden. Kein Kuß, keine Entjungferung! Geschwächt durch den Versuch, mir zu entfliehen, kapituliere ich. Im Niemandsland meiner verlorenen Hoffnung erwarte ich freudig den Gnadenschuß. Wer gibt das Kommando? Ich zähle bis drei. Doch nichts geschieht. Oder ist auch das Nichts ein Geschehen? Es hat zu regnen begonnen. Als die ersten Tropfen fielen, wartete ich noch auf den Schuß. Ich dachte, ich würde durchnäßt zu Boden sinken. Nun, da die Frist verstrichen ist, wäre meine Erschießung Mord.

Es sei denn, ich befände mich aus Versehen im Kriegsgebiet. Auch der Waffenlose kann Böses im Schilde führen. Ich schwenke mein Taschentuch. Aus einem Fenster jenseits der Grenze winkt eine Frau. Das Blatt wendet sich. Ich darf wieder hoffen. Frohe Gedanken fliegen mir zu. Der Seiltänzer kann sich ans Ufer retten. Das Strafgericht wird vertagt. Der Priester spendet den Segen. Die Toten sind auferstanden. Nun komme, was wolle! Ich nehme die Herausforderung an. Der unbeschreibliche Duft einer Vagina verwirrt mir die Sinne. "Bist du die Frau jenseits der Grenze", frage ich, "oder die Auferstandene, die aus dem Fenster sprang?"

"Weder noch", lautet die Antwort, damit der Personenkreis, auf den ich, wenn ich Gesellschaft suche, zurückgreifen kann, sich vergrößert. Erst jetzt, da ich in Sicherheit bin, fällt der Schuß. Ich hebe den Kopf und sehe: In dem Gesicht der Frau fehlen Mund, Nase und Augen. Das Experiment ist gelungen. Ich habe mich selbst überrascht. Nun gäbe es Grund zu feiern, denke ich. Aber ich suche das Weite. In einer verlassenen Almhütte finde ich Unterschlupf. Kuhglocken läuten zur Andacht. Ich stelle mir einen Stuhl als Betschemel ans Fenster und spreche beim Anblick der mit Schnee überzuckerten Gipfel den Rosenkranz.

Läge der Schnee auf den Almen, würden die Glocken nicht läuten. Wie ein Leichentuch würde er sich über die Landschaft breiten. Ich möchte auch das noch erleben. Mit neuem Schwung überlasse ich mich dem Gedankenfluß. Zur Hingabe bereit, entdecke ich zwischen den grasenden Kühen eine Magd. Was will sie dort? Ahnt sie, daß sie unter den gegebenen Umständen zum Objekt meiner Begierde wird? Hat sie pflichtvergessen den Hof verlassen, damit mein Blick auf sie fällt? Unbeirrt bete ich weiter. Gegrüßet seist du, Maria, besänftige mein Geschlecht, bezähme den Drang, gib mir Gelassenheit! Das Echo meines Flehens bringt mich zur Vernunft. Der Spiegel, vor dem ich kniee, zerbricht. Die Frage, ob ich erhört wurde, will ich bei einem Glas Rotwein mit meinem Freund erörtern.

"Ich fühlte mich wie ausgewechselt", sage ich. "Ich war nicht mehr ich, oder besser, ich betrachtete mich und sah, daß ich ein anderer geworden war. Mein Gesicht hatte sich in das eines alten Mannes verwandelt. Mein Körper war aufgedunsen und schlaff. Als ich versuchte, mich zu erheben, merkte ich, daß ich mir jede Bewegung, als gäbe es mich doppelt, befehlen mußte. Einerseits war ich entschlossen zu handeln, andererseits wie gelähmt. Die Lähmung, denke ich jetzt, war die Folge meiner Entschlossenheit. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, mir zu gehorchen. Wären mir die Befehle, die ich mir gab, vernünftig erschienen, hätte ich mich ihnen nicht widersetzen können. Aber ich zweifelte..."

"Und weiter?" drängt der Freund, da ich innehalte.
"Ich erinnere mich nicht", sage ich.
"Aber wie bist du hierher gekommen?"
"Ich hatte den Gedanken, mit dir zu sprechen, und er verwirklichte sich."
"Und was denkst du jetzt?"

Ein gedankenverlorener Blick muß meinen Freund zu dieser unseligen Frage verleitet haben. Ich dachte, daß seine Geliebte ihn mit mir betrogen hatte. Nun liegt sie mit fliegendem Atem in meinen Armen. Der erste Koitus ist absolviert. Die Vorschriften wurden beachtet. Das Resultat kann sich sehen lassen. Die Entsorgung weckt neue Lust. Die Zärtlichkeit kommt nicht zu kurz. Kein Wunsch bleibt offen. Wunschlos muß ich versuchen, mir Ziele zu setzen, die es wert sind, erstrebt zu werden. Weltrekorde reizen mich nicht. Mich mit Sterblichen zu messen, erscheint mir lächerlich. Aber kann der Mensch anderes wollen, ohne verrückt zu werden?

Ich muß mir Wahnsinn verordnen. Am Horizont meines Denkens leuchtet ein ewiges Licht. Der Tod auf Widerruf ist eine süße Verlockung. Aber noch habe ich Freude an meinem ersten Leben. Die stürmische See will bezwungen werden. Im Kampf mit den Elementen finde ich Sinn. Doch dem Sturm folgt die Flaute. Ein Kreuzworträtsel ist nicht zur Hand. Nahrungsaufnahme und Stuhlgang sind rasch erledigt. Böte mir jemand im Tausch gegen die Freiheit zu denken Hunger und Durst, fiele mir die Entscheidung leicht. Auch Liebesschmerz eignet sich als Zerstreuung. Im Hafen warten die Nutten. Ich wünsche mir diesen Gedanken vertont.

Ein Barpianist spielt einen Tango. Ungeboren beobachte ich meine Eltern beim Tanz. Sie fühlen sich von mir durchschaut, aber sie wissen nichts voneinander. Nur eine vergebliche Hoffnung verbindet sie. Der Pianist macht eine Pause. Die Tänzer warten darauf, daß er weiterspielt. Ich werde mich opfern müssen, um ihnen die Furcht vor der Stille zu nehmen. Ich habe Musik im Blut. Unbekümmert phantasiere ich auf der Gedankentastatur, bis ich den Geist aufgebe. Zur Fahndung ausgeschrieben, wechsle ich die Gestalt. Als Säugling bin ich über jeden Verdacht erhaben. Gedankenlos liege ich an der Mutterbrust.

Aber staunen kann ich schon über das Geräusch einer Rassel oder die Grimassen des Bruders. Auch das wohlige Gefühl der Entleerung, die noch kein Schließmuskel hemmt, löst Verwunderung aus. Ein wenig Anstrengung kostet es zwar, sich dem Unvermeidbaren zu fügen, doch der Genuß, in der Scheiße zu sitzen, entschädigt mich. Durch den Gestank, den ich verbreite, wird mir Beachtung zuteil. Ich werde gepudert und frisch gewickelt. Eine Gegenleistung wird nicht verlangt. Hemmungslos bringe ich durch lautes Quietschen mein Behagen zum Ausdruck. Daß ich am Strampeln gehindert werde, steigert die Lust.

Später werde ich mich nach Unterwerfung sehnen. Die Saat der Gewalt geht auf. Verzweifelt hält der Einsame nach dem Stärkeren Ausschau, dem er sich beugen muß. Andere leisten Widerstand. Sie rufen: "Gerechtigkeit!" Sie halten die Fahne der Freiheit hoch. Sie schließen die Reihen und stimmen ein Marschlied an. Er aber tritt nicht ins Glied. "Er war ein Einzelgänger", wird man erzählen. "Er grüßte freundlich. Er hatte für jeden ein nettes Wort. Doch auf längere Gespräche hat er sich nicht eingelassen. Seine Freundlichkeit war wie ein undurchdringlicher Panzer." Ich kann das bestätigen, denn ich habe es mir selbst ausgedacht.

Halt wollte ich finden im Strom der Gedanken. Ruhelos stürze ich mich ins nächste Abenteuer. Doch die Wildnis erweist sich als Freizeitpark. Ich brauche mich nur in einen Arbeitnehmer, der mit Frau und Kind das Wochenende genießt, zu verwandeln. Das Kind wünscht sich gesponnenen Zucker. Die Frau, die das Geld verwaltet, plädiert für Verzicht. Der Mann, der es verdient, will sich die Liebe des Kindes erkaufen. Aber er weiß es nicht. Er setzt seinen Willen mit einem Machtwort durch. Sich selbst ein Fremder, befolgt er ihm unbekannte Gesetze. Ich werde mich hüten, ihn mit Fragen zu infizieren. Lieber schlüpfe ich in die Haut des Kindes, das zufrieden an der zuckrigen Watte zupft.

Es hat mir einen Stabreim geschenkt. Ich danke es ihm mit der für sein Fortkommen nützlichen Einsicht, daß die Liebe ein Tauschhandel ist. Schon ziehe ich weiter. Flüchtig wie Spuren im Sand sind meine Besuche. Heimatrecht wird mir nirgends gewährt. Ich gebe zu, ich habe mich zu halbherzig darum bemüht. Denn einerseits will ich bei immer demselben Menschen wohnen, andererseits halte ich es bei niemandem lange aus. Als Schoßhund eines Lustmörders könnte ich vielleicht Frieden finden. Aber zunächst brauche ich ein Ventil für die eigene Lust. An seinen Schreibtisch gelehnt, fickt der Rechtsanwalt, der am Beginn einer glänzenden Laufbahn steht, die Sekretärin, die ihre Beine um seine Hüften geschlungen hat, so daß sie wie ein Frosch an ihm hängt. In wen soll ich mich nun hineinversetzen?

Am besten in beide zugleich. So könnte ich endlich aus meiner Gespaltenheit einen Vorteil ziehen. Aber ich bin ja nicht zweigeteilt. Der rotbackige Apfel, mit dem ich mich bildlich vergleiche, muß, damit deutlich wird, was ich meine, in mehrere oder, besser, in zahllose Spalten zerschnitten werden. Den Anwalt werde ich nötig haben, um mit den Konsequenzen, die sich daraus ergeben, zurechtzukommen. Denn verteidigen kann ich mich nicht. In die Enge getrieben, verschwinde ich. Die Schuld aber bleibt. Sie trifft den Verwandlungskünstler, auch wenn er sich unsichtbar macht. Doch zuvor muß er die Taten begehen, zu denen er sich berufen fühlt.

Nicht über alle wächst Gras. Die Knochen werden geborgen und in mühsamer Kleinarbeit zusammengefügt. Zu neuem Leben kann nicht einmal ich sie erwecken, wenn ich nicht weiß, wem ich sie zuordnen soll. Das Schienbein unter den Stiefmütterchen gehört zu der kleinen Dora, aber das an gleicher Stelle vergrabene Becken paßt nicht dazu. "Sie war ein fröhliches Mädchen", schreiben die Zeitungen. Das Foto, das man veröffentlicht, dient als Beweis. So zynisch ist der Triebtäter nicht, als Milderungsgrund anzuführen, er habe die Kleine durch deren Ermordung vor einem noch schlimmeren Schicksal bewahren wollen. Das kann nur mir einfallen.

Doch manchmal hilft auch Zynismus nicht. Der Dichter hält sich die Ohren zu und schreit, um nicht zu verstummen. Danach kann er sich wieder dem Tagwerk widmen, das ihn ablenken soll. Mit Wörtern versucht er, den Abgrund zuzuschütten, der in ihm klafft. Den Rat, sich sportlich zu betätigen, beherzigt er nicht. Ich aber sehe mich im Trainingsanzug flußaufwärts laufen. Mein Körper ist mein Kapital, denke ich. Bin ich ein Mann, der sich verkauft? Eine Geschlechtsumwandlung kommt nicht in Frage. Die Wettervorhersage ist diesmal eingetroffen. Der Löwenzahn mutiert schon zur Pusteblume. Das Ziel ist wie immer der Ausgangspunkt. Ich schließe das Haustor auf und steige die Treppe hoch.

Mein Spiegelbild bekomme ich gratis. Die Erschöpfung hat ihren Preis. Der Po ist über die Ufer getreten. Der letzte Schrei aus Paris zaubert ein Lächeln auf die Lippen des Nachrichtensprechers. Er wird noch ein Bier trinken, damit er einschlafen kann. Ich halte durch. Betäubt vom Gezirp der Zikaden, blicke ich auf das offene Meer. Jemand hat mich im Rollstuhl an die Steilküste geschoben. Versteinern möge mein Leib und, der Stuhl inbegriffen, mit dem Felsen verschmelzen. So könnte ich auf unabsehbare Zeit an diesem schönen Ort sitzen bleiben und müßte nicht überlegen, wie ich dem Feuer entkomme, das mich, kaum habe ich angefangen, mich wohlzufühlen, von allen Seiten bedroht.

Es knistert und prasselt. Ich rette mich, indem ich mich selbst entflamme. In Liebe entbrannt, suche ich in der rauchenden Ödnis, die ein blühendes Eiland war, nach einer meinem Bedürfnis entsprechenden Überlebenden. Wie der Zufall es will, läuft mir mein weibliches Pendant über den Weg. Wir nehmen auf verkohlten Baumstümpfen Platz und führen ein langes Gespräch. Wäre es nur dabei geblieben! Hätten wir uns doch das Küssen erspart! Unsere Münder wuchsen zusammen. Bei dem Versuch, sie zu trennen, wurden wir eins. Nun muß ich wieder mit dem Singular vorliebnehmen.

Die ärztliche Kunst hat versagt. Ein unverhoffter Gedanke entführt mich in eine südliche Stadt. Ein Taubenschwarm flattert vor meinem geistigen Auge auf. Eine Windbö reißt mir den Hut vom Kopf. Ich gebe mich dem Unbegreiflichen hin. Was bleibt mir anderes übrig? Die Selbstmörderin hat sich in den Holzfäller verliebt. Der Bankrotteur ist zum Millionär aufgestiegen. Die taubstumme Nachbarstochter singt ihr Neugeborenes in den Schlaf. Der Kopf will mir zerspringen. Doch der Versuch, einen Nagel in mein Hirn einzuschlagen, mißlingt. Die Schädeldecke hält stand. Es soll wohl noch eine Weile so weitergehen. Zuversichtlich erwarte ich den nächsten Augenblick.

Schon ist er vorbei. Ich habe ihn heil überstanden. Zum Ausruhen bleibt keine Zeit. Denn die Zukunft hat pünktlich begonnen. Nachzügler werden nicht eingelassen, sondern verbrannt. Das sollte ein Scherz sein. Aber es lacht ja keiner. Das Auditorium lauscht wie versteinert dem Herzschlag des Todgeweihten. Ich schenke ihm, weil mir nichts Besseres einfällt, Unsterblichkeit. Das Leben kann er sich nun nicht mehr nehmen. In Todesgefahr kommt er nicht um. Das Glück steht auf seiner Seite. Doch glücklich wird er nie wieder sein. Wie ein Erblindeter an das Licht erinnert er sich an seine Vergänglichkeit. Ich möchte nicht mit ihm tauschen.

Das Ende vor Augen, will ich meine Gedanken ordnen. Sie sollen in einer Reihe stehen, damit ich sie abschreiten kann. Auf jedem einzelnen ruhe mein wohlgefälliger Blick. Aber auch das Ganze soll einen guten Eindruck machen. Ich liebe den schönen Schein. Im Schutz meiner Gedanken begebe ich mich auf Wanderschaft. Der Wind flaut ab. Die Tauben kehren zurück. Ein Knabe, der meinen Hut gefunden hat, sucht den Besitzer. Den Wanderer kümmert es nicht. Er geht seinen Weg. Kein Hindernis hält ihn auf. Über Stock und Stein, durch Sümpfe und Wüsten gelangt er ins ewige Eis. Dort erst vergißt er den Schmerz, der ihn in die Ferne trieb. Er setzt sich auf eine Scholle und spricht zu sich selbst:

"Ich habe zu viel gewollt. Nun will ich nichts mehr. Das Nötige brauche ich nicht zu wollen."
Ich frage: "Warum nicht?"
Er antwortet: "Weil es geschieht." Es sind seine letzten Worte.

Ich ziehe den Hitzetod dem Erfrieren vor. Aber es gibt ja Schatten. Unter einer Palme mache ich Rast. Mit angezogenen Knien, die Arme unter dem Kopf, entwerfe ich auf dem Reißbrett des Himmels mein Leben zu zweit. Denn allein bin ich nicht. Eine Hündin hat sich mir zugesellt. Wäre ich ein Hirte, denke ich, könnte sie meine Schafe hüten. Doch nicht hinter jeder Möglichkeit, die mir einfällt, verbirgt sich ein Wunsch. Ich wäge die Vor- und Nachteile ab und komme zu dem Schluß, daß es genügt, mich selbst zu behüten. Das Tier wird mir zur Last. Ich jage es fort. Nun weiß ich nicht, was aus mir werden soll.

Träume ich? Bin ich eingeschlafen? Der Träumer weiß nicht, daß er schläft. Er muß sich in der Bilderflut, die ihn bedrängt, wiederfinden. Ist er der Bettler am Wegesrand? Ist er der Jäger, der sein Revier durchstreift? Ist er der holde Jüngling dort oder die Geliebte an seiner Seite? Wange an Wange, aber nicht unzertrennlich, liegen die beiden auf einer Lichtung im Gras. Unbefangen geben sie sich dem Geschlechtstrieb hin. Der Jäger läßt, um sie nicht zu stören, die Waffe sinken. Das Reh, das er töten wollte, entkommt. Ich habe mich in einen Wohltäter verwandelt. An meinen guten Taten, nicht an meinem Erscheinungsbild erkenne ich mich. Was aber ist gut?

Das Reh hätte dem Bettler gemundet. Der Flintenschuß hätte eine Zeugung vereitelt, die sich als Verhängnis erweisen wird. Ich male den Teufel an die Wand, um einer Enttäuschung vorzubeugen. Das Kind der Geliebten ist eine Totgeburt. Nun stellt sich die Frage: Hat es gelebt? Das Licht der Welt hat es nicht erblickt. Ist es vor Schreck gestorben? Blieb ihm der Schrei in der Kehle stecken? Meine Erinnerung läßt mich im Stich. Die Zeugung wird wiederholt. Die Jagd wird fortgesetzt. Durch Schaden klug, wünsche ich Weidmannsheil. Doch meine Hoffnung, erlegt zu werden, erfüllt sich nicht. Ich muß mich an meinen Gedanken berauschen.

Das heißt: Ich darf nicht vernünftig sein. Die Unvernunft überbrückt die Kluft zwischen mir und mir. Wörter werden zu Fliegen, nach denen ich hasche. Die Luft erstarrt zu Kristall. Meine Anpassungsfähigkeit setzt die gelehrte Welt in Erstaunen. Wenn Gefahr droht, bin ich ein Blatt im Wind. Bevor ich vertrieben werde, löse ich mich freiwillig auf. Die Frau, die ich liebe, trägt mich als Schmuck um den Hals. Vor langer Zeit, als ich noch aufbegehrte, hätte sie mich nicht so nah an sich herangelassen. Heute gestattet sie mir sogar, in sie einzudringen. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Ich bin ihr Kamm, ihr Taschentuch, ihre Abendrobe.

Sie streift mich ab. Sie blättert in mir. Sie trocknet mit meinem Atem ihr Haar. Ich scheue mich nicht, ihr Blut aufzusaugen. Aber das Buch, das sie langweilt, bleibt ungelesen. Das benutzte Tampon wird weggeworfen. Der Verlust der Perlenkette ist zu verschmerzen. Ernüchtert stelle ich fest: Der Rausch war von kurzer Dauer. Die Kluft ist zu groß. Ich kann nur hoffen, daß ich mir gewogen bin. Der erste Eindruck entscheidet. Wenn der Funke nicht überspringt, wird alle Mühe vergeblich sein. Von einem Lächeln hängt das Wohl und Wehe des Eroberers ab. Er stellt sich als gefallener Engel vor.

Seine Reue weckt Mitgefühl. Man fragt, was er verbrochen hat. "Ich habe", gesteht er, "die Früchte, die zum Greifen nah über mir hingen, nicht angerührt. Ich zog den Hunger der Sättigung vor. Ich entsagte der Lust. Ich genoß den Verzicht. Ich wollte leiden." Zum Beweis zeigt er sich nackt. Wundmale deuten auf Selbstgeißelung hin. Wie ein häßlicher Auswuchs hängt das Geschlecht zwischen den Beinen. Die Absolution wird erteilt. Der vermeintliche Sünder wird mit Zärtlichkeit überschüttet. Er weiß das zu schätzen. Sein Körper verwandelt sich in ein Blumenbeet. Nun, denkt er, muß er begossen werden. Doch das Wetter schlägt um. Einen Wolkenbruch hat er sich nicht gewünscht.

Es hagelt und stürmt. Fenster gehen in Scherben. Ein Ast erschlägt einen Rentner. Es kann aber auch sein, daß der Mann in dem Augenblick, als ihn der Ast traf, an Herzschwäche starb. Ich lege mich in dieser Frage nicht fest. Nur soviel ist sicher: Der Ast erschlug keinen Verstorbenen. Das Unmögliche schließe ich aus, obwohl es denkbar ist. Im Irrgarten der Sprache finde ich zu mir zurück. Andere suchen den Ausgang. Zu Tränen gerührt, lasse ich ihnen die Freude am Wortgefecht. Ein Mißverständnis beendet den Streit. Ein Treueschwur besiegelt die Täuschung.

Gemeinsam wird der Blutdurst gelöscht. Ich kann es bezeugen. Denn ich war es selbst, der mir das Messer zwischen die Rippen stieß. Ein Scheinwerfer blendete mich. Als Krüppel friste ich nun mein Dasein. Als Krankenschwester pflege ich mich. Die Ordnung ist wiederhergestellt. Der Schöpfer betrachtet zufrieden sein Werk. Er hat nach dem letzten Pinselstrich, um Distanz zu gewinnen, mit seinem Modell koitiert. Meine Ausdrucksweise befremdet die junge Frau. Kann sie Gedanken lesen? Ich darf jetzt keine falsche Bewegung machen. Vorsichtig ziehe ich den Kopf aus der Schlinge. Befreit atme ich auf.

In den Fallen, die ich mir stelle, bewährt sich die Wendigkeit, der ich mein Überleben verdanke. Nur der Eingeweihte entdeckt mich im Dickicht der Sätze. Mit dem Mut zur Metapher trete ich in das nächste Stadium meiner Entwicklung ein. Tollkühn behaupte ich: Es gibt auch den Sturz in die Höhe. Beweisen muß ich es nicht. Die Morgenröte enthebt mich jeder Verpflichtung. Ich senke die Lider. Ich schürze die Lippen. Ich brauche Trost. "Du wirst", prophezeit mir mein Doppelgänger, "wie ein Phönix aus der Asche des Schmerzes steigen." Ich habe ihn seit Jahren nicht mehr gesehen.

Er ist jetzt verheiratet und hat zwei Kinder. Im Schoß der Familie fand er das mir vorenthaltene Glück. Soll er mich teilhaben lassen? Ich hätte ein Recht darauf. Aber ich bin ja auch er! Erzürnt über meine Vergeßlichkeit, sage ich mir: Ich bin auch der Gartenbesitzer, der am Sonntag den Rasen mäht. Ich bin die Hecke und auch die Heckenschere. Ich bin der Apfelbaum und die Apfelblüte. Ich bin auch die reife Frucht. Sie fiel nicht weit vom Stamm. Man hat es verabsäumt, sie aufzulesen. Nun faule ich vor mich hin. Der Regen verhindert, daß ich vertrockne. Die Schale platzt. Das Fleisch zerfällt zu einer breiigen Masse.

Formlos gleiche ich mich dem Erdreich an. Unerkannt führe ich meine Kunststücke vor. Mit jedem Substantiv vergrößert sich die Zahl meiner Masken. So wird die Selbstfindung erschwert. Ich will mich noch lange suchen. Das Leben liegt vor mir ausgebreitet. Ist es ein Warenangebot, eine liebliche Landschaft oder eine zum Beischlaf bereite Frau? Ich lasse mich zu keiner Entscheidung drängen. Oft genug habe ich mich, indem ich mich zu rasch entschied, um einen Genuß gebracht. Der Apfel, der ich eben noch war, pflanzt sich fort. Nichts Unverwesliches bleibt von ihm übrig.

Willenlos paßt er sich dem Wandel der Dinge an, deren Vielfalt mein Reichtum ist. Das Sonnenlicht läßt seinen Sprößling sprießen. Aber, oh weh, die Gartenpflege macht alle Hoffnung zunichte. Das Menschenkind wird unter dem alten Baum fotografiert. Der Vater kriecht, damit es lacht, auf allen vieren. Ist das derselbe Mann, der mir eben noch Trost zusprach? Ich darf nicht wählerisch sein. Wer mir das Heil prophezeit, sei mir willkommen. Ich grüße ihn mit erhobenem Arm und melde mich zum Dienst an der Front. Denn nur im Kugelhagel gerate ich außer mir. Durchlöchert tanze ich, bis ich zusammenbreche. Den Tod brauche ich nicht zu fürchten. Gedanken sterben ja nicht.

Wie ein Regentropfen im Meer löse ich mich in ihnen auf. Die Frage nach meiner Identität wird sich nie wieder stellen. Ich darf das als kleinen Erfolg verbuchen. Aber noch habe ich nicht den Verstand verloren. Noch habe ich das mir gesetzte Ziel nicht erreicht. Geduldig reihe ich Satz an Satz. Die Zeit vergeht. Die Würfel sind gefallen. Die Summe der Augen halte ich, damit die Spannung gewahrt bleibt, vor mir geheim. Jeder Atemzug kann der letzte sein, denke ich und springe ins kalte Wasser. Es ist ja nur eine Redensart. Um nicht zu ertrinken, streue ich mir Sand in die Augen.

Das mache mir einer nach! Ich würde ihn zu meinem Nachfolger ernennen und nie mehr in Erscheinung treten. Ist das ein Angebot? Will ich mich selbst ersetzen? Mir schwindelt beim Blick in die Tiefe. Im dunklen Blau spiegelt sich gleißend das Licht. Ein Seeadler zieht seine Kreise. Ich frage mich, woher ich das weiß. Die Antwort erübrigt sich. Die See verwandelt sich in ein Blumenmeer. Der glückliche Einfall erspart mir die Wiederholung des Sprungs. Ich lasse mich fallen. Mein Körper versinkt in der Blütenpracht. Ein schöneres Grab, denke ich, findest du nicht. Sorglos halte ich Zwiesprache mit mir.

Körperlos setze ich meinen Irrweg fort. Ein Lufthauch weist mir die Richtung. Das Samenkorn und der Wind, der es verweht, bin ich gern. Doch zu denken, ich sei auch der lenkende Gott, wage ich nicht. Meine Feigheit ist meine Bescheidenheit. Mir genügt eine Handvoll Erde. Oder ist das schon zu viel verlangt? Ist es mir nicht vergönnt, auf fruchtbaren Boden zu fallen? Muß ich ins Feuer? Hilflos umherblickend sehe ich brennende Bäume wie Fackeln zum Himmel lodern. Tapfer widerstehe ich der Versuchung, mich in ein Wortspiel zu flüchten. Die Bereitschaft zum Opfer wird durch die Rettung belohnt.

Die Freude hält sich in Grenzen, das heißt, ich beherrsche mich. Das Auf und Ab der Gefühle muß, damit ich die nächste Folter ertrage, ein Ende haben. Schon stehen die Instrumente bereit. "Ich will", sage ich mit ruhiger Stimme, "zerrissen werden." Staunen breitet sich aus. Noch nie hat ein Beschuldigter die Art der Qual, die seinen Widerstand brechen soll, selbst bestimmt. Eingehende Beratungen sind nun erforderlich. Sie werden nur, wenn ich mich vergesse, zu einer Lösung führen. Ein Schlag auf den Hinterkopf macht mich besinnungslos. Damit habe ich nicht gerechnet. Bestürzt lege ich das Ohr an die Brust. Die Eisenstange, mit der ich zuschlug, entgleitet mir.

"Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist", stammle ich. Ein Rinnsal von Blut hat sich gebildet. Die Umstehenden sinken, einer nach dem anderen, auf die Knie. Mit Tränen in den Augen akzeptiere ich ihre Läuterung. Durch fortwährende Spaltung will ich die Welt befrieden. Zuvor aber muß ich mich, um nicht zu verbluten, verarzten. Mein erster Zwilling soll keine Leiche sein. Aus seiner Ohnmacht erwachend, sieht er mich fragend an. "Du bist in Sicherheit", sage ich. Da legt er den Kopf in meine Hände. Ich beuge mich über ihn und sauge die Wunde aus. Die Heilung gelingt. Die Folterkammer verwandelt sich in ein Gotteshaus.

Wir sprechen ein kurzes Dankgebet und treten ins Freie. "Wo sind wir?" frage ich. Meine Augen wandern über Wiesen und Felder. Jenseits des Flusses, der mein Blickfeld begrenzt, glüht der Abendhimmel. "Wir sind in der Heimat", antworte ich mir. Jahrhunderte sind vergangen, seit ich auszog, um mich zu finden. Zu zweit kehre ich wieder. Die Sprache macht mit mir, was sie will. Ich habe aufgehört, mich zu wehren. Vielleicht erfüllt sich eines Tages die Hoffnung, daß es mich in eine Geschichte verschlägt, die es wert ist, erzählt zu werden. Sie könnte mit der Ankunft eines Zuges beginnen, die mein Warten beendet, bevor es unerträglich wird.

Der Zug müßte pünktlich sein.

"Keine Verspätung!" sage ich. "Schon die kleinste Verspätung würde das Gedankengebäude zum Einsturz bringen."

Ein älterer Herr spricht mich an: "Haben Sie es auch bemerkt?"
"Was?" frage ich.
"Die Luft wird mit jedem Atemzug dünner. Wir werden ersticken, wenn das so weitergeht."
So beginnt keine Geschichte, denke ich, und wende mich ab.

Nun bin ich wieder allein. Mein Rücken schmerzt. Den rechten Arm kann ich kaum noch bewegen. Die Zweisamkeit hat mich erschöpft. Ich stelle mich als Heiligenfigur über das Kirchenportal und verwittere. Eine Restaurierung scheitert an den zu hohen Kosten. Bald wird das Kulturgut für immer verloren sein. Ein Foto bestätigt die traurige Wahrheit. Mühelos bin ich gealtert. Von meinem Gesicht ist ein glattes Oval geblieben. Mein Kopf gleicht einem Tannenzapfen. An meinem Körper erkennt man nur noch die Spur eines Faltenwurfs.

Mein Geist aber hat sich erholt. Er löst sich aus der Versteinerung und begegnet mir in Gestalt einer Frau, die mir bekannt vorkommt. Ich grüße sie vorsichtshalber. Ohne den Gruß zu erwidern, geht sie an mir vorbei. Da fällt mir ein: Wir hatten vor langer Zeit ein Verhältnis. Der Name ist mir entfallen. Christine? Agnes? Maria? Sie hat noch immer diesen wiegenden Gang. Sogar beim Geschlechtsverkehr blieb sie stolz. An das Ende kann ich mich nicht erinnern. Jetzt biegt sie um eine Ecke. Hat sie mich nicht erkannt? Ich schiebe die Entscheidung bis auf weiteres auf. Ein Krähenschwarm läßt sich auf einer entlaubten Platane nieder.

Das Land, das ich Heimat nenne, schenkt mir den Herbst. Ein Rascheln begleitet den Abschied. Wehmütig ziehe ich in die Fremde, um sie mit mir zu bevölkern. Denn der Mensch braucht Beschäftigung. Er will säen und ernten und abends im Kreise der Lieben der Mühsal gedenken, die seinem Tun Sinn verleiht. Die Hütte ist roh gezimmert. Die Öllampe flackert. Ich sehe hinter mir, ohne mich umzudrehen, meinen Schatten. "Du weißt", raunt mir mein Gegenüber zu, "was das bedeutet." Die Bäurin, die das Nachtmahl serviert, hört es nicht. Sie wischt mit der Hand über die Schürze.

"Es war ein hartes Jahr", sage ich. "Der Hagel hat die Ernte zerstört. Der Rinderwahn nahm uns das Vieh. Der Hof ging in Flammen auf." "Es war ein lehrreiches Jahr", korrigiert sie mich. Die um den Tisch Versammelten löffeln stumm ihre Suppe. Ich setze den Dialog in einem Wiener Kaffeehaus fort. "Was haben wir gelernt?" frage ich. "Demut", antwortet mein bester Freund. Das durch die hohen Fenster einfallende Licht durchschneidet die von Rauch geschwängerte Luft. Bin ich zu anspruchsvoll? Kann ich mich mit der Antwort des Freundes, der genüßlich an seiner Pfeife saugt, nicht begnügen?

Muß ich, damit ich nicht den Faden verliere, auch die Kuchenvitrine erwähnen und den mit Früchten verzierten Hut einer Greisin, die ihren Pudel füttert? Hätte ich nicht wenigstens auf den Pudel verzichten können? Er schnappt nach den Tortenstücken. Ich möchte vor Scham in den Boden sinken. Aber ich schrumpfe nur. Schon sind meine Hände, zu Fäusten geballt, nicht größer als Tennisbälle. Der Kopf überragt kaum den Tisch. Mein Freund sagt: "Du denkst zu viel." Der Pudel bricht in ein hysterisches Kläffen aus. Eine Stubenfliege prallt gegen die Fensterscheibe. Zum Glück habe ich Stellvertreter.

Wer sich für verrückt erklärt, ist es nicht. Er weiß, daß Zwerge nicht bellen können. Er unterscheidet genau zwischen Schwäche und Resignation. Die Fliege bleibt in Gefangenschaft. Der Freund klopft seine Pfeife aus. Mir seine Worte zu Herzen nehmend, wiege ich mich in den Schlaf. Als ich erwache, ist er verschwunden. Zu lange habe ich nicht an ihn gedacht. Das Kaffeehaus hat sich in eine Bahnhofshalle verwandelt. Eine Frau, die ich nicht kenne, fällt mir um den Hals. Vergeblich unterdrücke ich meine Verwunderung. Es war nur die Erinnerung an einen Traum. Ich muß an die Zukunft denken!

Auf den Herbst folgt der Winter. Ein Kalb wird geschlachtet. Die Hundebesitzerin trägt jetzt Nerz. Der Freund hat begonnen, mir einen Brief zu schreiben. In der Anrede muß er mich nicht beim Namen nennen. Doch was wird auf dem Umschlag stehen? Ausblutend fiebere ich dem Moment entgegen, da ich erfahre, wie ich heiße und wo ich zu Hause bin. Aus meinem aufgeschlitzten Leib quillt das Gedärm. Der Freund aber legt den Schreibstift beiseite und stirbt. Enttäuscht breche ich den Versuch, mir Gewißheit über mich zu verschaffen, ab. Als vorwitzige Meise wohne ich der Beerdigung bei.

Denn das Naheliegende ist keines Gedankens wert. Der Sarg wird hinabgelassen, die Erde aufgeschüttet. Den Namen auf dem Holzkreuz, das als Übergangslösung bis zur Fertigstellung des Grabsteins dient, will ich mir merken. Die Lebensdaten weisen den Toten als einen zu früh Verstorbenen aus. Er hat jetzt nur diesen Ausweis. Unter den Kränzen nach Würmern spähend, plane ich seine Auferstehung. Wie aber werde ich dem Anspruch, mich, solange er tot ist, in ihn hineinzudenken, gerecht? Die Verwesung hat schon begonnen. Das Fleisch hält die Knochen nicht mehr. Aus dem Gesicht schwinden die mir vertrauten Züge.

Eile tut not. Ich lasse mir Zeit. Ein sauberer Schnitt schafft hier Klarheit. Ein neues Kapitel wird aufgeschlagen. Es kommen wärmere Tage. Die Schneereste schmelzen. Das Streugut wird entfernt. Zwischen den Krokussen dampft frischer Hundekot. Aus dem Füllhorn der Sprache purzeln die Wörter. Ich werde sie hüten wie einen Schatz. Aufbewahrt im Gedächtnis, sollen sie mir ein nie versiegender Kraftquell sein. Denn ich will Großes vollbringen. Ich will aus meinen Gedanken einen Palast errichten. Der Wunsch ist schon Teil der Erfüllung. Das Werk kommt zügig voran. Es wird nie vollendet werden. Mein Scheitern erfüllt mich mit Heiterkeit.

"Mein Hirn", rufe ich übermütig, "ist ein Ameisenhaufen. Mein Herz schlägt jetzt unterirdisch. Ich will im Unsinn ertrinken." Zufällig hört mich jemand. "Der Wille", ruft er zurück, "wird Ihnen nicht weiterhelfen." Ich zeige, indem ich Wurzeln schlage, daß ich verstanden habe. Nun kann ich wachsen. Bald werde ich Knospen treiben, dann blühen, dann mich vermehren. Es ist ein Kinderspiel. Der Zufall war Absicht. Aus Willen wird Trieb. Ich brauche nur das eine Wort durch das andere zu ersetzen. Schon bin ich heimisch in mir. Der Wissende aber irrt durch die Finsternis.

Er muß, damit sie ihn nicht verschlingt, in Bewegung bleiben. Nur bei Licht darf er ruhen. Doch kaum wird es hell, schließt er, um sich zu täuschen, die Augen. Sein Ziel ist die körperliche Erschöpfung. Er wünscht sich nicht Schlaf. Er will überwältigt werden. Ich kann das gut nachvollziehen. Mein pflanzliches Dasein hindert mich nicht am Mitgefühl. Am liebsten würde ich den Bedauernswerten wie meinen besten Freund sterben lassen. Aber fände er Ruhe im Jenseits? Weiß ich, was mir blüht, wenn ich gepflückt, gefällt oder durch einen Waldbrand vernichtet werde? Es gibt keinen Gnadentod.

Die Blume welkt in der Vase. Der Baum wird zum Kleiderschrank. Ich wähle, um mich zu zerstreuen, die Asche als nächste Erscheinungsform. So kann ich mich, ununterscheidbar, mit anderem, das verbrannte, vermischen. Wir werden hochgewirbelt und fortgetragen. Es ist ein Vergnügen, sich treiben zu lassen. Ich wünschte, es würde nie enden. Kann es nicht ewig dauern? Ist die Ewigkeit eine Dauer? Mir schwinden die Sinne. Ein Schauer wirft mich zu Boden. In einer Wasserlache höre ich auf zu sein. Nun will ich mich neu erschaffen. Gelassen warte ich auf einen Geistesblitz.

Der Regen läßt nach. Die Sonne bricht durch die Wolken. Nach Lage der Dinge muß ich mich als ein denkendes Nichts bezeichnen. Doch auch als Regenbogen, als vage Hoffnung und namenlose Freude scheine ich auf. Mit wachsender Erregung durchblättere ich das Wörterbuch des Vorhandenen und erkenne beglückt: Es gibt ja nur mich! Die Befürchtung, ich hätte mich versehentlich ausgestrichen, war unbegründet. Das wüste Land begrünt sich erstaunlich schnell. Alles Getier kehrt zurück. Die Luft vibriert vom Gesumm. Komm, schaffender Geist, die Zeit ist reif für eine Liebesnacht! Du trittst als Sirene auf.

Lüstern ergebe ich mich deinem Gesang. Die Brandung bricht sich am Fels. Die Gischt deckt uns zu. Ich lasse mich gerne töten. Der verblichene Freund steht mir bei, damit wir, deiner spottend, gestärkt auferstehen. Denn in der Mehrzahl bin ich unschlagbar. Siegesgewiß inspiziere ich das Heer meiner erfundenen Krieger. Der Seiltänzer wirft die Balancierstange fort. Die Gläubigen jubeln ihm zu. Der Priester hat Grund zu fluchen. Ich freue mich über den geglückten Zusammenhang. Die Fortschritte bei der Eroberung meiner Gedankenwelt stimmen mich zuversichtlich. Ungestüm rücke ich vor.

Bedenkenlos häute ich mich, um den Feind zu verwirren. Er ist mein Ebenbild. Ich darf mich mit ihm nicht verwechseln. Wider besseres Wissen sage ich, da wir einander gegenüberstehen: "Du bist nicht ich." Lachend nütze ich seine Verblüffung aus. Es ist ja ein Spaß, mit Worten zu kämpfen. Ich wiederhole: ein Spaß! Mir geht es gut! Ich mache Luftsprünge und schlage Purzelbäume. Meine Gelenkigkeit läßt nichts zu wünschen übrig. Den Wettlauf mit mir aber muß ich, um ihn zu gewinnen, verlieren. So einfach ist das! Die Schlichtheit der Sätze, in die ich meine Gedanken kleide, begeistert mich.

Ruhig, denke ich, fließt der Fluß durch das Tal. Der Seiltänzer vollführt einen dreifachen Salto. Der Gottesdienst muß unterbrochen werden, das heißt, er wird bestimmt fortgesetzt. Ich muß kein Prophet sein, um das vorauszusagen. Ich muß nur aus der Zukunft auf die Gegenwart zurückblicken können. Bin ich schon närrisch genug, mir das zuzutrauen? Oder werde ich wieder herausschlüpfen aus mir und die Armee, die mich schützt, um einen Helden erweitern? Die Antwort ist in der Frage enthalten. Der Neue übernimmt das Kommando. Ich nenne ihn Narr. Ihm muß sich nun alles Erschaffene unterordnen.

Den Blumen befiehlt er, zu blühen, den Bächen, zu rauschen, den Felsen, herabzustürzen. Die Sterne tupft er ans Firmament und läßt sie verlöschen. Mit leuchtenden Augen trete ich vor ihn hin und sage: "Mein Führer, zeigen Sie mir den Weg ins Verderben! Zu lange schon treibe ich mein Unwesen in mir." Er lächelt milde und löst sich auf wie ein Spuk. Eine Rauchwolke steigt auf. Brandgeruch liegt in der Luft. Aus dem Hintergrund nähert sich eine bedrohliche Menschenmasse. Ich hebe die Arme und rufe: "Halt!" Da beginnt sie zu singen. Es ist ein Männerchor. Ich stehe auf einer Opernbühne.

Vor Schreck über den unerwarteten Einfall stürze ich in den Orchestergraben. Der Chor verstummt. Der Dirigent läßt den Taktstock sinken. Die Musiker blicken sich ratlos um. So wächst meine Streitmacht. Ich darf nur nicht aufhören zu denken. Schon treffen die Sanitäter ein. Der Tenor hat sich eine Gehirnerschütterung zugezogen. Sein massiger Körper wird auf die Bahre gehoben. Er kommt zu Bewußtsein und ruft: "Ich will zurück!" Das Publikum applaudiert. Die Sanitäter zögern. "Hier bin ich nichts", haucht der Sänger, "dort bin ich alles." Sein wehmütiger Blick ist auf die Bühne gerichtet.

Aber der Vorhang fällt. Er fällt wie ein Fallbeil, denke ich. Die Grenze zwischen Sein und Schein verläuft knapp über dem Adamsapfel. Es rollen Köpfe. Es wird gelyncht und vergast. Es wird auch geliebt zu gegebener Stunde. Das Haar weht im Wind, bevor es geschoren wird. Das Kleid wird abgestreift wie eine Schlangenhaut. Das kopflose Huhn schlägt mit den Flügeln. Die Frau, die meine Teile zur Bestattung erhält, wird mich zusammenfügen. "Du brauchst", sage ich, "nur die eine Hand auf die Stirn und die andere auf das Geschlecht zu legen." Sie überwindet den Widerwillen.

Ich danke es ihr, indem ich ihr fortan zu Diensten bin. Ein anderer ficht nun die anstehenden Kämpfe aus. Schwungvoll besteigt er den Fahrstuhl zur Chefetage. Nur keine Angst, sagt er sich, die Tür wird sich öffnen, die Flure sind wohltemperiert, kein Blut fließt von den Wänden. Das Lächeln der Sekretärin ist schon ein Sieg. Es wird nicht erwidert. Ich aber lege den Kopf in den Schoß der Geliebten. Das Fleisch ist warm. Das Lächeln gefriert. Die Angebetete wird zum Diktat gerufen. "Geh nur!" sage ich und schlüpfe in ihre Hände, die ich eben noch auf mir spürte.

Fehlerlos verwandelt sie meine Gedanken in Schrift. Wort für Wort, Zeile für Zeile erscheinen sie auf dem erleuchteten Schirm. Da stimmt jedes Komma, denke ich und kann es gleichzeitig lesen. Zartgliedrige Finger hüpfen auf fast geräuschlosen Tasten. Regentropfen zerstieben auf einem Wagendach. Fenster zersplittern. Milch wird verschüttet. "Soll ich noch mehr Verwirrung stiften?" fragt der Vorstandsvorsitzende und greift zum Telefon. Im selben Moment stürzt die Decke herab. Nun liegt er mit seiner Schreibkraft unter den Trümmern begraben. Doch die Liebe währt ewiglich.

Denn sie ist eine Himmelsmacht. Ich muß nur die Person, der sie gilt, nach meinen Wünschen gestalten. Zur Zeit ist sie tot. Aber das macht ja nichts. Die Wörter sind austauschbar. Wenn es mir einfällt, streicht sie mir über das Haar. Schon ist es geschehen. Ich richte mich auf und sehe am Horizont die im flirrenden Licht verschwimmende Sonne. Musik erklingt. Der Himmel brennt. "Die Sprache", flüstere ich der Liebsten ins Ohr, damit sie sich nicht überrumpelt fühlt, "ist dem Gottlosen heilig." Sie legt zum Zeichen, daß ich ihr nichts zu erklären brauche, den Zeigefinger der rechten Hand an die Lippen. Oh, Seligkeit!

Die Mühsal des Denkens hat sich gelohnt. Einträchtig lauschen wir den Klängen, die wir nicht hören, bis uns die Schwüle, die wir nicht fühlen, vertreibt. Frohgemut fliehen wir. Ein Tümpel bietet uns Schutz. Ein Augenzwinkern genügt zur Verständigung. Wir paaren uns auf angemessene Weise. Denn alles, so denken wir, muß seine Ordnung haben. Wir wollen nicht aus dem Rahmen fallen. Wir vermehren uns und verenden, wie es der Gattung entspricht. Das eine kommt nach dem anderen. Wir sind jetzt viele, obwohl es uns nicht mehr gibt. Ich bin mit diesem Ergebnis zufrieden.

Doch geisteskrank bin ich noch immer nicht. Wohlüberlegt frage ich mich: Kann ein Verstorbener denken? Mein Atem geht regelmäßig. Die Verdauung funktioniert einwandfrei. Ich sitze leicht vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände stützend, auf dem Abort. Nachdem ich mich entleert, Toilettenpapier abgerissen und mich gesäubert habe, erhebe ich mich, drücke, einen kurzen Blick auf das Ausgeschiedene werfend, den Hebel der Spülung hinunter und ziehe die Hose hoch. Ein Toter, denke ich, kann nichts erleben. Hell ist nicht dunkel. Nah ist nicht fern.

Ein Zwerg aber kann einen Wurm zertreten. Das Dasein ist eine Glaubensfrage. Ich bete ein Vaterunser und schließe die Gürtelschnalle. Als nächstes, sage ich mir, mußt du die Tür entriegeln. Ein Klo ist kein Beichtstuhl. Du wirst die Kabine verlassen und, an den Urinalen vorbei, in den Waschraum gehen. Dein Spiegelbild wird dich nicht überraschen. Du weißt, wer du bist. Du hast einen Namen und eine Vergangenheit. Erinnerst du dich an deine Enthauptung? Es war ein grausiger Anblick. Du zeigtest noch die eine oder andere Regung, obwohl das Beil schon gefallen war. Erinnerst du dich an die Frau, die dich heimlich begrub?

Sie wartet draußen. Du wirst sie nicht wiedererkennen. Dein forschender Blick wird sie, damit du dich neu verliebst, in eine Fremde verwandeln. Öffne die Tür! Ignoriere die Männer, die, scheinbar gelangweilt, ihr Wasser lassen! Wasch dir die Hände und halte sie unter den Heißlufttrockner! Ja, so ist es gut. Dein blinder Gehorsam bewahrt dich vor der Erstarrung. Der Trockner schaltet sich aus. Das Prophezeite geschieht. Nun, denke ich, mußt du dir nichts mehr befehlen. Die Liebe lenkt deine Schritte. Du näherst dich der vermeintlich Unbekannten. Ich höre dich sagen: "Verzeihen Sie...!"

Du möchtest weitersprechen. Sie aber verwandelt dich, indem sie dich an die Hand nimmt, in ein der Sprache, die nötig wäre, um deine Gedanken auszudrücken, nicht mächtiges Kind. So glücklich, behaupte ich, warst du noch nie, und fange noch einmal von vorne an. Der Zug rollt in den Bahnhof. Das Kind reißt sich los und läuft durch die Bahnhofshalle zu den Geleisen. Der Vater nimmt den Mantel vom Haken. Die Mutter schreit. Das Zusammenhanglose erweist sich als Fügung. Das Kind wird zwischen Herz und Magen durchtrennt. Es wollte den Zug mit offenen Armen empfangen.

Nun soll es mein treuer Begleiter sein. Der nächste Gedankengang hat schon begonnen. Der Abend sinkt hernieder. Im nassen Asphalt spiegelt sich künstliches Licht. Der Straßenverkehr rauscht wie das Meer. Wir nutzen den Vergleich und legen uns in den noch warmen, mondbeschienenen Sand. Ein Lächeln umspielt meine Lippen. "Auf Glück", flüstere ich, "steht die Todesstrafe." Sandhüpfer kitzeln uns an den Sohlen. Eine Brise kühlt uns die Stirn. Ich habe für den Tod vorgesorgt. Mein Gedankenvorrat ist noch lang nicht erschöpft. Die Nacht unter meinen geschlossenen Lidern weicht einem neuen Tag.

Aus Schwarz wird Blau. Der Mond verblaßt. Du bist in mir, mein Kind. In eins verschmolzen, erwarten wir den ersten Sonnenstrahl. Vom Schauen trunken, klammern wir uns an die Worte. Das Wasser rötet sich. Ich denke: Blut. Denkst du wie ich? Oder hast du dir deinen Eigensinn auch im Tode bewahrt? Gib mir ein Zeichen! Schon schließt sich an der Nahtstelle zwischen Himmel und Erde die Wunde. Der Lichtkreis beginnt seine Bahn. Da du mir nicht widersprichst, nenne ich seinen Aufgang Geburt. Mein Kopf füllt sich mit Menschen. Sie sehen, als blickte ich aus großer Höhe auf sie herab, wie bewegliche Punkte aus.

Entlang der Strandlinie, die das Meer vom Festland trennt, sammeln sie sich. Zunächst wenige, dann immer mehr überschreiten die Grenze. Doch sie bleiben im Seichten. Nur einer wagt sich hinaus. Er kehrt nicht zurück. "Sein Leichtsinn", sagt man, "wurde bestraft." Ich nehme ihn in die Schar meiner Günstlinge auf. Wir sitzen an festlicher Tafel. In den Karaffen funkelt der Wein. Es glänzen die glasierten Kapaune. Der Wohlklang der Wörter entschädigt uns für den Verlust der Lebendigkeit. Wir wiederholen sie in Gedanken, bis wir einander berauscht in die Arme sinken.

Unsere Zahl übersteigt jedes Maß. Es gibt keinen Raum, der uns faßt. Die Welt ist ein Massengrab. Wie Schlafwandler, im Vergessen geübt, gehen die Hinterbliebenen ihren Geschäften nach. Kein Hahnenschrei weckt sie aus ihren Träumen. Im Taschenkalender sind die Termine notiert. Ein Vertragsabschluß steht bevor. Der nächste Krieg wird erklärt. Der Fahrplan wird eingehalten. "Denn alles", so sagen sie, "hat seine Zeit." Ich aber sage: "Mein Wille geschehe! Ich bin der Anfang und das Ende, die Ursache und die Wirkung zugleich." Im Klingelbeutel klimpern die Münzen. Der Organist zieht die Register.

Unbemerkt maßt sich der Denker an, Gott zu sein. Als Prediger mischt er sich unter seine Geschöpfe. "Was ich sage", verkündet er, "versteht ihr nicht. Wer ich in Wahrheit bin, werdet ihr nie erfahren." Der Ministrant schwenkt das Weihrauchfaß. Die Gemeinde singt das an dieser Stelle vorgesehene Lied. Jetzt oder nie, denke ich und reiße mir das Herz aus der Brust, damit sich die Kirche in ein Schlachthaus verwandle, in dem ich mich, ohne Anstoß zu erregen, ausweiden kann. Denn auffallen will ich nicht. Unkenntlich zwischen den Schweinehälften, werde ich ein Glied in der Nahrungskette.

Der Gourmet lobt meine Zubereitung. Freude erfüllt mich, da ich von Nutzen bin. Wie habe ich darum gekämpft! Wie habe ich mich verstrickt in ergebnislose Versuche! Das Einfache habe ich verkompliziert. In alle Richtungen habe ich vorgefühlt. Doch, mich auf die Speisekarte zu setzen, ist mir nicht eingefallen. Halleluja! Schon kommt das Dessert. Die Orgel braust. Der Weihrauch verzieht sich. Mein Jubel verhallt in den Eingeweiden. Still gehe ich den Weg allen verzehrten Fleisches. Die Leideform wäre hier fehl am Platz. Denn ich habe es ja so gewollt. Ich habe mich lustvoll geopfert.

Nun bin ich ein Haufen Kot. Zum Himmel fahre ich nicht, sondern hinab zu den Ratten. Bald werde ich Klärschlamm sein und, etwas später, als Brot, mit Marmelade bestrichen, wieder in einem Magen landen. So schließt sich der Kreis. Das Besondere steht für das Allgemeine. Die Geometrie ist meine Ersatzreligion. Die Gerade, die durch den Blickkontakt mit der Geliebten entsteht, durchschneidet das Unabänderliche. Ein Segment fällt heraus. Aber kann der Mensch vorsätzlich lieben? Nein, denke ich und verschlinge mit den Augen die verschlafene Frau, die mir zu Willen war.

Ihre Lippen kräuseln sich, wenn sie die Tasse zum Munde führt. Ihre Hände tanzen über dem Frühstückstisch. Traumwandlerisch sicher führt sie das Messer. Das Toastbrot knistert. Das Ei wird geköpft. Wie schmelzender Schnee verschwindet das Salz auf dem Dotter. Doch sie ißt und trinkt nicht. Hohl hinter ihrem berückenden Äußeren, täuscht sie das Kauen und Schlucken nur vor. Tut sie es mir zuliebe? Ein Tränenstrom reißt mich fort. Teilnahmslos warte ich, bis er versiegt. In sengender Hitze erhole ich mich von meinem Gefühlsausbruch. Die Sonne hat ein Mosaik in den Boden gezeichnet.

Die Kunst ist die Rettung. Selbstvergessen entschlüssle ich das Geheimnis der Formen. "Die Liebe", murmle ich vor mich hin, "ist eine Krankheit." Der Schweiß rinnt von der Stirn. Der Atem wird schwer. Die Aussicht auf eine aus dem Nichts sprudelnde Quelle mobilisiert meine letzten Kräfte. Ich will nicht genesen. Ich will nur noch eine Weile durchhalten im Reich meiner Hirngespinste. "Sie wollen, weil Sie müssen", raunt hinter mir eine Stimme. Ich drehe mich um und sehe in das lächelnde Gesicht eines Mannes, dessen Kopf, da der restliche Körper fehlt, in Augenhöhe zu schweben scheint.

Sein Alter ist schwer zu schätzen. Vielleicht steht er gekrümmt auf wackligen Beinen da. Vielleicht ist er nackt. Ich bin der Erfindungen müde. Mir genügt, daß er spricht. "Ich freue mich über jeden Satz, den Sie mir schenken", sage ich, "vorausgesetzt, daß er nicht gegen die Grammatik verstößt. Die Grammatik ist unsere einzige Stütze. Der Inhalt ist unerheblich. Wenn wir uns über Inhalte streiten, tun wir es, damit Sätze entstehen. Ein sogenanntes Streitgespräch dient einzig und allein der Produktion von Sätzen als Existenzbeweis. Wir existieren, weil wir eine Meinung vertreten, der wir zum Durchbruch verhelfen wollen. Verstehen Sie?"

Der Kopf nickt. Ihm ist ohne mein Zutun ein Hals, der in einem weißen Kragen steckt, angewachsen. Auch ein Krawattenknopf ist zu erkennen. So wandert kein Mensch durch die Ödnis, denke ich und verlege den Ort der Handlung in ein Hotelfoyer. Wir nehmen in einer gepolsterten Sitzecke Platz. Mein Gesprächspartner ist nun bis zur Hüfte komplett. Er trägt ein kariertes Sakko mit passendem Stecktuch. "Stimmen Sie mir zu?" frage ich. Er schüttelt den Kopf. Aber er sagt nichts mehr. Sein Schweigen löscht nach und nach die Umgebung aus, zuletzt auch ihn selbst. Ich weine ihm keine Träne nach.

Wer so große Erwartungen weckt und sie dann nicht erfüllt, der soll verschwinden. Ich streiche ihn aus meinem Gedächtnis. Aber ich weiß natürlich, daß es nicht in meiner Macht liegt, zu entscheiden, woran ich mich erinnere und woran nicht. Ich bin ja nicht blöd. Ich bin nur momentan etwas konfus. Ich könnte zum Beispiel nicht mit Gewißheit sagen, ob ich tot oder lebendig bin. Indem ich weiterdenke, überspiele ich meine Wissenslücke. Eine Tür öffnet sich. Ich trete über die Schwelle und stürze ins Bodenlose. Nun müssen mir Flügel wachsen. Oder fängt mich ein Engel auf? Mir wäre beides recht.

Meine Gleichgültigkeit zwingt mich zur Willkür. Ich werde ein leuchtender Stern. Das All ist jetzt mein Zuhause. Planeten umkreisen mich. Wir sind ein erforschtes System. Formeln ersetzen das Unwägbare. Sogar der Termin unseres Untergangs steht schon fest. In der Zeit bis dahin muß ich mich ganz verströmen. Denn allein durch den Selbstverlust strahle ich. Nichts, wofür es eine Bezeichnung gibt, darf von mir übrigbleiben. Ans Ende der Sprache muß ich gelangen. Mein Ende muß, damit ich Ruhe finde, mit dem Ende der Sprache zusammenfallen. Ich kann nur hoffen, daß das gelingt. Ich könnte auch beten, aber zu wem? Soll ich vor mir selbst niederknien?

Es ist lächerlich! Ein Gestirn, denke ich, kann nicht knien. Es kann auch nicht im Stehen und Sitzen beten. Aber ich mache mich ja gern zum Gespött. Ich lasse mich, damit die Zahl der von mir verwendeten Wörter wächst, auch gern kreuzigen. Jedes erdenkliche Wort wenigstens einmal gedacht zu haben, das ist mein Ziel. Dräuende Finsternis liegt über der Schädelstätte. Die Schächer hängen bereits. Die Soldaten entkleiden mich. Ich suche in meinem Wortschatz die Dornenkrone und stoße auf einen Lorbeerkranz. Den darf ich eigentlich nicht aufsetzen. Aber was kümmert mich das?

Ich breche das Martyrium ab und lasse mich feiern. Weiß gekleidete Mädchen streuen Blüten auf meinen Weg. Die Sonne lacht. Die Bäume schlagen aus. Ich möchte hüpfen statt gehen. Doch ich wahre die Haltung. Gemessenen Schrittes durchwandere ich die Natur. Knorrige Eichen verwandeln sich in schlanke Zypressen, Tümpel in Meere, Hügel in Felsgestade. Die Selbstbeherrschung, denke ich, macht sich bezahlt. "Disziplin" laute von nun an mein erstes Gebot. Ich zügle den Überschwang. Ich wappne mich mit Melancholie. Gedanken, die ich nicht gewagt hätte, mir zu erträumen, materialisieren sich. Es regnet Licht.

Das Blut meiner gesegneten Opfer versickert im Wiesengrund. Der Frühling zieht ins Land. Demütig folge ich der Spur meiner Worte. Die um mich trauern wollten, bleiben betrogen zurück. "Es gibt jetzt anderes zu beklagen!" rufe ich ihnen zu. "Seht dort, das verhungerte Kind, ein Labsal den Fliegen, die den Nektar verschmähen! Seine Augenhöhlen sind schon geleert. Füllt sie mit euren Tränen!" Zu mir aber sage ich: "Sei bereit für das Angenehme! Vergleiche es nicht mit dem Schrecken! Fürchte dich nicht vor der Bestrafung des Glücks!" Ein Landstreicher, der es hört, gesellt sich mir zu.

"Wer spricht aus dir?" fragt er. Statt zu antworten, tausche ich mit ihm die Gestalt. Sein Staunen auf meinem Gesicht bringt mich zum Lachen. Damit er sich nicht ausgelacht fühlt, umarme ich ihn. Die Hirngespinste lösen sich auf. Alles Phantastische schwindet. Wir suchen in unseren Hosentaschen nach Geld und legen das Wenige, das wir finden, zusammen. Es reicht für ein Mahl und eine Nächtigung. "Wir freuen uns auf den Hunger", sagt mein Gefährte. "Wir schieben die Sättigung so lang wie möglich hinaus." "Wir freuen uns auch auf die Müdigkeit", füge ich lächelnd hinzu.

Ist es mein Lächeln? Morgen, denke ich, nehme ich wieder Wohnung in mir. Den heutigen Tag überspringe ich. Denn die Zeit drängt. Minütlich entstehen, von mir nicht gewollt, neue Vokabeln, die ich mir aneignen muß. Was ist ein Spendeloch? Ich reibe mir den Schlaf aus den Augen. Um zwölf muß ich das Zimmer räumen. Der Blick aus dem Fenster überwältigt mich wunschgemäß. Ich wollte Berge sehen: oben das nackte Gestein, darunter das zunächst spärliche, dann sich verdichtende Grün der Kiefern, bis unvermittelt in einer Aussparung die erste Behausung erscheint. Sehnsucht erfaßt mich. Ich höre ein Klopfen. Mein Herzschlag setzt aus.

Mein Kamerad erschießt durch die verschlossene Tür einen Sterbenden. Doppelt hält besser, denke ich, beifällig nickend. Denn außer mir lobt mich niemand. So soll es sein! Ich brauche nur mich. Meine Gedankenkonstruktion trotzt dem Sturm der Gefühle. Nur da und dort bröckelt das Mauerwerk. Die Not ist der Mörtel, mit dem ich es repariere. Ja, die Not ist der Mörtel! Mich schüchtert kein Urteil ein, auch kein vernichtendes. Es kann ja nur das eigene sein. Durch die Selbstvernichtung ermögliche ich mir den nächsten Höhenflug. Mich aufschwingend halte ich Hochzeit mit mir.

Im Kerzenschein glühen die Wangen. Der Brautschleier entzündet sich. Das Haar steht in Flammen. Das Gesicht der jungen Frau wird entstellt. Ich habe ein reines Gewissen. Die Entscheidung, mich zu verstoßen, wird mir nicht angekreidet. Hemmungslos preist der Dichter das Schöne. Auf die Frage, nach welchen Kriterien er es vom Häßlichen sondert, erklärt er: "Es muß mich bezaubern. Weshalb, will ich nicht wissen. Indem ich mir das Denken verbiete, bewahre ich mir den Glauben an das Geheimnis. Schon die kleinste Übertretung wird geahndet mit unerträglichem Schmerz."

"Rigoros", sage ich, "wachst du über die Einhaltung des Denkverbots, bis du den treffenden Ausdruck für das Unsagbare gefunden hast. Dann aber fällst du ins Nichts." Ein Dritter mischt sich in unsere Unterhaltung ein. Ich höre ihn nicht, doch ich weiß, daß er spricht. Um den Preis meines Augenlichts tauche ich in seine Geräuschwelt ein. Aus ohrenbetäubendem Lärm filtere ich die Worte: "Auf schmalem Grat wandelt leichtfüßig der irrende Gott." Was soll das heißen? Wer ist dieser Dritte? Ich habe ihn zu kurz gesehen. Voller Ungeduld warte ich auf das Abebben des Höllenlärms, damit ich die Bilder im Kopf wieder betrachten kann.

Aus Nichts wird Etwas. So fängt es an. Ich denke: Gemach! Aber da stehe ich schon mit überfließenden Augen in einem Rosengarten. Wie im Zeitraffer folgt dem Erblühen das Welken, dem Welken das neue Erblühen. Ich kann es nicht fassen. In rasendem Wechsel alterniert mit dem Aufschrei der Farben die Stille. Es fallen und sprießen die Blätter. Der Augenblick des Knospens ist mir der liebste. Ihn zu verlängern, gelingt mir nicht. Ist das ein Vorgeschmack auf meine Entmachtung? Eben noch roch ich an Rosen, jetzt hauche ich Eisblumen an. Doch halt! Meine Freizügigkeit habe ich ja nicht eingebüßt.

Durch blitzschnelle Ortsveränderung bekämpfe ich die Vergänglichkeit. Als Physiker nenne ich mich das Licht in der Dunkelheit. Meine Forschungsergebnisse werden belächelt. Ich lasse mich dadurch nicht beirren. Zu gut habe ich mich diesmal auf meine Himmelfahrt vorbereitet. Schwerelos blicke ich auf mich herab. Die Entfernung vergrößert mich. Ich kann sogar in mein Inneres schauen. Ich sehe die Krankheitsherde. Da wächst ein Geschwür. Soll es doch wachsen, denke ich. Indem es mich zerstört, zerstört es zugleich auch sich selbst. Das gefällt mir. Das nehme ich in die Hitliste meiner besten Gedanken auf. Was nun kommt, ist Mittelmaß.

Ein Mann um die Vierzig tritt eine Geschäftsreise an. Hoch über den Wolken vergißt er das Reiseziel und verstopft sich, um nicht erinnert zu werden, die Ohren. Nach der Landung erkundigt er sich, wo er sei, und erhält von einer Auskunftsperson einen etwa handtellergroßen Plan, auf dem das Streckennetz der öffentlichen Verkehrsmittel verzeichnet ist. Seinen Standort hat sie mit einem Kreuz markiert. Er aber fragt weiter: "Warum bin ich hier?" Darauf bricht die Person in Gelächter aus und beginnt in einer Sprache, die ihm so fremd ist, daß er nicht einmal Anfang und Ende der Sätze, geschweige denn der Wörter, heraushören kann, auf ihn einzureden.

Sein Koffer dreht einsame Runden auf dem Förderband der Gepäckausgabe. Ich diagnostiziere mutwillig herbeigeführten Gedächtnisschwund und überlasse den Mann seinem verdienten Los. Ein anderer braucht meinen Beistand jetzt dringender. Er fühlt sich als erster Mensch. Nach Einsicht in seine Krankenakte entnehme ich ihm eine Rippe und verordne den Sündenfall. Die Operationsnarbe entwickelt sich zur erogenen Zone. Der Verlust erweist sich im nachhinein als Gewinn. Der Chirurg, mit Ehrungen überhäuft, verfällt dem Größenwahn. Ich habe mich rechtzeitig in mich zurückverwandelt.

Denn der freiwillige Irrsinn bringt nicht die Erlösung. Es muß schon ein Schicksalsschlag sein. Ich werde gebeten zu warten. Offenbar habe ich die Telefonauskunft angerufen. Ein Stechen in der Brust veranlaßt mich aufzulegen. So komme ich wieder ins Lot. Mit wachem Verstand benenne ich ein paar Gegenstände, die vor mir liegen: ein Bleistift, ein Feuerzeug, ein aufgeschlagenes Buch. Eine Seite nach der anderen streiche ich mit zwei kräftigen Strichen durch, reiße sie heraus und verbrenne sie. Als schwarze Flocken schweben die verkohlten Reste im Raum. Wie soll ich das meiner Zugeherin, die gleich, falls sie pünktlich ist, kommt, erklären?

Die Zerstörung, werde ich sagen, hat sich mir aufgezwungen. Hätte statt des Buches ein leeres Blatt Papier dagelegen, hätte ich den Bleistift zum Schreiben und das Feuerzeug zum Verbrennen des von mir Verfaßten benutzen können. So aber hatte ich keine andere Wahl. Die Gegenstände fordern ihr Recht. Ein Nagel will eingeschlagen, ein Panzerschrank geknackt, eine Frau... Nein, falsch! Eine Frau ist kein Gegenstand. Ich will mein gelehriger Schüler sein. Ein Feld muß nicht beackert, ein Berg nicht bestiegen werden. Nur auf einem beharre ich: Der Lebenszweck ist der Tod.

Aber auch das kann sich unter Umständen, die ich allerdings nicht erhoffen darf, ändern. Ich müßte mich in mich verlieben. Das ist mir in Gedanken jetzt so herausgerutscht. Hätte ich es ausgesprochen, schlüge ich mir, obwohl es stimmt, auf den Mund. Ich will nicht unabsichtlich die Wahrheit sagen. Ich will diplomatisch sein. Zerknirscht öffne ich der Aufwartefrau. "Nachtschwarzer Schnee", sage ich. Sie beginnt sofort mit der Arbeit. Ihr Kopftuch, ihre Schürze, ihr beim Staubsaugen gebeugter Rücken lösen ein unbeschreibliches Gefühl in mir aus. Ich muß die Wohnung verlassen.

Draußen ist alles beschreiblich: stumpfe Gesichter, Autoschlangen vor einer Kreuzung, gepflegte Rasenflächen. Ein Kotflügel wird beschädigt. Ein Ball rollt auf die Straße. Irgendwo schreit ein Kind. Was aber wird morgen auf den Titelseiten der Zeitungen stehen? Ich greife vor und lese: Tote Mutter gebiert Drillinge, die Opferzahlen steigen, das Land versinkt, die Bombardierung wird fortgesetzt. Was sagt man dazu? Ich bitte um Stellungnahme. Ist es schon sträflich, zu denken, was wirklich geschieht? Ich bin bereit zu jeder Entschuldigung. Es ist nicht nötig, mir den Prozeß zu machen. Aber natürlich finde ich mich auch mit dem Unnötigen ab.

Gerne trete ich als Kronzeuge gegen mich auf. Für straffrei erklärt, bringe ich mich hinter Gitter. Ein Erdbeben erspart mir die Folgen. Der Häftling stürzt in die Freiheit zurück. Mit den Verletzungen, die er sich zuzieht, muß er allein fertig werden. Denn das Rechtsgefüge geriet nicht ins Wanken. Die Naturkatastrophe führt zu einer beispiellosen Verbrecherjagd. Die umherliegenden Leichen sind nicht davon ausgenommen. Es könnte ja ein Straftäter darunter sein. "Jagd auf Tote?" fragen die Gazetten. Tags darauf wird das Fragezeichen durch ein Rufzeichen ersetzt. Ich aber mache hier einen Punkt und wechsle das Thema.

Das neue lautet: "Der Freitod." Es ist ein fließender Übergang. Ich habe mir abgewöhnt, große Sprünge zu machen. Ich umgehe die Sturzgefahr. Die Frage ist: Macht der Tod frei? Ich bin ja eine Kapazität auf diesem Gebiet, muß aber sagen: "Einen Unterschied zwischen Tod und Leben, der ins Gewicht fiele, habe ich nicht entdeckt." Die Kursteilnehmer sind davon wenig erbaut. Spontan ändere ich mein Konzept und behaupte, obwohl ich mich nicht mehr in Behauptungen flüchten wollte: "Der Tod ist die Befreiung vom Leben." Auf dem Vortragspult liegt, warum auch immer, ein Küchenmesser.

Um meine Ausführungen zu untermauern, stoße ich es mir ins Herz und zeige, da es zum Totenreich noch keine offene Grenze gibt, meinen Reisepaß. Der Grenzbeamte winkt mich anstandslos durch. An der ersten Raststätte ziehe ich das Messer heraus. Der Blutverlust ist gering. Mein Honorar habe ich verspielt, denke ich. Nun muß ich mich an den Verblichenen schadlos halten. Informationen aus dem Diesseits sind sehr gefragt. "Die Zahl der Paarungen sinkt", berichte ich. "Die Fortpflanzung weicht der Vervielfältigung. Seht euch doch an, was da über die Grenze kommt!" Gerade wird ein voll besetzter Bus angehalten.

Die Insassen werden zum Aussteigen genötigt und, um sie von den Gezeugten zu unterscheiden, mit Brandmalen versehen. "Ich kam", sage ich, mich auf eine Holzkiste stellend, damit man mich besser versteht, "getarnt als Unikum, ohne Kennzeichnung durch. Nun warte ich auf den Verrat." Mein Blick schweift über die Köpfe der Neugierigen, die sich um mich versammelt haben. Sie wenden sich einander betroffen zu. "Ich kenne den Verräter", fahre ich fort. "Ihn trifft keine Schuld. Ich habe ihn ja selbst ausgewählt." Von der Kiste herabsteigend, verwandle ich mich und werde unauffindbar.

Das heißt, ich finde mich selbst nicht mehr. Sicher ist nur: Ein Toter bin ich geblieben. Damit entfällt schon alles auf deutsch Weibliche. Auch ein Neutrum bin ich nicht, also kein totes Mädchen. Vielleicht bin ich ein Wald. Das Waldsterben erleichtert, zumindest bei Tag oder Vollmond, dem Verirrten die Orientierung. So hat auch das Bedauerliche sein Gutes. Eine Stadt wird dem Erdboden gleichgemacht, damit man sie wieder aufbauen kann. Ein Unrecht geschieht, damit sich die vermeintlich Gerechten empören können. Es muß den Schlächter geben, damit es das Unschuldslamm gibt.

Ist es nicht so? Ich wünschte, es wäre anders. Aber wo sind die Argumente, die mich, damit ich für meine Gedanken Abbitte leisten kann, widerlegen? Wo ist das Licht ohne Schatten? Ich bin zum Einlenken bereit. Andererseits sage ich mir, weil es mir sonst niemand sagt: Allein durch den Irrtum kommst du voran. Du mußt dich willentlich irren. Es genügt nicht, das Falsche zu denken. Du mußt daran glauben! Du mußt felsenfest davon überzeugt sein, daß es das Richtige ist. Du mußt dich vor der Hölle, die eine Küche ist, fürchten. Denn dort wirst du, wenn du nicht an sie glaubst, gebraten, jedoch nicht verspeist. Das ist die größte Erniedrigung.

Unnütz schmorst du im Höllenherd. Da stelle ich mich lieber den Häschern und erleide den Flammentod. Was aber geschieht, wenn ein Toter getötet wird? Ich nehme die Mathematik zu Hilfe und finde mich nach meiner Wiedergeburt als Made im eigenen Speck. Nun, so denke ich, ist es nur noch ein kleiner Schritt zurück zur Normalität. Ich werde mich wieder als Mensch unter Menschen fühlen und meinem Ende bangend oder gelassen, vielleicht sogar freudig entgegensehen. Ich werde einen Beruf ergreifen und mich in den Ferien unter südlicher Sonne bräunen. Wieder daheim, werde ich meine Freizeit sinnvoll gestalten.

Abends werde ich fernsehen und zum Einschlafen einen Kriminalroman lesen. Wenn mich frühmorgens der Gesang einer Amsel weckt, werde ich die Stunde, die ich dadurch gewinne, genießen. Als Erwerbsquelle schwebt mir eine Bürotätigkeit vor. Sprosse für Sprosse werde ich die Karriereleiter erklimmen und sanft in mein Dasein als Rentner fallen. Im Alter werde ich meinen zuvor vernachlässigten Hobbys frönen. Ja, so male ich mir meine Zukunft aus. Doch, oh Graus, mein Fleisch verfault! Die Sehnen erschlaffen. Ich muß schon froh sein, wenn ein Insekt aus mir wird. Aber welches?

Als seltener Käfer könnte ich einen Käfersammler erfreuen. Aufgespießt würde mir höchste Beachtung zuteil, die mich den Schmerz über die Lebensverkürzung vergessen ließe. Das wäre eine Möglichkeit, denke ich und verwerfe sie, bevor sie sich in einen Wunsch verwandelt. Denn das Wünschen will ich mir erst wieder gestatten, wenn ich mir der Erfüllung gewiß sein kann. Wunschlos harre ich der Dinge, die da kommen sollen. Das Blau fällt vom Himmel, das Grün von den Bäumen, das Rot von den Dächern der Dörfer, die wie Nester zwischen den Hügeln liegen. Alles vermischt sich. Die Konturen verschwimmen, bis nichts Gegenständliches mehr erkennbar ist.

Nun muß ich, um zur Welt zu gehören, ein Farbton werden. Das leuchtende Rapsgelb, das ich als Knabe für einen Abglanz der Sonne hielt, wäre mich recht. Aber ich darf es nicht wünschen... Zu spät! Schon bin ich ein schwarzer Klecks inmitten der Buntheit, winzig zunächst, doch rasch wachsend, ein gefräßiges Ungeheuer, dem ich nicht Einhalt gebieten kann. Nur das Weiß widersteht mir. Dazu verdammt, es auszulöschen, hoffe ich auf seine Kraft. Das Böse will das Gute, sage ich mir. So ist es ja immer. Die Befolgung der Naturgesetze wird nicht bestraft. Die Gegensätze verschmelzen.

Das graue Einerlei birgt die Chance zu einem Neubeginn. Aus Dunst wird Gewölk. Ein Gewitter entlädt sich. Der ausgetrocknete Boden trinkt das ersehnte Naß. Die Samen platzen. Die Keimlinge schießen empor. Die Wortwahl beweist, daß ich gerettet bin. Rot ist der Mohn, grün ist das Laub, blau sind die Wolkenlücken, die sich im stehenden Wasser spiegeln. Auf räumliche Tiefe verzichte ich. Schattenlos tunkt eine Trauerweide ihr Geäst in den See. Die Dorfkirche paßt in die Hosentasche des Fischers. Sein Kahn teilt das Gebirg. Ich will damit sagen: Es gibt keinen Vorder- und Hintergrund.

Es gibt, sobald das Bild an der Wand hängt, nur die Höhe und Breite. Ich mache das beste aus meinen bescheidenen Fähigkeiten. Ich löffle aus, was ich mir eingebrockt habe. Statt ins Gras zu beißen, gebe ich lieber den Löffel ab. Haha, ist das lustig! Ich versuche zu lachen. Es kommt aber ein Wiehern aus mir heraus. Bin ich ein Pferd? Sorgfältig rekapituliere ich, wie ich auf diesen Gedanken kam, und erkenne: Er ist vernünftig. Noch bin ich nicht übergeschnappt. Die Peitsche knallt. Ich trabe los. Vom Trab falle ich in den Galopp. Die Mähne fliegt. Die Nüstern dampfen. Ich schöpfe aus dem vollen.

Erst bei Anbruch der Dämmerung werde ich abgeschirrt. Das Dichten, denke ich, ist eine Fron, die kein Nachlassen duldet. Jedes Wort muß seinen Platz gegen zahllose andere Wörter, die es verdrängen wollen, behaupten. Das Pferd steht jetzt im Stall und sieht den Stallknecht mit traurigen Augen an. Der holt sein Glied aus der Hose und onaniert auf das Stroh. Mit anderen Worten: Er legt Hand an sich. Zwei Tage später tut er es noch einmal mit nun tödlichem Ausgang. Mir geht das nah. Ich nehme die Folgen meiner Einfälle nicht mehr so ungerührt hin wie zu der Zeit, da ich allmächtig war.

Ich leide mit meinen Geschöpfen und erlöse sie durch den Tod. Der unglückliche Stallknecht wird nicht auferstehen. Aber er lebt in der Erinnerung. Die Pferde haben ihn geliebt, auch die Kühe und Schweine. Seinen Nachfolger lehnen sie ab. Der Mensch ist nicht austauschbar. Ich habe lange gebraucht, um das zu begreifen. Was sich von selbst versteht, ist mir am schwersten verständlich. Die Poesie, tröste ich mich, bedarf keiner Erklärung. Kuß reimt sich auf Koitus. Nur ein bis zwei Verse liegen dazwischen. Ich spare sie mir und lasse dem Trieb freien Lauf. Die Haarspange verrutscht. Die Brüste hüpfen.

"Hat noch jemand Lust?" frage ich. "Es sind noch Öffnungen frei." Die Schaulustigen entfernen sich. Hätte ich sie Lüstlinge genannt, wären sie auf mein Angebot eingegangen. So genau bin ich. Die Genauigkeit ist meine Leidenschaft. Wer mir einen Fehler nachweisen will, der erhebe sich, damit wir unsere Standpunkte darlegen und den Sieger ermitteln können. Wem als erstem die Stimme versagt, der hat verloren. Ich fange an. Aber ich rede nicht, sondern schreie. Meine Atemtechnik habe ich so perfektioniert, daß ich mich nicht unterbrechen muß. Ich kann auch beim Luftholen schreien.

Der Widerhall ist mein Gegenspieler. Um nicht den kürzeren zu ziehen, lasse ich eine Wand nach der anderen bersten, Häuser, Wälle, Gebirgsmassive. Es nützt alles nichts. Ich gebe mich meinem Echo geschlagen. Die Welt ist jetzt ein Trümmerfeld durch meine Schuld. Wodurch aber wurden die Schallwellen zurückgeworfen, als kein Stein mehr auf dem anderen lag? Wer treibt seinen Scherz mit mir? Ich muß an ihn glauben, ob ich will oder nicht. Mein Glaubensbekenntnis ist ein schallendes Lachen. Endlich gelingt es mir. Ich kann mich kaum halten. Überall liegen Körperteile.

Hier wurde ein Kopf zerquetscht. Das Hirn trat aus. Dort ragt eine beringte Hand aus dem Morast. Ich lache mich tot. Nun, denke ich, kann mich nichts mehr erschüttern. Ich glaube an das Blut, das den Boden tränkt. Ich glaube an das Messer im ausgestochenen Aug. Ich glaube auch an die Ruhe nach dem Sturm und die Kirschblüte im Mai. Ich bin bekehrt. Meine Botschaft lautet: Es muß alles so sein, wie es ist. Das Pferd grast auf der Koppel. Die Schafe blöken im Pferch. Die Hühner gackern. Die Schweine grunzen. Wie Muschelschalen schwemmt das Meer der Sprache die Sätze an.

Es ist aber auch selbst Teil eines Satzes. So zeugt das Denken sich fort. Mein Hirn hat unbegrenzt Speicherplatz. Auch das Vergessene geht nicht verloren. Verwandelt kehrt es wie etwas Neues wieder. Ich lasse mich, damit ich neugierig bleibe, täuschen. Denn nur die Neugier hält mich in Schwung. "Was kommt als nächstes?" frage ich mich und warte. Eine Stechmücke läßt sich auf meinem Handrücken nieder. Voll Entzücken beobachte ich das Anschwellen ihres zierlichen Körpers. Geschwächt vom Genuß, setzt sie zum Abflug an. Da schlage ich zu. Plattgedrückt klebt sie nun auf meinem Blut.

Weil ich den Schmerz in Kauf nahm, gab es für sie kein Entrinnen. Hätte ich sie, denke ich, während ich, meinen Ekel überwindend, die Hand ablecke, vor dem Saugen getötet, wäre es Notwehr gewesen. So war es Rache. Ich schlucke den Kadaver hinunter und freue mich über den sprachlichen Zugewinn. Bienen surren von Blüte zu Blüte. Eine Hummel trumpft auf. Eine Heuschrecke gibt sich durch einen Sprung zu erkennen. Ich aber warte schon wieder. Das Warten ist eine interessante Beschäftigung. Es zwingt mich, das Gefühl, das die Leere im Kopf erzeugt, zu benennen. Ich sage: "Angst."

Das Wort spaltet mich wie eine Axt. Ich denke: Scheit. Dann: Atom. Doch weder werde ich verfeuert noch zur Energiegewinnung herangezogen. Der Zauberkraft meiner Gedanken beraubt, befehle ich mir: "Hör auf, zu warten! Steh auf und geh!" Offenbar sitze ich. Der Boden ist feucht. Das Aufstehen erscheint mir naheliegend. An der bis zu meinem Standort führenden Schneise im hohen Gras erkenne ich, woher ich gekommen bin. Der Weg zurück ist der sicherste, sage ich mir und stapfe los. Die Wiese grenzt an einen Acker, in dem ich meine Spur bis zu einer Landstraße weiterverfolgen kann.

Am Straßenrand steht ein weißer Mercedes. Obwohl ich mich nicht entsinne, je einen Mercedes besessen zu haben, greife ich in meine Jackentasche und finde den Autoschlüssel. Im Handschuhfach entdecke ich meinen Führerschein. Staunend lese ich, wo ich wohne. Um die Freude, ein Ziel zu haben, noch eine Weile auszukosten, kehre ich in das nächste Wirtshaus ein und betrinke mich. Im Vollrausch will ich meine übersinnlichen Fähigkeiten aufs neue erproben. Wankend verlasse ich das Lokal, steige in den Mercedes ein und rase gegen einen Kastanienbaum. Das Auto explodiert. Ich verbrenne.

Meine verkohlten Überreste werden noch zusätzlich eingeäschert. Bei dieser Gelegenheit erfahre ich, daß ich verheiratet und Vater einer zwölfjährigen Tochter bin. Die Verwandtschaft erscheint vollzählig zur Trauerfeier. Meine Frau wird von meiner Tochter gestützt. Man spielt meine Lieblingsmusik. Ich bin gerührt. So schamlos habe ich mein Selbstmitleid noch nie ausleben können. Ungeklärt bleibt, warum ich an jenen Ort, an dem ich das Gedächtnis verlor, gefahren bin. Was wollte ich dort? Unsterblich bin ich jetzt wieder, allwissend nicht. Mein nächster Tod soll ein sanftes Entschlafen sein.

Die Familie, am Sterbebett wachend, lauscht meinen Gedanken, die ich nun nicht mehr für mich behalte. "Nur der Schlaf", sage ich, "bringt mich zum Schweigen. Denn schlafend denke ich nicht. Träume sind keine Gedanken. Ein Stuhl ist kein Tisch, ein Spiegel kein Spiegelbild. Im Ausschlußverfahren gelange ich zu den Gewißheiten, auf die ich mich stütze. Eine Rose ist keine Tulpe. Die Nacht ist kein Tag, die Nacht, die Nacht..." Drei Punkte sind kein Gedankenstrich. Aber die Ewigkeit ist ein Augenblick. Nur als Toter, denke ich, bleibe ich jung. Es muß ja nicht jeder Einfall geprüft und benotet werden.

Im Unsinn verbirgt sich der Sinn. Der Teufelspakt muß nicht geschlossen werden. Der Denker ist jetzt autark. Doch den Wunsch nach Umnachtung kann er sich nicht erfüllen. Denn ein Fisch kann nicht ertrinken, ein Baum nicht sich selbst entwurzeln, ein Stein nicht versteinern. Die Aufzählung des Unmöglichen muß fragmentarisch bleiben. Die Vollkommenheit ist eine Illusion. Indem ich sie anstrebe, ermögliche ich mir das Scheitern. Je höher ich hinauswill, desto tiefer werde ich fallen. Mein Ideal ist der endlose Sturz. Noch fehlt mir der Mut dazu. Noch kehre ich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Kriechend suche ich mein Heil in der Genügsamkeit. Zum Kriechen bin ich geboren. Daran ändert sich auch durch das Sterben nichts. Der Geistesabfall ist meine Nahrung. Ich glaube an den Allmächtigen, der ich sein werde, sobald ich mich selbst überwinde. Das stammt nicht von mir. Mit meiner Weisheit am Ende, übe ich mich in der Kunst, fremdes Gedankengut einzuflechten. Wer es merkt, darf mich um einen Kopf kürzer machen. Denn ich habe jetzt mehrere Köpfe. Wie eine Primel schaue ich aus. Oder soll ich sagen, ich bin eine Primel? Wer würde es hören? Ich sehe niemanden.

"Ist da eine Menschenseele?" rufe ich. "Macht euch nicht unsichtbar! Stellt euch nicht taub! Laßt mich nicht so allein mit meiner Kunst!" Da hebt ein Gewisper wie von Tausenden an. Es rauscht im Blätterwald. Ich vertiefe mich in die Lektüre und stelle fest: Ich bin nicht der, für den man mich hält. Ich habe nicht Wasser in Wein verwandelt und auch keinen Lahmen geheilt. Es liegt eine Verwechslung vor, an der ich nicht schuldlos bin. Nun muß ich versuchen, die fälschlich in mich gesetzten Hoffnungen zu erfüllen. Abrakadabra! Alles, was Beine hat, marsch! Wer aus der Reihe tanzt, wird zum Leben erweckt.

So straft der Erlöser die unbotmäßigen Toten. Ich aber beharre darauf, eine Blume zu sein. Der Schnitter läßt Gnade walten. Ich werde bestäubt, denn bis zum nächsten Gedankensprung bin ich weiblich. Die schwangere Frau, die am Wegesrand den Soldaten winkt, ist meine Geschlechtsgenossin. Sie stellt sich, um den Gatten noch einmal zu sehen, auf die Zehenspitzen. Ich frage mich: Gibt es Witwen im Jenseits? Sicher ist: Geburten sind Totgeburten. Die Ausnahme bestätigt die Regel. Der einer Leiche entnommene Säugling ist vom ersten Atemzug an ein Hinterbliebener. Er hatte, wie man so sagt, Glück im Unglück.

Der Volksmund läßt in diesem Punkt keinen Zweifel zu. Mir aber kommt ein Fall aus meinem Bekanntenkreis in den Sinn. Da konfrontierte ein Selbstmörder in seinem Abschiedsbrief die verzweifelte Mutter mit folgendem Irrealis: "Hättest Du mich abgetrieben, hätte ich mich nicht umbringen müssen." Anstelle des letzten Wortes hatte der kaum dem Jünglingsalter Entwachsene zunächst "können" geschrieben, dann durchgestrichen und durch "müssen" ersetzt. Nach dem Grund, der ihn zu jener Korrektur veranlaßt habe, befragt, erklärte er mir: "Der Mensch kann wie auch das Tier und die Pflanze nur tun, was er muß."

Wir wandelten durch das Elysium. Über den Handgelenken des Ausgebluteten konnte ich noch die Einschnitte sehen. Ja, richtig! Er hatte sich die Pulsadern durchtrennt. "Es gibt keinen Unterschied zwischen Tat und Geschehen", sagte er. "Zur Passivität verdammt, handeln wir ferngesteuert." "Auch im Tod?" fragte ich. Da drehte er seine Handflächen wortlos nach oben und begann wieder zu bluten. Genau so war es. Ich könnte schwören. Aber ich stehe ja nicht vor Gericht, sondern liege zwischen Unrat in einem Abfallkübel. Die letzten Tage habe ich in einer Vase auf einem Küchentisch zugebracht... Nein, es war keine Vase!

Es war, damit auch dieses Wort einmal vorkommt, ein Gurkenglas. An dem Tisch sitzt jetzt ein Knabe und spielt mit Zinnsoldaten. Einen Getroffenen wirft er mit seiner zarten Kinderhand um, wodurch, da die Figuren nah beieinander stehen, auch andere fallen, so daß es so aussieht, als würden durch einen Schuß mehrere niedergestreckt. Nach der Schlacht werden die Toten neu aufgestellt. Die Mutter schlägt ein Ei in die Pfanne. Der Vater kommt von der Arbeit. Mir aber fällt, um meine Untätigkeit zu beenden, nichts besseres ein, als mich mit dem anderen Abfall in den Müllschlucker zu schütten.

Während ich durch den Müllschacht nach unten stürze, stehe ich zugleich mit dem leeren Kübel im Treppenflur. Noch bin ich beides: Abfall und Mensch. Erst, wenn ich den Kübel abstelle, denke ich, werde ich mich entschieden haben, nur Mensch zu sein. Da tritt eine junge Frau aus dem Fahrstuhl und grüßt mich freundlich. Statt den Gruß zu erwidern, stürze ich mit dem Kübel die Treppe hinunter. Denn es gibt für alles mehrere Lösungen. Es gibt aber, das habe ich gelernt, kein Zurück. So sehr auch die Zahl der Sterblichen wächst, die Zahl der Verstorbenen wird sie nie übertreffen.

Der Wanderer zwischen den Welten behält den Überblick. Taumelnd von Satz zu Satz, verliert er das Ziel nicht aus den Augen. "Vorwärts!" befiehlt er sich und gehorcht. Die Willenskraft durchpflügt den Schicksalsozean. Der Bug teilt den Kamm und das Tal. Die Verknappung wertet das Überflüssige auf. Das Wesentliche wird, damit sich das Denken entfalten kann, unterschlagen. Das heißt: Ich stelle mich dumm. Obwohl ich weiß, wo ich bin, blicke ich mich verwundert um. Staunend betrachte ich den Sammelbriefkasten, auf den so, daß er schimmert wie Gold, das Morgenlicht durch die gläserne Haustür fällt.

Rechter Hand führt die Kellertreppe ins Dunkel. Als Kind fürchtete ich mich davor. Doch auch für den schon Pubertierenden war es eine Mutprobe, hinabzusteigen, um Koks und Briketts zu holen. Damals, denke ich, damals... Den Abfallkübel habe ich unter den Briefkasten gestellt. "Laß keine Masche fallen!" sagte die Mutter zur Schwester. Ein Fernsehgerät besaßen wir nicht. Die Fußballweltmeisterschaft sah ich mir bei den Nachbarn an. Die Nachbarin war meine erste Liebe. Sie wäre jetzt, wenn ich nicht irre, hundertfünf Jahre alt. Mein Informationsstand paßt sich meinen Eingebungen an.

Meine zweite Liebe war eine Schuhverkäuferin, meine dritte bereits nicht mehr von dieser Welt. Das Erdgeschoß verschwimmt hinter einem sich verdichtenden Tränenschleier. Aus einem der oberen Stockwerke höre ich Stimmen. Hals über Kopf trete ich die Flucht in eine erfundene Zukunft an. Die Tür fällt hinter mir zu. Ich sehe nach rechts und nach links. Die Gebäude im Umkreis sind durch einen Bombenangriff zerstört. Ich drehe mich um. Auch von dem Haus, in dem ich meine Kindheit verbrachte, stehen nur Mauerreste. Mein Entsetzen ist gut gespielt. Oder bin ich wirklich entsetzt?

Kann etwas Erfundenes den Erfinder entsetzen? Die in den Ruinen Umherirrenden beachten mich nicht. Ich kann sie nach Belieben beglücken. Ein kleines Mädchen findet im Schutt seine Puppe. Eine alte Frau gräbt ihren noch atmenden Enkel aus. Einsam zwischen all den Getäuschten, beobachte ich, wie sie sich an das Wenige klammern, das ihnen blieb. Manchen blieb nur das nackte Leben. Das müssen sie nun gegen Hunger und Durst und gegen die Kälte schützen. Ich reiße mir Löcher ins Hemd und lasse mir ein Stück trockenes Brot, das vom Himmel fiel, schmecken. Der Himmel ist der Schnürboden, denke ich.

Der Schauspieler fällt, wenn er denkt, aus der Rolle. Er hat es in der Schauspielkunst zur Meisterschaft gebracht. Doch die Gedanken der Figur, die er spielt, kennt er nicht. Das Stück Brot wurde zum vorgesehenen Zeitpunkt herabgeworfen. Ich tat so, als überraschte mich das Erwartete. "Ein Wunder!" rief ich. "Ein Wunder!" Die Zuschauer lachten. Da wurde mir warm ums Herz. Ich aß das Brot mit wirklichem Genuß. Die Grenze zwischen Spiel und Wirklichkeit ist aufgehoben. Der Blutzoll wurde nicht umsonst entrichtet. Ich verneige mich vor den mir zujubelnden Opfern.

Tief in mir aber regt sich, unbezähmbar, der Drang zu neuen Greueltaten. Immer wieder muß ich mich schuldig machen, damit ich bereuen kann. Jedes Unheil, das ich heraufbeschwöre, muß das vorige in den Schatten stellen. Nur durch die Steigerung verhindere ich die Wiederholung. Der Jubel verebbt. Ich trete ab und gebe ein Interview. "Die Tragödie ist in Wahrheit eine Komödie", sage ich. Der Interviewer nickt, denn das hat er schon oft gehört. Was viele sagen, spricht für sich selbst. Er braucht es nicht zu verstehen. Er sammelt Sätze und füllt damit die Minuten, die ihm in der Kultursendung für das Interview zur Verfügung stehen.

"Es geht ja", sage ich, "im Fernsehen wie auch im Leben immer nur um das Ausfüllen von Zeit." Nun ist der Interviewer verwirrt. "Mein Ziel", fahre ich fort, "ist die Geistesverwirrung. Indem ich Sie verrückt mache, muß ich es selbst nicht werden. Der Irrsinn, in den ich Sie treibe, erspart mir den eigenen. Die Schwierigkeit dabei ist, daß es Sie gar nicht gibt. Ich spreche mit mir selbst." "Ich höre Ihnen zu", sagt da zu meiner Verblüffung der Interviewer. "Sie sprechen in mein Mikrophon. Das Tonbandgerät nimmt Ihre Sätze auf."

Da ich schweige, fügt er hinzu: "Die Kamera ist auf Sie gerichtet. Der Kameramann hält Ihren Gesichtsausdruck und, wenn er will, Ihre Bewegungen fest." Gut so, denke ich. Die Szene mit dem Interviewer ist mir gelungen. Ich werde jetzt öfter Gespräche führen. Die Zahl der Teilnehmer werde ich von Mal zu Mal behutsam erhöhen, bis schließlich sämtliche Personen, die ich in mir vereine, in einer Gesprächsrunde beisammensitzen. Zuvor jedoch muß ich, dem Drang gehorchend, eine Untat begehen. Diesmal ist es ein aus reiner Lust am Bösen angeordneter Massenmord. Auf die Einzelheiten komme ich später zurück.

Denn schon sind die ersten Diskutanten, der Seiltänzer, der Priester und die Nymphe mit dem goldenen Haar, eingetroffen. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt. "Wie schön", sage ich zur Begrüßung, "Daß ihr mich nicht vergessen habt!" "Kommen noch mehr?" fragt der Priester. Da fällt mir der schwarze Bauer ein. Er ist aus dem Schachspiel ausgebrochen. Jetzt sind wir zu fünft. Auf der Tagesordnung steht die Befriedung der Welt. Der Seiltänzer schlägt vor: "Wir erklären einfach alles zur Kunst." "Ja, Kriegskunst", werfe ich spöttisch ein. Der Priester ruft: "Nächstenliebe!" Der Bauer: "Revolution!"

Die Nymphe, die verträumt am Ende des Tisches sitzt, hebt leise mit singender Stimme an: "Die Meeresspiegel steigen. Was anfängt, setzt sich fort. Das Hohe verliert an Bedeutung. Das Weibliche ist tief." Von ihren Worten ergriffen, zerfalle ich zu Staub. Nun kann ich aufgewischt und ausgeschüttelt werden. Ich kann mich aber auch in eine Redensart retten. Mein Verschwinden, denke ich sprachverliebt, wirbelt mich auf. Die Sprache ist jetzt meine Geliebte. Liebestrunken werfe ich einen Konsonanten nach dem anderen ab, bis nur der Zwielaut "au" von mir übrig bleibt.

Endlich bin ich, zumindest dort, wo man deutsch spricht, in aller Munde. Im herbstlichen Laub komme ich vor, im Morgentau auf den Wiesen, in der vergötterten Frau, aber auch in der geschändeten. Einerseits machtlos, andererseits unverzichtbar, füge ich mich in das Schöne und in das Schreckliche gleichermaßen. Geschehen muß es ja nicht. Man kennt es vom Hörensagen. Es gab, wird erzählt, eine Zeit, da fiel das Laub von den Bäumen. Wie Boote auf unruhiger See schaukelten die Blätter im Wind. Nachts legte sich Tau auf die Wiesen. Die Morgensonne färbte ihn rot...

Eines Tages, setze ich, daran anknüpfend, fort, saß im roten Morgentau unter einer entlaubten Eiche eine blutende Frau. In den Händen hielt sie ein aufgeschlagenes Buch. Sie las meine Sätze. Die Beine hatte sie ausgestreckt. Das Kleid war über die Knie gerutscht. Nacktschnecken hinterließen auf ihren weißen Schenkeln eine schleimige Spur. Sie las, daß sie starb. Denn daran dachte ich. Ich konnte an nichts anderes denken. Ich versuchte es mit aller Kraft. Ich schnitt mir ins Fleisch. Ich schrie. Es half nichts. Ihr Kopf sank auf die Brust. Der Wind blätterte noch eine Seite um.

Jetzt nimmt sie auf der Friedenskonferenz meine Stelle ein. Der Männerüberschuß schrumpft. Der von einer Fichte erschlagene Holzfäller muß sich, wenn er teilnehmen will, in einen Hermaphroditen verwandeln. Vielleicht geht er noch einen Schritt weiter und wird, um Parität herzustellen, zur Holzfällerin. Ich werde das ihm überlassen. Indem ich das Schicksal meiner Geschöpfe in ihre Hände lege, gebe ich die Last der Verantwortung ab. Nur für die eigenen Taten muß ich geradestehen. Der Massenmord war ein Amoklauf. Ich mischte mich, bis an die Zähne bewaffnet, während eines Kinobesuchs in die Filmhandlung ein und schoß wild um mich.

Als Zuschauer hätte ich mein Verlangen nicht stillen können. Ich wollte ins Licht. Einem nicht tödlich Getroffenen, der sich totstellte, blies ich mit einem gezielten Schuß das Hirn aus dem Kopf. Das Publikum war davon angetan. Geschützt durch die Schurkenrolle, befriedigte ich meinen Trieb. Daraus ergibt sich folgende Lebensregel: Der Mensch, den ein Gelüst überkommt, muß nur rechtzeitig in die dazu passende Rolle schlüpfen. Sie rechtfertigt, sofern er sie gut spielt, sein Handeln. Er darf sich nicht zu viel zutrauen, aber auch nicht zu wenig. Ich weiß, was ich kann.

Mein nächster Auftritt inspiriert mich zu einem Ratespiel. Ich bin männlich, allerdings immateriell, obwohl gelegentlich abgebildet. Aus mir wird man nicht klug. Das macht meine Wirkung aus. Ich bin die Verkörperung des Unmöglichen. Wer mich errät, soll es, um den anderen nicht den Spaß zu verderben, für sich behalten. Es hat ja jeder seine eigene Sicht der Dinge. Dem einen ist ein aufregendes Leben wichtig, dem andern die unsterbliche Seele. Mich kann schon das Aufblicken einer weidenden Kuh erfreuen, wenn ich in Menschengestalt am Weidenzaun stehe. Ich gebe mich mit den kleinen Freuden zufrieden.

Das Große ist mir irreparabel mißlungen. Ich schäme mich vor denen, die es ausbaden müssen. Mein Richteramt habe ich aufgegeben. Aber das soll niemand wissen. Still ertrage ich die mir entgegengebrachte Ehrehrbietung. Sie tröstet die Ahnungslosen. Doch meine Sympathie gehört jenen, die es wagen, mich zu verfluchen. Es sind nur wenige, und von den wenigen flucht kaum einer öffentlich, zum Beispiel dieser da: ein hochgewachsener, ungefähr dreißigjähriger Mann, etwas schlampig gekleidet. Er steht an einem künstlichen Weiher inmitten einer gepflegten Grünanlage und wirft den schnatternden Enten Brotkrumen zu.

Ich stelle mich unsichtbar neben ihn. Er füttert die Enten und verflucht sie zugleich. In seinen Verwünschungen erkenne ich meine Verzweiflung. Wir teilen sie brüderlich wie ein Stück Brot, das letzte, das uns geblieben ist. Der Weiher vereist. Der Park wird winterlich. Man wird uns erfroren finden. Erst als Leiche werde ich wieder zu Fleisch und Blut. Der Tod macht mich menschlich. Er haucht mir, denke ich, Leben ein. Denn meine Gedankenfreiheit ist ab sofort grenzenlos. Vor Gott und der Welt verkünde ich das Ende aller sprachlichen Logik. Anläßlich meiner Bestattung halte ich eine bewegende Trauerrede.

Danach schütte ich auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole, Erde auf meinen Sarg und kondoliere mir. Meine Gedanken sind Variationen über ein Thema, das ich mir nicht ausgesucht habe. Wer meint, hier einen Widerspruch zu entdecken, hat recht. Ich bitte höflich um Nachsicht. Es liegt mir fern, die Wohlmeinenden vor den Kopf zu stoßen. Sie sind mit ihrem Dünkel genug geschlagen. Geduldig höre ich ihnen zu und bedanke mich. So werden sie immer dümmer. Die Dummheit ist das Haus, in dem sie es sich bis zur nächsten Katastrophe gemütlich machen. Aber warum rege ich mich so auf?

Cool down, sage ich mir und falle zum erstenmal aus meiner Muttersprache. My loneliness is my castle. Der Zutritt ist jedem, in den ich mich nicht verwandle, verwehrt. In meinen zahlreichen Gästezimmern ist nur Platz für mich. Ich bin zu Kompromissen nicht aufgelegt. Ich schließe mich ab, obwohl mein Haus keine Wände hat, keine Türen und Fenster und keine Schlösser. Es hat auch kein Dach und keinen Boden. Ich brauche nichts über und unter mir. Heißt das, ich schwebe? Oder soll ich meine Gedanken, kaum fühle ich mich dem Leben zurückgegeben, politisch deuten?

Bin ich mir selbst untertan? Bin ich Herr über mich? Es wäre ja nur eine Herrschaft auf Zeit. Ich unterdrücke und stürze mich. Abdankung kommt nicht in Frage. Der Gestürzte wird exekutiert und zieht sich in seinen privaten Tod zurück. Da kann er mit seinem Wortreichtum protzen. Umweht vom Todeshauch, behauptet er, verzichte er auf das Atmen. Die Lunge hat ausgedient. Das Herz wird als Reliquie verehrt. Die Augen zerfließen. Die Lippen schmachten nicht mehr. Die Stimme, sagt er, fliege ihm aus dem Äther zu. Er verwende sie manchmal zum Schweigen. Jetzt aber rede er. Der Redefluß wasche die Wunden aus...

Und was sagt er noch? Ich bin eingeschlafen. Unverzagt mache ich von meiner neuen Freiheit Gebrauch. Die Toten leben! Die Schläfer denken! Die Sprache ist ein Fleischwolf, in den ich mich werfe, damit aus mir eine formbare Masse wird, die sich den Umständen anpaßt, die ich erfinde, um mich von mir abzulenken. Ein Schmerz weckt mich auf. Mir wird eine Inschrift, als wäre ich aus Stein, in die Stirn gemeißelt. Ich halte still. Erst als das Hämmern aufgehört hat, richte ich mich auf und sehe in meinen Taschenspiegel. Da ich die Schrift nicht entziffern kann, frage ich den Nächstbesten, der mir begegnet:

"Können Sie mir sagen, was mir im Gesicht geschrieben steht?" Der Mann versteht mich nicht. Ich zeige auf meine Stirn. Da wendet er sich ab und geht seiner Wege. Der zweite, dem ich begegne, küßt, nachdem er die Inschrift gelesen hat, meine Hand und entfernt sich im Rückwärtsgang. Der dritte führt mich zu seinem Haus und bittet mich einzutreten. Verschleierte Frauen entkleiden mich und versetzen meinen Körper mit ausgesuchter Zärtlichkeit in einen Zustand höchster Erregung. Kurz vor dem Orgasmus trete ich aus mir heraus und stelle fest, daß ich die Lage falsch eingeschätzt habe.

Eine der Frauen trennt mit einem Küchenmesser meinen rechten Arm von der Schulter, eine andere den linken, und so ginge das weiter. Ich werde tranchiert. Nein, denke ich, das ist zu viel! Nicht alles, was mir einfällt, muß ich mir gefallen lassen. Entschlossen breche ich meine Zerstückelung ab, will aber die Amputation vorerst nicht rückgängig machen. Zwar kann ich ohne Arme weder schreiben noch masturbieren noch jemanden eigenhändig ins Jenseits befördern. Ich kann zum Beispiel auch keinem Taxi winken. Doch in der Straßenbahn steht mir der Sitzplatz für Behinderte zu.

Den Behindertenausweis brauche ich nicht vorzuzeigen. Mein Äußeres stimmt mit dem Inneren überein. Meine Hilfsbedürftigkeit springt ins Auge. Listig schenke ich den Unversehrten das Gefühl der Überlegenheit, damit sie sich dankbar erweisen. Die Zeit der Invalidität, werde ich später sagen, war meine glücklichste. Jetzt aber muß ich rasch jemanden finden, der mir die Hose öffnet. Auch das Essen mit den Füßen habe ich noch nicht gelernt. So werde ich wieder zum Schüler. Die mich unterrichten, nenne ich Liebende, obwohl ich weiß, daß sie nur mit ihrem Mitleid auftrumpfen wollen.

Mein Wissen treibt mich ins Unglück zurück. Ich bin wiederhergestellt. Man drückt mir ein Gewehr in die Hand, das ich zweckentsprechend benutze. Die Hasen, die ich treffe, überschlagen sich. Die Frau für mein Nachtlager, denke ich, muß ich lebendig fangen. Denn nekrophil bin ich nicht. Bevor ich mit einer Erschossenen schlafe, muß ich mich selbst erschießen. Mein Jagdkamerad schnalzt mit der Zunge. "Na, Herr Philosoph!" sagt er, mir auf die Schulter klopfend. Offenbar gelte ich als Feingeist, den man zum Töten verführen muß. Die Bilder, die man sich von mir macht, variieren.

Mir ist alles recht. Es schmeichelt mir, beurteilt zu werden. Bereitwillig verwandle ich mich in das, wofür man mich hält. Daß ich zufolge einer scherzhaft dahingesagten Bemerkung über meine Furchtsamkeit beim Auftauchen eines Wildschweins zu einer Tierpfote werde, habe ich allerdings nicht erwartet. Satz für Satz taste ich mich zum Ausgangspunkt der unerwünschten Entwicklung zurück, um sie durch eine kleine Abänderung zu revidieren. Ich bin nicht aufgewacht, denke ich. Ich habe das Aufwachen geträumt. Erst die Aussicht auf eine erfreuliche Wirklichkeit wird mich wecken.

Es muß gewährleistet sein, daß ich ein Mensch, zweitens gesund, drittens unverbesserlich optimistisch bin. Ich will an das Gute glauben und ihm zum Sieg verhelfen. Das Böse wäre dann nur noch eine Erinnerung. Aussagen über das Böse gäbe es nur in der Vergangenheitsform. "Er war ein Sadist und ein Mörder", würde man sagen. "Er quälte seine Opfer, bevor er sie tötete. Er wollte sie leiden sehen. Er wollte, daß sie sich aus Todesangst zwischen Leiden und Tod nicht entscheiden konnten. Er verweigerte ihnen die Gnade der Bewußtlosigkeit. Er tötete sie aus Langeweile."

Von wem, frage ich mich, Unwissen vortäuschend, ist hier die Rede? Es auszusprechen, wäre Blasphemie. Aber kann ich verhindern, daß ich es denke? Kann ich ein Wort, das gleichsam in meinem Hinterkopf lauert, in Gedanken verschweigen? Kann ich...? Nein, unmöglich! Gott, denke ich, Gott! Nun ist es heraus. Der Feind ist benannt. Doch so dumm bin ich nicht, ihn zu bekämpfen. Ich werde ihn dazu überreden, sich selbst abzuschaffen. "Du hast alles erreicht", werde ich sagen. "Nun tu auch das Letzte! Du brauchst dazu nur deinen Willen. Denn was Du willst, das geschieht."

So konzipiere ich schlafend die Erlösung der Welt. Die Voraussetzung für mein Erwachen ist damit erfüllt. Ich schlage die Augen auf und sehe über mir eine durch feine Risse wie geäderte Zimmerdecke. Es ist fünf vor zwölf. Ich liege in meinem Bett. Die Vorhänge sind zugezogen. An meinen Traum kann ich mich nicht erinnern. Der Harndrang, den ich verspüre, stellt sich auf der Toilette als Irrtum heraus. Immerhin, denke ich, bist du aufgestanden. Was du als nächstes tust, kannst du planen. Aber sicherer wäre, es unvorbereitet zu tun. Denn zu oft hast du Geplantes verworfen.

Gedanken schwirren mir durch den Kopf, Zähne putzen, mich waschen, mich anziehen, das Haus verlassen. Ich verbiete mir, sie in die Tat umzusetzen. Da geschieht etwas, das ich rückblickend, da ich es nicht gleich bemerkte, nur unvollständig beschreiben kann: Alles Sichtbare verschwand sukzessive. Mir fiel es erst auf, als ich den Spiegel über dem Waschbecken vermißte. Aber da waren das Zahnputzglas, die Zahnbürste, der Rasierschaum und vieles andere bereits verschwunden. Unfähig einzuschreiten, beobachtete ich, wie sich allmählich meine Umgebung, zuletzt auch der Fußboden, in Luft auflöste.

Nur die Stelle, an der ich mit heruntergelassener Schlafhose stehe, ist jetzt noch übrig. Vorsichtig bücke ich mich und ziehe die Hose hoch. Dann nehme ich allem Mut zusammen, riskiere einen Schritt, und, siehe da, der Boden vergrößert sich um genau jenes Stück, das nötig ist, damit ich auftreten kann. Auch der Wasserhahn ist, als ich ihn aufdrehen will, wieder da. Ich will die Seife benutzen. Da ist sie schon! Ich wasche mir das Gesicht. Ich rasiere mich. Ich möchte mich schminken. Auch Gegenstände, die ich zuvor nicht besessen habe, sind, sobald ich sie gebrauchen will, plötzlich vorhanden.

Das würde, bliebe es so, bedeuten: Ich bräuchte nie mehr etwas einzukaufen. Der Einfall erheitert mich. Ich sehe im Spiegel mein Lächeln. Die Seife, der Wasserhahn und das Waschbecken sind wieder verschwunden. Der Lippenstift in meiner Hand, denke ich, will, als hätte er ein Eigenleben, verwendet werden, damit er verschwinden kann. Ich tue ihm den Gefallen und breche, um zu testen, ob mein Wahn anhält, zu einer Flugreise auf. Das Ziel ist ein Urlaubsparadies in der Südsee. Ich überspringe die Details und fasse zusammen: Das Glück ist nicht käuflich. Welch banale Erkenntnis!

Mir fällt eine Kokosnuß auf den Kopf. Jetzt soll mich noch eine Giftschlange beißen und eine Fiebermücke mit Malaria infizieren, denke ich, damit ich wenigstens ein paar bisher nicht gedachte Wörter als Ausbeute nach Hause bringe. Es ist eine Schande, so wenig Gewinn aus so viel Bemühung zu ziehen. "Keine weiteren Unternehmungen", notiere ich in mein Tagebuch, "kein Flug, keine Flucht, keine Verwandlung!" Nur das Liegen, Sitzen und Stehen erlaube ich mir. Als Säulenheiliger büße ich für meinen Übermut. Ich weiß, das ist unzeitgemäß. Ich erwarte keine Anhängerschaft.

Die Plattform, die mir zur Verfügung steht, reicht aus, um mein Gedankengut auszubreiten. Ich lege wie Spielsteine die Moral neben das Verwerfliche, das Schöne neben das Häßliche, die Liebe neben die Gleichgültigkeit und mache den ersten Zug. Der Haß fehlt in dem Spiel. Das ist mein Manko. Wo man hassen muß, um nicht unterzugehen, wäre ich ein Versager. Mein Charakter kristallisiert sich heraus. Ich werde gesellschaftsfähig. Nach meiner Bußübung trete ich in den diplomatischen Dienst und darf mich mit Orden schmücken. Mir wird meine Weltgewandtheit bescheinigt.

Jetzt habe ich schwarz auf weiß, was ich immer schon wußte. Die Sektgläser klirren. Der offizielle Teil ist beendet. Ich sage, mich spaltend, zu meiner Tischnachbarin: "Sie müssen uns einmal besuchen. Meine bessere Hälfte ist eine Kochkünstlerin." Nun bin ich also verheiratet. Es ist, wenn ich mich recht erinnere, schon meine zweite Ehe. Die erste endete, glaube ich, mit meinem Tod. Ich kann nicht alles, was ich mir ausdenke, im Kopf behalten. Nur das mir Wichtigste prägt sich ein. An meiner neuen Frau liebe ich besonders die Art, wie sie sich unter Menschen bewegt.

Ihr abwesender Blick, ihr Stehen und Gehen wie auf Wolken verleiht ihrer körperlichen Anwesenheit jene Grazie, der ich verfallen bin. Sie war, bevor wir heirateten, Tänzerin. Obwohl ihr Geheimnis damit gelüftet ist, verliert sie es nicht. Ich brauche, um zu lieben, keine Verrätselung. Darüber bin ich hinaus. Die Desillusionierung ist der Vorteil des Alters. Ich erträume mir nichts. Aber vieles ist möglich. Entsetzt vor Entzücken, schmerzlich beglückt, beobachte ich die Geliebte. Die Addition meiner Empfindungen ergibt plus minus null. Die Liebe, konstatiere ich, ist rein rechnerisch nutzlos.

Durch die Ehe versuche ich, aus ihr Kapital zu schlagen. Ja, so kann man es sagen. Zwar äußere ich mich höchst ungern zu Fragen des praktischen Lebens. Doch die Einladung zu einem Vortrag über die Ehe als Wirtschaftsfaktor nehme ich an. "Die Leidenschaft", sage ich, "das Ungebändigte, das Ungeschliffene auf der einen Seite, das Zweckdienliche auf der anderen, dazwischen die Einsicht... So schlimm, meine Damen und Herren, ist es ja nicht, bei Verstand zu bleiben!" Schon nach den ersten Worten leert sich der Saal. Ich höre sofort auf, zu sprechen. Die Flut zieht sich zurück, denke ich.

Die Dämme halten. Die Phantasie, der ich mein Fortkommen verdanke, gewinnt wieder die Oberhand. Ich wechsle den Beruf und werde Leuchtturmwärter. Meine zweite Ehe endet mit der Aufhebung der Spaltung, das heißt, mit der Scheidung durch die Verschmelzung. Das habe ich gut ausgedrückt. Meine neue Tätigkeit läßt mir genügend Zeit für komplizierte Gedanken. Nachts zähle ich die sich im Meer spiegelnden Lichter, die in der Ferne wie Leuchtgirlanden die Küste erhellen. Wenn ich weine, verschwimmen sie, so daß es aussieht, als schmücke sich die Dunkelheit mit Geschmeide, das aus sich selbst heraus strahlt.

Mein Weinen, denke ich, ist ein Mittel zum Zweck. Wäre ich kurzsichtig, könnte ich es mir, indem ich die Brille abnehme, ersparen. So aber muß ich mich eines Gefühls, zu dem Tränen passen, bedienen. Schwankend zwischen Freude und Schmerz, Trauer und Wut, werde ich melancholisch. Ein Zeitsprung katapultiert mich in die Jugend zurück. Nun kann ich meine vergessene Zukunft wieder mit Hoffnung füllen. Vergehen will ich und überfließen. Nach dem Gegensätzlichen strebend, will ich eins werden mit mir. Auf alles Denkbare mache ich mich gefaßt. Die Furcht davor spornt mich an.

Das Gute, das mir widerfährt, ist die Ausnahme, sage ich mir. Die Zurückweisung ist das Normale. Ungehört werde ich an so manche Türen klopfen. Läßt man mich ein, werde ich mich, damit man mich nicht gleich wieder vertreibt, den herrschenden Verhältnissen beugen, indem ich mich in ein zur Einrichtung passendes Möbel verwandle. Die Möbelpflege werde ich als eine zärtliche Zuwendung empfinden. Wie aber komme ich aus dem Futurum ins Präsens zurück? Ich klopfe nicht, sondern klingle und rufe in die Türsprechanlage: "Ich bin es!" Zum Glück wird meine Stimme erkannt. Noch weiß ich nicht, zu wem sie gehört.

Hier meine Personenbeschreibung: mittelgroß, mittelblond, braunäugig, bartlos, bekleidet mit Bluejeans, Blazer und weißem Hemd. Das Haustor öffne ich noch. Dann befällt mich jener mir schon bekannte Widerwille gegen das Erzählen einer Geschichte. Ich gebe mir die Sporen und galoppiere davon. Das Pferd und der Reiter sind eine Einheit. Der Geräuschemacher ist durch Erfahrung geschult. Bild und Ton harmonieren. Ich werfe den Blazer ab. Der Duft der Freiheit steigt mir in die Nase. Bald, so fürchte ich, werde ich nur noch eine Staubwolke sein, und verwandle mich in ein Mineral.

Meine Eigenschaften kenne ich nicht. Wahrscheinlich bin ich wertlos, geologisch interessant, aber kommerziell ohne Bedeutung. Denn ich werde nicht abgebaut. Man läßt mich links liegen. Eine Änderung meiner Lage kann ich mir nur von einer astralen Umwälzung, etwa dem Verglühen des blauen Planeten, oder einer sprachlichen Finte erhoffen. Selbstverständlich ziehe ich letzteres vor. Ein Steppenwolf erklimmt die Erhebung, zu der ich gehöre, und heult zum Steineerweichen. Mit anderen Worten: Es zerreißt mir das Herz. Ich bin wieder Mensch, wenn auch tot. Aber das stört nicht weiter.

Gestorben bin ich schon oft. In den verschiedensten Todesarten brillierend, beweise ich meinen Lebenshunger. Kein Vorsatz hält meinem Selbsterhaltungstrieb stand. Ich breche alle Schwüre und unterwerfe mich dem Diktat meiner Gedanken. Mein Hirn ist ein Gedankenfriedhof. Ich bin der Totengräber, denke ich. Ich schaufle ein Grab nach dem anderen und schütte es wieder zu. Gleich neben dem Eingang ruht in Frieden der rollende Zug. Es macht mich stolz, das behaupten zu können. Der Zirkelschluß ist meine Spezialität. Ich spreche ein Tischgebet und verhalte mich folgerichtig, indem ich zu essen beginne.

Der Fernsehapparat ist mein Tischgenosse. Die Fernbedienung liegt griffbereit. Nach der Kultur kommt das Wetter, dann Volksmusik. Ich teile den Massengeschmack. Vielleicht gelingt es mir so, für längere Zeit Mensch zu bleiben. Man spielt einen Marsch. Ich sehe mir die einzelnen Musiker an und finde mich unter den Bläsern. Mein Menschsein ist jetzt doppelt verankert. Ich esse und musiziere zugleich. Während ich einen Bissen hinunterschlucke, presse ich gerade so viel Luft, daß der gewünschte Ton entsteht, in das Mundstück. Meine geblähten Backen erscheinen sogar in Großaufnahme.

Da entzieht mich ein Kameraschwenk meinem Blick. Die Folge ist: Ich kann nicht weiteressen. Zu sehr habe ich mich bereits an die Verquickung der beiden entgegengesetzten Tätigkeiten Schlucken und Blasen gewöhnt. Panisch zappe ich, als könnte ich mich in einem anderen Programm wiederfinden, durch alle Kanäle. Resignierend schalte ich schließlich den Fernseher aus und muß mich erbrechen. Das Erbrochene deckt das Gericht, Kalbsbraten mit Knödel, zu. Die Dichtkunst ist in diesem Fall der Malerei überlegen. Man stelle sich vor, die Kotze in Öl!

Die bildliche Darstellung verklärt das Ekelerregende. Die Sprache erzeugt ein aus Bruchstücken der Erinnerung zusammengesetztes Bild, dessen Authentizität nur von der Realität, sofern sie sprachlos macht, übertroffen wird. Diesen Satz muß ich mir, denke ich, sofort notieren, erkenne aber, daß das strenggenommen nicht möglich ist. Denn inzwischen sind sowohl mein Denken als auch die Zeit vorangeschritten. Im Grunde müßte ich einen Gedanken, um  ihn wortgetreu festzuhalten, schon, während er entsteht, niederschreiben. Ich müßte zu schreiben beginnen, bevor er zu Ende ist.

Auf einen vielversprechenden Anfang würde aber nicht selten etwas so Unbedeutendes folgen, daß ich bereuen würde, ihn aufgeschrieben zu haben. Umgekehrt kann sich ein Gedanke, dessen Anfang mir zu unbedeutend erscheint, um ihn aufzuschreiben, zu etwas Grandiosem entwickeln, das dann für immer verloren wäre. Kurzum, ich müßte ununterbrochen, und zwar genauso schnell, wie ich denke, schreiben. Das kann ich nicht, ganz abgesehen davon, daß ich wie jeder Mensch vorwiegend in Bildern, nicht in Worten und Sätzen denke.

Jetzt sehe ich gerade einen Stuhl in der Wüste. Doch bevor ich dazu komme, seine Beschaffenheit und Form zu beschreiben, hat ein Sandsturm ihn umgeworfen. Kann ich in Gedanken das Sturmgebraus hören? Ich denke: Schellenklang. Ein Narrenzug nähert sich vom rechten Bildrand dem umgefallenen Stuhl und marschiert, ohne ihn aufzustellen, an ihm vorbei. Haben die Narren den Stuhl ignoriert? Oder haben sie ihn, weil er aus einem anderen Gedanken stammt, nicht gesehen und sich ihm nur scheinbar genähert? Ich entscheide mich für die zweite Lösung. Der Stuhl ist ein Küchenstuhl. Die Küche hat sich in eine Wüste verwandelt.

Der Narrenzug ist eine Erfindung. Als er am linken Bildrand verschwindet, und sich die Wüste in eine Küche zurückverwandelt, bleibt der Stuhl liegen. Befragt, warum er umgefallen sei, müßte ich, damit man mich nicht für verrückt hält, lügen. Die Wahrheit ist das Verrückte, denke ich. Eingesperrt in meinem Kopf, gleicht sie dem Fötus einer Schwangeren, die nicht gebären kann. Damit der Vergleich stimmt, muß die Frau ihren Zustand auch noch verbergen. Heimlich ist sie, bis sie stirbt, guter Hoffnung. Welch ein Martyrium! Schaudernd begreife ich, wie ich leide.

Nur die Schuld verschafft Linderung. Meinen Vergleich modifizierend, beschließe ich: Das Kind muß heraus. Die Frau kreißt, denn so steht es im Synonymwörterbuch, und wird zur Kindsmörderin. Nun ist mir wohler. Ich stelle den Küchenstuhl auf und setzte mich. Das Geräusch der Geschirrspülmaschine erinnert mich an den Wüstensturm. Als ich mir die Ohren zuhalte, kann ich mein Herzklopfen hören. Stille ist nie, denke ich, der Kosmos ist ein göttliches Herz, das ewig schlägt. Die Sprache veranschaulicht das Unvorstellbare. Indem ich mir verbiete, zu sagen, was ich denke, bewahre ich meine Einfälle vor der Verwässerung durch den Gedankenaustausch.

In der Dankesrede anläßlich eines Empfangs zu meinen Ehren sage ich, die Wertschätzung, die man mir entgegenbringe, beschäme mich. Gleichzeitig denke ich: Ich bin eine Riesenpflanze, die alle anderen Pflanzen erstickt. Man zollt mir Beifall. Ich mische mich unter die Gäste und beginne, während ich meinen Gedanken weiterspinne, eine belanglose Konversation mit einer mir fremden Dame. Mein Schatten verdunkelt die Erde, denke ich. Die Menschheit stirbt aus. Ich aber wachse und wachse. Mein Größenwahn ist ein Naturereignis. "Sie sind in Gedanken", sagt plötzlich die Dame und ergreift meine Hand.

Da kann ich nicht länger an mich halten. "Ich werde alles vernichten", sprudelt es aus mir heraus. "Ich werde das All überwuchern und mich wie eine Schlingpflanze um die Gestirne legen." "Ja", haucht nun die Dame, "verschlingen Sie mich!" Der Satz bringt mich zur Vernunft. Ich kehre in meine vier Wände zurück, nehme das inzwischen saubere Geschirr aus der Maschine und stelle es in den Küchenschrank. Die äußere Ordnung, denke ich, spiegelt die innere wider. Mein Geisteszustand hat sich normalisiert. Durch ein Sprechverbot, das ich mir auferlege, beuge ich weiteren Mißverständnissen vor.

Als das Telefon klingelt, hebe ich, um das Schweigen zu üben, ab. "Wer ist dort?" fragt eine weibliche Stimme. Niemand, denke ich, der Versuchung widerstehend, es auszusprechen. "Bist du es?" fragt die Stimme. Da lege ich auf und verlasse fluchtartig die Wohnung. Der Anruf kam über das Festnetz. Ein Handy besitze ich nicht oder habe es ausgeschaltet. Ich brauche mich diesbezüglich nicht festzulegen. Ich muß aber, um herauszufinden, wie gut mir die Selbstverleugnung gelingt, schon wissen, mit welcher Hautfarbe ich auf die Straße gehe.

Nach kurzem Überlegen wähle ich Schwarz, denn als Schwarzer in einem von Weißen bewohnten Land falle ich zwar auf, denke ich, kann aber mein wahres Ich um so besser verbergen. Es ist ein sonniger Feiertag. Das Volk strömt ins Grüne. Ich werde begafft oder, wenn auch nur scheinbar, übersehen. Das geht so: Ein Blick, der mich zufällig streift, verharrt für einen Sekundenbruchteil auf meinem Gesicht, nämlich gerade so lange, wie die Erkenntnis dauert, daß ich ein Neger bin, den man nicht anstarren darf. Die Gaffer sind mir lieber. Ihr Blick bleibt an mir haften.

Sie sehen zunächst nur die Farbe, die nicht wirklich ein Schwarz ist, sondern ein vom Tiefdunklen ins Hellere changierendes Braun. Erst nach einer gewissen Zeit bemerken sie, daß sich darin Augen, eine Nase und ein wulstiger Mund befinden. Dann erschrecken sie oder lächeln verlegen. Statt mich zu entlarven, stehen sie nun selbst gleichsam nackt vor mir da. Ich aber muß ein Schwarzer bleiben. In mein früheres Leben kann ich so nicht mehr zurück. Mein neues ist rasch erzählt: Eines Nachts werde ich in einer dunklen Gasse erschlagen.

Geschieht mir recht, denke ich. Wer Scherz mit dem Entsetzen treibt, verdient nichts anderes. Das Opfer spricht den Täter frei. Ich bin ja beides, das heißt, ich bin jetzt tot und lebendig zugleich. Das ist neu. Das findet sich in dieser Form noch nicht in meiner Gedankensammlung. Ich archiviere es unter der Bezeichnung "lebende Leiche". Wenn ich mich leblos fühle, werde ich in Zukunft immer darauf zurückgreifen können. Das kennst du schon, werde ich mir sagen, damit brauchst du deine Zeit nicht zu vergeuden. Denn die Zeit, behaupte ich, ist, obwohl sie mir grenzenlos zur Verfügung steht, wertvoll.

Das Gesetz von Angebot und Nachfrage gilt hier nicht. Jeder Augenblick der Ewigkeit ist ein kostbares Gut. So denke ich jetzt, ein zur Demut Bekehrter, den Adlerflug ebenso schätzend wie das tanzende Staubkorn im Licht, kein Erlöser, aber waffenlos kämpfend für eine bessere Welt. Ungefährdet soll der Andersartige durch jede dunkle Gasse gehen. Der Mond muß ja auch nicht nachts um sein Dasein fürchten. Er darf sogar leuchten, obwohl auf ihm keine Bäche rauschen und keine Kuhglocken läuten. Wie der Wind die Wolken vertreibt, so will ich den Haß aus den Herzen der Menschen vertreiben.

Zur Toleranz ermahne ich sie, das Redeverbot mißachtend, zur Brüder- und Schwesterlichkeit, zur Hilfsbereitschaft und zum Gewaltverzicht. Habe ich etwas vergessen? Die Gelegenheit, so viel Positives in einem einzigen Gedanken unterzubringen, kehrt nicht so bald wieder. Schon kündigt sich der nächste Stimmungsumschwung an. Der Morgen graut. Die Träume verblassen. Der Weltschmerz stellt sich ein. Der vermeintliche Weltverbesserer verteilt seine Tränen an die Mißhandelten, die Hungernden und Entrechteten. Er kennt sie zwar nicht persönlich. Doch daß es sie gibt, steht außer Zweifel. Er hat sich genau informiert. Sein Wissen ist auf dem neuesten Stand.

Ich sage: "Du genießt deinen Schmerz."
Er nickt und wischt sich die Tränen ab.
"Du brauchst dazu..."
"Ja, unterbricht er mich, "ich brauche das Elend, damit ich es bekämpfen oder beweinen kann."
Offenbar langweilt es ihn, meine Gedanken auszusprechen.
"Du hast dir einen Dialog gewünscht", sagt er und löst sich auf. "Nun laß mich in Ruhe!"

Seine letzten Worte kommen schon aus dem Nichts. Oder ist da etwas? Unterscheidet sich das Nichts von der Leere, die das Verschwundene hinterläßt? Kann ein und dasselbe verschieden beschrieben werden? Oder wird es dadurch, daß man es einmal so, dann so beschreibt, zweierlei? Das ist eine interessante Frage, denke ich und stürze in ein Gedankenchaos, das aber nun, da ich es benannt habe, schon überwunden ist. Wie ein gestrenger Gott gebiete ich mir: Nur Fragen, die du beantworten kannst, sollst du dir stellen! Denn gottverlassen bist du, wenn dich die Sprache verläßt.

Ehrfürchtig kniee ich nieder. Der Boden ist eine Aschenbahn. Links und rechts von mir stehen Kurzstreckenläufer. Sie trippeln, beugen den Rumpf und lassen die Arme rotieren. Als der Startschuß ertönt, laufen sie ohne mich los. Das Publikum tobt. Ich werde disqualifiziert und für alle weiteren Rennen gesperrt. Auf einer eilig anberaumten Pressekonferenz erkläre ich mich trotzdem zum Sieger. "Den Wettlauf mit der Zeit", sage ich, "gewinnt nur, wer nicht läuft. Denn er ist vor dem Start schon am Ziel." Der wahre Champion, füge ich in Gedanken hinzu, verzichtet darauf, das Mögliche zu verwirklichen.

Er findet es überflüssig, weil er weiß, daß das Wirkliche im Möglichen bereits enthalten ist. Er kann aber auch das Wirkliche, zum Beispiel die Pressekonferenz, als eine von mehreren Möglichkeiten betrachten und sich für eine andere, zum Beispiel eine Kirchenpredigt, entscheiden. Er wäre dann kein Läufer, sondern ein Pfarrer, der über das Laufen spricht. "Wir müssen nicht siegen", würde er sagen, "sondern, das Böse in uns bekämpfend, erdulden, was uns bestimmt ist von Gott, unserem Herrn. Nur auf ihn wollen wir hören. Er sagt uns, was gut und was böse ist, amen."

Okay, denke ich, mich bekreuzigend, und warte auf die göttliche Stimme. Da ist sie schon! "Erschieße den Pfarrer", sagt sie, "damit er nicht noch mehr Unsinn verbreiten kann!" Wie bitte? "Eine geladene Magnum findest du in deiner rechten Hosentasche." Nein, denke ich, das kann nicht sein! Vor mir sitzen ja Journalisten. Der Pfarrer existiert nur im Konjunktiv. "Tu es!" befiehlt nun die Stimme. "Vertraue auf mich!" Als ich in meine Hosentasche greife, verwandelt sich der Raum in das Innere einer Kirche, die allerdings menschenleer ist. Das Wunder gelingt nur zum Teil. Erleichtert feuere ich in die Luft.

Ein Puttenkopf fällt von der Decke und zerschellt auf dem Steinfußboden. Strafrechtlich, denke ich laienhaft, liegt eine unabsichtliche Sachbeschädigung vor. Auf Befehlsnotstand kann ich mich nicht ausreden, denn einen Barockengel sollte ich nicht erschießen. Es war ein Freudenschuß. Ich schoß, über das göttliche Scheitern frohlockend, das mir das eigene erträglicher macht. Nein, falsch! Gott scheitert nicht. Ich schoß aus Freude darüber, daß ab sofort das Gescheiterte das Gelungene, der größte Erfolg die Erfolglosigkeit ist. Die Waffe mit meinen Fingerabdrücken lege ich neben die Scherben.

Dann wechsle ich, indem ich mich verflüssige, meine Identität. Als Blutstropfen falle ich in das linke Auge des geborstenen Engels. Man wird mich entdecken und, ohne zu merken, daß man mich gefunden hat, nach mir suchen. So ist es ja oft im Leben: Das Gefundene wird gesucht. Die Erfüllung weckt die Begierde. Auch ich habe, wenn ich es recht bedenke, alles erreicht und will dennoch mehr. Ja, mehr als alles! Ich korrigiere mich nicht. Ich glaube an den allmächtigen Komparativ. Er vergrößert das Größte und spaltet das Kleinste. Das Hellste wird heller durch ihn, das Schrecklichste schrecklicher.

Kein Superlativ hält ihm stand. Auf das höchste Glück folgt ein noch höheres, auf den tiefsten Schmerz ein noch tieferer. Die Gegenwart ist nur ein Übergang. Ich bin inzwischen fast eingetrocknet. Der Küster schließt die Kirche ab und sammelt die Scherben auf. Die Pistole umwickelt er, bevor er sie an sich nimmt, mit einem Tuch. Denn ich habe ihn auserkoren, mir meinen sehnlichsten Wunsch zu erfüllen: ein unschuldig Verfolgter zu sein. Als der zweite Schuß fällt, verwandle ich mich in eine Freudenträne. Sie rollt über die Wange des Engels und tropft von der Bruchstelle auf die darunter liegende Stirn, wo sie verdunstet.

Die Freude aber bleibt. Von dem zusammengesetzten Wort, das sie enthielt, fehlt nur die Hälfte. Ich könnte sie durch ein neues Wort, zum Beispiel "Taumel", "Haus" oder "Mädchen" ersetzen. In einem Freudenmädchen könnte ich mich teuer verkaufen. Doch ich entscheide mich für das reine Gefühl. Es breitet sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Die Gesichter der Infizierten hellen sich auf. Die eben noch Trauernden lachen. Die eben noch Verzweifelten bitten zum Tanz. Die Missetäter lassen von ihren Taten ab. Die Hungernden bekommen zu essen. Die Potentaten verschrotten ihr Kriegsgerät.

Ein Friedensstifter bin ich jetzt, kein Mensch zwar, aber auch nicht entmenschlicht, ein Nicht-Mensch, aber kein Unmensch. Die Sprache, der Wegweiser, auf den ich mich bisher verlassen konnte, beantwortet die Frage, was menschlich sei, so, als wäre es gleichbedeutend mit gut. Dem kann ich nicht folgen, es sei denn, ich betrachte das Böse als eine Abart des Guten, eine Unterabteilung so wie das Mitleid oder die Barmherzigkeit oder die Huld. Huldvoll winkt der Tyrann den Entrechteten zu. Jubelnd danken sie ihm. Denn noch sind sie nicht am Tiefpunkt ihrer Erniedrigung angekommen, an dem der Drang aufzubegehren sie übermannt.

Ja, übermannt! Der Drang ist männlich. Die Sprache aber, denke ich, ist eine Frau. Das Böse, sagt sie, ist gut. Das Gute ist böse. Gib deine Prinzipien auf! Wirf dich ins Leben! Frag nicht, wohin es dich führt! So spricht sie. Sprechend gebiert sie sich. Ich bin ihre Stimme. Wir sind aufeinander angewiesen, kein Liebespaar, aber ein effektives Gespann. Sei wieder Mensch, sagt sie, und ich gehorche. Im Uterus einer werdenden Mutter erwarte ich meine Geburt. Gleich wird das Partizip sich erübrigen. Da ist schon der blutige Kopf. Meine Gedanken kann er noch nicht aufnehmen.

Peu à peu werde ich sie ihm wie ein in geringer Dosis heilsames, sonst tödliches Gift einflößen. Die Verschmelzung von Körper und Geist ist, da es mir offenbar nicht gelingt, verrückt zu werden, mein neues Ziel. Das Kind, denke ich, ist ein Junge. Er wird Maximilian heißen. Nun fehlt von seinem Lebenslauf, auf die knappste Form, wie er auf Grabsteinen steht, reduziert, nur noch das Sterbedatum. Ein Bewerbungsschreiben ist aber kein Grabstein. Da schreibt man hinein, welche Ausbildung man genossen und, gegebenenfalls, welche Tätigkeiten man bereits ausgeübt hat.

Maximilian, abgekürzt Max, schreit vorerst nur. An der Mutterbrust wird er ruhig. Danach schläft er. Nichts tut er willentlich, geschweige denn überlegt. Auch die ersten Worte, mehr eine zufällige Aneinanderreihung von Lauten, lallt er gedankenlos. Als die Mutter auf sich und den Vater zeigt, sagt er: "Mama und Papa". Eines Tages jedoch, als sie die Übung wiederholen will, sagt er, ihr zuvorkommend: "Mama und Papa tot." Lachend nimmt sie ihn auf den Arm, drückt ihn an sich, bedeckt sein Gesicht mit Küssen und fragt: "Wo hat unser Max denn das wieder her?" Da sagt er: "Max auch tot."

Still gedenke ich der Freude, die ich war. Der Knabe ist wohlgeraten. Er gibt zu den schönsten Hoffnungen Anlaß. Das Wort "tot" hat er beim Fernsehen aufgeschnappt. Was es bedeutet, weiß er nicht. Aber die Wirkung, die er damit erzielt, ist überwältigend und so gegensätzlich. Der Vater, zornrot, holt die Tanzmaus, ein Geburtstagsgeschenk, aus dem Käfig, erschlägt sie vor den Augen des Kleinen mit einem Suppenlöffel und brüllt: "Papa lebt, Maus tot!" Das Gefühl, das Max beim Anblick des reglosen Tieres erfaßt, kann er noch nicht benennen. Tränen stürzen ihm aus den Augen.

Kein Schmerz, denke ich, wird jenen über die erschlagene Maus, den er nicht begreift, je übertreffen, kein Haß den Haß gegen den Vater. So falle ich von meinem Fortschrittsglauben ab. Das Namenlose ist unvergleichlich. Es kann nicht gesteigert und daher auch nicht überwunden werden. Der Versuch des Erwachsenen, sich daran zu erinnern, ist nur eine besondere Art des Vergessens. Wortgewandt stelle ich Thesen auf. Streitlustig wird sie mein Schützling vertreten, ein Propagandist des unnützen Wissens, nie fassungslos, verwundbar nur im Kampf gegen sich selbst. Ich kenne mich ja.

Denn ich erfinde mich. Ich bin meine Schwester und mein verstorbener Bruder, mein bester Freund und meine erste Liebe, die Nachbarin. Ich sage zu ihr: "Ich bin du." Beglückt schmiegt sie sich an mich. Wir haben unsere Decke auf der Liegewiese ausgebreitet. Ich bin in dieser Szene Max und Brigitte. Der Altersunterschied zwischen mir und mir erregt einiges Aufsehen. Ich setze mich darüber hinweg und resümiere: Zur Liebe gesellte sich das Verlangen. Seine Befriedigung erfolgt zwei Tage später, während Brigittes Ehemann seinem Beruf nachgeht. Nun bin ich auch der Betrogene.

Im Abfluß der Toilette entdecke ich ein benutztes Präservativ. Ruhig Blut, sage ich mir. Ich habe es ja selbst da hineingeworfen. Durch eine Nachlässigkeit habe ich meine Ehe aufs Spiel gesetzt. Jetzt stehe ich vor der Wahl, mir zu verzeihen oder mich von mir zu trennen. Aber ich wähle nicht, sondern löse die Dreieinigkeit auf, zu der ich mich, in eine alte Gewohnheit verfallend, verstieg. Durch die Wand verfolge ich das Geschehen in der Nachbarwohnung. Man hört einen lautstarken Streit, das Zuschlagen von Türen, dann einen dumpfen Aufprall, dann nichts mehr.

Totenstille, denke ich und werde recht behalten. Ein einziges Wort beendet mein erstes Liebesglück. Einerseits ist es mein Ehrgeiz, mich kurz zu fassen, andererseits fürchte ich den durch die Verknappung drohenden Sprachverlust. Denn sprachlos gibt es mich nicht. Sprachlos könnte ich mich nicht einmal fragen, ob es mich gibt oder nicht. Nun aber frage ich: "Gibt es mich?" Indem ich mich frage, erspare ich mir die Antwort. Das sind die Fragen, die ich besonders liebe. Sie ermöglichen mir, auf Behauptungen zu verzichten. Würde ich behaupten, es gebe mich nicht, würde ich mich selbst widerlegen.

Nur der Mensch kann sich so vergeblich verleugnen. Nie wieder werde ich mich in ein denkendes Schaf, einen Löwenzahn oder Felsblock verwandeln. Nie wieder will ich bestäubt, gesprengt oder geschlachtet werden. Aber erzählen will ich davon, aus meiner reichen Vergangenheit schöpfend. "Der Wind trug meinen Samen fort", erzähle ich. "Bröckelnd stürzte ich talwärts. Mein Blut färbte die Schlachtbank rot." Verstört hört es, noch den Schlaf in den Augen, die Schuhverkäuferin, meine zweite Geliebte. "Das Bett", hauche ich ihr ins Ohr, "ist eine Meereswoge, die uns ans Ufer einer einsamen Insel spült."

Sie aber dreht sich um und schläft weiter. Da wird aus der einsamen Insel ein unbewohnbarer Stern. Im Traum, denke ich, erfüllt sich die Liebessehnsucht. Rücken an Rücken, einander berührend, schlafen wir mit angewinkelten Knien, so daß unser Umriß dem eines Frosches gleicht, der plattgewalzt auf dem Asphalt klebt. Zugedeckt sind wir nicht. Es ist eine schwüle Nacht. Das Mondlicht, das durch das offene Fenster fällt, bildet ein Rechteck, in dem wir wie eingerahmt liegen. Denkend verhindere ich die Verwirklichung des Gedachten und vertausche das Liebeslager mit einem Krankenbett.

Statt Nacht ist nun Tag. Man hat mich mit Tabletten beruhigt. Ich nehme mir vor, nur Patient zu sein. Doch als mich die Krankenschwester nach meinem Befinden fragt, erwidere ich, sie mit mir verwechselnd: "Sie sind auf der Flucht vor sich selbst." Als sie lächelnd darüber hinweggeht, sage ich: "Sie lächeln, weil ich es will. Sie lassen sich durch mich nicht aus der Fassung bringen. Sie spielen die Ihnen von mir zugewiesene Rolle. Die Sicherheit, in der Sie sich wiegen, haben Sie mir zu verdanken." Sie setzt sich auf einen Stuhl neben dem Bett und nimmt meinen Arm, um den Puls zu fühlen.

"Sehen Sie", sage ich, "Sie fallen nicht aus der Rolle. Sie schauen auf Ihre Uhr und zählen in Gedanken die Schläge. Sie konzentrieren sich. Nach einer Minute werden Sie meinen Arm loslassen und ohne ein Wort aus dem Zimmer gehen. Sie denken sich Ihren Teil, aber Sie können nicht sprechen. Denn innerhalb dieser vier Wände, diesem sogenannten Einzelzimmer, das mir als Privatpatient zusteht, wird außer mir niemand mehr sprechen." Wie vorhergesagt steht sie auf und verläßt schweigend den Raum. Kaum ist sie draußen, verschwindet die Wand neben mir, so daß ich mich plötzlich in einem Doppelzimmer befinde.

Ja, das ist auch eine Lösung, denke ich, bravo! Im anderen Bett liegt ein röchelnder Greis. "Haben Sie sich das ausgedacht?" frage ich. Er kann nicht mehr sprechen. Nur die Andeutung eines Nickens gelingt ihm noch. "Schon gut", sage ich, "Ich werde Ihnen keine weiteren Fragen stellen. Es ist nicht nötig. Denn Sie haben mir durch Ihr Nicken Ihre Gedanken vererbt. Ich weiß, was Sie denken. Eine Unterhaltung zwischen uns wäre ein Monolog, verstehen Sie? Nein, ich frage nicht. Ich nehme die Frage zurück. Ich weiß, daß Sie verstehen. Es wäre rücksichtslos, das zu bezweifeln."

Das Röcheln wird schwächer und verstummt schließlich ganz. In den Tod folge ich ihm nicht, denke ich. So wie ich mich nie wieder in Tiere, Pflanzen oder irgendwelche Gegenstände verwandeln will, so will ich nie wieder sterben und auferstehen. Mich disziplinierend, lege ich meiner Phantasie Zügel an. Es bleibt ja genug Spielraum übrig. Statt zu sterben, verdopple ich mich, springe aus dem Fenster und warte, den Toten durch mich ersetzend, auf die Visite. Während ich zerschmettert auf dem Bürgersteig liege, erklärt der Chefarzt mich für geheilt und verfügt meine Entlassung.

Die Einschränkung macht kreativ. Gern würde ich mir noch mehr verbieten. Doch zuerst möchte ich mit den Freiheiten, die ich noch habe, meine Biografie fortsetzen. Ich bin jetzt Student und wohne zur Untermiete bei einem Homosexuellen, der mir unter der Bedingung, daß ich mich ihm einmal pro Woche entkleidet zeige, die unentgeltliche Benutzung seiner Küche und seines Badezimmers erlaubt. Jeden Montag um acht Uhr früh trete ich nackt an sein Bett, wünsche ihm einen guten Morgen und gehe wieder. Mehr will er nicht. Nur auf meine Pünktlichkeit kommt es ihm an.

Als ich eines Morgens geschlechtslos vor ihm erscheine, sagt er lachend: "Das nächstemal kommen Sie vielleicht schon als Frau." So viel Toleranz habe ich nicht erwartet. Beschämt lerne ich, daß man über Menschen nicht vorschnell urteilen darf. Auf Sexualität muß ich nun leider verzichten. Dem Studium kommt das zugute. Ich bestehe sämtliche Prüfungen, promoviere und werde ordentlicher Professor für Psychologie. Mein Einkommen gestattet mir eine Operation zur Wiederherstellung meiner Männlichkeit und den Kauf einer Altbauwohnung. Mein Spezialgebiet ist das zwanghafte Denken.

"Der Mensch", so beginne ich meine Vorlesung, "denkt, ob er will oder nicht. Er kann sich gegen seine Gedanken nicht wehren. Er kann sie nur aussprechen oder, falls es sich um Absichten oder dergleichen handelt, verwirklichen. So wie er einen Stuhl zum Sitzen und ein Messer zum Schneiden benutzt, so benutzt er seine Gliedmaßen zum Handeln und seine Stimme zum Sprechen. Er kann etwas erschaffen oder vernichten. Er kann laut oder leise sprechen. Er kann auch singen. Aber bellen, wiehern oder röhren kann er nicht, außer im übertragenen Sinne." Die Aufzählung der Tierlaute löst Heiterkeit aus.

"Jawohl", fahre ich, nachdem das Auditorium sich beruhigt hat, fort, "der Mensch kann auch lachen! Seine interessanteste stimmliche Äußerung jedoch..." Hier mache ich eine Pause. "... ist der gellende Schrei. Denn er ist schon, bevor wir ihn ausstoßen, da. Er entringt sich uns, ein gleichsam in uns Gefangener, der in die Freiheit will. Das Schreien ist also etwas, das wir tun, obwohl es mit uns geschieht. Geduldig wartet es auf seine Chance, das heißt, auf jenen Moment der Schwäche, in dem wir es nicht mehr zurückhalten können. Wir, also ich... Ich meine... Ich will damit sagen... Nein, ich will nichts..."

Stammelnd überlege ich, wie ich mich aus der peinlichen Lage, in die mich mein Stammeln gebracht hat, befreien könnte. "Der Schrei...", sage ich, "die Kunst... die Schreikunst, nein, die Schreiunterdrückung..." Das Stammeln wird immer schlimmer. Nur in Gedanken gelingen mir ganze Sätze. Die Unterdrückung des Schreiens, denke ich, ist der Ursprung der Kunst. "Die Tonkunst", sage ich, "die Kochkunst, die Baukunst, die Kriegskunst..." Es hat keinen Sinn. Ich breche die Vorlesung ab und verwandle mich in den kleinen Max, der inzwischen aufgehört hat zu weinen.

Der Raum aber verwandelt sich nicht, so daß ich hinter dem Katheder verschwinde. Aufgrund noch mangelnder Standfestigkeit falle ich auf mein Gesäß. Still sitze ich auf dem Boden, während die Studentinnen und Studenten zögernd den Hörsaal verlassen. Warum sucht mich niemand? Warum sind diese Erforscher der Seele so schnell bereit, etwas für unerklärlich zu halten? Die Sehnsucht nach dem Geheimnis besiegt den Forscherdrang. Als alle gegangen sind, krieche ich aus meinem Versteck hervor. Die Szene eignet sich für einen Film, denke ich, obwohl ich weiß, daß das ein Kind in meinem Alter nicht denken kann.

Wer als Möwe über Gischtkronen kreiste und als Rose verblühte, den kümmern die Grenzen des Möglichen nicht. Die Gesetze, denen er sich unterwirft, hat er selbst erlassen. Nach Gutdünken hebt er sie auf. Ich muß, was ich kann, sagt er sich, und ich will, was ich muß. So kommt er mit sich ins reine. Ein gemächlicher Fluß ist sein Leben. Die Schuld hat er abgeschüttelt wie Staub. Im Tod endet das Fließen. Ich nenne ihn das Meer der Gleichzeitigkeit. Alles Vergangene wiederholt sich dort ohne Ablauf ununterbrochen, bereichert um das Zukünftige, sobald es Gegenwart wird.

Welch ein Gedanke! Defäkierend lausche ich dem Nachklang in mir. Das Scheißen ist keine Kunst. Urin mischt sich mit Kot. Frühreif würze ich die Brühe mit einem Schuß Ejakulat. Als Abführmittel benutze ich einen Pornofilm. Bei Gelegenheit werde ich mein Geschlecht ins Blut der Geliebten tauchen. Der himmlische Barkeeper mixt einen Cocktail aus Körpersäften. Wir trinken ihn tränenreich. Denn aus der Quelle der Inspiration sprudeln die Sätze. Eine fortwährende Pollution ist mein Dichten. Traumverloren versäume ich den Genuß, oder muß es heißen: die Qual?

Kann etwas, das nie aufhört, genußvoll sein? Ich müßte es wissen. Aber mir fällt nur Widersprüchliches ein: qualvoller Genuß, genußvolle Qual. Das Ewige ist kein reines Vergnügen. Die Verheißung, die uns das Dasein versüßen soll, ist in Wahrheit ein Fluch. Ich buchstabiere: Friedrich, Ludwig, Ulrich, Cäsar, Heinrich. Ein Nachname, der zu mir paßt, ist nicht darunter. Meinem bisherigen Leben und Sterben fehlt gleichsam der Gültigkeitsstempel. Was nützt es, wenn ich es chronologisch ordne? Gut, man hat mich gefunden und gesäubert. Ich habe gelernt, in den Topf zu kacken.

Ich habe, von gelegentlichen Fürzen und dem Verwesungsgeruch abgesehen, darauf geachtet, keinen Gestank zu verbreiten. Ich habe mit Mundwasser gegurgelt, mich parfümiert und den Schweiß mit Deodorant bekämpft. Aber mit welchem Namen habe ich den Wohnungskaufvertrag unterschrieben? Was steht auf dem Türschild? Ich brauche es nicht zu erfinden. Es muß mir nur einfallen. Das ist ein Unterschied. Mein verstorbener Freund würde sagen: Geh doch nach Hause, um nachzusehen! Er hat das Prinzip meines Denkens nie ganz verstanden. Um mich zu ärgern, nannte er mich Gehirnakrobat.

"Dein Tod", rufe ich ihm in Gedanken nach, "ist mein Tod, obwohl ich lebe." Nun kann er mich nicht mehr verspotten. Ich sitze, vor mich hin murmelnd, auf seinem Stammplatz in seinem Stammlokal. Niemand setzt sich zu mir. "Ein Irrer", sagt man und läßt mich gewähren. Als ich aufstehe und meinen Hut vom Haken nehme, eilt der Kellner herbei und öffnet mir mit übertriebener Ehrerbietung die Tür. Meine gemurmelten Sätze aber, die Frucht meines Denkens, bleiben in der Gaststätte zurück. Man könnte sie, gäbe es ein Verfahren, das Gesagtes aus der Luft herausdestilliert, hörbar machen.

Es wäre eine reiche Ernte. Denn ich habe ja alles Erlebte, das Erlittene und das Genossene, nur gedacht. Den Freund gab es nicht wirklich, und auch den kleinen Max gibt es nicht, der vielleicht Hauser heißt oder Huber. Ich lasse ihn beim Baden ertrinken. Seine Tante, eine verheiratete Pospischil, ist ihrer Aufsichtspflicht nicht ausreichend nachgekommen. Sie selbst wird von einem Dobermann totgebissen. Der Hundebesitzer, ein gewisser Rittenberg, hat den Leinenzwang nicht beachtet. Der Tod der Pospischil, so wird gesagt, sei eine Strafe. Der Hund wird eingeschläfert.

Im Telefonbuch steht er natürlich nicht. Ich schlage es zu und kehre in die Anonymität, die mir vertraut ist, zurück. Als namenlosen ehemaligen Hundebesitzer kann man mich nicht belangen. Der Justiz glücklich entwischt, trete ich eine Reise nach Sizilien an, wo mir ein streunender Kater zuläuft. So wird ganz ohne Zauberei aus einem Hundebesitzer ein Katzenbesitzer. Das Tier ist der einzige Besitz, der mir entlaufen kann. Alles andere müßte mir durch Diebstahl oder, indem ich es verliere, abhanden kommen. Verschenken werde ich nichts. Denn mein Traum ist die ungewollte Besitzlosigkeit.

Nie fiele mir ein, meinen Ferrari nicht abzuschließen. Mein Portemonnaie trage ich an der Brust. Mein Ferienhaus ist durch eine Alarmanlage gesichert. Reglos im dunklen Zimmer warte ich auf den heulenden Ton. Obwohl ich mir wünsche, beraubt, vielleicht sogar ermordet zu werden, tue ich alles, um es zu verhindern. Unter dem Bett liegt das schußbereite Gewehr. Eines Nachts, geweckt von einem verdächtigen Geräusch vor dem Fenster, schieße ich in die Finsternis, obwohl ich als Verfasser der Geschichte weiß, daß ich, wenn ich treffe, keinen Einbrecher, sondern den Kater erschieße.

Noch könnte ich ihn verfehlen. Aber wo bliebe die Pointe? Nein, ich muß treffen und anschließend, wenn ich im Gebüsch den Kadaver finde, erschüttert sein. Wäre es eine geschriebene und publizierte Geschichte, würde ich mir Leser, die über meine Erschütterung lachen, wünschen. Sie würden vor Lachen die Lektüre unterbrechen und das Buch, um die Seite vor den Lachtränen zu schützen, zuklappen müssen. Einerseits wäre ich, erführe ich davon, stolz auf den Lacherfolg, andererseits fürchtete ich, die durch ihn gesteigerten Erwartungen an das Buch nicht zu erfüllen.

Aus Furcht lasse ich die Geschichte über den Mann, der seinen Kater erschoß, nachdem sein Hund meine Tante getötet hatte, hier enden und tauche in einer anderen als Buchhalter auf, den ich leichtsinnig Rosenkranz nenne. Nun habe ich ein Problem mit dem Genitiv. Anstatt den Namen zu ändern, sitze ich wie gelähmt in meinem Büro und starre auf den Computer. Da es in der Geschichte bis jetzt nur mich, die Hauptfigur, gibt, kann ich mir keine Hilfe von außen erhoffen. Die Hände liegen im Schoß. Ich müßte sie nur heben, denke ich, und den Gedanken in den Computer tippen.

Doch wahrscheinlich denke ich, sobald ich sie hebe, schon etwas anderes, zum Beispiel: Es ist sinnlos, einen Gedanken in den Computer zu tippen. In diesem Fall würde ich sie wieder sinken lassen. Der Schmerz, denke ich jetzt, sprengt mir die Brust. Welcher Schmerz? Ich fühle nichts. Ich bin gesund. Ich bin in einem Alter, in dem ich mich bei einem Einstellungsgespräch guten Gewissens als jung und dynamisch bezeichnen dürfte. Ich treibe Sport. Ich rauche nicht. Ich ernähre mich maßvoll. Ich halte seit Jahren mein Idealgewicht. Ich leide nicht unter Schlafstörungen.

Mein Schlaf ist mir heilig. Ich habe zweimal pro Woche mit meiner Ehefrau Sex. Ich masturbiere nicht. Ich nutze das reichhaltige Kulturangebot. Ich habe einen Freundeskreis, auf den ich mich verlassen kann. Ich werde, wenn alles gut geht, im Februar Vater. Aber meine Hände liegen in meinem Schoß wie Blei. Meine Beine sind abgestorben. Ich kann nicht aufstehen. Ich kann den Kopf nicht zur Seite drehen. Die Augen fallen mir zu. Es ist soweit, denke ich... Und dann: Ich habe geschrien. Ich bin nicht der Buchhalter Rosenkranz. Mein Versuch, eine mit mir übereinstimmende Person zu erfinden, ist fehlgeschlagen.

"Haptschi!" War das ich? Habe ich mich erkältet? Gegen den Winter meiner Traurigkeit hilft keine Arznei. Fiebrig vertraue ich auf die heilende Kraft meiner Sehnsucht. Alles Blaue wird rot, Himmel und Fluß und der Eisvogel und das Vergißmeinicht. Das Rot erobert den Kies und die Brücke. Nun gibt es kein Halten mehr. Ausbrechende Feuer verschlingen, farblich ununterscheidbar, was sich ihnen nicht widersetzt. Die brennende Sehnsucht vertreibt meine Traurigkeit. Ich warte, bis die Flammen, da sie keine Nahrung mehr finden, verlöschen. Dann erst wirkt das Arkanum.

Der Himmel wird wieder blau und spiegelt sich im lebenspendenden Wasser. Viel ist zerstört. Aber so wichtig, denke ich, bin ich mir schon, die Verheerung eines Landstrichs in Kauf zu nehmen, um nicht in Depression zu verfallen. Obwohl ich nicht weiß, wer ich bin, sorge ich mich um mein Wohlergehen. Oder ist mein Nichtwissen der Grund für die Sorge? Ein Kind verlor durch den Brand seine Eltern. Der Brandstifter tröstet es. Es ist ihm ans Herz gewachsen. Er könnte es adoptieren. Doch lieber will er es unter dem Herzen tragen. Dagegen ist nach den Regeln meines Denkens nichts einzuwenden.

Der Mann wird zur Frau, das Waisenkind zu seiner Leibesfrucht. Eine Fehlgeburt schließe ich aus. Denn ich habe es nicht aus dem Feuer gerettet, damit es, bevor es zur Welt kommt, zugrunde geht. Es soll eine zweite Kindheit haben. Die erste endete tragisch, wenn auch nicht tödlich. Das Kind wird, obwohl es nicht gestorben ist, wiedergeboren. Das ist in keiner Religion vorgesehen. Aber ich brauche ja, da es geschieht, nicht daran zu glauben. Ich glaube nur an die Wörter, aus denen sich meine Gedanken zusammensetzen. Sie sind das Allerheiligste, vor dem ich mich niederwerfe.

Zu ihnen pilgere ich ziellos mit verbundenen Augen, damit mich nichts Sichtbares ablenkt, ein Wörtersammler und Sätzeschmied, das Formlose in Form verwandelnd kraft meines Glaubens. Mein inneres Ohr leitet mich. Aufmerksam folge ich dem Klang der Vokale, bis durch die sie verbindenden Konsonanten ein mir einleuchtender Sinn entsteht. Sinnlos ist alles, denke ich, doch der Satz aus drei Wörtern, der mich als Gedanke ständig begleitet, hat Sinn. Sinnloses Denken! Sinnvolle Sätze! Fahnen flattern im Wind. Ein Haus wird gebaut. Ein Bauarbeiter stürzt vom Gerüst. Er hat einen Vogelkopf.

Niemand außer mir nimmt Notiz davon. Die Sonne brennt vom wolkenlosen Himmel. Ein Hund schnüffelt an einem Ziegelstapel. In einer Schubkarre liegt ein zerfleddertes Comicheft. Ich ziehe mein Sakko aus und hänge es an eine Zementmischmaschine. Der Hund gibt einen Spritzer Urin ab und trottet schwanzwedelnd weiter. Neben der Zementmischmaschine entdecke ich einen toten Fisch, hebe ihn auf und lasse ihn gleich wieder fallen. Es soll nicht so aussehen, als messe ich ihm mehr Bedeutung bei als dem Hund oder der Schubkarre oder dem Comicheft. Jeder Einfall ist mir gleich wichtig.

Jedes Wort, das ich denke, ist ein Glied in einer endlosen Indizienkette, die nichts beweist. Ewig tagt das Gericht. Unaufhörlich steigt die Zahl der gedachten Wörter und Sätze. Ins Unermeßliche wächst der Wörter- und Sätzehaufen. Freudlos wäre mein Denken, gelänge es mir nicht, mich über das Wachstum als Selbstzweck zu freuen. Die Arbeiter machen Mittagspause. Bierflaschen werden geköpft. Einer winkt mich zu sich. Ich solle, wenn mir mein Leben lieb sei, verschwinden. "Da, sehen Sie!" sagt er und zieht ein Hosenbein hoch. Er hat einen Pferdefuß. "Den habe ich Ihnen verpaßt", sage ich.

Er stellt die Flasche neben sich auf das Brett, das ihm als Sitzgelegenheit dient. "Wissen Sie", frage ich, "was ein Zentaur ist?" Nun steht er auf und zielt mit der Faust auf mein Kinn. Doch bevor er trifft, habe ich mich, seiner Empfehlung entsprechend, verflüchtigt. Nein! Der Ort hat sich verflüchtigt. Ich bin ja stehengeblieben. Um mich herum ist jetzt ein französischer Garten. Barock gekleidete Damen mit Hochfrisuren lustwandeln, von Sonnenschirmen beschattet, zwischen Bosketten und Blütenrabatten. Sie grüßen einander durch ein leichtes Neigen des Kopfes. Eine läßt im Vorbeigehen ihr Schnupftuch fallen.

Als ich mich danach bücke, flüstert sie mir zu: "Befreien Sie uns!" Da verwandelt sich der Garten in einen Gefängnishof. "Weitergehen!" befiehlt eine Wärterin. Ich aber rühre mich nicht von der Stelle. Indem ich mich dem Befehl widersetze, protestiere ich gegen mein fehlgeleitetes Denken. Auf die Vorhaltung der Wärterin, mein Betragen sei inakzeptabel, ich hätte zu gehorchen wie alle anderen, erwidere ich: "Sie sehen doch, daß ich hier irrtümlich gelandet bin. Als Mann gehöre ich nicht in ein Frauengefängnis." Darauf sie: "Das spielt keine Rolle. Sie gehören nirgendwohin."

So spreche ich aus ihr, um mich zurechtzuweisen. Lächelnd füge ich meinem Vokabular das Wort "ortlos" hinzu. "Die Freiheit", sage ich, "lähmt den Menschen. Er kann sich, wenn ihn nichts einschränkt, für keine Bewegung entscheiden. Nur sprechen kann er. Sprechend bewegt er die Lippen. Solange er spricht, denkt er nicht. Das Sprechen verschluckt gleichsam sein Denken. Hört er aus irgendeinem Grund auf zu sprechen, kommt ihm alles, was er sagen will, unaussprechlich vor..." "Sprechen Sie weiter!" sagt, da ich verstumme, die Wärterin. Ich kann nicht, denke ich.

Über mir schlagen Wellen zusammen. Die Last der Gedanken zieht mich nach unten. Ich müßte aufhören zu denken. Ich müßte das Bewußtsein verlieren. Doch bewußtlos ertrinke ich. Früher hätte mir das Ertrinken nichts ausgemacht. Leichten Herzens hätte ich gewählt zwischen Tod und Verwandlung. Traumlos schläft der Seestern am Meeresgrund. Ahnungslos prangt die Koralle. Furchtlos stellt der sie umfächelnde Fetzenfisch sich zur Schau. Ich aber habe jetzt nur mein erfundenes Menschenleben. Der seidene Faden, an dem es hängt, reißt, denke ich und tauche auf, algenbekränzt, inmitten von Leichen.

Denn kein Menschenleben ist unersetzlich. Ich werde aus der Opferliste gestrichen. Niemand bemerkt, daß ich ertrunken bin. Die Mutter schließt mich in die Arme. Die Braut läßt sich zum Traualtar führen. Ich habe mich durch mich selbst ersetzt. Meine vierte Ehe ist der Lohn für mein Meisterstück. Wir fahren in die Flitterwochen und blicken in eine rosige Zukunft. Der Himmel hängt voller Geigen. Der Schwarze Kontinent empfängt uns mit einem Trommelwirbel. Wir haben Nashörner und Elefanten gebucht. Der Steppenwind trocknet unsere Küsse. "Schmeckst du das Salz auf meinen Lippen?" frage ich.

Die Frau nimmt den Tropenhelm ab, so daß ihr Haar über die Schultern fällt. "Ich bin deine Meerjungfrau", sagt sie und wirft den Kopf zurück. Viehisch, denke ich, ist der menschliche Überlebenstrieb. Hoheitsvoll stolziert die Giraffe. Friedlich rastet im Schatten das Löwenpaar. "Klick" macht die Kamera. Doch das Schweben des wie unter Wasser gebändigten Lichts fängt sie nicht ein. Die Erinnerung vermischt sich mit dem, was ich sehe, zu einem nicht reproduzierbaren Bild. Eine Bodenwelle schüttelt uns durch. Ein Filmriß beendet die Hochzeitsreise. Nun sehe ich nichts mehr.

Das Nichts ist schwarz. So schwarz ist keine Nacht. Ich konzentriere mich auf das Hören. Ein anfangs kaum vernehmlicher hoher Ton hellt, so als erzwinge er seine visuelle Entsprechung, die Finsternis auf. In dem Maße, in dem er anschwillt, nimmt auch die Helligkeit zu, bis schließlich sowohl die Lautstärke als auch das blendende Licht unerträglich werden. Ich aber halte Augen und Ohren offen. Denn blind und taub möchte ich sein, blind und taub... Das Licht wird schwächer. Der Ton verklingt. Im Vollbesitz meiner Sinne setze ich mein verfahrenes Leben fort. Ob ich noch verheiratet bin, weiß ich nicht.

Vielleicht bin ich Witwer. Dann hätte ich Anspruch auf Beileid. Doch niemand bezeugt es mir. Vielleicht bin ich der einzige Überlebende. Gedankenverloren sehe ich mich vor einer Plakatwand stehen, auf der für das Gastspiel eines Zauberkünstlers geworben wird. Den gibt es also, denke ich. Aber, ach, es ist ein altes Plakat. Das Gastspiel fand vor drei Wochen statt. Ich schlendere weiter. Es hat zu tröpfeln begonnen. Der Wind wirbelt Unrat auf. Als ich um eine Ecke biege, verliere ich mich aus den Augen. Jeder Verlust bringt mich dem Kern meines Denkens ein kleines Stück näher.

Die unablässige Annäherung hält mich wach. Der Regen wird stärker. Hagel prasselt gegen die Fensterscheiben. Auf meinem Nachttisch liegt ein ungelesenes Buch. Ich schlage eine beliebige Seite auf und lese: "Wenn es regnet, möchte man weinen können." Von der Zimmerdecke hat sich eine Spinne herabgelassen, die wie erstarrt an ihrem Faden hängt. Ich knipse die Nachttischlampe aus und denke: Blitze wie Leuchtbomben über dem Niemandsland, Schüsse auf strauchelndes Freiwild. Frierend schaufeln die noch einmal Davongekommenen ihre Gräber aus. Manche fallen von selbst hinein. Schon warten die Würmer.

Schicht für Schicht lege ich meine Gedanken frei, ein Arbeiter im Steinbruch des Grauens. Für eine andere Arbeit bin ich nicht qualifiziert. Ganze Gebirge trage ich ab. Kein Gipfel soll stehenbleiben. Niemandem sei das Delirium in der Höhe gegönnt, das Glück des Vergessens. Entkräftet zwar, aber wortgewaltig, verwandle ich die Geisterstädte in Leidenszentren, Horte des Ungemachs, Schmerzmetropolen. Man trifft sich zum großen Gejammer. Ich jammere mit. Mein Wissen macht mich zum heimlichen Außenseiter. So stieg einst Zeus herab, denke ich, und mischte sich unter die Menschen. Aber der hatte ja seine Götterfamilie. Mir zürnt keine Hera.

Schlaflos leere ich den Giftbecher der Einsamkeit. Der Regen hat aufgehört. Die Spinne hat sich an ihrem Faden wieder hinaufgezogen. Wie wirklich, frage ich mich, ist diese Nacht? Kann etwas wirklicher sein als etwas anderes? Gibt es das Wirklichste? Meine Sprunghaftigkeit läßt keinen Erzählfluß zu. Das Leiden verkleinert sich zur Unannehmlichkeit. Der Hader wird im Alkohol ertränkt. Schmutz, denke ich, überall Schmutz, Erbrochenes, Pisse und Blut. Im Wüstensand aber verwehen die Spuren. Eine Kamelkarawane zieht durch die glutrote Sonnenscheibe, die hinter der Theke versinkt.

Vielleicht starb meine Frau an einem Schlangenbiß. Die Spinne hat begonnen, ihr Netz zu bauen. Ich steige auf das Bett und zerquetsche sie mit einem Papiertaschentuch zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Taschentuch werfe ich in die Toilette und drücke auf den Knopf für die Spülung. Als es an der Tür klingelt, schneide ich mir mit der Rasierklinge knapp unter dem Haaransatz in die Stirn und beobachte, wie das Blut über die Augen und Wangen rinnt. Dann wasche ich mein Gesicht, desinfiziere die Wunde und klebe ein Pflaster darüber. Die Methode der kontrollierten Selbstverletzung zum Schutz gegen die Außenwelt funktioniert.

In meinem Kopf singt eine Lerche. Nun weiß ich: Es tagt. Ich habe die Wohnung verlassen und bin in ein Stück unzerstörte Natur gefahren. Was ich hier sehe und höre, ist wirklicher als mein Spiegelbild. Ich streiche mit der Hand über das Gras und lecke den Tau von den Fingern. Ein Maulwurfshügel wächst aus dem Boden. Ich esse die aufgeworfene Erde. Niemand beobachtet mich, der es bezeugen könnte. Die Selbstbeobachtung ist kein Beweis für meine Glaubwürdigkeit. Aber ich brauche ja nichts zu beweisen. Gedanken werden nicht vor Gericht verhandelt. Die Luft, denke ich, drückt mich nieder.

Ich kann mich nur noch auf dem Bauch kriechend fortbewegen. Im Krieg wäre das lebensrettend, in einem Lustspiel ein Lacherfolg. "Was tust du da unten?" würde mein Bühnenpartner, scheinbar verwundert, fragen. "Ich übe den Ernstfall", wäre laut Rollentext meine Antwort. Haha! Darüber muß ich jetzt tatsächlich lachen. Lachend krieche ich weiter und steche mich an einer Distel. Au! Es wird immer komischer. Das Unangenehme ist das Erheiternde. Zwischen Schnecken, Käfern und anderem Kleingetier spreche ich das Wort aus, in dem alles, was ich zu sagen habe, enthalten ist: "Irrwitz!"

Ein Wort gibt das andere, denke ich. Du mußt widersprechen. Auf Rede folgt Gegenrede. Gib nicht klein bei! Sprich weiter! Sprich mir nach: "Ich bin kein kriechendes Tier. Ich habe ein Ziel. Ich will aus der Gefahrenzone ins schützende Halbdunkel des Waldes. Nein, ich will nicht. Mich lenkt mein Instinkt. Unwillentlich schlage ich eine Richtung ein." Das soll ich sagen, im Streit mit mir selbst. Aber ich habe es ja gerade gesagt! Ich sträube mich gegen die Wiederholung. Ich bin nicht mein Souffleur. Der Wald ist nah. Ich sehe schon über den Grashalmen die Tannenwipfel.

Gleich werde ich mich aufrichten und einen Baum umarmen. Die Vorfreude mobilisiert meine Kraftreserven. Die Enttäuschung ist groß, als die Vorhersage sich nicht erfüllt. Zwar stehe ich wieder, aber in keinem Wald. Da bin ich mir sicher. Alles andere erscheint mir ungewiß. Bin ich allein? Was ist es, das mich von allen Seiten bedrängt? Sind es Blicke, Berührungen, oder wähne ich mich nur in Bedrängnis? Jedenfalls kann es nicht schaden, um Hilfe zu rufen. "Hilfe!" Aber das war kein Rufen. Mit so einer Piepsstimme kann ich mich nicht bemerkbar machen. Ich versuche es noch einmal. "Hilfe!"

Das war schon besser. Ein gelungener Hilferuf, denke ich, gäbe mir neuen Mut, so daß ich die Hilfe dann nicht mehr bräuchte. Jeder Bedrohung hielte ich stand. Nichts würde mich ängstigen. "Hilfe!" Nun ist es gut. Dreimal verleugnete Petrus den Herrn. Drei Wünsche erfüllt die Märchenfee. Ich beiße mir auf die Zunge, um sie im Zaum zu halten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht schweige ich. Während ich die eine Hand auf die Lippen presse, vertreibe ich mit der anderen die herbeigerufenen Helfer. Der Titel meiner pantomimischen Darbietung lautet: Das personifizierte Paradoxon.

Als lebendes Beispiel für den Widersinn, der allem Geschehen zugrunde liegt, verabscheue ich, was ich ersehne. Vor Ekel muß ich mich, sobald sich meine Wünsche erfüllen, übergeben. Patient vomiert, wenn es ihm gut geht, stünde in meiner Krankenakte. Doch statt mich je wieder der Medizin auszuliefern, genieße ich kotzend mein Glück. In aller Öffentlichkeit, bei Tag und bei Nacht, hinterlasse ich wie ein Tier, das seine Duftmarke setzt, die Spur meiner Glückseligkeit. Unter Palmen erbreche ich mich und in den jungfräulichen Schnee, im Garten des Tadsch Mahal und beim Anblick der Mona Lisa.

Denn ich unterscheide nicht zwischen Kunst und Natur. Die Sonne streut Diamanten ins frische Grün. Vom Goldregen fallen die Blüten. Der Wonnemonat eignet sich gut zur Verklärung. Aus Haß wird Liebe, aus Hoffnungslosigkeit Tatendrang. Pläne werden geschmiedet, Trennungen annulliert. Natürlich wird auch gestorben. Keine Geschäftsbilanz ohne Minusposten! Doch unter dem Strich bleibt ein Vorrat an Illusionen, von dem ich zehren will bis zum nächsten Mai... Schon ist er aufgebraucht. Ist das Jahr so schnell vergangen? Oder ist es mir endlich gelungen, dem Kerker der Zeit zu entfliehen?

Gibt es von nun an kein Werden und kein Vergehen? Ist ab sofort alles, das existiert, zugleich nonexistent? Statt einer Antwort bekomme ich von unsichtbarer Hand einen Schlag ins Gesicht. Das ist die Strafe für meine verbotenen Fragen. Es folgt Schlag auf Schlag. Aus der Nase rinnt Blut in meinen Mund. Ich schlucke. Ich trinke mein Blut, denke ich. Ich trinke und trinke. Das ist nicht komisch. Darüber würde ich, selbst wenn ich könnte, nicht lachen, vermute ich. Wie ein ausgezählter Boxer liege ich jetzt auf dem Boden. Die Tritte in meine Weichteile passen nicht zu diesem Vergleich.

Ist das noch Züchtigung oder schon blinde Gewalt, wenn ich fragen darf? Ich krümme mich. Ich spucke Blut. Ich kann nicht mehr trinken. Man hebt mich hoch und läßt mich fallen. Ein Messer ritzt mein geschwollenes Lid. Oder ist es ein Rosendorn? Selbstverständlich wähle ich letzteres. Eine Hand legt sich auf meine Stirn. "Sie haben sich zu viel zugemutet", sagt eine Frauenstimme. Ich versuche, die Augen zu öffnen. Die Schwellung verhindert es. Die Hand, denke ich, verwandelt sich in ein Rosenblatt. Rosenblütenblätter decken mich zu. Vertrocknend entfalten sie ihre heilende Wirkung.

Mir wachsen Brüste. Der Adamsapfel verschwindet. Mein Gemächt wird zur weiblichen Scham. Denn der wahrhaft geheilte Mann ist eine Frau. Ich bitte um einen Tusch für diesen Einfall. Alles, was jetzt noch kommt, sind Zugaben des Künstlers, der die Empörung, die er auslöst, für Begeisterung hält. Ein Kleidungsstück nach dem anderen legt er ab, das zerschlissene Hemd, die blutbesudelte Hose. Weiß wie Milch ist seine Haut. Zuletzt nimmt er mit beiden Händen sein Haupt vom Hals, das einzige Relikt seiner Männlichkeit. Der kopflose Frauenkörper verbeugt sich. Das Gesicht unter dem Arm strahlt vor Glück über die vermeintlichen Ovationen.

Dieser Tölpel, denke ich, kann Zuneigung von Zurückweisung nicht unterscheiden. Es wäre bösartig, ihn aufzuklären. Ich werfe ein Rosenbukett auf die Bühne und setze meinen Leidensweg fort. Als nächstes erwartet mich eine Steinigung. Wer so oft tot war wie ich, der weiß, wie man das Sterben spielt. Nur die Geier durchschauen mich. Ich werde noch viele Tode spielen. Aber mit Totenstarre kann ich nicht dienen. Die Leichenschänder erschrecke ich mit meiner Lebendigkeit. "Tut mir leid", sage ich. Mein Gelächter schallt durch die mondhelle Nacht, als sie das Weite suchen.

Eines Nachts jedoch geschieht folgendes: Ich werde in einem offenen Sarg durch eine von Menschen gesäumte Straße getragen. Zunächst halte ich still. Bei dem Versuch, möglichst unauffällig zu atmen, ersticke ich fast. Als ich schließlich, um dem Spuk ein Ende zu machen, den Kopf etwas hebe und über den Sargrand blinzle, wird mir das nicht verübelt. "Darf ich mich aufsetzen?" frage ich. "Aber natürlich!" antworten unisono die Träger. Einer von ihnen reicht mir einen Zettel, auf dem das Programm der Veranstaltung steht. Ich brauche nur abwechselnd nach rechts und nach links zu winken.

Die Menschen am Straßenrand bekreuzigen sich. Manche brechen in Schluchzen aus. Andere, durch ihre Gewandung hervorgehoben, folgen dem Sarg. Nach der Prozession werde ich fürstlich entlohnt und gebeten, mich für weitere Einsätze bereitzuhalten. Als Scheintoter werde ich reich, denke ich. Sogar zwei Leibwächter kann ich mir leisten. Aber wo hört der Spaß auf? Wie weit darf ich gehen mit meinen Gedankenspielen, ohne zu riskieren, daß die Sätze zu sinnlosen Wortfolgen zerfallen und die Wörter sich auflösen, wie von Säure zersetzt? Ich will es nicht wissen. Mit erhobener Schwurhand gelobe ich:

"Nie wieder werde ich nach dem Unmöglichen streben, nach dem jetzt und für alle Zeit nicht Möglichen, nach dem nie Möglichen. Nie wieder werde ich versuchen, mir das Unvorstellbare vorzustellen, das jetzt und in alle Zukunft nicht Vorstellbare. Nie wieder werde ich mich danach sehnen, das Undenkbare zu denken." Kaum habe ich zu Ende gesprochen, widerrufe ich mein Gelöbnis, um nicht wortbrüchig zu werden. Mit dem Widerruf, der mir moralisch unbedenklich erscheint, komme ich dem Wortbruch zuvor. Wer sich auf dünnem Eis bewegt, muß, will er nicht einbrechen, bestimmte Verhaltensregeln beachten.

Er muß seine Gefühle beherrschen, aber er darf sie nicht leugnen. Er muß sich seine Angst eingestehen und trotzdem die Ruhe bewahren. Ich gehe so weit zu behaupten: Er muß die Angst lieben. Denn wer die Angst liebt, liebt auch die Gefahr, und wer die Gefahr liebt, der liebt das Leben, denke ich und verfalle in stumpfsinniges Brüten. Bilder ziehen im Geiste an mir vorbei, die ich, kaum gedacht, sofort wieder vergesse. Das Vergessen überholt gleichsam das Denken. Oder war da nichts? Ist etwas, woran ich mich nicht erinnere, nicht gewesen? Das ist die alles entscheidende Frage.

Indem ich sie bejahe, finde ich zu alter Stärke zurück. Das Eis mag brechen. Das Seil mag reißen. Der Seiltänzer hebt zum Gedankenflug ab. Der Habicht schlägt im Sturzflug die Beute. Ich stehe am Fenster und warte, bis einer innehält, flatternd im strahlenden Blau über dem Wiesenstück. Es ist eine Kindheitserinnerung. Ich drohte mich zu verlieren. Der Vogelsturz rettete mich. Doch nicht jeder stürzte. Oft mußte ich stundenlang warten, bis das Wunder geschah. So lernte ich auszuharren. Das Fohlen fällt aus der Stute. Der Lachs schwimmt gegen den Strom. Mein Vorbild aber blieb der todbringende Vogel.

Mit ihm vergleiche ich mich, wenn ich hinabstürze in die Niederungen des Lebens, damit sich mein Geist regeneriert. Nicht die Schwerkraft zieht mich nach unten. Nur scheinbar fallend, stoße ich zu und entschwinde wieder ins Reich der Gedanken. Der Vergleich ersetzt die Verwandlung. Ich bin kein Vogel, sage ich mir. Denn um verrückt zu werden, muß ich vernünftig sein. Ich kann gehen, laufen und kriechen. Doch fliegen kann ich ohne Hilfsmittel nicht. Einst konnte ich es. Ach, wie ich mich über alles erhob! Auf breiten Schwingen entfloh ich mir. Es war so mühelos.

Während ich mich daran erinnere, denke ich: Du sitzt an einer reich gedeckten Tafel. Man hört leise Musik. Es fällt auf, daß du dich nicht an der Konversation beteiligst. Du sagst: "Die Zahl der Toten in den heutigen Fernsehnachrichten stimmt mit der Zahl der hier Anwesenden überein." Du fügst hinzu: "Es ist eine Marotte von mir, die Toten in den Fernsehnachrichten zu zählen." Die Speisen werden aufgetragen. "Die Palette der Todesursachen", fährst du fort, "reichte von Selbstmordattentaten bis zum vermutlich natürlichen Tod eines russischen Pianisten, den ich für längst verstorben gehalten hatte. Man könnte sagen, er ist, da er starb, wiederauferstanden."

Du lachst. Ich schenke dir ein, mein Bruder im Geiste. Wir sitzen allein an dem gedeckten Tisch. Komm, trink mit mir auf unsere Zukunft, an die wir uns gemeinsam erinnern werden! Es muß ja nicht immer gleich Blut fließen. Es kann auch Rotwein sein. Er hilft uns darüber hinweg, daß meine Kampfkraft erlahmt auf dem Schlachtfeld der Sprache. Ich lasse die Zügel schleifen. Ich steige von meinem hohen Roß und unterschreibe das Eingeständnis meiner Erbärmlichkeit. Nichts Schriftliches soll von mir überliefert werden, nur dieses eine: daß ich ein Nichts bin, und daß ich es weiß.

So täusche ich die Nachwelt, mich verewigend in jenem Unteilbaren, das auch die Wissenschaft in ihrem Spaltungswahn nie entschlüsseln wird. Wie findest du das, mein Bruder? Kann es vor deinem gestrengen Urteil bestehen? Oder ist es einer jener Gedanken, für die ich mich schämen muß? Kann ein Gedanke mißglücken? Ich frage zu viel. Das Niveau meines Denkens nähert sich dem eines Kleinkinds. Vielleicht bin ich müde. Die Stühle werden schon hochgestellt. Ich muß zu Bett. Du wachst, wenn ich schlafe. Du beobachtest mich. Du hörst, wie ich träumend seufze. Du denkst:

Jetzt ist er bei sich. In ruhigen Zügen leert er den Kelch der ihm zugemessenen Zeit. Denn er hat beschlossen, an diesem Tag auszuschlafen. Das Ende des Schlafs kam ihm plötzlich wie das Ende des Lebens vor. Das Sterben, sagte er sich, schon umnebelt von Müdigkeit, ist das Erwachen. Hätte er den Wecker gestellt, hätte er wie jemand, der den Freitod wählt, in sein Schicksal eingegriffen, obwohl man, das war, bevor er einschlief, sein letzter Gedanke, auch den Freitod für vorherbestimmt halten kann. Seine Träume wird er mir nicht mehr erzählen können. Seine Brust hebt sich noch einmal.

Lächelnd übergibt er den Staffelstab. Ich streiche ihm zum Abschied über die Stirn und verlasse auf leisen Sohlen, wie um ihn nicht zu wecken, das Sterbezimmer. Als ich die Tür hinter mir schließe, ertönt das Pfeifsignal eines Zuges. Ich zünde mir eine Zigarette an und werfe das brennende Streichholz in den Papierkorb, der neben der Garderobe steht. Schon schlagen die Flammen hoch. Ein Mantel fängt Feuer. Ich warte, bis ich mich retten muß. Meine Gedanken sind Strickmaschen. Ich darf keine fallen lassen. Vorsichtig, Silbe für Silbe, Stufe für Stufe, steige ich die Treppe hinunter.

Als ich ins Freie trete, werde ich von Scheinwerfern angestrahlt. Eine Limousine fährt vor. Die Wagentür wird mir aufgehalten. Doch statt einzusteigen, setze ich meine Sonnenbrille auf und gehe, die mir geltenden Rufe mißachtend, geradewegs in die Finsternis. Hinter mir zerbricht eine Fensterscheibe. Sirenen heulen. Jawohl, sie heulen! Sie singen nicht. Auf mein Gehör ist Verlaß in der Nacht meines Denkens. Meine Einfälle sind irreversibel. Das Menschenopfer war nötig. Ich brauche mich nicht zu entschuldigen. Die Schuld tropft von mir ab wie das salzige Wasser, wenn ich dem Meer entsteige.

Man wird mich fragen, ob ich den Toten kenne. Ich werde die Frage verneinen. "Nein", werde ich sagen, "diesen bis zur Unkenntlichkeit Verstümmelten kenne ich nicht. Vielleicht wollte er mich, als er noch nicht so bedauernswert aussah, berauben, vielleicht sogar töten. Vielleicht ist er, während er auf mich wartete, eingeschlafen." Die Wahrheit wird niemand erfahren. Denn das Vergangene ist so ungewiß wie die Zukunft. Für die Gegenwart aber gibt es kein zeitliches Maß. "Jetzt", sage ich, "und jetzt und jetzt und jetzt." Eben noch stand ich im Feuerschein. Wer löscht den Brand in mir?

An Tränen mangelt es nicht. Ich nehme die Brille ab und sehe verschwommen den Anbruch des Tags, der sich ausweist durch den Duft frischen Brots und die Straßenkehrer in ihren Overalls. Es wird aufgeräumt in der Stadt, in der ich wohne. Ich habe eine Adresse und einen Wohnungsschlüssel. Doch in der Geschichte, die ich mir gerade erzähle, bin ich nun obdachlos, so daß ich mir überlegen muß, wo ich unterkomme. Bin ich jemand, der hilfreiche Freunde hat? Bin ich reich? Bin ich versichert? Da mich das nicht interessiert, werde ich auch diese Geschichte nicht zu Ende erzählen, sondern eine neue beginnen.

Damals, so fängt sie an, damals, als der Zug, sich durch einen Pfiff ankündigend, in den Bahnhof rollte, wußte ich schon, daß ich, obwohl ich Lust zu verreisen hatte, nicht einsteigen würde. Denn als ich, die Menschen auf dem Bahnsteig beobachtend, das Pfeifen hörte, dachte ich plötzlich, es müßte für alles, also auch für die Lust, Gründe geben. Ich hatte den Koffer gepackt. Ich war zum Bahnhof gefahren. Ich hatte mir eine Zugfahrkarte gekauft. Doch als sich die Zugtüren öffneten, stieg ich nicht ein, da ich mein Fernweh nicht hätte begründen können. Die Türen schlossen sich. Ich nahm meinen Koffer.

Aber was geschah dann? Ich weiß nur, ich fuhr nicht nach Hause. Mehr weiß ich nicht. Eine feine Naht zieht sich von meiner Nasenwurzel über die Stirn und den Hinterkopf bis in den Nacken. Ich muß mein Hirn schonen. Wenn mich mein Gedächtnis im Stich läßt, muß ich mit den Gedanken, die sich von selbst einstellen, vorliebnehmen. Der Boden unter meinen Füßen gibt nach, denke ich jetzt. Bin ich in einen Sumpf geraten? Oder stehe ich auf einer Bühne und soll durch die Versenkung zur Hölle fahren? Kaum habe ich mit dem Erzählen angefangen, muß ich, da mir nur Fragen einfallen, schon wieder aufhören.

Orientierungslos irre ich durch den Gedankenwald, der, so als könnte ein Reim in mir Ordnung schaffen, von Schüssen widerhallt. Es ist Jagdsaison. Ich rufe, damit man mich nicht mit einem Wild verwechselt, so laut ich kann: "Ich bin ein Mensch!" "Ist ja gut", sagt hinter mir jene Frauenstimme, die ich schon einmal hörte, als ich schwerverletzt unter Rosen lag. Damals konnte ich die Augen nicht öffnen. Jetzt schließe ich sie und sage: "Darf ich Sie um etwas bitten? Würden Sie mir die Augen verbinden?" Ein gefaltetes Tuch legt sich um meine Schläfen und Lider.

Ich drehe mich um und betaste das Gesicht, das Haar und den Hals der Frau. "Sie sind schön", sage ich, "schöner als alles, das ich jemals gesehen habe, schöner als das Morgen- und Abendrot, schöner als die von einer sanften Brise gekräuselte See. Vor Ihrer Schönheit schweigen die Waffen. Dem Schlächter entgleitet das Messer. Der Kinderschänder zieht seine Hand zurück..." "Seien Sie still!" sagt die Frau und nimmt mir die Binde ab. "Seien Sie still!" Wir stehen in einem Kreis, umgeben von Augenpaaren. Sie knöpft ihre Bluse auf. Nicht aufhören, befehle ich mir, nur jetzt nicht aufhören!

Die Augen warten. Ich fühle Sand unter den Füßen. Ein Klopfen gibt uns den Takt an. "Wo sind wir?" frage ich. "Seien Sie still!" sagt die Frau. "Fragen Sie nicht, sondern tun Sie das Nötige!" Endlich verstehe ich. Das Nötige ist das Vorgeschriebene. Auf dem Tanzparkett ist kein Platz für Eskapaden. Der Liebesakt ist kein Spiel. Nur Clowns dürfen, während sie ihre Nummer zeigen, die Arena verlassen. Wir sind Gefangene. Der Kreis wird enger. Schon kann ich den Atem der Näherrückenden spüren. Man will uns erdrücken, denke ich und rette mich in die nächste Geschichte. Oder ist es die übernächste?

Warum bin ich plötzlich so kleingewachsen? Bin ich fliehend geschrumpft? Als Zwerg passe ich gut in ein Märchen. Es war einmal ein Zwerg, der wünschte sich nichts so sehr wie Leichenwäscher zu werden. Ein toleranter Bestattungsunternehmer stellte ihn ein. Auf einem Schemel stehend, verwöhnte der Zwerg die Verstorbenen mit seiner Zärtlichkeit. Behutsam wusch er ihre leblosen Glieder. Liebevoll reinigte er den After und das Geschlecht. Mit duftenden Ölen salbte er sie. Die größte Befriedigung aber bereitete ihm das Schminken, das er zur Schminkkunst perfektionierte.

Aus Greisen wurden Jünglinge, aus Greisinnen Mädchen in ihrer ersten Blüte. So lebte der Zwerg, zufrieden mit sich und der Welt, viele Jahre. Eines Morgens jedoch, als er gerade mit dem Präparieren einer Kinderleiche beginnen wollte, merkte er, daß er wuchs. Jeden Tag wurde er nun ein paar Zentimeter größer. Bald benötigte er den Schemel nicht mehr. Aus dem Zwerg wurde ein stattlicher Mann. Die Herzen der Frauen flogen ihm zu. Ihnen schenkte er jetzt seine ganze Liebe. Die Toten aber vernachlässigte er, so daß sich der Bestattungsunternehmer schließlich gezwungen sah, ihm zu kündigen.

Zwar fand der ehemalige Zwerg rasch eine neue Arbeit, heiratete und zeugte Kinder. Doch so glücklich wie als Leichenwäscher ist er nie wieder geworden. Was für ein trauriges Märchen, denke ich, auf einer Parkbank sitzend, mich in der Sonne wärmend. Ein roter Ball rollt mir vor die Füße. Ein blonder Knabe läuft herbei, um ihn zu holen. "Was für einen schönen Ball du hast", sage ich und zeichne mit der Schuhspitze ein Gesicht in den Kies: zwei Punkte und zwei Striche in einem Kreis. "Das bist du." "Nein, du", sagt der Knabe und läuft mit dem Ball zu seiner Mutter.

Ich lösche mit dem Fuß den Strich, der die Nase darstellt, dann den Mund, dann das eine, dann das andere Auge. Ein Mann unbestimmten Alters hat sich, einen unangenehmen Geruch verströmend, neben mich auf die Bank gesetzt. Sofort beginnt er zu sprechen: "Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten im Raum ist eine scheinbar gerade, in Wahrheit gekrümmte Linie. Je weiter sich die Punkte voneinander entfernen, desto deutlicher wird die Krümmung." Unwillkürlich wende ich mich ihm zu. Sein Blick ist auf den von meiner Zeichnung übriggebliebenen Kreis gerichtet.

"Strenggenommen gibt es in der Natur nichts Gerades", fährt er fort. "Alles Gerade ist künstlich. Die Kunst ist der verzweifelte Versuch, sich gegen die Natur aufzulehnen." "Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund", sage ich. "Bis vor kurzem hätte ich den Unterschied zwischen Kunst und Natur noch geleugnet. Jetzt stimme ich Ihnen voll und ganz zu. Sie haben genau das ausgesprochen, was ich, als Sie sich zu mir setzten, gerade dachte. Hätten Sie nicht sofort angefangen zu sprechen, wäre ich aufgrund des Gestanks, den Sie verbreiten, aufgestanden, um mich auf eine andere Bank zu setzen."

"Ich weiß", sagt der Mann, bitter lächelnd. "Nur durch meine Fähigkeit, die Gedanken anderer zu erraten, gelingt es mir, meine Verwahrlosung wettzumachen." Sein Lächeln erstarrt zu einem Grinsen. Ich sehe auf meine Armbanduhr. "Sie brauchen nicht so zu tun, als hätten Sie einen Termin, der Sie zum Gehen zwingt", sagt nun der Mann, beugt sich vor und spuckt in den Kreis. Sein Speichel ist rot von Blut. Seine Verachtung trägt den Stempel einer tödlichen Krankheit. Die letzte ihm verbliebene Waffe, mit der er seine Würde verteidigt, ist stumpf. Mein Mitleid ist die Würze meines Triumphs.

Mein Denken fließt wie ein ruhiger Strom, von Lastkähnen befahren. Wissend, daß ich mein Ziel nie erreichen werde, verweile ich nun öfter bei einem Gedanken, vertiefe ihn, schmücke ihn aus. Aus dem Ausschmücken ergibt sich von selbst das Vertiefen. Der todkranke Mann fällt von der Bank. Meine Hilfsmaßnahmen beschränken sich auf ein Telefonat. Als ihn zwei Sanitäter abtransportieren, genieße ich schon wieder, mich zwischen die anderen Sonnenhungrigen auf den noch nicht beschatteten Bänken zwängend, die zufolge einer Schlechtwetterperiode allzu lange entbehrte Sonnenwärme.

Ja, zu den Sonnenhungrigen zähle ich mich. Diesem Verein trete ich bei. Die Sonne ist meine Tankstelle, denke ich. Der Kraftstoff, den sie liefert, ersetzt die in meinem gegenwärtigen Leben fehlende Liebe. Nach Sonnenuntergang besuche ich ein Pornokino. Anschließend onaniere ich. Indem ich zwischen dem Kinobesuch und dem Onanieren eine gewisse Zeit verstreichen lasse, versetze ich mich in einen Zustand gespannter Erregung, jenem vor einem Konzert vergleichbar, wenn das Orchester Platz genommen und mit dem Einstimmen der Instrumente begonnen hat. Beim Erscheinen des Dirigenten tritt schlagartig Stille ein.

Die Erregung erreicht ihren Höhepunkt. Die Musik ist die Erfüllung. Ein hinkender Vergleich ist mir lieber als eine gedankliche Durststrecke, obwohl mich auch die Regenzeit nach einer schier endlosen Dürre beglücken kann. Der ausgedorrte Boden birgt Ungeahntes. Die Sonne verschwindet hinter den Dächern. Ich bleibe trotzdem sitzen. Die ganze Nacht warte ich auf ihre Wiederkehr. Die Kälte kriecht in meine Glieder. Mein Herz, diese Sonne in mir, läßt es nicht zu, daß ich erfriere. Es macht, was es will. Denn es gehört mir nicht, so wie mir mein Magen, meine Nieren und mein Darm nicht gehören.

Ich gehöre mir nicht. Die Welt ist eine Asservatenkammer zur Aufbewahrung der Menschheit, das Leben ein Verbrechen, denke ich und muß laut lachen. Mein Lachen hallt in der Dämmerung. Zwei patrouillierende Polizisten unterziehen mich einer Ausweiskontrolle. Ich soll ihnen auf die Polizeiwache folgen. "Mit dem größten Vergnügen", sage ich. "Aber bitte legen Sie mir Handschellen an!" Als mir der eine den linken Arm auf den Rücken dreht, entnehme ich mit der freien Hand dem Halfter des anderen dessen Dienstpistole und erschieße sowohl ihn als auch seinen Kollegen.

Das Unglaubliche kann so wie die Lust nicht begründet werden. Die Waffe gebe ich im städtischen Fundbüro ab. Treibgut im Fluß meines Denkens, erkläre ich den Kriminalfall damit für beendet und stelle mich als Proband für ein medizinisches Experiment zur Verfügung, das die Chancen zur pharmakologischen Bekämpfung der Indolenz ausloten soll. Schon nach wenigen Tagen fühle ich mich wie verwandelt. In jede Diskussion mische ich mich ein und bin, wenn man mir widerspricht, rasch beleidigt. Zu allem habe ich eine Meinung, zur Rentenanpassung, zur Krebsvorsorge, zum Klimaschutz.

Aber auch zu Randthemen wie dem Abfallbeseitigungsgesetz oder der Reinigung von Katzenklos äußere ich mich. Soll der Mensch seinen Hygienebegriff auf das Tier übertragen? Nach Abschluß des, wie man sagen muß, über Gebühr erfolgreichen Experiments darf ich mich, obwohl ich mehr als je zuvor rede, zur schweigenden Mehrheit rechnen. Sollte ich allem Anschein zum Trotz nun doch verrückt geworden sein, müßte ich das sogenannte Normale, soweit es sich auf den Menschen bezieht, als verrückt betrachten. Ein Baum oder ein Huhn, sofern es seine Eigenständigkeit bewahrt, ist nicht verrückt.

Doch weder ein Baum noch ein Huhn will ich je wieder sein. Daran halte ich fest. Meinen Vorsatz, ein Mensch zu bleiben, werfe ich, so schwer es mir fällt, nicht über Bord. Nein, sage ich mir, mag das Kriegsschiff auch sinken, auf dem ich mich zufolge einer naheliegenden Assoziation gerade befinde, ich wanke nicht! Nein, mein Strammstehen beim Salutieren bedeutet nicht, daß ich eine griechische Säule bin. Dreimal nein! Der Südwind bläht die Segel, denn ich habe mich, das ist erlaubt, ins Mittelalter zurückversetzt. Aber meine Blähungen halte ich, solange ich auf Deck bin, zurück.

Mögen die anderen ihre Winde entweichen lassen! Ich büße durch Selbstbeherrschung. Schuld gibt es genug abzutragen. Es muß ja nicht die eigene sein. Ich kasteie mich, um mich zu stählen. Der Krieg war schon immer das geeignetste Mittel zur Vermeidung des Denkens. Im Dampf der Kombüse finde ich endlich mein Seelenheil. Einen Hirten brauche ich nicht. In der Suppe fehlt noch das Salz. Um mir die Zunge nicht zu verbrennen, blase ich, bevor ich koste. Doch Trübsal blase ich nicht. Ha, wie ich mit Redensarten jongliere! Wie ich die Klippen umschiffe, die lauernden Tücken im Meer der Gedanken!

Mit stolzgeschwellter Brust sehe ich mich an der Haubitze stehen und mit einem einzigen Schuß eine Fregatte versenken. Danach falle ich, noch den Kanonendonner im Ohr, in ein psychisches Tief. Aber ich falle weich. Das Haus, in dem ich jetzt wohne, wurde weder bombardiert noch unter glühender Lava begraben. Mein Gasofen ist nicht explodiert. Gegen die Eruptionen in meinem Kopf nehme ich Aspirin, gegen die Schlaflosigkeit ein Barbiturat. Das Sprungtuch kann eingerollt werden. Oder ist es ein Netz? Hat jemand einen Fehlalarm ausgelöst? Oder ist mein Tief ein Salto mortale unter der Zirkuskuppel?

In jedem Fall ist die Absicherung überflüssig. Denn erstens brennt es zwar an allen Ecken und Enden, aber in meinem Haus momentan nicht, und zweitens verdient ein Todessprung seinen Namen nur, wenn die Gefahr besteht, daß er tödlich endet. Mit schlüssigen Argumenten stelle ich meine Denkschärfe unter Beweis. Mit spitzer Klinge bekämpfe ich meine Neigung, mich im Ungefähren zu suhlen. Der getrocknete Schlamm blättert ab. Siegfried heiße ich nun, keiner Rüstung bedürfend. Wer aber schützt meine verwundbare Stelle? Wem kann ich mich anvertrauen? Die Türklingel reißt mich aus meinen Gedanken.

Der Postbote bringt ein Paket. Bevor ich es öffne, muß ich wissen, was es enthält. Nein, keine Handprothese, kein Glasauge, kein Eisenherz! Die Wörter springen mir ins Gehirn. Ich werde mir die Grillen schon noch vertreiben, denke ich. Wenn mir nichts Vernünftiges einfällt, lasse ich das Paket ungeöffnet. Ja, das ist die Lösung! Ich öffne es nicht, sondern sehe mir im Fernsehen eine Kochsendung an, damit ich Hunger bekomme. Danach habe ich die Wahl, zu essen oder zu fasten. Natürlich faste ich. Auf die Nahrungsaufnahme zum Zwecke der Ausscheidung kann ich verzichten.

Mein Mund, bitteschön, ist kein Loch, um Lebensmittel hineinzustopfen. Mit Genuß speise ich nur in angenehmer Umgebung, möglichst in Damengesellschaft. Nach jedem Bissen will ich mindestens einen Satz aus dem Blütenmeer meines Denkens pflücken und ihn meiner Begleiterin überreichen, die mir Gehör schenkt, aber auch selbst, so hoffe ich, spricht. An ihren Lippen will ich hängen in Erwartung ihrer klangvollen Stimme. Mit jedem Satz, den sie sagt, bereichert sie meine Wörtersammlung, auf die ich zurückgreife, um in den Schreckensbildern, die mich verfolgen, nicht zu ertrinken.

Nicht jedes Wort hat den gleichen Wert. Je seltener ich ein Wort wiederhole, desto wertvoller wird es. Das Wort "verzweifelt" zum Beispiel habe ich, indem ich es zu oft gebrauchte, entwertet, ebenso das Wort "Liebe", denke ich. Aber vielleicht täusche ich mich. Vielleicht bilde ich mir die inflationäre Verwendung der Wörter "verzweifelt" und "Liebe" nur ein, weil sie meine augenblickliche Verfassung am besten beschreiben. Wahrscheinlich habe ich das Wort "Sehnsucht" viel öfter benutzt. Sehne ich mich nach verzweifelter Liebe? Oder sehne ich mich verzweifelt nach etwas, wofür mir kein Wort einfällt?

Was meinst du, meine erträumte Geliebte? Sag es mir! Sag es mir! Du schweigst. Mir wird schwarz vor Augen. Ist das das Ende? Nein, nur die Glühbirne ist durchgebrannt. Ich wechsle sie aus und denke: Ich will zufrieden sein, zufrieden mit einem ganz langen "i"! Das dehnt sich klebrig wie Nasenschleim, den ich zwischen Daumen und Zeigefinger zu einem Kügelchen rolle. Du kannst auch Rotz dazu sagen, um mir ein Wort zu schenken, das ich bestimmt nie wieder verwende. Es soll das Prunkstück in meiner Sammlung sein, eine Blaue Mauritius. So sind wir im Geiste vereint. Die Sprache ist unsere Wohnung.

Du sorgst für Ordnung in unserem gemeinsamen Heim. Du achtest darauf, daß es nicht von der Decke schneit. Ich weiß, Liebste, es schneit nur aus Wolken. Ich weiß, Weihnachten findet nicht im April oder im März oder im Januar, sondern nur im Dezember statt. Also treten Sie ein, Herr Weihnachtsmann, aber legen Sie bitte nicht ab, damit das Kind nicht erschrickt! Wir haben ihm nämlich erzählt, daß es Sie gibt. Reißen Sie sich nicht den Bart vom Gesicht! Denn wer weiß, was in so einem kleinen Hirn vorgeht, wenn es den Glauben verliert, in so einem reizenden Köpfchen mit dem feinen Haarflaum auf der vorweggenommenen Glatze?

Unsagbares ist darin aufgehäuft, unsagbares Leid. Heute aber wollen wir uns freuen, lieber Herr Weihnachtsmann, denn ein Ros ist entsprungen, kein Roß, haha. Heute machen wir dumme Witze. Die Spritzkerzen sprühen. Die Glaskugeln blitzen. Der Baum, den wir besingen, leuchtet elektrisch. Doch gegen eine Kurzschlußhandlung ist niemand gefeit. Die stille, die heilige Nacht neigt sich dem Ende zu. Da liegt das Christkind unter Kissen erstickt in seinem Gitterbett, obwohl es doch, damit man es kreuzigen kann, zu einem jungen Mann heranwachsen sollte. Der Hausherr hat sich für eine saubere Lösung entschieden.

"Nun sind wir wieder unter uns", sagt er zu seiner Komplizin. Ich aber ziehe weiter von Wort zu Wort, eine Feder am Hut, mit Rucksack und Wanderstab. Das in mir Aufgestaute drückt gegen die Dämme, die das Tal, durch das ich wandere, schützen. Sie werden nur halten, wenn ich langsamer denke. Ich muß beim Gehen in Gedanken sprechen. Das Sprechen verlangsamt das Denken. Wenn mir jemand begegnet, darf ich nicht gedanklich verstummen. Er hört mich ja nicht, muß ich mir sagen. Selbst, wenn ich in Gedanken brülle, hört er mich nicht. Falls mich jemand anspricht, darf ich nicht darauf reagieren, sondern muß, ohne meinen Gedankenmonolog zu unterbrechen, so als wäre ich taub, weitergehen.

Sollte ich mich einer Begegnung unter diesen Voraussetzungen nicht gewachsen fühlen, muß ich um die Person, die mir entgegenkommt, einen Bogen machen, notfalls, sofern das Terrain es erlaubt, sogar den von mir eingeschlagenen Weg verlassen, um auszuweichen. Wege, die keine Ausweichmöglichkeit bieten, Stege, Gebirgspfade, sowie Städte, in denen man naturgemäß von Menschen umgeben ist, muß ich, solange ich anfällig für jede Störung bin, meiden. Aber, so denke ich unvermittelt, das Tal ist kein Tal. Mein Hut ist kein Hut. Genauso verhält es sich mit dem Wanderstab und dem Rucksack.

Meine Arme sind keine Arme. Mein Kopf ist kein Kopf. Ich bin nicht ich. Alles von mir jemals Gedachte wird durch eine sich wie ein Flächenbrand ausbreitende Negation aufgehoben. Da kommt, ausgerechnet jetzt, denke ich, in diesem kritischen Augenblick, ein Mensch auf mich zu. Aus der Entfernung kann ich nicht einmal sein Geschlecht erkennen. "Sie sind nicht Sie!" rufe ich. "Können Sie mich hören? Heben Sie einen Arm, wenn Sie mich hören können!" Da bleibt der Mensch stehen und hebt beide Arme, als hätte ich "Hände hoch!" gerufen.

"Sie sind aber trotzdem...", sage ich mit verlöschender Stimme, einen Fuß vor den anderen setzend wie der Seiltänzer, der als sich der Bahnsteig in einen Fluß verwandelte, die Balance verlor und in die Tiefe stürzte, so daß ich in den Zug, mit dem ich verreisen wollte, nicht einsteigen konnte, "... nicht nichts." Der Mensch ist männlich. Er trägt einen Hut, an dem eine Primel steckt. "Sie sind vielleicht ein Niemand", sage ich, als wir einander Auge in Auge gegenüberstehen. "Aber Sie sind nicht nichts. Und nun tun Sie doch die Arme herunter!" "Ich dachte...", stammelt er. "Man weiß ja nie..."

"Ich bin des Tötens müde", flüstere ich und gehe weiter, von Rührung übermannt. Mit jedem Schritt wird das Gefühl schwächer, bis davon nur die Erinnerung an eine Aufwallung bleibt, die ich mir nicht erklären kann. Aber ich suche ja nicht nach Erklärungen, sondern ich sammle Wörter. Ich kann es nicht oft genug wiederholen: Es gibt nichts anderes. Hügelketten begrenzen das flache Land wie schlafende Riesen. Schneebekränzt lockt, bräutlich geschmückt, das noch Entferntere. Wehmütig warte ich, bis es hinter Dunstschleiern verschwindet, damit ich mich mit dem Erreichbaren begnügen kann.

Ginge das Denkbare nicht über das Sichtbare hinaus, wäre ich ein fröhlicher Wandersmann. Die kahle Eiche, in deren Stamm ich, kindisch vor Sehnsucht, zwei ineinander verschlungene Herzen ritze, würde nicht wie eine vielfingrige Knochenhand in den Himmel ragen. Der Himmel wäre nichts als der Himmel, von Wolkenschlieren durchzogen, zwischen denen die Mondsichel als Vorbote der Nacht mit dem verbleichenden Blau konkurriert. Die ins schon dunkelnde Grün eingebetteten Dörfer wären nicht die Widerspiegelung meines Verlangens nach Heimat. Mich keiner Zensur unterwerfend, gebe ich mich ihm hin.

Dem Gott, der Gedanken verbietet, trete ich freimütig entgegen, die Strafe einfordernd wie ein Recht, das mir zusteht. Von Traurigkeit heimgesucht, stimme ich ein Loblied auf die Abwechslung an, bis der Schmerz nichts anderes zuläßt als die flehende Bitte, er möge enden. Auf das Bitten folgt das Ertragen. Ich nenne es: Hölle. Das Wort dauert etwas weniger als eine Sekunde. Das ergibt zirka viertausendmal "Hölle" in einer Stunde. Doch so reibungslos funktioniert das Denken nicht. Der gnädige Äol bläst Sand ins Getriebe.

Nicht ohne Scheu erwähne ich ihn, hingerissen vom Klang seines Namens, der mich, wenn auch nur kurz, zu dem Irrglauben verführt, ich könnte etwas der Musik Vergleichbares schaffen. Aber nein, die Sprache ist nur ein notwendiges Übel, ein Ausweg aus dem unwegsamen Gelände meiner Gefühle, ein Taumeln und Stürzen, eine heillose Verirrung, denke ich, mir widersprechend, während ich weiterhaste, ohne zu wissen, wohin. Wo es keine gangbaren Wege gibt, gibt es auch keinen Ausweg, sage ich mir. Oder entsteht durch das Gehen der Weg? Bin ich ein Wegbereiter? Oder war hier schon jemand?

Unter einem Hagebuttenstrauch entdecke ich einen Frauenschuh, ein Stück weiter zwischen Moospolstern einen zerrissenen Strumpf... Nein, dieser Spur folge ich nicht! Diese Geschichte werde ich nicht erzählen, beschließe ich, sondern den Strauch in eine Zimmerpflanze verwandeln und das Moos in ein Nadelkissen. Das Gehen ist jetzt, in meinem Zimmer, nur als ein Hin- und Hergehen möglich, das mich früher oder später an ein in einen Käfig gesperrtes Tier erinnern würde. Lieber lege ich mich hin. Dem Denken beim Gehen kommt das Denken im Liegen am nächsten. Nur einschlafen darf ich nicht.

Meine Gedanken müssen mich so sehr fesseln, daß ich sie gegen keinen Traum eintauschen möchte. Oder, noch besser: Ich muß den Schlaf und die damit verbundenen Träume fürchten. Meine Furcht vor dem Schlaf muß jede andere Furcht übersteigen. Zwar darf ich die Augen schließen. Zufallen dürfen sie nicht. Werden die Lider schwer so wie vom Gehen die Beine, muß ich all meine Konzentration auf das Wachbleiben richten. Der Marathonläufer, so wird gesagt, spürt seine Beine nach einer gewissen Zeit nicht mehr. Aber er läuft ja nicht ewig.

Wie lange, frage ich mich, will ich fortfahren mit dem Versuch, mein Schicksal in meine Hände zu nehmen, obwohl ich weiß, daß das Geben und Nehmen eine Zweiheit erfordert, die ich, und wenn ich mich noch so oft spalte, nicht herbeiführen kann? Während ich meine Lidschläge zähle, fällt der Putz von der Decke. Wie ein Schauspieler, dessen Rolle verlangt, daß er weint, halte ich nun, den Lidschlag unterdrückend, die Augen offen, bis mir die Tränen über die Wangen rinnen. Mauerbrocken fallen herab. Die Augen brennen. Nur Tote, denke ich, müssen sie niemals schließen. Aber sie weinen nicht.

Erst im Schmerz bin ich mir meines Lebens sicher. Zu Hause in mir, brauche ich kein Dach über dem Kopf. Doch den Einsturz muß ich, will ich mich nicht schon wieder retten, verhindern. Es war nur ein leichtes Beben. Die Schäden sind reparabel. Ich bin zu Kompromissen bereit. Den Schuh und den Strumpf behalte ich als Souvenirs meiner Wanderschaft im Gedächtnis. Die Frauenleiche wird ein Pilzsammler finden. In der Besetzungsliste meines Welttheaters scheint er nicht auf. Da kommen jetzt andere, Versicherungsbeamte, Gutachter, natürlich der Hausbesitzer, dann Maurer, Anstreicher, Handwerker aller Art.

Ich habe ja den Meisterbrief oder vielleicht erst den Gesellenbrief nur als Denker. Ungeschickt, wie ich bin, kann ich der Instandsetzung meiner Zweizimmerwohnung nur tatenlos zusehen oder mich diskret in die wie durch ein Wunder unbeschädigte Küche zurückziehen, damit sich die Arbeiter nicht argwöhnisch beobachtet fühlen, so als traute ich ihrem Können nicht, ihrem geheiligten Tun. Ehrfurchtsvoll stelle ich Bier zur Verfügung und zur Verköstigung mehrere Schinkensemmeln. Auch zu kleinen Handreichungen erkläre ich mich bereit.

Man solle mich rufen, falls ein Nagel fehlt oder einem der Arbeiter die Spachtel entgleitet und er sich das Herabsteigen von der Leiter ersparen will. Nur für die niederen Dienste bin ich zu gebrauchen. Natürlich übernehme ich auch das Saubermachen danach. "Lassen Sie das!" sage ich, als der Malerlehrling, schon auf dem Boden knieend, mit dem Aufwischen beginnen will. "Das Putzen ist unter Ihrer Würde. Bleiben Sie Ihrer Berufung treu!" Entsetzt sieht er mich an. Was ich auch sage und tue, es ist das Falsche, denke ich. Gibt es denn keinen Mittelweg zwischen dem Zuwenig und dem Zuviel?

Kann ich nur übertreiben, wenn ich mich nicht auslöschen will? Statt mich über die Wiederherstellung meiner Wohnung zu freuen, überlege ich, auf einem Stuhl sitzend, was geschähe, wenn ich die Zeit anhielte. Jedenfalls hätte ich bis auf weiteres keine Zukunft mehr, sondern nur eine gewissermaßen ewige Gegenwart und eine Vergangenheit, an die ich mich allerdings nicht erinnern könnte. Die Frage ist: Könnte ich überhaupt denken? Der Prüfling kreuzt "nein" an und hat bestanden. Denn selbst ein Gedankenblitz braucht seine Zeit. Oh, Wirrsal! Vom langen Sitzen ist mein linkes Bein eingeschlafen.

Aber es schläft nicht. Es ist abgestorben, aber es ist nicht tot. Indem ich es, mich an der Tischkante aufstützend, schüttle, reaktiviere ich seine Durchblutung. Nur im Rahmen des Möglichen wähle ich zwischen verschiedenen Wörtern. Die Zeit verrinnt. Die Arbeiter packen ihr Werkzeug ein. "Das Museum ist morgen geschlossen", rufe ich ihnen zum Abschied nach. Kaum sind sie fort, erfaßt mich ein zielloser Bewegungsdrang. In die Hände klatschend, drehe ich mich zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Eine Motte fällt leblos zu Boden. Hätte ich eine Tanzpartnerin, denke ich, wüchse ich über mich hinaus durch die mir zufallende Führungsrolle.

Tanzend würden wir uns Meter für Meter die Welt erobern. So aber komme ich nicht einmal bis zur Küchentür. Um mich selbst kreisend, hoffe ich auf die Fliehkraft der Sprache. Die Tür ist ja offen. Faites votre jeux! Blinkende Lichter säumen die Startbahn zum Glück. Die Kugel rollt. Die Gemälde werden vorsichtig abgehängt. "Entschuldigen Sie mich einen Moment", sage ich und mache meinem Einflüsterer Platz. Er soll meine Pechsträhne beenden. Ich aber kehre nicht wieder, sondern verschwinde wie ein zu leises Geräusch, von etwas Lauterem übertönt.

Das Tosen herabstürzender Wasser verschluckt den Finkenschlag. Unbemerkt beobachte ich den Kunstdiebstahl, ein Schutzheiliger der Gesetzesbrecher. Die Dazwischenkunft des Nachtwächters war nicht eingeplant. Die Saat des Bösen geht auf. Fragen werden nicht zugelassen. Wer gegen das Frageverbot verstößt, dem wird die Zunge herausgerissen. "Doch warum, bitte", frage ich, "genügt es nicht, die Antwort schuldig zu bleiben?" Vor mir steht, erkennbar an seiner Uniform, ein Gesetzeshüter. Ich küsse ihm zum Hohn die polierten Schuhe. Er sieht mich ja nicht. Viel Leichtes ist nötig, um das Bedeutungsschwangere aufzuwiegen.

Die Wälder sterben. Die Polkappen schmelzen. Der Seidelbast aber verströmt wie gewohnt seinen süßlichen Duft. Das Hundsveilchen enttäuscht den daran Riechenden. Die erwartete Enttäuschung, denke ich, ist schlimmer als die befürchtete. Darüber ließe sich trefflich streiten, würde nur endlich jemand den Lärm abstellen. Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr. Ich sage etwas, aber ich höre mich nicht. Ich lache lautlos. Ich schreie. Ich stelle mir den denkenden Menschen als einen Bauchredner vor, der seine Puppe verloren hat. So kann er zum Playback für andere werden.

Anfangs sind es nur wenige, dann Tausende, dann Millionen. Schließlich scheint die gesamte Menschheit, Kleinkinder ausgenommen, seine Gedanken nachzusprechen. Der babylonische Turm wird vollendet. Der Größenwahn hat sich gelohnt. Die kleinen Ungereimtheiten wird man mir nicht verargen. Ich versuche ja nur, einen Traum wiederzugeben: Finken in einem Spielcasino, geraubte Gesänge, ein Wasserfall, den man abschalten kann, ein Monolog aus Milliarden Mündern, lippensynchron. Warum? Warum nicht? Mein fragender Blick ist nach innen gerichtet. Ich kann jetzt wieder geradeaus gehen.

Erleichtert reihe ich mich in die Kolonne der Heimkehrer ein. Denn es ist Feierabend. Von einer U-Bahn steige ich in die andere um, fahre auf Rolltreppen hinauf und hinunter, stille an einem Imbißstand meinen Hunger und beschließe, mir ein Paar Schuhe zu kaufen. Zu der Verkäuferin, die mir zu Füßen hockt, sage ich: "Ich kaufe die Schuhe nur, um sie danach sofort wieder wegzuwerfen. Nun werden Sie fragen, warum ich sie trotzdem anprobiere ... Nein, Sie fragen nicht. Sie tun Ihre Pflicht. Der Stumpfsinn ist Ihre Rettung." Sie nimmt einen Schuhlöffel zu Hilfe. "Wären Sie so freundlich, mir die Füße zu waschen?" frage ich.

Da blickt sie auf. Hinkend, da an einem Fuß unbeschuht, fliehe ich aus dem Geschäft. Nun aber Vorsicht! Nicht übertreiben! Mein beschuhter Fuß ist kein Klumpfuß. Ein Schuhgeschäft ist kein Gotteshaus. Der Teufel fürchtet das Weihwasser. Was fürchte ich? Warum eile ich, obwohl niemand mich ruft, zu den Fahnen? Warum gehe ich barfuß auf heißem Sand? Daß ich den Schuh auszog, ist verständlich. Doch warum habe ich die Socken nicht anbehalten? Antwort: Ich wollte sie schonen. Ich habe sie in die Hosentasche gesteckt. Der Krieg hat gerade begonnen. Ich komme nur fünf Minuten zu spät.

Man lacht über mich. Da das Gelächter die Kampfeslust unterminiert, werde ich von den Kampfhandlungen ausgeschlossen, darf aber die Soldaten zwischen den Einsätzen mit einem Soloprogramm unterhalten. Mein Repertoire ist unerschöpflich. Vom furchtsamen Apfelbaum bis zum Blitz, der ihn spaltet, kann ich alles verkörpern, natürlich auch jegliches Vieh, eine ausblutende Mastgans, ein angeschossenes Reh, ja, auch den sterbenden Schwan. Nur die Selbstdarstellung gelingt mir nicht. Der Pfau schlägt sein Rad. Die Christrose bricht durch den Schnee. Zärtlich ummantelt die Flechte den Stein.

Was aber müßte ich tun, damit man erkennt, wie ich wirklich bin? "Seht ihn euch an!" grölen die betrunkenen Männer, und einer sagt: "Jetzt ist er eine Straßenlaterne." Und ein anderer: "Jetzt wird er angepinkelt. Seht, wie er trotzdem strahlt!" Nein, denke ich, das geht zu weit. Das Monopol auf die Phantasie muß mir erhalten bleiben. "Euch gibt es doch gar nicht!" rufe ich von der Bühne herab. "Euer Spott ist mein Spott. Indem ihr über mich lacht, lache ich über mich selbst." Sprechend falle ich aus der Rolle. Oder spiele ich den Aus-der-Rolle­-Fallenden?

Wüßte ich darauf die Antwort, würde ich mir nie wieder Fragen stellen, gelobe ich und setze meine Wallfahrt zum letzten Satz, der mir einfällt, fort. Die Ankunftszeit kenne ich nicht. Reumütig memoriere ich meine Sünden. Ich habe getötet. Ich habe meine Lügen als Irrtümer getarnt. Ich habe Hochmut mit Mut verwechselt. Im Geröll verliert sich der Kiesel. Der Wallfahrer schließt sich dem Pilgerzug an. Die Verschmelzung aber, von der er träumt, bleibt ihm versagt. Der Mensch muß sich mit Halbheiten zufriedengeben. Das ist ja bekannt.

Das nehmen wir stillschweigend hin mit einem Lächeln, durch Blutbäche watend. Das Lächeln ist unseren Gesichtszügen eingebrannt, bis es die Würmer oder die Flammen verzehren. Das sprachliche Wagnis wird mit Bonuspunkten belohnt. Ich ruhe mich auf meinen Lorbeeren aus. Ich denke: Im glasklaren Wasser tummeln sich Bachforellen. Ein Frosch hüpft hinein. Eine Libelle kitzelt mein angewinkeltes Knie. Von hier will ich mich nicht entfernen. Hier bleibe ich, bis sich die Landschaft in Licht auflöst, so daß die Orte, die ich verlasse, von den Zielen nicht unterscheidbar sind.

Ein Punkt, ein Strich, eine Rundung: So beginne ich noch einmal von vorn. Mein Bild von der Welt ist eine abstrakte Zeichnung. Wie Saatkörner werfe ich Buchstaben hinein und beobachte, was mir daraus erwächst. Jahre vergehen. Eines Sommers endlich kann ich zwei Wörter ernten: "Würfel" und "Spiel". Das Spiel ist verloren, denke ich. Der Verlierer verpfändet sein Recht auf Revanche gegen ein Liebesversprechen. Um es einzulösen, zeichne ich so, daß sich möglichst viele Berührungspunkte ergeben, ein Quadrat in einen Kreis, um den Kreis ein zweites Quadrat, das wieder ein Kreis umschließt, und so fort.

Denn die Gefühle, behaupte ich, gehorchen den Gesetzen der Geometrie. Nur die Gedanken sind sprachlich zu fassen, dingfest gemacht und eingesperrt wie Verbrecher, es sei denn, sie retten sich, flüchtig, in den Bannkreis einer Empfindung. Den Beweis dafür brauche ich nicht anzutreten. Das Licht habe ich eingerahmt, die Liebe ausradiert. Immer wieder sage ich mir: Es schaut dir jetzt niemand mehr zu. Du bist keinen kritischen oder verächtlichen Blicken mehr ausgesetzt. Wie ein dressiertes Raubtier durch einen brennenden Reifen springe ich durch den Rahmen ins Licht.

Zu nichts als zu meinem Vergnügen trainiere ich meine Zirkusnummer, bis sie den Anforderungen, die ich an mich stelle, genügt. Nur mir selbst führe ich sie vor und bedanke mich für meinen Beifall. Aber der will ja kein Ende nehmen! So viel Eigenlob kann der Mensch nicht ertragen. Ich muß es durch einen Schuß Selbstverachtung, die ich zum Selbstekel steigere, neutralisieren. Der emotionale Mittelwert, den ich auf diese Weise erreiche, gestattet mir eine realistische Sicht auf die jüngsten Ereignisse. Ich habe Anlauf genommen und bin über den Bach gesprungen. Nun suche ich mir eine Unterkunft und danach eine lukrative Beschäftigung.

Ich kann lesen und schreiben und beherrsche vier Weltsprachen fließend. Ich bin flexibel und aufgeschlossen, durch Rückschläge nicht aus der Bahn zu werfen, belastbar, konfliktfreudig, instinktsicher und zielorientiert, umgänglich, aber auch führungsstark. Indem ich alle erdenklichen Eigenschaften in mir vereine, schließe ich die Möglichkeit einer speziellen Begabung aus. Dominant und devot, aufbrausend und sanft, bin ich zugleich mein Vorgesetzter und Untergebener. "Schirre die Rösser an!" befehle ich mir. "Schließe die Akten!" Schon hetzt der Kutscher das Gespann durch die Nacht. Der Regen peitscht gegen die Scheiben.

Wegelagerer und Verschwörer gefährden meine Mission. Mit blankem Säbel schlage ich sie in die Flucht. Eine Bahnschranke markiert die Zeitenwende. Die Botschaft ist angekommen. Die Rückfahrt dauert nur eine knappe Stunde. Ich habe die Feuerprobe bestanden und werde zum Abteilungsleiter befördert. Eine Gefahrenzulage ist für diesen Posten nicht vorgesehen. Gerate ich in einen Hinterhalt, werde ich mich mit List und Tücke zu verteidigen wissen. Wer so tief gesunken ist wie ich, als ich nicht einmal wußte, ob ich ein Huhn oder ein Spiegelei oder ein Staubkorn im Jenseits bin, den bringt so leicht niemand zu Fall.

Ha, dieses Würstchen, diese intrigante Null namens Schmidt, denke ich. Mein Blutdruck steigt. Die Hände zittern. Ich darf mich nicht aufregen! Ich muß diesem Menschen, der seine Existenz ausschließlich mir verdankt, freundlich begegnen. Wie war es im Urlaub, Herr Schmidt? Haben Sie sich erholt? Haben Sie Kraft getankt für die bevorstehenden Schlachten... ? Nein, so nicht! Ich habe diesen Schmidt zwar erfunden. Aber ich muß ja mit ihm nicht parlieren. Ich höre ihm zu. Ich spiele den Interessierten, damit er sich sicher fühlt. Als er es am wenigsten erwartet, stoße ich zu.

"Ihre Gedanken", sage ich, "stimmen mit dem, was Sie mir da erzählen, nicht überein. Sie teilen mir die Verkaufszahlen des letzten Monats mit. Doch während Sie sprechen, lauern Sie die ganze Zeit nur darauf, mir ein Bein zu stellen. Sie wollen mich bei einem Fehler ertappen, um mich anschwärzen zu können. Ich kenne Ihre Gedanken. Jetzt haben Sie gerade das Wort 'Jude' gedacht, 'dieser elende Jude'. Aber ich bin gar kein Jude. Das Wort 'Jude' ist für Sie nur ein Synonym. Alles, was Sie ausrotten wollen, nennen Sie Jude. Mich wollen Sie ausrotten! Daß ich nicht lache, Sie armes Nichts!"

Der Durchschaute errötet. Mir wäre es lieber, er würde auf eine Art reagieren, die ich mir nicht vorstellen kann. Ich will wieder das Unvorstellbare denken, zum Beispiel: Herr Schmidt trocknet aus. Herr Schmidt verwandelt sich in einen ausgetrockneten See. Nun sieht er aus wie ein Bombentrichter. Vorher konnte ich in ihm baden. Jetzt gehe ich auf seinem Grund spazieren. Wie herrlich, mich an keine Vernunftregeln halten zu müssen! Doch ich weiß: Auf dem Boden der Tatsachen liegen keine ins Wasser geworfenen Münzen. Der Kollege Schmidt hat sich weder in einen ausgetrockneten See noch in einen Glücksbrunnen verwandelt.

Er ist einfach verschwunden und mit ihm die Erinnerung an die Geschichte, deren Held er war. Wieder einmal stehe ich mutterseelenallein auf weiter Flur und muß mir etwas ausdenken, um nicht zu verzweifeln. Vielleicht hilft es mir weiter, an das Wort "Flur" anzuknüpfen. Ich irre durch die Gänge eines zuvor nie betretenen Amtsgebäudes und suche die Tür, hinter der ich erwartet werde. Aha, denke ich, ein Gerichtsgebäude! Fällt mir denn nichts Originelleres ein? Meine Zeugenschaft soll einen alten Schulfreund entlasten. Ich finde die Tür und sage aus, ich hätte mit ihm an dem Abend, an dem die inkriminierte Tat geschah, Schach gespielt.

Wie gewöhnlich habe er durch den offensiven Einsatz seiner Dame meine Pferde nicht zum Zug kommen lassen. Die Pferde oder Springer seien meine Lieblingsfiguren. Stur hielte ich daran fest, sie sofort nach vorne zu werfen, obwohl ich die Strategie meines Freundes kenne und, um ihn zu schlagen, etwas Neues versuchen müßte. Wahrscheinlich wolle ich gar nicht gewinnen, sondern ihn durch meinen Starrsinn so langweilen, daß er schließlich alles daransetze, ein Spiel zu verlieren. Nur seine absichtliche Niederlage, sage ich, würde mir den Triumph bescheren, den andere sich erkämpfen müssen.

Als mich der Staatsanwalt fragt, ob jene Schachpartie meine bisher letzte mit dem Angeklagten gewesen sei, antworte ich: "Es war nicht nur meine bisher, sondern die vermutlich für immer letzte, denn, wie Sie sehen, hat sich mein Freund in eine Weinflasche und der Gerichtssaal in eine Wirtsstube verwandelt. Schenken Sie ein, verehrter Herr Staatsanwalt! Schwören Sie Ihrem Irrglauben ab, es gehe auf Erden mit rechten Dingen zu, und lassen Sie uns auf das arme Opfer trinken!" Mein Vorschlag ruft teils Heiterkeit, teils Empörung hervor. Der Richter entbindet mich meiner Zeugenpflicht.

Ich werde des Saales verwiesen und muß nun versuchen, die Lehre aus meinem erneuten Versagen zu ziehen. Ein Mensch kann sich in keine Flasche verwandeln. Warum tappe ich so knapp hintereinander zweimal in die gleiche Falle? Was ist es, das mich zum Unsinn verführt? Es ist die Sehnsucht nach Sinn. Jetzt stehe ich wieder im Flur. Zu beiden Seiten der Saaltür befindet sich je eine Sitzbank. Ich setze mich hin, um auf das Ergebnis der Verhandlung zu warten. Wird mein Schulfreund verurteilt, denke ich, werde ich ihn so bald nicht zu Gesicht bekommen. Wird er freigesprochen, werde ich ihn um Verzeihung bitten.

Zu Recht vorwurfsvoll wird er mich fragen, warum ich in einer für ihn so lebenswichtigen Situation meiner Neigung, den Verrückten zu spielen, nicht widerstanden hätte. "Ich konnte nicht", werde ich sagen, "es war ein Zwang." Er müsse sich das wie bei einem Triebtäter vorstellen. Das Wort "Triebtäter" wird meinen Freund so erschrecken, daß er mich nichts mehr fragen wird. Wir werden einen Blick tauschen und einander verstehen. Ja, so wird es sein. Ich brauche die Verifizierung meiner Prognose nicht abzuwarten. Aber wie komme ich aus dem Gerichtsgebäude hinaus?

Satz für Satz verfolge ich die Spur meiner Gedanken zurück, bis ich wieder auf der Bachböschung sitze, ein Knabe in kurzer Hose und weißem Hemd. Sogar eine Krawatte hat man mir umgebunden. Denn es ist Sonntag. Die Kirchenglocken rufen zur Morgenmesse. Auch die Fische hören es, denke ich. Das Gras weint. Die noch tief stehende Sonne wird seine Tränen trocknen. Aber warum ist sie so stumm? Warum lächelt sie nicht wie in dem Bilderbuch, aus dem mir die Mutter zum Einschlafen vorliest? Die Bilder kenne ich schon, so daß ich sie auch mit geschlossenen Augen sehe. Den Text kenne ich nicht.

Jeden Abend zaubert die Mutter in das Buch, das nur aus wenigen Seiten besteht, neue Sätze hinein, die tags darauf wieder verschwunden sind. Die Nacht löscht sie aus. Nur die Bilder bleiben. Während ich sie anschaue, höre ich die vertraute Stimme. Oh, lächelnde Sonne neben dem spitzen Winkel des Dachs mit dem rauchenden Schornstein! Die Fensterläden sind schon geöffnet. Umblätternd trete ich ein und verbünde mich mit dem Stopfkissen der alten Frau auf dem Schaukelstuhl und dem auf Rädern rollenden Holzpferd, mit dem der blauäugige Enkel spielt. Doch die Geschichte geht weiter.

Das Kind muß zur Schule. Die Frau läßt das Nähzeug fallen. Das Haus wird abgerissen und durch ein modernes ersetzt. Da wohne ich jetzt. Die Großmutter ist tot. Die Mutter lebt in einem Seniorenheim. Ich besuche sie alle zwei Wochen. Aber was mache ich sonst? Gehe ich einer geregelten Arbeit nach, oder bin ich zu alt dafür? Kann ich nicht wenigstens ein paar Gedanken lang ein normales Leben führen? Ich könnte zum Beispiel das Gemüse in meinem Garten gießen. Der Gartenschlauch würde sich durch den gestutzten Rasen schlängeln. Doch er könnte mir nicht gefährlich werden.

In meinem Garten, sage ich mir, droht keine Gefahr. In meinem Kopf aber fallen Splitterbomben. Das gesamte Areal ist vermint. Jeder Schritt kann der letzte sein. Wer nicht zu Tode kommt, wird zum Krüppel. Ich stelle die Spritzdüse auf Sprühen ein. Das Sonnenlicht erzeugt im zerstäubten Strahl das Spektrum des Regenbogens. Von den schon reifen Tomaten und dem aufgeschossenen Kohl perlt das Wasser. Es gibt keine Fluchtmöglichkeit, denke ich und richte den Schlauch gegen mich selbst. Bis auf die Haut durchnäßt, lasse ich ihn fallen und suche, als wäre ich in einen Guß geraten, Schutz in der Gartenlaube, wo ich mich bis auf die Unterhose entkleide.

Mit erhobenen Armen kehre ich, nachdem ich den Wasserhahn zugedreht habe, ins Haus zurück. Obwohl niemand an meinem Verhalten Anstoß nahm, schneide ich aus einem weißen Laken ein etwa fünfzig mal fünfzig Zentimeter großes Quadrat, knüpfe es an einen Besenstiel und hänge es, wobei ich den Besen in eine durchbrochene Stuhllehne klemme, aus dem Wohnzimmerfenster. Als der Postbote die von mir abonnierte Tageszeitung in die dafür vorgesehene Röhre neben dem Gartentor steckt, beeile ich mich, halbnackt, wie ich bin, sie zu holen. "Guten Morgen!" ruft er, sich auf das Postrad schwingend.

"Wieviele Kriege haben Sie mir denn heute gebracht?" frage ich. Er hört es nicht mehr. Sollte mir, denke ich, trotz meines Friedenswillens Feindschaft entgegenschlagen, würde sich zeigen, wie sehr ich inzwischen am Leben hänge. Mein Eigentum würde ich nicht verteidigen. Mögen die Panzer anrollen und das Gemüse niederwalzen! Das Haus gäbe ich zur Plünderung frei. "Nehmen Sie alles mit", würde ich sagen, "den Fernsehapparat, das Silberbesteck, den Schmuck meiner verstorbenen Frau, die Teppiche, das Porzellan... " Oder wäre es klüger, mich knebeln lassen, um die Plünderer nicht zu diskreditieren?

Gegen ihre Mordlust wäre ich machtlos. Daß mein Ende zwangsläufig das ihre nach sich zöge, könnte ich ihnen nicht verständlich machen. Denn ich verstehe es ja selbst nicht. Die Zeit ist vorbei, als ich meinen Tod überlebte und ein Gedanke die Wolken vertrieb. Ein Sturm kommt auf. Das Obst fällt von den Bäumen. Die Fahne flattert. Der Stuhl kippt um. Ein Papierdrachen fliegt über das Haus. Ich warte nicht, bis es klirrt, sondern nütze die Freiheit, die mir geblieben ist, zu einem Rollentausch. Das bedeutet: Mich spielt jetzt ein anderer, an dessen Stelle ich getreten bin.

Er kann das Zuschlagen des Fensters noch gerade verhindern. Verwundert über sich selbst, bindet er kopfschüttelnd von dem Besen das ausgefranste Stück Leintuch los und stellt ihn zurück in die Abstellkammer. Dann zieht er seinen Morgenmantel über. Die Zeitungslektüre verschiebt er auf später und schaltet den Fernseher ein. Ich bin der Grundstücksnachbar, der ihn unangemeldet besucht. "Entschuldigen Sie, daß ich Sie beim Fernsehen störe", sage ich, als er mir im Hausflur entgegenkommt. Darauf er: "Daß ich fernsehe, können Sie gar nicht wissen." "Stimmt", gebe ich zu. "Ich kann es höchstens erraten."

"Sie verwechseln Ihre Rolle mit Ihrer tatsächlichen Existenz", fährt er fort, "und gefährden dadurch das Projekt, das Sie sich selbst ausgedacht haben. Nun aber kommen Sie!"

Er führt mich ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher aus.

"In einem amerikanischen Film würde ich Ihnen jetzt einen Drink anbieten. Sie würden das Angebot annehmen und mir von Ihrer zerrütteten Ehe erzählen. Aber wir sind in keinem amerikanischen Film. Und jetzt hören Sie genau zu! Die Wahrheit ist, daß ich mit Ihrer Frau ein Verhältnis habe."

"Sie lügen!"

"Ja, natürlich lüge ich."

"Sie spielen mir etwas vor!"

"Ja, was denn sonst?"

Ich lasse mich in ein Sofa fallen und nehme eine der Salzstangen, die der Nachbar wie immer, bevor er fernsieht, in einer zweckentfremdeten Tasse auf den Tisch gestellt hat.

"Wie soll es jetzt weitergehen?" fragt er. "Sie machen ja so viele Fehler, daß ich sie beim besten Willen nicht ausbügeln kann."

"Hauptsache, ich bin nicht allein", sage ich. "Das Alleinsein ist unerträglich."

"Aber Sie haben doch Ihre Frau und Ihre Kinder. Gut, Ihre Frau betrügt Sie. Sie könnten sich scheiden lassen oder sowohl die Frau als auch Ihre beiden entzückenden Buben auf bestialische Weise ermorden... "

Die Salzstange erzeugt, als ich sie zerbeiße, ein unpassendes Knackgeräusch.

"Sie könnten natürlich auch mich ermorden", sagt der Nachbar, "indem Sie mich mit einem Hammer erschlagen. Das Mordwerkzeug finden Sie in der Besenkammer."

"Unmöglich", sage ich.

"Richtig", stimmt er mir zu. "Denn dann müßten Sie sich ja selbst erschlagen. Aber nun gehen Sie!"

"Das kann ich nicht."

"Warum nicht?"

"Ihre Anwesenheit lähmt mich. Sie müssen zuerst gehen. Dann folge ich Ihnen wie ein Hund seinem Herrn, ein Mensch, aber hündisch, den Unwissenden spielend. Denn natürlich weiß ich, wohin Sie gehen. Sie mögen, um mich zu täuschen, denken, Sie gehen nach rechts, obwohl Sie vorhaben, geradeaus oder nach links zu gehen. Ich aber weiß sowohl, was Sie denken, als auch, was Sie vorhaben, und selbstverständlich sehe ich auch voraus, was Sie, vielleicht entgegen Ihrem Vorhaben, dann tatsächlich tun. Sie können mich nicht überraschen. Ich spiele den Überraschten nur und zugleich den Ihnen sklavisch Ergebenen."

"Wir lähmen und gegenseitig", sagt nun der Nachbar.

Das ist der Gipfel, denke ich. Höher komme ich nicht mehr hinaus. Tiefer kann ich nicht fallen. Zwar habe ich das Reservoir der mir zu Gebote stehenden Wörter bei weitem nicht ausgeschöpft. Aber soll ich mich deshalb mit einem mittelmäßigen Gedanken begnügen? Soll ich etwa die nach den letzten Worten des Nachbarn eingetretene Stille als Vorstufe eines Geräuschs betrachten, das, indem es mich aufschreckt, die Lähmung beenden würde? Nein, es bleibt still. Der Nachbar verhungert. Das Haus verfällt. Der Garten verwildert.

Das Sofa, auf dem ich sitze, entpuppt sich als Rattennest. Ich warte, bis es zusammenbricht, und verlasse den Ort des Schreckens, in den sich die Idylle verwandelt hat. Über meinem Alltagsgewand trage ich einen Krönungsmantel. Majestätisch schreite ich durch die von Einfamilienhäusern und den dazugehörigen Gärten gesäumte Straße. Unnahbar, denke ich, aber nicht unbemerkt. Man wird den Kindern und Kindeskindern von meinem Auftritt erzählen. Man wird die Erzählung ausschmücken und manches dazuerfinden, bis man nicht mehr wissen wird, ob es sich um eine wahre Begebenheit oder eine Legende handelt.

Ich werde mich an dem Expertenstreit, der sich an dieser Frage entzünden wird, nicht beteiligen. Ich bin kein Experte, am wenigsten, meine Person betreffend. Ich weiß über mich nur, daß ich lebe. Ja, daran halte ich fest. Das stelle ich nie wieder in Frage, so wahr mir Gott helfe. "Ich lebe", sage ich, während ich zum wiederholten Male reisefertig und reisebereit und sogar reiselustig auf einem Bahnsteig stehe. Der Zug, auf den ich warte, fährt ein. Die Türen öffnen und schließen sich. Ich bin auch diesmal nicht eingestiegen, denke ich. Den Koffer werfe ich in den Fluß.

Der Seiltänzer zwinkert mir zu und stürzt ab. Ich habe ihn abgelenkt. Nun liegt er im Koma und kann mich für seinen Absturz nicht verantwortlich machen. Er wird mich vielleicht überleben, aber er wird nie mehr erwachen, sage ich mir, am Ufer stromaufwärts gehend. Denn mein Ziel ist die Quelle. Immer will ich zum Anfang zurück. Doch schon nach wenigen Schritten kehre ich um. Mein Koffer verschwindet in einem Strudel und taucht wieder auf. Ich laufe ihm nach, obwohl ich weiß, daß ich ihn nicht einholen kann. Als ich ihn aus den Augen verliere, laufe ich trotzdem weiter.

Wenn ich vor Erschöpfung zusammenbreche, wird sich jemand meiner annehmen, hoffe ich. Damit sich die Hoffnung erfüllt, darf ich nicht aufhören zu laufen, es sei denn, es gelänge mir, meinen Zusammenbruch glaubhaft zu spielen. Käme mir jemand zu Hilfe, wäre das die Bestätigung meiner Glaubhaftigkeit, denke ich. Der Umkehrschluß wäre allerdings unzulässig. Ließe man mich hilflos am Ufer liegen, wäre das kein Beweis dafür, daß ich unglaubwürdig zusammengebrochen bin. Womöglich, so schießt es mir durch den Kopf, hat auch der Seiltänzer seinen Sturz vom Seil nur gespielt.

In diesem Fall wäre ich schuldlos. Der Gedanke beflügelt mich. Ich laufe und laufe. Schon liegt die Stadt am Fluß hinter mir. Es dunkelt. Ich sehe den Weg nicht mehr, stolpere und falle auf das Gesicht. Nun habe ich Nasenbluten. Das Blut tropft auf mein Hemd und die Hose. Ich stille es nicht, sondern zeige mich blutbefleckt in der nächstgelegenen Ortschaft. Mir wird verständnisvoll zugenickt. Man grüßt mich sogar. Ich heiße, wenn ich richtig gehört habe, Hias, mit Nachnamen Wagner. Um meine genaue Adresse herauszubekommen, täusche ich Trunkenheit vor, wanke und stürze ein zweites Mal, das heißt, ich spiele den Wankenden und den Stürzenden.

Zwei Dorfbewohner eilen herbei. Der eine sagt: "Hast zuviel g'suffa!" Der andere: "Bluat." Sie greifen mir unter die Arme und heben mich hoch. Meine Frau sagt, als sie mich sieht: "Er verträgt das Schlachten nicht." Wir haben drei Kinder, zwei Söhne, sechs und vier Jahre alt, und eine zwölfjährige Tochter, die geistig behindert ist. Außerdem besitzen wir vierzehn Kühe, acht Schweine, etliche Hühner, drei Katzen und einen Hund. Ich freue mich auf meine neue Aufgabe. Das Landleben habe ich mir immer gewünscht. Doch leider dauert es nur eine Nacht.

Das Bett, in dem ich erwache, befindet sich in einer Gefängniszelle. Das Verbrechen, das mir zur Last gelegt wird, erfahre ich von meinem Verteidiger, den ich in aller Unschuld nach den Einzelheiten befragen kann. Denn es ist ja nicht ungewöhnlich, daß sich ein Straftäter an sein Delikt nicht erinnert. "Was habe ich verbrochen?" frage ich. "Sie haben Ihre Familie ausgelöscht", informiert mich der Anwalt. "Zuerst haben Sie Ihre behinderte Tochter mit dreizehn Messerstichen regelrecht abgeschlachtet, dann Ihre Frau erdrosselt und zuletzt Ihre zwei Buben im Schlaf erstickt."

"Ich kann mir die Zahlen nicht merken", sage ich. "Fünfzehn Kühe? Vierzehn Messerstiche? Wieviele Schweine?" "Sehr gut!" ruft da begeistert der Anwalt. "Merken Sie sich das und wiederholen Sie es vor Gericht, damit ich auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren kann. Oder ziehen Sie eine lebenslängliche Haftstrafe dem Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt vor?" "Würde ich für all meine Untaten bestraft", antworte ich, "bräuchte ich mehrere Leben. Wie komisch!" Ein Lachkrampf befällt mich. Die Wände erzittern. Der Putz bröckelt ab. Ich denke: Nein, nicht schon wieder! Zu oft habe ich, wenn mir nichts Besseres einfiel, mein Heil in berstenden Bauten gesucht.

Diesmal halten die Mauern stand. Das Gefängnis bleibt stehen. Nur die Geschichte meiner Inhaftierung ist hier zu Ende. Ich beginne aber sofort eine neue, in der ich, obwohl als Erzähler naturgemäß menschlich, als Ungeziefer erscheine, das ungehindert entkommen kann. Kaum bin ich frei, beginnt schon die nächste Geschichte, in der sich ein namenloser Franzose in einem Cafe in Genf in eine Lettin verliebt. Ja, warum nicht? Sie sitzt, hin und wieder an einem Campari nippend, zwei Tische entfernt von ihm. Er hat sich vorgenommen, sie anzusprechen, muß jedoch, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzen kann, auf die Toilette.

Als er zurückkommt, ist die Frau nicht mehr da. Ich muß mir daher keine Gedanken darüber machen, in welcher Sprache er sich mit ihr unterhalten hätte, so wie ich mir auch nicht überlegen muß, wie mein Anwalt in der vorvorigen Geschichte mit meinem plötzlichen Verschwinden zurechtkam. Indem ich die Grenzen meiner Inspiration nicht überschreite, entgehe ich der Notwendigkeit, mir etwas auszudenken. Sicher würde mir das Erzählen einer Liebesgeschichte Vergnügen bereiten, doch wer hörte mir zu? Wer würde sie lesen, entschlösse ich mich, sie schriftlich festzuhalten?

Mir selbst brauche ich, da ich weiß, was ich denke, nichts zu erzählen. Wo bin ich? Wie bin ich hierhergekommen? Es stinkt nach Pisse und Scheiße. Ich trage Gummistiefel und an der Stirn eine Lampe. Ich bin jetzt, um meinen Erfahrungshorizont zu erweitern, Kanalarbeiter. Das ist ein ehrenwerter Beruf, den ich bereits aus dem Fernsehen kenne. Was der Mensch alles ins Klo schüttet, hat den Reporter erstaunt. Ich denke: Blut eher selten, denn Blut wird vergossen. Vergeudetes Sperma wird in Taschentücher gespritzt. "Vor langer Zeit, als die Städte Kloaken waren, dufteten Linden vergeblich", sage ich vor mich hin.

Der Satz klingt in mir nach. Ich erfinde eine Melodie dazu und lasse mich, trällernd durch das Abwasser stapfend, von meinen Gedanken tragen. Ist so etwas möglich? Jedenfalls gelange ich auf diese Weise, gewaschen und sauber gekleidet, zurück an die Oberfläche, wo mir ohne ersichtlichen Grund das Wort "Freudenhaus" einfällt. Ein weiterführender Einfall wäre das nur, wenn er sich mit einem Vorhaben verbände. Stattdessen kommen mir, ebenfalls grundlos, die Wörter "Unterstand", "Tropenhelm" und "Sonnenglast" in den Sinn. Ratlos warte ich auf einen Hinweis, was nun zu geschehen hat.

Da tritt die Lettin, deren buchstäblich atemberaubende Schönheit ich jetzt erst bemerke, mit raschem Schritt auf mich zu und entschuldigt sich in perfektem Deutsch für ihr verspätetes Kommen. "Aber nein", sage ich, "Sie kommen gerade recht. Wären Sie früher gekommen, hätten wir einander verfehlt. Ich war in Gedanken noch nicht so weit ... " "Ist ja gut", unterbricht sie mich unwirsch. Bezaubert fahre ich fort: "Ich mußte zuerst meine Kinder ermorden, dann mich als Käfer der Strafe entziehen, dann im Untergrund meinen Dienst verrichten." "Die Rolle kenne ich schon", sagt sie. "Welche Rolle?"

"Du warst wieder einmal auf der Flucht. Jedesmal, wenn wir verabredet sind, flüchtest du in deine Hirngespinste. Hast du die Karten?" "Welche Karten?" Ich greife in meine Jackentasche. Da sind sie ja! Parkett, fünfte Reihe links, Rigoletto. Ich kann mein Glück gar nicht fassen. So viel Schönes auf einmal ist mir noch nie eingefallen. Nur jetzt kein Gedankensprung! Mein Wille ist stark. Aber das Hirn ist stärker. Als ich den Arm hebe, um ein Taxi herbeizuwinken, löst er sich von mir ab und fällt zu Boden. Ich muß, will ich nicht sämtliche Gliedmaßen verlieren, schnell fort von hier, denke ich.

Den Arm, es ist der linke, lasse ich liegen. Denn reparieren muß ich mich nicht. Wenn ich ihn, nicht denselben, aber den gleichen, in Gedanken benötige, wächst er mir nach. Darauf kann ich vertrauen. Doch zunächst widerfährt mir das Gegenteil. Auch der rechte Arm fällt, als ich mich im Gebüsch einer Grünanlage befriedigen will, von mir ab. Nun wird es spannend. Verliere ich bei dem Versuch, mein Versteck zu verlassen, auch noch die Beine? Nein, gehen darf ich, und als mich ein Passant nach der Uhrzeit fragt, kann ich ihm, mit der rechten Hand den linken Ärmel hochschiebend, die erbetene Auskunft geben.

Nur auf Oper und Onanie muß ich vorerst verzichten. Falls ich die Lettin wiedersehe, werde ich ... Ah, da ist sie schon! Ich erkenne sie an ihrem rötlich schimmernden Haar. Sie steht vor dem Schaufenster einer Parfümerie. Zu der Zeit, als ich noch darauf bauen konnte, daß das von mir Gewünschte geschieht, hätte ich mich ihr ohne Scheu genähert. Jetzt aber zögere ich. Mit welcher Taktik kann ich eine Zurückweisung vermeiden? Ich stelle mich neben sie. Im spiegelnden Glas treffen sich unsere Blicke. "Ich bin ... Ich habe ... Ich will ... ", stammle ich. Sie nimmt aus meiner Jackentasche die Opernkarten, zerreißt sie in kleine Stücke und wirft sie über mich wie Konfetti.

Soll ich das lustig finden? Ich höre sie sagen: "Du weißt nicht, wie es weitergeht. Du nennst mich Lettin. Du glaubst, mich zu lieben." Ein Schatten verändert die Spiegelung. Das Bild verschwindet. Ich bin allein, denke ich. Lautlos zersplittert die Scheibe. Der Film in meinem Kopf wird zurückgespult. Das Glas zerspringt wieder und wieder. Wie oft muß ich mir das denn ansehen? Warum ist es so still? Ich fürchte, das aufgestaute Geklirr wird sich, wenn die Wiederholungen aufhören, so laut entladen, daß mein Trommelfell platzt. Es hilft nicht, mich abzuwenden. Ich bin von splitternden Spiegeln umgeben.

Die Spinne ignoriert den Todeskampf ihres Opfers. Der Schützenfisch hat sie längst entdeckt. Die Rätsel, die ich mir aufgebe, sind schon im voraus gelöst. Ich weiß, was sich hinter ihnen verbirgt. Die Sprache dient der Verschleierung. Das Wissen entzieht sich ihr. Der Fisch frißt die Spinne. Das Blatt, auf dem sie saß, zittert nach. Das Geräusch, das ich fürchtete, dringt nur noch von fern an mein Ohr. Die nächste Liebeschance werde ich besser nützen, sage ich mir und erkenne meinen Denkfehler sofort. Es gibt keine Verbesserung. Es gibt nur das Nebeneinander der Wörter.

Der Schußwechsel, die Lachsalve, die Taube im Hohlraum zwischen den Händen ... Ich werfe sie in die Luft und sehe ihr nach. Aber das Nachsehen habe ich nicht. Der Berg ruft. Die Wälder schweigen. Das Timing stimmt. Nur ungern bediene ich mich fremdsprachlicher Wörter. Viel lieber würde ich Klavier spielen können. So aber muß ich mich damit begnügen, eine CD einzulegen. Wenigstens habe ich jetzt wieder ein Heim. Den CD-Player habe ich ins Schlafzimmer gestellt. Mit der Fernbedienung habe ich fünfmal hintereinander das Adagio aus der Mondscheinsonate einprogrammiert. Denn das Allegretto würde mich wecken.

Bevor ich einschlafe, lege ich, um Überraschungen vorzubeugen, noch mein Geschlecht, mein Alter und meine berufliche Tätigkeit fest. Ich bin ein weibliches Geigenwunder. Morgen konzertiere ich in Paris, denke ich, als könnte ich durch das Denken eine mir angenehme Zukunft erzwingen. Die Bruchstücke eines Traums, an die ich mich, schweißgebadet erwachend, erinnere, vereiteln den Plan. Wer ist der alte Mann, dem ich ins Gesicht schlug, da er, als ich die Lettin in meinen Armen hielt, nicht von mir wich? Aus seinen toten Augen floß Blut. Seine gespitzten Lippen öffneten sich wie das Maul eines an der Luft erstickenden Fischs.

Wollte er küssen? Neidete er mir meine Liebe? Ich schlug und schlug. Offenbar hatte ich Hände genug, um ihn zu mißhandeln, während ich die Frau an mich drückte. Er ließ nicht von uns ab, bis ich mit einem Schrei den Traum beendete. Es ist früh am Morgen. Der Schrei füllt noch den Raum. Es ist der Morgen meiner Geburt. Ich gebar mich mitten im Leben. Lächelnd nehme ich die Glückwünsche der Gratulanten entgegen. Sie legen Geschenke neben das Bett. Sie kommen und gehen. Ich bedanke mich. Wie ausgesiebt sondert sich das Gesprochene vom Gedachten ab. Gold, denke ich, und dann: schwarzes Gold.

Pferdeköpfe pumpen es aus der Tiefe. Damhirsche äsen am Waldesrand. Eine mäandernde Spur zieht sich durch das zerklüftete Land. Sind das meine Gedanken, oder ist es ein aus meinen und den Gedanken anderer zusammengesetztes Gedankenkonglomerat? Ist mein Gehirn mit fremden Gehirnen vernetzt? Der Teekessel pfeift. "Bitte verzeihen Sie", sage ich, steige aus dem Bett und tappe durch den Flur in die Küche. Nachdem ich das kochende Wasser in eine Kanne gegossen und den Tee habe ziehen lassen, fülle ich eine Tasse und schlürfe, sie mit beiden Händen umklammernd ... nein, kein Lebenselixier, sondern Orange Pekoe.

Wahrscheinlich bin ich nach dem Traum noch einmal eingeschlafen und erst durch das Pfeifen endgültig aufgewacht, denke ich, während ich die Zyklame mit ihren wie Schwanenhälse sich reckenden Stengeln vor dem Fenster betrachte. Wer aber hat den Teekessel aufgesetzt? Der Ungeborene, der ich war, wüßte es. Eine Knospe springt auf. Ein Sonnenstrahl streift die sich entfaltende Blüte. Solange die Tasse nicht leer ist, sage ich mir, wird nichts Unverhofftes geschehen, kein Bombenalarm, kein Herzinfarkt. Doch nachgießen darf ich mir nicht. Denn wer zu viel verlangt, verliert alles.

So sagt eine Volksweisheit. Ich bin jetzt ein Volksmitglied. Ich wohne in einer deutschen Stadt. Ich habe eine deutsche Zukunft und eine deutsche Vergangenheit. Ich halte mich an die deutschen Gesetze. Begehe ich eine Ordnungswidrigkeit, entrichte ich umgehend das Ordnungsgeld. Habe ich eine Meinung, vertrete ich sie. Habe ich keine, schließe ich mich einer bereits vorhandenen an. Einmal pro Woche beteilige ich mich an einer Demonstration, sofern sie genehmigt ist. Fragt man mich, wofür ich lebe, antworte ich: "Für mein Land." Mit jedem Wort, das ich denke, bezeuge ich meine Vaterlandsliebe.

Denke ich "Kirschblüte", werden weltweit sämtliche blühenden Kirschbäume deutsch. Jetzt denke ich: Angst, Sehnsucht, Lust. Indem ich meine Gefühle benenne, tilge ich das Nicht-Deutsche in mir. Ein undurchdringliches Wortgeflecht ist meine Welt. Das Unbeschreibliche eliminiere ich. Nach dem letzten Schluck lasse ich, da ich das Wort "Scherben" denke, die Tasse auf den Steinfußboden fallen. Ein Sperling verirrt sich durch das offene Küchenfenster, prallt gegen die Wand und plumpst in die Spüle. Sein Piepsen rührt mich. Ich schließe das Fenster und kehre die Scherben auf eine Schaufel.

Als das Telefon klingelt, hebe ich ab und sage: "Ich erwarte Sie um zwölf Uhr unter dem Eiffelturm." Nun habe ich ein unerreichbares Ziel. Nur das Unerreichbare lockt mich. Ich fahre zum Bahnhof und steige in den nächstbesten Zug. Um punkt zwölf ziehe ich die Notbremse. Die Flucht gelingt. Gegen Abend bin ich wieder zu Hause. Der Sperling ist tot. Ich beerdige ihn wie ein verendetes Haustier im Garten. Mit einem frugalen Mahl, Fernsehen, Duschen und zwei Seiten Proust klingt der Tag aus. Es ist ein Sonntag. Morgen, denke ich, wird sich zeigen, ob ich berufstätig, arbeitslos oder so vermögend bin, daß ich keinem Broterwerb nachgehen muß.

Aber es gibt kein Morgen. Die Ölfelder werden in Brand gesteckt, die Hirsche erlegt. Ins Flußbett strömt das Schmelzwasser der Berge. Das alles vollzieht sich in einem Zeitraum von mehreren Wochen. Mein Tun und Lassen tritt in den Hintergrund. Ich wache, ich schlafe, ich nähre mich. An Träume kann ich mich nicht erinnern, aber an einen seltsamen Zwischenfall. Ich saß unter einem Kastanienbaum. Eine junge Frau ging vorbei und warf mir einen zu einem kleinen Quadrat gefalteten Zettel zu. Ich fing ihn auf und entfaltete ihn. Da verwandelte er sich in eine Vogelfeder.

Die trage ich nun bei mir wie einen Talisman. Schemenhaft treten aus der sonnendurchfluteten Luft Gestalten und lösen sich wieder auf. Um sich zu verfestigen, müßten sie mit mir sprechen. Ich bleibe der stille Beobachter, gespannt, ob sie die Kraft finden, den Bann zu brechen, in dem sie gefangen sind. Die Flüchtigkeit ihres Daseins gibt ihnen den Anschein leichtfüßiger Tänzer. Riefe ich sie, würde ich die schöne Erscheinung zerstören. Lieber verharre ich in meiner Einsamkeit und erfreue mich an den Bildern, die mir der Zufall schenkt. Erst die Dämmerung löscht sie für immer aus.

Will ich die Nacht heil überstehen, muß ich einen Schlachtplan entwerfen. Vorrückend von Wort zu Wort, behaupte ich mich gegen den Ansturm unerwünschter Gedanken. Im fahlen Mondlicht verbrüdere ich mich mit meinem Schatten. Er ist meine Vorhut. Er sondiert das Terrain, damit ich mich nicht unnötig gefährde. Nur einem unausweichlichen Gegner will ich mich stellen. Er heiße Tod oder Leben. Der Name ist austauschbar. Ich weiß, das ist keine gute Idee. Ich muß mich bescheiden. Mir muß jetzt jedes Mittel, das mich vor fremden Einflüssen schützt, recht und billig sein. Ja, recht und billig!

Besser, ich denke ein Wort zuviel, als daß ich dem Feind erlaube, durch eine Gedankenlücke in mein Hoheitsgebiet einzudringen. Den Kopf verliere ich nicht, haha, aber den Körper. Körperlos bin ich den Lebenstüchtigen überlegen, todesverachtend. Sie weichen zurück. Eine Gloriole krönt das sich Bahn brechende Nichts. Im Triumph kehre ich heim, unsichtbar. Die Schlacht ist entschieden. Das schwere Geschütz, das ich auffuhr, wird im Gedankenarsenal deponiert. Im Morgengrauen, endlich, umfängt mich der Schlaf. Die Feder habe ich unter das Kissen gelegt.

Nun aber geschieht folgendes: Ich denke, ich schlafe, das heißt, ich habe mich wieder einmal verdoppelt. Das Verdoppeln oder Klonen, wie man neuerdings sagt, ist meine Lieblingsbeschäftigung. Ich kann mich schlafend verlassen. Ich kann bewußt träumen. Ich kann natürlich auch stehend sitzen oder gleichzeitig essen und kotzen. Ein Unmaß an Lebensqualität eröffnet sich mir. Ja, ich kann sogar wie in meiner Glanzzeit, ich wage es kaum zu denken, sterben und weiterleben. Doch das ziehe ich vorerst nicht in Betracht. Denn mit dem Tod spielt man nicht. Das Leben ist kein Theaterstück.

Wer den Bogen überspannt, steht waffenlos da. Ich aber muß gewappnet sein gegen die Angriffslust meines Hirns. Brav nehme ich den Fuß vom Gas in den Serpentinen zum Hochplateau. Der Parkplatz ist voll besetzt. Geduldig reihe ich mich ein in die blecherne Warteschlange. Wären Ameisen bunt, könnte ich die Erhebung, die noch zu besteigen ist, mit einem Ameisenhaufen vergleichen. Farbenfroh leuchten die Anoraks. Ungläubig reibe ich mir den Sand aus den Augen. Zum Beweis meiner Anwesenheit fotografiere ich mich mit dem Selbstauslöser unter dem Gipfelkreuz. Bin ich tatsächlich wach?

Ist der Glaslüster, dessen leises Klirren bei der kleinsten Erschütterung mich entzückt, nicht herabgestürzt? Ich stelle rhetorische Fragen. Der Himmel über mir einerseits, die Zimmerdecke andererseits, denke ich telepathisch. Meine Kindheit habe ich übersprungen. Das Alter ficht mich nicht an. Zweiköpfig entwirre ich den von mir angerichteten Gedankensalat und beginne, den Fernblick genießend, mit der verspäteten Morgentoilette. "Herr", sage ich vor dem Zähneputzen und nach dem Ausspucken noch einmal: "Herr!" Ist das der Anfang eines Gebets? Will ich dem Herrgott danken?

Er hat den Berg und die Bergstraße erschaffen, das Berghotel und den Bergtourismus. Gurgelnd beschließe ich, mir nachzufolgen, und nehme ein Doppelzimmer. Doch während ich auf mich warte, denke ich: Es ist genug. Der Schiffbrüchige hat das rettende Ufer erreicht. Er muß nichts erklären. Man sieht ihm an, was er jetzt nötig hat: Pflege. Die Inselbewohner servieren ihm geröstete Maden und Ziegenblut. Die geschlechtsreifen Mädchen bilden um ihn eine Kreis, stampfend und singend, bis eines ins Delirium fällt. Es wird noch in dieser Nacht seinen Samen empfangen.

So stelle ich mir die Überwindung meiner Selbstbezogenheit vor. Aber ich fahre ja nicht zur See. Ich habe nur die Wahl zwischen einem Urlaub im Hochgebirge und meinem noch immer nicht definierten Alltagsleben. Als es an der Tür klopft, denke ich: Entweder ist es das Zimmermädchen, oder es befindet sich eine zweite Person in meiner Wohnung. "Augenblick!" rufe ich, da ich mich nicht entscheiden kann, und entkomme durch einen Sprung aus dem Fenster. Daß ich ihn, von einer leichten Knieprellung abgesehen, unverletzt überstehe, grenzt an ein Wunder. Doch aus welchem Fenster bin ich gesprungen?

Sowohl meine Wohnung als auch das Hotelzimmer liegen im ersten Stock. Allerdings müßte ich mich durch das nur siebzig mal siebzig Zentimeter große Badezimmerfenster mühsam hindurchgezwängt haben. Nach Auskunft der Hotelleitung waren die Zimmermädchen nachmittags nicht mehr im Dienst. Meine Frau, die ich nicht länger umhin kann, in meine Überlegungen einzubeziehen, sagt, sie habe die Wohnung, ohne mich zu wecken, wegen eines Arzttermins um zirka elf Uhr verlassen und sei, da sie noch eine Freundin besucht und Einkäufe erledigt habe, erst am frühen Abend zurückgekommen.

Zwar bleiben die Umstände meines Fenstersprungs somit ungeklärt. Die Nebenwirkungen meines Aufklärungsversuchs jedoch bringen mich weiter. Ich weiß jetzt, daß ich in körperlich guter Verfassung und wieder verheiratet bin. Meinen Geisteszustand würde ich als labil, aber mit einer Tendenz zur Gesundung beschreiben. Meine Hoffnung, verrückt zu werden, habe ich endgültig begraben. Offensichtlich werde ich immer vernünftiger. Mit meiner Frau, die der Lettin zum Verwechseln ähnlich sieht, habe ich mir eine Existenz aufgebaut, die uns ein komfortables Leben ermöglicht. Auch Nachwuchs ist geplant.

Die Tage des Eisprungs werden im Kalender vermerkt. Auf blinde Lust wird verzichtet. Wir lenken unsere Triebe. Wir handeln mit Verstand. Unser Ersparnisse haben wir sicher angelegt. Wir sind keine Kostverächter, aber wir schlagen nicht über die Stränge. Ein Konzert, ein gutes Buch, ein Glas Wein hin und wieder, es können auch zwei Gläser sein ... "Fällt Dir noch etwas ein?" frage ich. "Wir zerfleischen uns", antwortet Berta. So heißt meine Frau. Manchmal redet sie, damit meine Wörtersammlung wächst, Unsinn. Das bindet mich noch stärker an sie. Ich bin ihr verfallen.

Sie nennt mich Vampir. Sie sagt: "Du saugst mich aus." Ich bitte sie, weiterzusprechen. Ich flehe. Sie aber schweigt, wenn ich sie bedränge. Dann, plötzlich, da ich es am wenigsten erwarte, befriedigt sie meine Wortgier mit einer spitzen Bemerkung, einer Beleidigung, oder sie schüttet einen Schwall von Unflat über mich aus, der mich vor Wonne erschauern läßt. Mit dieser Frau will ich alt werden, denke ich. Denn sie spricht nur um des Sprechens willen. Unlängst sagte sie: "Komm, mein gepanzertes Nashorn, anästhesiere mich!" Und dann: "Sei mein Hirschkäfer, du Molch!"

Oft bildet sie keine vollständigen Sätze, sondern reiht Hauptwörter aneinander wie neulich, als wir beim Frühstück saßen: "Strangulierung, Vierteilung, Pfählung." Eifrig ergänzte ich: "Kreuzigung!" Da zog sie wie immer, wenn ich versuche, ihr gedanklich zu folgen, gelangweilt die Brauen hoch. Auch ihre Mimik begeistert mich. Sie kann den Mund zu einem nach unten gebogenen Hufeisen formen und im nächsten Moment so strahlend lächeln, daß man meinen könnte, man habe zwei Menschen in einer Person vor sich. So unbegreiflich ihr Denken ist, so rätselhaft sind die Stimmungen, die sich in ihrem Gesicht abzeichnen.

Sie ist ein offenes Buch, aber die Schrift darin ist nicht zu entziffern. Heiter betrübt, zuversichtlich verzweifelt, hassend verliebt amalgamiert sie die für gewöhnlich einander ablösenden Empfindungen, die das menschliche Gefühlsleben bestimmen, zu einer Einheit, so als trüge sie gleichzeitig den Schrecken und das Glück ständig in sich. Nur in seltenen Augenblicken beruhigt sich ihr Mienenspiel. Die Ausdruckslosigkeit, mit der sie dann in eine grenzenlose Leere blickt, erschüttert mich. Ja, meine Frau Berta, denke ich stolz, ist mir gelungen. Sie bekommt einen Sonderplatz in der Galerie meiner Erfindungen. Aber das Gehirn arbeitet weiter.

Es folgen zwei Fehlgeburten. Das dritte Kind überlebt den Brutkasten nicht, das vierte wird auf dem Schulweg von einem Autobus überfahren. Künstlerisch ist das schwer zu verwerten. Denn wie malt man einen Abort, sofern es sich dabei um keine sanitäre Einrichtung handelt? Wie stellt man ihn auf der Bühne dar? Wo die Kunst versagt, bleibt als Rettungsanker nur die Natur. Das Zutrittsverbot ignorierend, beobachte ich das Brüten einer Blessralle im Schilf. Es kann auch eine Rohrdommel sein. Wörter sterben nicht aus. Doch so weit gehe ich nicht, mich an einen Archaeopteryx heranzupirschen.

Die Halme rauschen im Wind. Meine Frau hat eine Gesangsausbildung begonnen. "Was möchtest du heute zu Mittag?" fragt sie melodiös. "Fisch oder Fleisch, oder hast du deine vegetarische Phase?" Die Rohrdommel läßt sich nicht stören. Ich hocke mich auf den Boden und sehe hinter dem langen Schnabel die Vogelaugen. "Wahnsinn", denke ich, und dann: "Wahnsinnsarie". Und dann rufe ich "brava" und verschulde durch meine Geistesabwesenheit die Vernichtung der Brut. Daß es Tiere sind, die ich tötete, keine Frauen, keine Juden, tröstet mich nicht. "Ich liebe zu sehr", sage ich.

"Idiot!" erwidert, sich zum hohen C hinaufschwingend, Berta. Es ist für lange Zeit mein letzter Wortwechsel mit ihr. Sie hat die Töne als das ihr gemäße Mittel, sich auszudrücken, entdeckt und benutzt daher nur noch Vokale. Bisweilen ist das eine oder andere Wort, das sich in ihrem Gesang, der wie Geschrei klingt, verbirgt, zu erahnen. Doch wenn ich frage, was sie mir sagen will, sieht sie mich, starr vor Entsetzen, an und verstummt. So bin ich wieder auf mich allein gestellt bei meiner Arbeit an der Vermehrung der Wörter, die das Kapital sind, von dem wir leben, sie und ich.

Die Zinsen, die es abwirft, reichen nicht aus, um mich zur Ruhe zu setzen. Rüstig, rastlos, regsam, denke ich. Die Produktion läuft auf vollen Touren. Die Mittagsschicht wird pünktlich eingeläutet. Berta singt beim Kartoffelschälen eine Koloratur. Warum singe ich nicht? Warum versuche ich es nicht wenigstens? Im Duett fänden wir, denke ich, zueinander. Ein Spitzenton bereitet sich in mir vor. Ich aber springe von dem schon gedeckten Tisch hoch, stürze ins Wohnzimmer und drehe das Radio zu solcher Lautstärke auf, daß der Schrei, den ich nun ausstoße, im Lärm untergeht.

Dann schalte ich das Radio wieder aus und höre nur noch mein pochendes Herz. Wie ein endloses Spruchband ziehen die Gedanken an meinem inneren Auge vorbei. Das Haus verwandelt sich in einen Kopf mit Hut. Der Hut wird gelüftet, das heißt, das Haus wird abgedeckt. Die Nachbarhäuser grüßen freundlich zurück. Ich kann nichts dafür, daß ich so denke. Der Sturm der Entrüstung, der sich trotzdem erhebt, hat schwerwiegende Folgen. Familien werden getrennt, Notunterkünfte errichtet. Die Überlebenden tragen um den Hals selbstgefertigte Schilder, auf denen die Namen ihrer vermißten Angehörigen stehen.

Lebt Berta noch? Die Frau dort mit dem strähnigen Haar, die auf dem vom Regen schlammigen Boden zur Essensausgabe stapft, könnte sie sein. Ich rufe ihren Namen. Sie dreht sich um. Ja, sie ist es! Doch sie erkennt mich nicht. Oder tut sie nur so? Als sie den Rock, unter dem sie nackt ist, mit einem spöttischen Lächeln bis über die Hüfte hebt, weiß ich: Das ist der Traum, den ich in letzter Zeit öfter träumte. Die Träume, denke ich, sind der Abfallkübel, in den ich hineinwerfe, was mich daran hindert, guter Dinge zu sein. Ausgeschlafen bin ich eine Stimmungskanone.

Man hat Spaß mit mir, Spaß, Spaß, Spaß ohne Ende. "Habt ihr", frage ich in geselliger Runde, "die ausgemergelten Gestalten gesehen, wie sie sich um einen abgeworfenen Mehlsack balgten? Oder dieses Kind? Es hob ein Spielzeug vom Boden auf. Schon explodierte es. Und diese Frau, wie ein Spanferkel aufgespießt! Es war zum Schießen." Mein Nebenmann bestellt noch ein Bier. "Du übertriffst dich selbst", sagt er. "Du warst immer schon komisch, aber heute übertriffst du dich selbst." Ja, heute bin ich in Form. Denn ich habe die Geliebte verloren. Sie geht jetzt eigene Wege.

Sie hat sich emanzipiert. Wer hätte gedacht, daß ich sogar für dieses Wort eine sinnvolle Anwendung finde? Endlich bin ich auf der Höhe der Zeit. Ein Zechgenosse klebt sich etwas Schwarzes unter die Nase. Was ist denn das? Hat er sich auf diese lustige Einlage vorbereitet? "Wir werden es nicht zulassen ... ", lallt er und scheitert bei dem Versuch, sich zu erheben. Sein Kopf fällt auf den Tisch. Mir wird schlecht. Ich rette mich auf die Toilette und würge mich aus mir heraus. Denn ich habe mich hinuntergeschluckt, um mich halbverdaut mit mir zu füttern. Noch bin ich nicht flügge.

Meine schwächeren Geschwister habe ich aus dem Nest geworfen. Die Natur, zu der ich gehöre, kennt kein Erbarmen. Rücksichtslos schlage ich die Konkurrenz aus dem Feld, bis ich ein Firmenimperium aufgebaut habe, in dem ich profitabel schalten und walten kann. Alles fliegt mir nun zu, auch eine neue Frau und eine zweite und dritte und so fort. Sorgenfrei bin ich zwar nicht, aber gegen den gewaltsamen Tod geschützt hinter Panzerglas, und wenn ich aussteige, trage ich eine kugelsichere Weste. Zwischen meinen diversen Wohnungen, die eine mit Privatstrand, eine andere himmelhoch über New York, kann ich nach Herzenslust wählen.

Schädliche, zur Profitmaximierung nicht brauchbare Gedanken verbanne ich. Mir ist der Erfolg nicht in den Schoß gefallen. Ich mußte das wild Wuchernde meiden, das Abwegige und Abartige. Es gibt das Alphatier und das Rudel, sage ich mir. Es gibt den Hahnenkampf und den unterliegenden Leu. Doch darüber denke ich nicht weiter nach. Sonst werde ich depressiv. Obwohl ich erst vierzig bin, habe ich schon einen Herzschrittmacher. Man nennt mich Jungunternehmer. Einerseits freue ich mich über jeden noch nicht benutzten Begriff, andererseits empfinde ich gegen bestimmte Wörter, die mir einfallen, einen inneren Widerstand.

Indem ich sie in Gedanken so oft wiederhole, bis ich mich an sie gewöhne, überwinde ich meinen Widerwillen. "Der Mißton wird Wohlklang durch die Gewöhnung, das Häßliche schön, der Schmerz eine Wohltat", behaupte ich während einer Vorstandssitzung und ritze mit dem Korkenzieher in meinen rechten Handteller ein blutiges Kreuz. "Wir sind eine verschworene Gemeinschaft", fahre ich, es hochhaltend, fort. "Dies ist unser Zeichen." Der Korkenzieher wandert von Mann zu Mann. Der Bund wird mit Handschlag besiegelt. Doch einer wird mich, damit ich nicht sprachlich stagniere, verraten.

Meine Gedanken eilen voraus. Mitgerissen wünsche ich mir einen Stausee, in dem ich zur Ruhe komme. Da ist schon das Wehr. Eingebettet ins Tannengrün, nimmt das Gewässer mich auf. Aber ein Fisch bin ich nicht. Unerbittlich beharre ich auf dem Verwandlungsverbot. "Weh", sage ich, "Weh! Ein Mensch mußt du sein, aussichtslos wissend, ratlos begreifend. Auf einem flachen Felsvorsprung sitzt du. Rast nennst du dein Sitzen, melancholisches Innehalten, und fällst aus der Zeit." Ein Falter verwechselt meine von der Sonne gerötete Nasenspitze mit einer Blüte. Ich spüre sein vergebliches Saugen.

So zärtlich berührte mich nie eine Frau. Die zärtlichste Zuwendung, denke ich, wird den Sterblichen erst im Tode zuteil. Wie aber verhält es sich bei den Unsterblichen? Ich müßte es wissen. Wie war das vor meiner zweiten Geburt? Der welkende Flieder erblühte. Ein Verblichener lief um sein Leben. Oder täuscht die Erinnerung? Ich vertreibe den Schmetterling und mache mich auf den Heimweg. Ein Jungunternehmer bin ich jetzt nicht mehr. Denn ich habe mich selbst verraten. Ich habe mein Innerstes nach außen gekehrt. Die pralle Sonne trocknet mich aus. Meine Sehnsucht verdunstet.

"Grüß Gott!" rufe ich einem Baumstamm zu. Unbehelligt spiele ich den Geistesgestörten. An einer Weggabelung trete ich, um Zeit zu gewinnen, den Rückzug an. In der mondlosen Dunkelheit kann ich mich ohne schlechtes Gewissen verirren. Die Nacht ist lau, das Moos eine bequeme Ruhestatt. Schlaftrunken küsse ich eine zutrauliche Hindin. Einwände wische ich kühl beiseite. Baufällige Schlösser werden zu Spottpreisen angeboten. Der Prinz ergreift die Gelegenheit. Die Prinzessin aber fällt einem Virus zum Opfer. Das Märchen, das ich erzählen wollte, nimmt nicht den geplanten Verlauf.

Entzaubert frage ich mich: Was soll nun werden? Die Schloßrenovierung hat Unsummen verschlungen. Ich nehme einen Kredit auf und setze ein Inserat in die Zeitung: Verarmter Aristokrat nimmt jede Beschäftigung an. Es kommen drei Angebote: Dachdecker, Florist, Friedhofswärter. Unfähig, mich zu entscheiden, flechte ich in schwindelnder Höhe aus Lilien einen Totenkranz für die unter der trügerisch friedlichen Landschaft wie Tortenschichten übereinander gelagerten Zeugen des in mir schlummernden Bösen. Daraus ergibt sich, für welchen der zur Wahl stehenden Berufe ich am besten geeignet bin.

Denn ein Dachdecker flicht keine Kränze. Ein Friedhofswärter kümmert sich nicht um die unbestatteten Toten. Ich aber gedenke ihrer zwischen Topfpflanzen und von Schnittblumen überbordenden Vasen mit einer Schweigeminute. Das Schloß gebe ich zur Besichtigung frei. Mein Lebensweg führt, fürchte ich, in geordnete Bahnen, obwohl sich mir nur in der Irre das Neue erschließt. Die Furcht treibt seltsame Blüten. Als ich beim Kürzen einer langstieligen Rose nicht aufhöre zu schneiden, verwandle ich mich in einen Priester, der gerade die Messe feiert. Die heiligen Handlungen beherrsche ich aus dem Effeff.

Doch beim Segnen passiert es wieder: Ich kann nicht aufhören. Der segnende Arm verselbständigt sich. Die Kirchenbesucher bekreuzigen sich in einem fort. Ich bin eine mechanische Puppe, denke ich. Man hat mich aufgezogen. Erst als die Stahlfeder in meiner Brust sich entspannt, endet der Spuk. "Es gibt nichts Neues unter der Sonne", predige ich. "Was ihr zu entdecken glaubt, ist schon entdeckt. Eure Gefühle sind Wiederholungen. Eure Gedanken teilt ihr mit Millionen. Nun gehet hin und freut euch, auf ausgetretenen Pfaden zu wandeln!" Der Kirchenraum leert sich bis auf einen alten Mann, der mir bekannt vorkommt. Das Meßgewand habe ich in der Sakristei abgelegt.

"Ich weiß", ruft der Mann aus der letzten Reihe, "du hast schon den nächsten Berufswechsel vor. Du hältst es nur wenige Sätze lang in einer Geschichte aus." "Woher kennen wir uns?" frage ich, mich ihm nähernd. "Wir kennen uns nicht", antwortet er. "Du hast mich noch nie gesehen. Ich aber beobachte dich, seit du denken kannst." "Blödsinn", fahre ich ihn barsch an, "das ist mir zu mystisch", und kehre zu meinen Blumen zurück. Doch der Blick des Alten verfolgt mich. Auf der Straße gehe ich, wenn ich Schritte hinter mir höre, absichtlich langsam und lasse mich überholen.

Im Geschäft und sogar in der Wohnung drehe ich mich, als stünde jemand hinter mir, um. Als Therapie gegen meinen Wahn spreche ich ab sofort jeden Gedanken, der mich befremdet, aus. "Das Salz in der Suppe", sage ich, "die Tellermine, das Bombengeschwader, die Fehlfarbe, der Trumpf." Wenn mir zufällig ganze Sätze glücken, freue ich mich wie über aus dem Flußsand gefiltertes Gold. "Der Sturm knickt die Birke", sage ich. "Die Granate zerfetzt das ahnungslos spielende Kind. Das Gedärm zuckt wie gestrandetes Meeresgetier in der Sonnenglut." Fragt mich jemand, was ich da murmle, erkläre ich es mit meinem Steckenpferd, der Schauspielerei.

Ich sei Mitglied einer Laienspielgruppe und müsse für meine nächste Rolle den Text memorieren. Leider seien sämtliche Vorstellungen bereits ausverkauft. Ja, so verberge ich mich, seit ich nicht mehr umhin kann, das Eigenleben meiner Geschöpfe zu akzeptieren. Sie drängen mich in die Defensive. Sogar der Seiltänzer, meine mir liebste Erfindung, tritt während einer Floristentagung frech vor mich hin und sagt: "Ab sofort mache ich, was ich will." Höflich erkläre ich ihm, daß sowohl sein Wille als auch dessen Ausführung auf Entscheidungen beruhen, die ich getroffen habe.

"So so", erwidert er schnippisch, "ich habe das Seiltanzen mit dem Beruf des Blumenbinders vertauscht, weil Sie es so wollten!" "Ja, selbstverständlich", lüge ich. Da versetzt er mir so treffsicher, daß mir die Luft wegbleibt, einen Schlag in die Magengrube und höhnt: "Das haben Sie jetzt auch gewollt?" Im nächsten Augenblick ist er wie vom Erdboden verschluckt. Das kann er also auch schon, denke ich und träume mich, nach Atem ringend, zurück in meine glorreiche Vergangenheit. Was war ich für ein phantasievolles Kind! Als Weltenherrscher, mit einem Kochtopf als Krone und der Klobürste als Szepter schritt ich meine imaginäre Leibgarde ab.

Auf einem Küchenstuhl thronend, gewährte ich den Abgesandten der mir unterworfenen Völker Audienz. Waldgeister, Gnome und Kobolde dienten mir. Jetzt herrsche ich nur über die Wörter. Bluttriefend nenne ich mich die Frucht meines Leibs, schäle, entkerne und säuge mich, damit ich aufhöre zu schreien. Denn ohne Macht über andere will ich wenigstens meiner selbst mächtig sein. Die Sprache ist ein Spiel für Erwachsene, mit dem ich mir die Zeit bis zur ewigen Ruhe vertreibe. Das Wort "Krieg" ersetze ich durch "Konflikt". Schon habe ich drei Buchstaben gewonnen.

Die Wörter "Gemetzel" und "Genozid" kann ich in diesem Zusammenhang nicht verwenden. Der Ausrottungsbefehl ist zwar längst unterschrieben. Doch die zum Vollzug nötigen Kräfte stehen noch nicht bereit. Um den mir erteilten Auftrag, sobald es die Lage erlaubt, effizient zu erledigen, inspiziere ich zunächst das Konfliktgebiet. Es wird eine Vergnügungsreise. Dunkeläugige Mädchen bieten sich mir wie reife Pflaumen dar. Wüßte ich nicht, daß sie des Todes sind, denke ich, könnte ich sie nicht ficken. Gleich ist es vorbei. Nur drei Gedanken lang bin ich ein vollwertiger Mann.

Oder habe ich mich verzählt? Während des Rückflugs kommt es mir vor, als hätte ich die letzten Sätze, die mir nicht aus dem Kopf gehen, irgendwo aufgeschnappt oder gelesen. Das war nichts Eigenes, sage ich mir. Das ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Das hat mir der Seiltänzer, durchzuckt es mich, eingeflüstert. Als Tagungsteilnehmer getarnt, hat er sich an mich herangemacht, um mich mir zu entfremden. Ich ficke doch keine Pflaumen! Ich muß endlich, um mich gegen allfällige Infiltrationsversuche zu wappnen, ein Charakterprofil von mir erstellen. Ich bin, so beginne ich, ein unterhaltsamer Mensch.

Ich langweile mich nie mit mir. Denn ich denke ja dauernd. Jetzt male ich mir gerade aus, wir stürzen ab, wovor ich mich naturgemäß fürchte. Die anderen Fluggäste blättern hastig in ihren Zeitungen, während ich mich frage, was mein allerletzter Gedanke bei einem Absturz wäre. Um so größer ist meine Erleichterung, nachdem das Flugzeug so weich, daß ich es kaum bemerkte, gelandet ist. In der Ankunftshalle werde ich von meiner neuen Ehehälfte erwartet, mit der ich mich auf der Stelle zu einem zwiegeschlechtlichen Mischwesen verbinde, um die Gefahr, viril zu erscheinen, von vornherein auszuschließen.

Die hämischen Blicke, die ich dadurch auf mich ziehe, nehme ich gern in Kauf. Das ganze Leben, denke ich, ein Taxi besteigend, ist eine Abwägung zwischen dem Pro und dem Kontra. Ich bin gegen die Ausbeutung der Frau als Sexualobjekt. Ich bin für die Gleichberechtigung und für den Frieden, aber auch für den Kampfgeist und für die Vielfalt. Es muß das Anziehende und das Abstoßende geben, das Kranke und das Gesunde, das Schwache und das Starke, den Sieg und die Niederlage. "Sehr richtig!" sagt der Taxifahrer, obwohl ich meines Wissens nur gedacht, nicht gesprochen habe.

Im Rückspiegel begegnen sich unsere Augen. An seinen kleben künstliche Wimpern. Er hat Lidschatten aufgetragen und die Brauen gezupft und nachgezogen. Scharfsinnig erkenne ich, daß ich mich selbst chauffiere. Das ist ja noch einmal gut gegangen, denke ich. Einen weiteren Machtverlust hätte ich nicht verkraftet. Es geht bergauf! Die Begabung, mich zu vervielfältigen, nützend, komme ich in meinem neuen Beruf, den ich nachts als Zwitter, tagsüber abwechselnd als Mann und als Frau ausübe, zu einigem Wohlstand, der es erlaubt, mir wieder eine, wenn auch bescheidene, Unternehmerexistenz aufzubauen.

Mit meinen drei Angestellten kann ich maximal sechzehn Fahrgäste gleichzeitig befördern. Das bedeutet, daß ich in der Lage sein muß, mich in zwanzig verschiedene Charaktere aufzuspalten. An einem Tag ergibt das, wenn das Geschäft floriert, ein- bis zweihundert. Nur die Fahrer bleiben, sofern ich auf Kündigungen verzichte und keiner stirbt oder aus einem anderen Grund seine Fahrtauglichkeit einbüßt, immer die gleichen. Als Romancier würde ich mich, um nicht zuviel von mir zu verlangen, auf die Beschreibung einer Facette meines mannigfaltigen Wesens beschränken.

Aber ein Romancier bin ich nicht und kann ich, da mir mein Hirn keinen brauchbaren Plot liefert, auch nicht mehr werden. Oder ist es etwa spannend, über einen sogenannten Taximord zu berichten, den ich, obwohl von Kugeln förmlich durchsiebt, ohne die kleinste Blessur überlebte? Da ist es schon aufregender, mich nachts mit der Pistole im Nacken in ein abgelegenes Waldstück zu dirigieren, wo ich, im Begriffe, mich zu vergewaltigen, mein Geschlechtsteil nicht finde. Doch wohin führt das? In den Wahnsinn führt es offenbar nicht. Denn als Wahnsinniger könnte ich die Stimmigkeit meiner Gedankenkonstruktion nicht überprüfen.

"Hier, bitteschön", sage ich und rolle Stoffbahnen aus, damit sofort klar wird, daß ich in die Textilbranche gewechselt habe, wo ich mit meiner im Taxigewerbe vollkommen ungenutzten Überredungskunst punkten kann. Zu den scheußlichsten Farbkombinationen überrede ich meine Kunden. "Nehmen Sie dieses Rosa!" sage ich. "Rosa macht glücklich. Und dazu dieses braungefleckte Grün, das an Kuhfladen auf einer Almwiese erinnert! Holen Sie sich die Natur in Ihr Heim!" Natürlich weiß ich, daß ich selbst der Betrogenen bin, der Betrüger und zugleich der Betrogene. Hauptsache, ich habe zu tun.

Nie wieder soll mir die das Nichtstun ausfüllende Angst den Hals zuschnüren. Das Schrillen des Weckers löscht meine Träume aus. An der Realität dessen, was ich sehe, zweifle ich nicht: den Schrank, das Fenster, das kleine Stück Himmel im rechten oberen Eck. Nur ein paar Atemzüge lang vertiefe ich mich in dieses Blau. Indem ich die Dauer meines Blicks so sehr verkürze, daß daraus keine Empfindung entstehen kann, entgehe ich der Gefahr, mir zu entgleiten. Meine Gefühllosigkeit ist die Voraussetzung dafür, daß ich funktioniere. Die beruflich nötigen Handgriffe und Sätze gelingen mir mühelos.

Nähert sich Kundschaft, beginne ich automatisch, zu sprechen. Werde ich zur Exekution eingeteilt, schieße ich und bin, wenn ich treffe, sowohl der Schütze als auch der Erschossene. Meine Täterschaft macht mich zum Opfer. Ich wiederhole es bis zum Überdruß. Nur Tiere darf ich, will ich eine reine Weste behalten, nicht töten. Meinen Hund behandle ich liebevoller als jeden Menschen. Beim Metzger kaufe ich für ihn das beste Fleisch, während ich zur Zeit Vegetarier bin. Denn eher werde ich Kannibale als mich an der Ermordung von unschuldigem Vieh zu beteiligen. Mein Kannibalismus wäre ja nur gegen mich gerichtet.

Ich will mich verzehren, denke ich und wende mich, durch die Doppeldeutigkeit inspiriert, einem angenehmeren Thema zu: der Seelenqual. Da bleibt der Körper intakt. Man kann sogar sagen: Der innere Schmerz verschönert den Menschen. Die Vergeblichkeit einer Hoffnung wird geadelt durch den Verzicht. Das Unerreichbare wird zum Phantom, das sich der Beschreibung entzieht. "Lippen wie Kirschen", stammelt der Liebende, "Augen, smaragdgrün wie Bergseen, ein Sog, Haut, alabasterweiß, unberührbare Scham, knospend, um heimlich zu blühen." Wehmütig belausche ich mich. Lang ist es her, daß ich so schwärmte.

Nun, da meine Schwärmerei niemandem gilt, kann ich es wieder. "Komm!" sage ich. "Zeig, was du kannst!" Der Hund stellt sich auf die Hinterläufe und jault. Er kann sogar Pfote geben. Wann immer ich will, begrüßt er mich, obwohl ich längst da bin. "Ach, du dummer Hund", sage ich. "Dir verrate ich meine Gedanken. Wenn die Smaragde aus den Augenhöhlen herausfallen, ersetze ich sie durch die Kirschen. Die Augen sind wichtiger als der Mund. Sehe ich jemandem ins Gesicht, sehe ich ihm in die Augen. Gut, daß du das nicht verstehst." Aber schade, daß es keine irisierende Iris gibt, obwohl ...

Durch die Verneinung gibt es sie jetzt gewissermaßen. Alles Unmögliche wird möglich durch die Verneinung. Es gibt keinen Hund, der miaut. Doch eines Tages wird es ihn vielleicht geben. Es gibt auch keinen Abendwindhund. Aber wer weiß, ob nicht die Wörter den Inhalten, die sie bezeichnen, vorausgehen? Mich zur Wortschöpfung ermutigend, sage ich: "Windhundehütte, Hundehüttenwirt, Hüttenwirtstochter." Schon habe ich das Spiel, das ich mit mir selbst spiele, verloren. So vieles entfällt durch die Reduktion der Menschheit auf eine Person. Ich führe nur ein einziges Beispiel an: Krieg.

Es stürzt mich in einen Gedankentaumel. Tod, Ewigkeit, Selbsthaß, denke ich. Da will das Tier sein Geschäft verrichten. Indem ich ihm Auslauf gewähre, ermüde ich mich, um schlafend Kräfte zu sammeln für den Wahnwitz, zu dem ich verdammt bin, damit ich bei Sinnen bleibe. Die Entsorgung des Geistesmülls schafft Platz für die nächste Veränderung. Aus dem Stoffverkäufer mit Hund wird ein Staatenlenker. Endlich bin ich in der Politik angekommen, die ich jedoch schnellstens wieder verlasse, so daß ich darüber nur im Rückblick berichten kann. Ich schritt. Ich tafelte. Ich konferierte.

Leider fallen mir zu diesem nicht unbedeutenden Lebensabschnitt keine Hauptwörter ein. Händeringend haste ich durch mein weiträumiges Eigenheim, die Erinnerung nach Hauptwörtern aus meiner aktiven Zeit durchforstend, ich meine, aus der Zeit, als ich die Fäden zog. Die Fäden! Ein Substantiv! Aber die wurden mir doch gezogen, denke ich. Ich war auf dem dornenreichen Weg nach oben gestrauchelt. Den Dornen ausweichend, hatte ich nicht auf die Unebenheiten des Anstiegs geachtet. Vorsichtig ertaste ich, mir die Unzuverlässigkeit meines Gedächtnisses eingestehend, die Narbe über der Stirn.

Nur über das Gegenwärtige kann ich mit einiger Sicherheit Auskunft geben. Ich bin, das kann ich sagen, momentan wunschlos. Ich will nichts. Ich liege. Meine Augen sind offen, abgesehen von den unmerklichen, nein, den unbeabsichtigten Unterbrechungen zufolge des Lidschlags. Im Zustand der Passivität entgeht mir nichts. Sogar das unablässige Zusammenspiel meiner Eingeweide erfühle ich. Keine Maschine, denke ich plötzlich, wird dieses Wunderwerk je ersetzen. Fast werde ich hochgerissen von der Begeisterung über diesen Gedanken. Der Wille, sage ich mir, ist überflüssig.

Willenlos werde ich aufstehen, auf die Straße laufen und jeden, der mir begegnet, umarmen, ob alt oder jung, Mann oder Frau. Nichts wird mich bremsen in meinem Überschwang. Ich werde lieben. Ich werde reisen. Ich werde die Welt umrunden. Doch zuerst muß ich pissen. Mit dem Rest von Freiheit, der mir bleibt, beschließe ich, ein öffentliches WC aufzusuchen, kann aber den Drang, kaum bin ich im Freien, nicht länger beherrschen und erleichtere mich im Gebüsch der an das Haus angrenzenden Parkanlage. Einem Spaziergänger, der sich darüber empört, rufe ich nach: "Warten Sie! Ich will es Ihnen erklären."

Er setzt sich auf eine Bank. Ich setze mich neben ihn und sage: "Ich hatte die Wahl, ein Bettnässer zu werden oder auf die Toilette zu gehen." "Ein Gebüsch ist doch keine Toilette", sagt der Mann. "Richtig, solange ich es in keine verwandle", pflichte ich ihm triumphierend bei. "Sie waren", argumentiert er weiter, "bestimmt nicht der erste, der da hingepinkelt hat." "Bravo!" rufe ich nun und strecke ihm meine Rechte entgegen. "Wir sind uns einig! Darf ich Sie duzen?" Er aber steht auf und entfernt sich eilig. In meine Willenlosigkeit zurückfallend, sehe ich Fußball spielenden Kindern zu.

Mein Haar ergraut. Die Haut erschlafft. Die Friedenszeit endet. Werde ich, bärtiger Greis, wenn der Alarm ertönt, mich erheben können? Die Kinder haben mit ihren Schulranzen die Torpfosten markiert. Der Tod überrascht sie mitten im Spiel. Wie viele waren es? Ich zähle die Köpfe. Der Ball blieb heil. Schulhefte liegen verstreut, blutige Stifte. Ich schlage eine leere Seite auf und schreibe mit zitternder Hand: "Sie starben zu meiner Verjüngung." Mich im Blut ihrer zerrissenen Leiber wälzend, sehe ich das kalte Blau über mir. Die Vögel übernehmen wieder die Lufthoheit.

Ich reiße die Heftseite heraus, zerknülle sie zu einer Kugel und lege sie in die geöffnete Brust eines der Knaben. Es ist eine zeremonielle Handlung. Nachdem ich die Papierkugel mit einem Streichholz entzündet, mich dreimal verneigt und auf das Erlöschen der Flamme gewartet habe, verlasse ich die durch das Grauen geheiligte Stätte. Doch die gehobene Stimmung hält an. Ich gehe nicht, sondern ich schreite. Die Arme habe ich nach vorn angewinkelt und die Handflächen nach oben gekehrt, so als trüge ich etwas feierlich vor mir her. Es ist wichtig, daß ich mein gleichmäßiges Tempo beibehalte.

Weder durch herabfallende Mauerbrocken noch durch die Schmerzensschreie der Verwundeten darf ich mich irritieren lassen. Mein Weg führt in die Finsternis. Denn nur, wo kein Licht ist, denke ich, leuchtet die Hoffnung. Nur in der stockdunklen Nacht sehe ich, was ich zu sehen wünsche: eine Tür, die sich öffnet, und dahinter an einem runden Tisch fünf schwarz gekleidete Männer im Lichtkegel einer so tief herabhängenden Lampe, daß ich nur ihre unteren Gesichtshälften erkennen kann. "Was haben Sie uns heute mitgebracht?" fragt der von der Tür, an der ich stehe, entfernteste.

"Ein loderndes Herz", antworte ich. Da bedeutet er mir durch eine Geste, auf dem einzigen noch leeren Stuhl Platz zu nehmen. Ich habe also bestanden. Man hat mich aufgenommen in den erlesenen Kreis, der beschließt, was ich denke. Ich darf mitbestimmen. Doch meine Freude darüber darf ich nicht zeigen. Gefühle sind hier verpönt. Nur in Gedanken gebe ich mich ihnen hin, tanzend vor Glück. Einen wahren Freudentanz führe ich auf. Die damit verbundenen Körperverrenkungen übersteigen das Maß des anatomisch Möglichen. Ich werde zum Hampelmann. "Was", frage ich, "haben Sie mit mir vor?"

Eisiges Schweigen schlägt mir entgegen. Ich aber denke weiter und lande als Spielzeug in einem Kinderzimmer. Neben mir liegt ein einäugiger Teddybär. Das Kind hat uns aus dem Laufstall geworfen. Vergeblich erhebe ich Einspruch gegen diese Entwicklung. Die Freude ist mir vergangen. Als das Morgenlicht durch die beiden rückseitigen Fenster fällt, bemerke ich, daß den fünf Männern die oberen Kopfhälften fehlen. Habe ich mir meine Abtötung allein ausgedacht? Verzweifelt reiße ich einen Knopf von meinem Kostüm und schenke ihn dem Teddy als Ersatz für sein fehlendes Auge.

Leblos lebe ich auf. Das ist zwar unmöglich, aber ich will daran glauben. Die Männer blicken stumm vor sich hin wie in Gedanken versunken. Vielleicht gehören Sie einer Spezies an, die hirnlos denkt. Vielleicht sind sie nur dazu da, mich zu bekehren. Mein Glaube besiegt ihr Denken. Sie haben ihre Funktion erfüllt. Ich überlasse sie ihrem Schicksal und kehre als Krankenpflegerin zurück in die fast völlig zerstörte Stadt. Mein Geschlecht brauche ich nicht zu wechseln. Den Bartschatten überschminke ich. Die männliche Stimme fällt nicht weiter auf, denn die Leidenden sind ausschließlich mit ihrer Not beschäftigt.

Indem ich mich für sie aufopfere, partizipiere ich an ihrer Pein. Die Zeiten sind den Mitleidenden hold. Ich kann gar nicht genug Verstümmelte um mich haben. Gierig bemuttere ich sie in meiner Nonnentracht. Wie ein Parasit sauge ich ihnen den Schmerz aus den Leibern, ein Engel, ein Egel, denke ich. Das ist kein frommer Gedanke. Kaum konvertiert, bin ich schon wieder den diabolischen Verlockungen der Sprache rettungslos ausgesetzt. Denn nur durch sie existiere ich. Sie ist die Göttin, die alles erschaffen hat. Heilige, teuflische Sprache! "Tu Gutes!" raunt sie mir zu.

"Spende dein Herz, damit du herzlos von den Greueln berichten kannst, die ich dir zeige!" "Als Leiche?" frage ich naseweis. Da hebt ein Grollen und Tosen an. Der Krankensaal schwankt wie ein in Seenot geratenes Schiff. Die Patienten fallen aus ihren Betten. Die Schläuche, an denen ihr Leben hängt, lösen sich. Ungerührt beobachte ich ihre letzten Zuckungen. Die Maskerade fällt von mir ab. Das Meer trocknet aus, denke ich. Seine Bewohner verenden. Der Regen, der das Salz von den Felsen wäscht, kommt zu spät. Die Wissenschaft steht vor einem Rätsel. Ich aber nehme, um die Fischkadaver zu schmücken, aus den toten Muscheln die Perlen.

Man wird sie dereinst bei den Skeletten finden und einen Kult dahinter vermuten. Gut so, sage ich mir und tauche, während sich der Planet von meinem Einfall erholt, zu einer Insel hinauf, die eben noch ein Berggipfel war. Hier will ich mein Hirn ausleeren. Denn Unbeschreibliches hat sich darin angesammelt. Der Inhalt der Sätze, die bei dem Versuch, es zu begreifen, entstanden, stimmte mit den Bildern, die ich vor meinem geistigen Auge sah, nicht überein, und oft waren sogar die Bilder lückenhaft wie beschädigte Fresken, die man, statt Vollständigkeit vorzutäuschen, in ihrem fragmentarischen Zustand beläßt.

Nahm das Fehlende überhand, konnte ich aus den verbleibenden Resten nicht auf das Ganze schließen. Ich sah etwas, und zugleich sah ich nichts. Dieser Widerspruch erzeugte in mir ein Gefühl, das ich das nackte Entsetzen nannte. Nun aber denke ich: Fort mit den falschen Benennungen! Das Wasser umgibt mich. Es wäre lächerlich, zu behaupten, daß es mich schützt. Auf der erfundenen Insel in dem erfundenen Meer warte ich geduldig auf den Gedankensprung, der mich vor dem Verhungern und Verdursten bewahrt. Ich selbst brauche nicht zu springen. Nur die Sitzgelegenheit ändert sich.

Aus der vor Vogelkot starrenden Felsennische wird ein Stuhl an einem gedeckten Tisch im Speisesaal eines Kurhotels. Hier bin ich gut aufgehoben. Mein Körper wird zur Entspannung täglich einbalsamiert. Der Ausdruck sei mir gestattet, denn ich weiß, was ich meine. Das Rauchen und der Alkoholgenuß sind verboten. Ich freunde mich mit einem Kurschatten an und mache mir einen Spaß daraus, ihn bei schlechtem Wetter für unsichtbar zu erklären. "Ich kann dich nur sehen, wenn die Sonne scheint", sage ich. Zu meiner Überraschung wird das anstandslos hingenommen. Es ist eine sadomasochistische Liaison.

Das Herz wird mir schwer, wenn ich bedenke, welch ungleich grausamere Untaten, während ich meine Freundin necke, weltweit begangen werden. Aber es zählt ja nur das eigene Leben. Was nützt dem, weiß Gott wo, zu Tode geprügelten Säugling mein Mitgefühl? Hier gibt es keine Kinder und deshalb auch kein Geschrei. Die Kurgäste pflegen einen höflichen Umgangston. Hier spielt sich nichts Unbeschreibliches ab. Mein Hirn produziert am laufenden Band grammatikalisch perfekte Gedanken. Ahnungsvoll frage ich mich: Wie lange noch? Kimme und Korn, schießt es mir da durch den Kopf, ein Volltreffer, ein Blattschuß ...

Ein präzise geführter Schnitt ins Fettgewebe vom Nabel abwärts, eine klaffende Spalte, ein Schwartenstück, ein aus dem Brustfleisch sauber herausgetrenntes Quadrat, ein Schädel auf einem Hackklotz, ein Beil ... Was ist denn geschehen? Ich sitze an einem sanft dahinplätschernden Fluß und lasse einen flachen Kiesel über die im Mittagslicht funkelnden Wellen hüpfen. Da er nicht bis ans andere Ufer gelangt, treibt mich mein Ehrgeiz zu immer neuen Versuchen, bis ich endlich erkenne, daß ich mein Ziel, klar zu denken, bereits erreicht und es daher nicht länger nötig habe, Steine zu werfen.

Ach, denke ich, mein kindlicher Ehrgeiz, und lasse den zuletzt gefundenen Kiesel fallen, der so flach ist, daß es mir vermutlich gelungen wäre, ihn über die ganze Breite des Flusses zu schleudern. Ein Kind weiß nichts von der lähmenden Macht der Gedanken. Es hätte nicht aufgegeben im Kampf gegen den Strom. Ich aber entkleide mich und gehe geradewegs in das fließende Wasser, bis nur noch mein Kopf hervorschaut wie aus dem Schoß der gebärenden Mutter, die mich empfing in einer kalten Nacht unter dem Sternenhimmel. Ihre weit geöffneten Augen suchten den kleinen und großen Wagen, die Schlange, den Pegasus und die Kassiopeia.

Der gepunktete Lichtschleier der Milchstraße beruhigte sie. Es war eine Vergewaltigung. Heroisch beschloß sie, mich trotzdem zu lieben, denke ich und tauche unter, als eine fröhliche Mädchengruppe am Ufer erscheint. Kann ein Mensch absichtlich ertrinken? Gibt es eine tödliche Scham? Ich werde abgetrieben, aber nicht von der Mutter, scherze ich in Gedanken und schlucke so viel Wasser bei dem Versuch, zu lachen, daß ich mich nur mit knapper Not retten kann. Vor den Augen der Mädchen laufe ich nackt, wie ich bin, zu meinen abgelegten Kleidern zurück. Die Szene erregt mich.

Denn allein zum Zwecke der Erregung habe ich sie mir ausgedacht. Mit meiner Freundin habe ich kein sexuelles Verhältnis. Das Ende unseres Kuraufenthalts wird, wie man sagt, gemeinsam begossen. Das Flüssige beherrscht jetzt mein Denken. Die Konturen der Gegenstände werden durchlässig für das sie Umgebende. "Die Weinflasche schmilzt!" rufe ich aus. "Quatsch", sagt meine Freundin. "Quatsch!" juble ich. "Welch herrliches Wort! Ich danke dir. Ich liebe dich. Quatsch, Quappe, Quark, Qual! Fällt dir noch etwas ein?" Sie überlegt. Sie will mir gefällig sein. Ich sage: "Quantensprung."

Sie fragt: "Werden wir uns wiedersehen?" "Ja, selbstverständlich", antworte ich. "Ein Blick in den Spiegel genügt. Es kann auch die spiegelnde Oberfläche eines Gewässers sein oder ein Schaufenster bei günstigem Lichteinfall." Im Gesicht meiner Freundin drückt sich eine tiefe Enttäuschung aus. "Du phantasierst", sagt sie. "An dir ist nichts wirklich. Du lebst in einer unwirklichen Welt. Manchmal denke ich, du bist gar nicht da. Ich spüre dich nicht. Was fühlst du?" Sie berührt meine Hand auf dem Tisch. "Ich schäme mich, ein Mann zu sein", sage ich und verschwinde auf die gewohnte Art.

Der Ort, an den ich mich gedanklich versetze, ist, um mich mit möglichst geringem Aufwand aus der Affäre zu ziehen, wieder ein Hotelrestaurant. Gewissermaßen habe ich nur die Frau gegen das Meer eingetauscht, denn das Hotel liegt an der Adria. Ich sitze auf der Terrasse mit Seeblick und trinke, so als wäre nichts geschehen, weiter. Ja, ich spreche sogar. "Dir brauche ich nichts zu erklären", sage ich. "Du stellst keine Fragen. Du verstehst mich. Du widersprichst mir nicht. Du nimmst, was ich dir erzähle, wie ein Geschenk, das dir nichts bedeutet, gleichgültig entgegen." Der Knall eines Schusses beendet den Monolog.

Ich drehe mich um und sehe, wie ein Mann, offenbar im Begriff, sich zu erheben, nach vorne kippt und dann, das Tischtuch mit allem, was sich darauf befindet, mit sich reißend, seitwärts zu Boden sinkt. Sofort denke ich: Der Schuß galt mir. Ich habe mich, mit den Augen gleichsam der Kugel, die mich verfehlte, folgend, nach dem Opfer, das an meiner Stelle starb, umgewandt. Obwohl ich nun der am meisten Gefährdete bin, bleibe ich sitzen, während die anderen Restaurantbesucher in Deckung gehen. Ein zweites Mal feuert der Mörder nicht. Denn über mein Ableben könnte ich nicht berichten.

Natürlich dürfte er noch öfter danebenschießen. Er dürfte sämtliche Hotelgäste und auch das Hotelpersonal, ja, meinetwegen die ganze Menschheit erschießen, nur mich, den von ihm Auserkorenen, nicht. Doch er ist längst geflohen. Er hält, gläubiger Katholik und Verbrecher, seinen Fehlschuß für einen Fingerzeig Gottes, und er wird, nicht ahnend, daß ich alles über ihn weiß, mit mir in freundschaftliche Beziehungen treten, denke ich und breche wie immer, wenn die Spannung steigt, die Geschichte ab, um aus sentimentalen Gründen die vorige abzuschließen: Meine platonische Freundin ist dem Wahnsinn verfallen.

Vielleicht werde ich, wenn die Zeit reicht, alle Geschichten, die ich begonnen habe, zu einem Abschluß bringen, sage ich mir, muß mich aber sofort korrigieren. Denn Geschichten enden nie. Der Blitz spaltet den Baum. Das morsche Holz modert. Die Erde vereist. Das All entfacht neue Feuer. Ich nehme eine Schlaftablette, um träumend über die Sprachgrenze hinauszukommen. Erwachend muß ich mich ihr wieder fügen. Der Mörder ist mein verlorener Sohn. Der Vatermord ist ihm nicht gelungen. Ich bedaure das. Lieber als in jedem anderen würde ich in ihm weiterleben.

Einerseits fühle ich mich von Doppelgängern umgeben, die, töten sie mich, zugleich sich selbst umbringen. Andererseits erkenne ich sehr wohl den Unterschied zwischen mir und dem Zimmerkellner, der mir mit dienstbeflissener Eleganz das Frühstück serviert. Klarsichtig diagnostiziere ich meine Gefühlskrankheit. Doch heilen kann ich sie nicht, obwohl ich mich in beliebig viele Ärzte, die sich die Heilung zutrauen, verwandeln könnte. Gelänge sie, wäre das der Beweis ihres Scheiterns. Ich bezweifle, daß mir als Zuhörer dieser Gedanke, trüge ich ihn vor, verständlich wäre.

Aber wenigstens will ich versuchen, ihn zu verstehen. "Das Selbstgespräch", sage ich, mir aufmerksam lauschend, "unterscheidet sich vom Denken dadurch, daß der Sprechende den Klang seiner Stimme vernimmt. Er kann laut oder leise sprechen. Er kann die Stimme verstellen. Sobald er sich aber der Illusion hingibt, sich durch das Verstellen der Stimme in zwei oder mehrere Personen aufspalten und auf diese Weise den Monolog in ein Zwiegespräch oder eine Unterhaltung zu dritt oder zu viert und so fort verwandeln zu können, hat er den ersten Schritt in die Krankheit getan."

Ja, denke ich, so weit kann ich mir folgen, und köpfe das Frühstücksei. Es ist zu hart. Der Dotter läßt sich nicht löffeln. Mein Ärger darüber löst in mir eine Reihe ungewollter Gedanken aus, denen ich mich überlassen muß, während ich das Ei schäle und in zwei Hälften teile. Die Zufälle des Lebens, sage ich mir, verdrängen das Tiefschürfende. Ich könnte das harte Ei zum Anlaß für eine Beschwerde nehmen, die mich, da sich daraus Unvorhersehbares ergäbe, vollends von der Erforschung meiner Krankheit abbringen und sie so sehr in den Hintergrund drängen würde, daß ich versucht wäre, mich für gesund zu halten. Aber ich beschwere mich nicht.

Indem ich die Eihälften in Eiviertel und die Viertel in Achtel zerschneide, gerate ich in einen Zerstörungswahn, der mir das Essen unmöglich macht. Auch den Schinken und die Käsescheiben zerteile ich in immer kleinere Stücke, die man nicht mehr als mundgerechte Happen bezeichnen kann. Den Kaffee schütte ich auf das Tischtuch, den Orangensaft aus dem Glas in die Kaffeetasse. Die Stoffserviette beflecke ich mit dem durch einen Schnitt in die Kuppe meines rechten Zeigefingers gewonnenen Blut. Genügt das, mich zur Abreise zu zwingen, oder muß ich auch noch das Zimmer verwüsten?

Muß ich um einer Redewendung willen alles kurz und klein schlagen, das meinem Wahn nicht widersteht? Das Zimmertelefon klingelt. Ich hebe ab und werde informiert, daß mich ein Herr meines Namens zu sprechen wünscht. "Verbinden Sie mich", sage ich und überlege, in welche unvollendete Geschichte ich diesmal entfliehen könnte. Da spült mich eine haushohe Welle durch das offene Fenster. Ich klammere mich an eine Palme. Verglichen mit den Naturgewalten, erscheint mir mein Vernichtungsdrang lächerlich. Wie ein Affe hänge ich an dem Baum und stelle fest, daß das komisch ist.

Die Todesangst, denke ich, ist die Voraussetzung der Komik. Über eine Pflanze hat noch niemand gelacht. Die Vorstellung einer von Mensch und Tier befreiten Natur erfüllt uns mit heiligem Ernst. Die Flut zieht sich zurück. Ich klettere von der Palme und frage einen mir vom Sehen bekannten Hotelgast, der, an einen Kutter gelehnt, zwischen den wie Strandgut umherliegenden Leichen sitzt: "Sind Sie tot?" Sein Kopf sinkt in einer kreisenden Bewegung nach vorn, bis das Kinn fast die Brust berührt. Wie ein trauernder Engel sieht er nun aus. Sanft schlagen die Wellen ans Ufer.

Dunkelhäutige Knaben sammeln die angeschwemmten Augen der Ertrunkenen und legen sie in geflochtene Körbe, die sie mit feuchten Tüchern bedecken. Schwarz verschleierte Frauen bilden eine Insel in dem unter der sengenden Sonne rasch trocknenden Sand. Mit Klagegesängen feiern sie das ersehnte Unheil. Ich aber muß mich fragen: Was geschieht mit den Menschenaugen? Dreimal darf ich raten, obwohl ich es weiß. Ein Tourist in einer geblümten Badehose klappt seinen Liegestuhl auf. Am Horizont sinkt ein Schiff. Der Himmel, das Meer und der aufragende Bug erstarren zu einem Bild.

Es ist ein Schlußbild, denke ich und ersetze es durch eine nächtliche Winterlandschaft. Doch das Meeresrauschen und die Gesänge der Frauen verstummen nicht. Wenn ich die Augen schließe, bin ich wieder am Katastrophenort. Meine Reise ist noch nicht zu Ende. Ich stapfe durch den im Mondlicht schimmernden Schnee eine Anhöhe hinauf, von der ich die Umgebung gut überblicken kann. In einer Talsenke entdecke ich ein hell erleuchtetes Dorf. Auf dem Kirchplatz, in dessen Mitte ein dampfender Kessel steht, tanzen die Menschen. Ich spreche das Zauberwort: "Augensuppe." Das Dorf verschwindet.

Ein Waldkauz flattert auf. Ich höre den Flügelschlag. Lautlos rieselt die weiße Last von den Ästen. Erst als sich nichts mehr bewegt, beginne ich den Abstieg ins Tal. Bei jedem Schritt knirscht der firnige Schnee. Ich sage mir: Du bist es, der das Geräusch erzeugt. Es ist unvermeidlich. Du mußt weitergehen. Der Gedanke, daß du gehst, genügt nicht mehr. Du mußt es tun. Da wird mir mit einem Krummschwert der Kopf abgeschlagen. Ich hebe ihn auf und klemme ihn unter die rechte Achsel. Der Täter läßt vor Schreck seine Waffe fallen und nimmt die Beine unter den Arm. Das blutige Schwert blitzt im Mondenschein.

Mein Mund lacht, denke ich. Mein Körper schüttelt sich. Obwohl ich mein abgeschlagenes Haupt vor mich hinhalten kann, bräuchte ich einen Spiegel, um es zu betrachten. Denn ich habe zwar viele Gesichter, aber nur einen Kopf. Den setze ich mir, da der Tag anbricht, wieder auf. Offenbar befinde ich mich in einem Skigebiet. Der Skilift ist schon in Betrieb. Noch baumeln die leeren Doppelsitze wie Ohrgehänge über der Piste. Aber gleich werden die ersten Skifahrer kommen. Da wedelt schon einer über den Abhang. Er wedelt nicht mit dem Schwanz, denke ich unwillkürlich.

Obwohl ich mir diesen Gedanken niemals verzeihen werde, hilft er mir auf die Sprünge. Der junge Mann hat ein sexuelles Problem. Er hat die vergangene Nacht mit einer Zufallsbekanntschaft verbracht, die am Morgen abgereist ist. Nun muß er sich, da seine Befriedigung nur bis zum Abend vorhält, nach einem Ersatz umsehen. Ein Tier, denkt er, während er mit einem Abschwung, der den Schnee aufstäuben läßt, seinen Slalom beendet, hat seine Brunstzeit und danach ruht in der Regel ein Jahr lang der Trieb. Für den Menschen, denkt er weiter und blickt, auf die Stöcke gestützt, nach oben, ist der Trieb eine Marter.

Dann überlegt er kurz und ersetzt das Wort "Mensch" durch das Wort "Mann". Denn über die weibliche Sexualität weiß er nichts, sagt er sich, der Wahrheit die Ehre gebend. Das Innenleben der Frau ist für ihn eine Terra incognita. Zwar hat er mit vielen Frauen geschlafen, doch was sie dabei empfanden, hat ihn nie interessiert. Das soll sich nun ändern. Entschlossen wählt er aus den die Piste immer zahlreicher Bevölkernden eine attraktive Anfängerin aus, die, von Stürzen unterbrochen, den Stemmbogen übt. Ihre Ungeschicklichkeit findet er reizvoll. Das gesteht er sich ehrlich ein.

Das will er auch ihr, der zu seinem Forschungsobjekt Erkorenen, jetzt unbedingt beichten. Ungestüm hastet er, ohne die Skier abzuschnallen, den Hang hinauf und stößt, als sie gerade wieder hingefallen ist, keuchend hervor: "Es reizt mich, Sie stürzen zu sehen. Sie haben eine ganz besondere Art, sich fallen zu lassen." "So helfen Sie mir doch!" fährt sie ihn an, den Tränen nahe. Als er sie an den Armen hochzieht, verliert er das Gleichgewicht. Nun liegen sie beide im Schnee. Gelächter, Umarmung... Sie wehrt sich. Er fühlt das Anschwellen seines Geschlechts...

Ich aber löse mich in meine Bestandteile auf. Eine Wimper bin ich, ein Ohrläppchen, ein Finger- oder ein Zehennagel. Manikürt werde ich, getuscht und durchstochen. Als Kinnlade eines Faustkämpfers bereite ich mich auf den Knockout vor. Als Schuppe niste ich im verfilzten Haar eines Bettelmönchs. Als zarte Braue über dem Schlupflid einer Asiatin bezaubere ich einen Ölmagnaten, in dessen Hoden ich als Spermium den nächsten Erguß erwarte. In Herzkammern wohne ich, in Blutbahnen und Lungenflügeln. Verteilt auf die gesamte Menschheit, verströme ich mich.

Doch selbst, wenn ich alles an und in mir, wofür es eine Bezeichnung gibt, einbeziehe, komme ich auf keine Milliardenzahl. Das eine oder andere muß ich mehrfach verteilen, meine Nasenlöcher, meine Rippen, meine Milz, meine Nieren, meinen Anus und so fort. Ich kann mich kaum bremsen in meiner Aufzählungslust. Auch ein Stück Scheiße bin ich, eine Darmverstopfung, ein Blasenkatarrh, eine Magenreizung, vielleicht sogar ein Karzinom. Ich habe mich lange nicht untersuchen lassen. Womöglich hat meine Auflösung mich vor dem Tode bewahrt. Es wäre, denke ich, schade um mich, vor allem um meine Gefühle.

Nur ein einziges nenne ich: Traurigkeit. Es ist mein Lieblingsgefühl. Ich lasse das dreisilbige Wort auf der Zunge einer Sopranistin zergehen. Glockenhell singt sie es. Den Unterschied zwischen einer weiblichen und einer männlichen Mundhöhle samt Gaumen, Zahnfleisch und Zäpfchen vernachlässige ich. Aber die Brüste und Eierstöcke hat sie bestimmt nicht von mir. Denn als Mann gab ich mich meiner Zerstückelung hin. Eine Gebärmutter hatte ich nicht zu verschenken. Schwanger mit Einfällen gehe ich, bis sie herausplatzen wie Eiter, der sich in flüssiges Gold verwandelt.

Ungehobene Schätze schlummern im Unbewußten. Nie schließt sich die Wunde. Das Formlose verfestigt sich, wenn ich mich nicht beeile. Jede Sekunde ist kostbar. Das kleinste Versäumnis kann zu irreparablen Verlusten führen. Ich muß wieder heraus aus den Menschen. Sie sind mir zu zögerlich. Unbehaust gieße ich mein Denken in die Hohlräume der Sprache, in denen es zu Sätzen erstarrt. Ein Schneetreiben nimmt mir die Sicht. Ich werde von einer Lawine verschüttet. Lawinenhunde erschnüffeln mich. Es muß alles ganz schnell gehen. Schon werden die Türen geschlossen. Die Lichter verlöschen.

Der Vorhang hebt sich. Ein Scheiterhaufen wird aufgetürmt. Ein nacktes Kind wird daraufgelegt. Die Musik steigert sich zum Fortissimo. Ich aber höre mich schreien. Der jeweils letzte Gedanke hebt den vorletzten auf. Jetzt ist es still, denke ich und dann: Es ist eine Täuschung. Ich höre mich atmen. Damit ich nicht an den jederzeit möglichen Atemstillstand erinnert werde, schreie ich noch einmal. Nach dem dritten Schrei applaudiere ich. Doch niemand verbeugt sich. Vergeblich klatsche ich mir die Hände wund. Die Todesangst frißt sich in mein Gehirn. "Die Todesangst", sage ich, "die Schlange, das Blatt, die Ackerfurche."

Das Sprechen hilft. Ich lege mich auf die feuchte Erde und bedecke den Körper mit ihr, die Hände als Schaufeln benutzend. Über mein Gesicht kriecht ein Regenwurm. Hinter den ziehenden Wolken erscheint, bleich wie der Mond, kurz die Sonnenscheibe. Ein Bauer kurvt mit dem Jauchewagen über das Feld. Ich hebe den Kopf, damit er mich nicht übersieht. Im letzten Moment hält er an und stellt den Motor ab. Wie ein freundlicher Gott thront er auf seinem Traktor. Obwohl die Entfernung zwischen uns nur wenige Meter beträgt, verständigt er sich mit mir in einer Art Zeichensprache. Ich will es ihm gleichtun.

Nach oben und unten zeige ich, auf ihn und auf mich. Er lacht und fährt weiter. Mein Tauschangebot hat er nicht angenommen. Ich muß, denke ich, liegen bleiben. Aber so machtlos bin ich noch nicht, daß ich mich deshalb mit Gülle besprühen lasse. Liegend stehe ich auf und bedecke nun auch meine Arme und mein Gesicht mit der Ackererde. Erstickend kann ich frei atmen. Die Grammatik ermöglicht das Unmögliche. Während der Traktor mich überrollt, winke ich dem Fahrer zum Abschied zu. Daß es mir endlich wieder gelungen ist, meinen Tod zu überleben, erfüllt mich mit Stolz.

Übermütig erkläre ich mich zur Titelfigur einer Kurzgeschichte, die ich "Der Entschlossene" nenne, und steuere zielstrebig eine Holzhütte an einem idyllischen Weiher an. Als ich eintrete, sehe ich: Sie gehört mir. Ich habe sie gekauft und mit allem Nötigen, einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einer Kochgelegenheit ausgestattet. Sogar eine Angel und ein an einem Steg befestigtes Ruderboot besitze ich. Zur Weltflucht entschlossen, freue ich mich auf den Fisch, den ich fangen und auf der Gasflamme braten werde, auf das schmackhafte Mahl und das Froschkonzert, das mich einschläfern wird.

Doch als ich mich anschicke, das Angelgerät zusammenzupacken, höre ich schon das Gequake. Durch den falschen Ablauf verwirrt, drehe ich das Gas auf und kann gerade noch, bevor ich das Bewußtsein verliere, ins Freie flüchten. Geistesgegenwärtig springe ich in den Weiher und werde Zeuge einer Gasexplosion. Die Vorfreude aber, denke ich untertauchend, wird nicht dadurch entwertet, daß etwas anderes als das, worauf ich mich freute, geschah. Im Gegenteil, ihr Wert steigt durch die eingetretene Katastrophe. Denn nur die enttäuschte Hoffnung stirbt nie. Mit kräftigen Zügen schwimme ich ans Ufer zurück.

Wie Blütenblätter das Blüteninnere umsäumen nun weitere Hütten den Weiher, die alle mir gehören. Eine nach der anderen zünde ich an. Durch die Zerstörung verhindere ich die Enttäuschung. Ein Feuerkranz umlodert das stille Gewässer. Gibt es denn hier keine Feuerwehr? Unschlüssig bricht der Erzähler seine Geschichte ab. Ich aber stürze mich in die Flammen. Verbrennend untermauere ich meine Unsterblichkeit. Als man meine verkohlte Leiche findet, bin ich längst über alle Berge. Allein mit den Toten, deren Zahl ich nach Belieben vergrößere, züchte ich Rosen, mit denen ich meine Gräber schmücke.

Niemand außer mir trauert um mich. Mit niemandem teile ich den Schmerz und die heimliche Freude, die er mir bereitet. Ein von mir für mich inszeniertes Schauspiel sind meine Friedhofsbesuche. Machtvoll auftrumpfend mit Wünschen, die ich mir umgehend erfülle, bin ich wieder Herr meiner Gedanken, sterbend, so oft ich will. Angstfrei fröne ich meiner Leidenschaft, Sätze zu bilden, die schon den Keim des Folgenden in sich tragen. Nichts geschieht wirklich. Der Marmor schmilzt, die Trauer kristallisiert, die Dämmerung wird in Pokalen gereicht. Trunken zerfließe ich im Nebel über nachtfeuchten Wiesen.

Das kann kein Mensch. Aber ich muß mich ja nicht definieren. Mein Aggregatzustand paßt sich den Gegebenheiten, die ich mir ausdenke, an. Im Licht verschwinde ich. Im Dunkeln strahle ich wieder. Ewige Existenz, vernichte und erschaffe ich mich im selben Augenblick. Indem ich das Warten aus meinem Dasein streiche, erspare ich mir die Ungeduld. Nichts steht bevor, auf das ich gespannt sein müßte. Jetzt falle ich, vielleicht als Blatt, vielleicht als Krieger. Der Sturm knickt meine Rosen. Der Himmel hat seine Schleusen geöffnet. Der Marschbefehl wird zur Farce. Lachend verwese ich.

Hörte mich jemand und wiese mich darauf hin, daß Tote nicht lachen können, würde ich zu ihm sagen: "Der eine ist tot, der andere lacht. Sie meinen, nur eine Person zu sehen, aber Sie sehen zwei Personen. Es ist eine optische Täuschung." Ja, das würde ich sagen. "Hier sehen Sie den Toten und hier den sich vor Lachen Ausschüttenden." Ich wünsche mir dieses Gespräch. Mein körperlicher Zerfall schreitet fort. Meine Heiterkeit erreicht ihren Höhepunkt. Es ist erlaubt, denke ich. Ich lache über den Tod. Ich verletze durch mein Gelächter den Anstand. Aber es ist erlaubt...

Ein Kuß auf den Mund unterbricht meinen Gedankengang. Die Lippen schwellen. Das neue Fleisch ersetzt das verweste. Ich sehe über mir das fahle Gesicht des Vaters. Ich sage: "Wäre mein Lachen gesetzlich verboten, hätte ich es unterlassen." "Ich weiß", sagt der Vater. "Ich kenne dich. Eine Strafe hättest du nicht riskiert." "Und du?" frage ich. "Ich bin dein Ebenbild. In dir hasse ich meine Feigheit. Du hältst mir den Spiegel vor, damit dich mein Selbsthaß erlöst." Dieses Gespräch, denke ich, hatte ich nicht erwartet. Ist es zu Ende? "Küß mich noch einmal!" befehle ich.

Da fällt eine sengende Träne auf meine Stirn und brennt sich ein. Ich ertaste das Brandmal. Zartes Gewölk ziert den noch rötlichen Himmel. Aufschauend rufe ich mir ins Gedächtnis, was vor meinen zahllosen Toden geschah. Ich war auf der Heimreise aus dem fahrenden Zug gesprungen und über den Bahndamm gerollt. Ich erinnere mich an das Gestrüpp, das mich auffing. Es gelang mir, bewußtlos zu denken. Ich dachte, ich werde, in tagheller Nacht die erloschenen Sterne zählend, das Unverlierbare suchen. Ich werde nicht aufhören, zu zählen. Ich werde nicht aufhören, zu suchen. Ich werde nicht aufhören.

So dachte ich, denke ich. Aber beschwören kann ich es nicht. Der Wahrheitsgehalt meiner Gedanken ist eine fluktuierende Größe. Nur für den Nutzen verbürge ich mich. Der Sprachfluß trägt mich zum Meer des Schweigens. Noch bin ich nicht angekommen. Noch muß ich die berechtigten Zweifel an meiner Methode hochmütig beiseite schieben. Erst am Ziel, mit meinem letzten Atemzug, werde ich sie entkräften können, mit meinem allerletzten Atemzug vor meinem letzten Tod. Ich liebe das Spiel mit den Wörtern. Die Wolken ziehen nach Norden. Wohin zieht es mich?

Ich steige hinauf zu den Geleisen und schreite sie ab wie ein Schienenwärter, den Blick auf die Schwellen gerichtet, bis das herannahende Geräusch eines Zuges mich zu einer blitzschnellen Entscheidung zwingt. Ich springe zur Seite. Der Tod langweilt mich, denke ich. Der Fahrtwind wirft mich fast um. Ich verwandle ihn in eine steife Brise und rufe, Sand in den Augen: "Ich weiß, wo ich bin. Mein Wissen bedarf keiner Beglaubigung. Mein Haus über dem Adlerhorst trotzt dem Sturm. Ich sorge mich nicht." Da entsteigen den Fluten greisenhafte Gestalten, mit Tang und Seegras bedeckt. Mich ignorierend, schleppen sie sich an Land, eine geschlagene Armee auf dem Rückzug.

Warum schließe ich mich ihnen nicht an? Glaube ich immer noch an den Sieg? Ich will ja kapitulieren. Ich will mich geschlagen geben. Das Heer der Ertrunkenen verschwindet hinter den Dünen. Ich aber gehe ein Stück in die eine und dann das gleiche Stück zurück in die entgegengesetzte Richtung und weiter so, hin und her. Einerseits achte ich darauf, daß die Strecke nicht von Mal zu Mal kürzer wird, andererseits gestatte ich mir nicht, über das Ziel hinauszuschießen. Würde mich jemand nach dem Grund für mein Hin- und Hergehen fragen, würde ich es sofort unterbrechen.

"Ich will das Maßhalten lernen", würde ich sagen. Doch niemand fragt. Ein Schuh wird angespült, ein Bein, eine Hand mit lackierten Fingernägeln, ein Kopf. Ich will das nicht sehen. Doch niemand sticht mir die Augen aus. So wird mir das Meer, meine letzte Zuflucht, für immer verleidet, denke ich und stecke, damit ich nicht rückfällig werde, die Frauenhand zur Erinnerung in meine Hosentasche. Aber, ach, sie verschwistert sich mit meinem Arm. Am Strand liegen nun männliche Körperteile. Ich lege die fehlende Hand dazu. Ein Hai hat mich zerrissen. Ich habe es nicht bemerkt.

Die Schauplätze wechseln zu schnell. Vor der anrollenden Sturmflut kann ich mich gerade noch auf eine Verkehrsinsel retten. Wenn die Ampel auf Grün springt, darf ich gehen, aber ich muß nicht, denke ich. Dem Erlaubten entsagend, übertrete ich kein Verbot. Ein junger Mann, der mich für blind hält, nimmt mich am Arm und führt mich über die Straße. Ich gefalle ihm. Er lädt mich auf einen Kaffee ein. Mich aber drängt es, ihm reinen Wein einzuschenken. "Ich bin nicht, was ich scheine", sage ich. "Ich kann Sie genau beschreiben. Sie sind unrasiert, braunäugig, schwarzhaarig, gescheitelt. Sie tragen links einen Ohrring."

Der junge Mann verschluckt sich und hustet. Ich sage: "Fassen Sie sich!" Und dann: "Ich bin weder blind noch eine Frau. Ich bin auch kein Transvestit. Hier sehen Sie diese Hand! Sie ist tot. Ich ersetze sie durch eine lebendige, und was sehen Sie jetzt?" Mit einer Antwort rechne ich nicht. Ein Dialog wird mir nicht gelingen. Doch eine letzte Bitte habe ich noch. "Wären Sie so freundlich", frage ich, "mit mir den Platz zu tauschen?" Geschehen muß es nicht. Die Bitte genügt. Schon sitze ich mir selbst gegenüber. Nun brauche ich nur noch aufzustehen und das Café zu verlassen.

Denn ich weiß ja, daß ich, obwohl ich aufstehe, sitzen bleibe und die Rechnung begleichen werde. Das Leben, das mir oft kompliziert erscheint, kann so einfach sein. Ich wohne gleich um die Ecke. Wie praktisch! Vielleicht gehe ich später noch einmal in das Café, um nachzusehen, ob ich noch immer da sitze. Wie aufregend! Ich brauche keine Weltreisen mehr und keine Expeditionen ins Unbekannte. Im Flur höre ich schon die vertrauten Klänge. Man spielt Klavier, man singt, man hält sich Kanarienvögel. Es ist ein musikalisches Haus. Ich klimpere mit dem Schlüsselbund. Ich schließe auf.

Aber das ist nicht meine Wohnung! Die Frau, die mich mit einem Kuß auf die Wange begrüßt, kenne ich nicht. Sie hält eine Katze im Arm. Ich darf mich jetzt, denke ich, nicht verraten. Ich muß mein Befremden verbergen. Der Tisch im Wohnzimmer ist für vier Personen gedeckt. Ich setze mich. Die Katze springt zutraulich auf meinen Schoß und läßt sich kraulen. Die fremde Frau bereitet in der Küche das Essen zu. Als es klingelt, ruft sie: "Öffnest du bitte!" Ein älteres Paar steht vor der Tür, mir ebenfalls unbekannt. Der Verwirrung überdrüssig, beende ich das Rätselraten und sage:

"Ihr seid meine Schwiegereltern. Ich aber bin nicht euer Schwiegersohn. Das ist die Wahrheit." Da tritt meine Schwiegermutter entschlossen an mir vorbei in die Diele und ruft mit schriller Stimme: "Ilse! Er spinnt schon wieder!" Das tut mir gut. Das muß gefeiert werden, denke ich, und kehre ans Meer, das sich inzwischen beruhigt hat, zurück. In einer Strandbar trinke ich mehrere Schnäpse. Beschwipst begreife ich endlich: Du bist nicht aus dem fahrenden Zug gesprungen. Du siehst schon die schäbigen Häuser der Randbezirke deiner geliebten Vaterstadt. Hier warst du jung.

Hier glaubtest du noch, daß sich das eine aus dem andern ergibt, das Wirkliche aus dem Möglichen, der Erfolg aus dem Fleiß, die Gelehrsamkeit aus dem Lernen. Hier häuftest du das Kapital deines Unglücks an, damit du es mit Zins uns Zinseszinsen im reifen Alter als Glück zurückbekommst. Doch als der Zug hält, steigst du nicht aus. Nach kurzem Aufenthalt fährt er weiter. Du wirst nie aussteigen, denke ich. Du wirst im Speisewagen das Gift, das du bei dir hast, in einem Glas Wasser auflösen und das Gemisch wie eine Limonade trinken. Man wird dich mit einem Hubschrauber in das nächste Krankenhaus bringen.

Man wird dir den Magen auspumpen und dich, sobald du bei Bewußtsein bist, fragen, warum du dich töten wolltest. Du wirst sagen: "Es war eine Wiederholung." Da man sich damit nicht begnügen wird, werde ich, der Wortgewandtere, dir aus deiner Erklärungsnot helfen. "Wir müssen im Leben alles mindestens zweimal tun", werde ich sagen. "Entweder wir tun etwas nie, aber wenn wir es tun, muß es mehrmals geschehen, nicht in genau der gleichen Form, es kann kleine Abweichungen geben, aber es muß als Wiederholung erkennbar sein, damit es sich einprägt als Wesenszug." Ich habe die Regel befolgt.

Ich lese in mir, ein von mir Gefesselter, nach Freiheit strebend, derer ich mich beraube. Zusätzlich lese ich gerade öffentlich aus einem Buch. Da steht: "Das Mögliche setzt das Wirkliche als Bedingung voraus. Kein Zufall ist zwecklos." Ich reiße die Seite heraus, falte sie mehrmals und verschlucke sie, wobei ich das bereitgestellte Wasser zu Hilfe nehme. Da ich auf jeder Seite zumindest einen Satz finde, der mir gefällt, muß ich sämtliche Teile des Buches, die ich vorlese, verspeisen. Das Glas Wasser wird bei Bedarf nachgefüllt. Nach jedem Verzehr eines Blattes wird applaudiert.

Am Schluß der Veranstaltung signiere ich die von den Zuhörern käuflich erworbenen Bücher. Das Schreiben ist jetzt meine Profession. Während der Lesungen mache ich die interessante Erfahrung, daß mir jedesmal andere Sätze gefallen. Ein Satz, dessentwegen ich tags zuvor die Seite, auf der er steht, gegessen habe, ist mir plötzlich zuwider. Ein anderer, den ich mißlungen fand, begeistert mich. Wäre mein Buch nicht gedruckt, würde ich auf Dauer keinen einzigen Satz stehen lassen. Die jeweils fertigen Seiten meines nächsten Buches müssen mir von meinem Verleger förmlich entrissen werden.

Von meinem Verleger? In Wahrheit bin ich es selbst, der mir die Seiten entreißt, so wie auch niemand anderer als ich selbst mir beim Vorlesen zuhört und klatscht, wenn ich, schwerste Magenkrämpfe riskierend, das Gedruckte hinunterwürge. Meine Überzeugung, vielgestaltig der letzte meiner Gattung zu sein, gebe ich, obwohl ich sie als abwegig erkenne, nicht auf. Zahllose Wohnungen habe ich und zahllose Berufe, sage ich mir, starrköpfig bei hellem Verstand. Unermeßliches Leid bringe ich über mich durch meine hellwache Starrköpfigkeit. Aber ich spüre es nicht. Fühllos bin ich geworden im Wust der Wörter.

Als ich eines Abends im Publikum das versonnene Gesicht einer Frau entdecke, die den Blick abwendet von meinem Vernichtungswerk, sage ich, nur scheinbar lesend: "Ich baue uns ein Heim in den Wolken." Da lächelt die Frau. Doch im nächsten Augenblick ist dieses Lächeln schon eine Erinnerung, der ich nachhänge als Greis, taub und blind, zu schwach, um aufzustehen, den Stuhl nicht mehr haltend, ein Pflegefall. Denn wenigstens einmal will ich mein Sterben als ein Dahinschwinden erleben, ein Verdämmern, ein Siechen. Die Erinnerung an das Lächeln soll es verlängern, so als klammerte ich mich an das Leben.

Wortverliebt huldige ich bis zuletzt meiner Todeslust. Wann ist endlich Schluß? Jetzt vielleicht? Jetzt? Oder jetzt, mitten in einem Gedanken, den ich nicht mehr zu Ende denke? Bin ich schon schwachsinnig, oder verhindere ich meinen Geistesverfall, indem ich, im eigenen Kot liegend, benenne, was ich dabei empfinde? Natürlich muß ich gefüttert werden. Die Hand, die den Löffel hält, sehe ich nicht, geschweige denn die Person, zu der sie gehört. Mir nur das Nötigste ausmalend, beschränke ich mich auf die Wörter "Hand", "Löffel" und "Brei". Man ernährt mich, damit ich kacken kann.

Was aber empfinde ich? Selbstekel habe ich schon zu oft empfunden. Ein Trüffelschwein ist nicht auf Steinpilze abgerichtet. Ein Goldesel scheißt keine Silberlinge. "Hinunterschlucken!" befiehlt die Pflegerin. Ich aber sage, den Brei ausspuckend: "Rastlos gebändigt, verweigere ich, innerlich jauchzend, die Speisung. An Schläuchen, zwangsbeglückt, will ich hängen, bis das Herz aussetzt und aus dem Auf und Ab eine zitternde Linie wird, von jenem Pfeifton begleitet, der meinen Exitus signalisiert." Noch während ich spreche, verläßt die Pflegerin, um Hilfe zu holen, den Raum.

Ein Uhu schreit. Im kalten Wasser eines mondbeglänzten Bergsees verjünge ich mich. Dann geht es durch Wald und Wiesen hinab in das Tal, wo schnarchend der Bauer neben der Bäuerin schläft. Ich brauche sie nicht zu wecken. Der Schlüssel paßt. Über dem Bett in meiner Kammer hängt der Gekreuzigte und nickt mir zum Zeichen des Einverständnisses zu. Morgen will ich, sofern meine Phantasie dazu ausreicht, im Paradies erwachen. Aber ich kann nicht schlafen. Die Wände rücken näher und näher. Die Decke senkt sich herab. Die Kammer verwandelt sich in einen Sarg. Ich werde abtransportiert.

Wüßte ich, ob ich tot oder lebendig bin, könnte ich mich entsprechend verhalten. Der Leichenwagen fährt mit zu hoher Geschwindigkeit und stürzt in den Straßengraben. Ich falle unversehrt aus dem Sarg und stelle mich dem verletzten Fahrer vor: "Grüß Gott, ich bin die Leiche." Soll das etwa komisch sein? Ich kann darüber nicht lachen, der Fahrer auch nicht. Aus seinem Mund rinnt Blut. Sein rechter Arm hängt wie abgetrennt über dem Lenkrad. Er will etwas sagen. Ich mache mir nicht die Mühe, es zu erraten. Bevor ich mich zu Tode langweile, gehe ich lieber. An der Straße liegt eine Klosteranlage.

Mönch war ich noch nicht, denke ich. Doch welchen verbalen Gewinn brächte mir das Mönchsleben ein? Kutte, Onanie, Lüge ... Ich setze mich in die Klosterkirche. Was ist Lüge? Das Gebet eines Ungläubigen? Jedes Versprechen? Jeder Liebesschwur? Gut, ich könnte behaupten, die Kirche sei eine Opferstätte. Schon werden die Messer gewetzt. Hinter den Säulen lauern die Schlächter. Ich werde noch einmal den Marmor küssen und den tödlichen Stich erwarten. Das barocke Gold blendet mich. Ja, hier ist der passende Ort. Man legt mir das Brot auf die Zunge. Ich warte und warte. Aber kein Todesengel erscheint.

Kein überirdisches Licht nimmt mich auf. Ich gehe gebeugt an meinen Platz zurück. Ich stehe, ich kniee, ich singe sogar. Ich flüstere in meine gefalteten Hände: "Herrgott, offenbare dich mir! Ich bin bereit. Sprich nur ein Wort, eines, das ich verstehe, ein deutsches Wort, oder gibt mir ein Zeichen!" Da wachsen, weil es mir einfällt, meine Hände zusammen. Ist das ein Wunder? Muß ich mich wieder göttlich fühlen? Scheinbar fromm, in Wahrheit ein Gott: Ist das meine Bestimmung? Ich werde, sage ich mir, in Zukunft die Kirchen meiden. In der Dorfgaststätte bringt mir der Kellner die Speisekarte.

Das Wiener Schnitzel, das ich bestelle, kann ich nicht essen, den Wein nicht trinken. Betend verhungere ich und werde heiliggesprochen. Als Wiedergänger berichte ich von meinem Martyrium und werde verhöhnt und verjagt. Als Waldmensch verbrüdere ich mich mit den Tieren, die meinen Erzählungen lauschen, weil sie kein Wort verstehen. Gestärkt kehre ich in die Gesellschaft zurück und räche mich an den Spöttern. Sagenhaft reich, unterwerfe ich sie meiner Profitgier, bis sie, um Almosen bettelnd, vor meinen Palästen kauern. Dann, plötzlich, verschenke ich alles und beziehe mit neuem Gesicht, damit man mich nicht erkennt, eine Garconnière.

Wie schnell das geht! Die Kassiererin in einem Supermarkt frage ich: "Haben Sie Sorgen?" Sofort beginnt sie zu weinen, so daß ihre Tränen das Geld benetzen. Die Scheine schwenkend, damit sie trocknen, sage ich: "Es ist meine Schuld." Beschwingt schiebe ich den Einkaufswagen zu meinem Auto. Während der Heimfahrt lege ich eine Kassette mit dem Walkürenritt ein und überhöre, vielleicht einen Tod verschuldend, den Heulton eines Rettungswagens. Aber auch das Lachen eines Kindes verschulde ich, indem ich durch das Autofenster Grimassen schneide. Das Kind wird von der Mutter zurechtgewiesen.

Die Gottesanbeterin beißt ihrem Begatter den Kopf ab. Der Komet, denke ich, hat die Saurier ausgelöscht. Wenn ich so weiterdenke, werde ich noch den nächsten Einschlag erleben. Mein Kühlschrank wird dann bestimmt nicht funktionieren, die Fischstäbchen aber werden, bevor sie verrotten, verbrennen. Zukunftsmusik! Ich schalte das Autoradio aus und verwandle mich in einen Reiter, der elegant jede Hürde nimmt. Den Siegerkranz hänge ich mir selbst um den Hals. Einen Parkplatz brauche ich nicht zu suchen. Das Pferd führe ich in den Stall. Tagsüber werde ich es wieder frei laufen lassen.

Es ist das Wertvollste, das ich besitze. Einen Pferdetrainer kann ich mir mit meinen bescheidenen Mitteln nicht leisten. Mit niemandem muß ich meine Triumphe teilen. Die Frage ist: Will ich so weiterleben, getrieben von Satz zu Satz? Ja, ich will! Von Stufe zu Stufe steige ich in den vierten Stock, vorbei an verschlossenen Türen, hinter denen sich Schicksale verbergen, die ich wortreich enthüllen könnte. Mich aber interessiert jetzt nur: Wohne ich nach meinem Ausflug in den Pferdesport noch in diesem Haus? Der Name über dem Türspion stimmt. Trotzdem wage ich nicht, aufzusperren, sondern klingle lieber.

"Gott, nein!" rufe ich, als ich, jawohl, ich selbst, mir öffne, und klingle, mich auf dem Absatz drehend, an der Tür nebenan. Die Nachbarin fragt, mich einlassend, ungehalten: "Wo waren Sie denn so lange?" Überrumpelt antworte ich: "Reiten." "Sie reiten?" "Ja, ich würde auch laufen, schwimmen oder boxen, wenn Sie es wünschen." Sie schließt die Tür hinter mir. "Ich werfe", fahre ich fort, "wenn Sie es befehlen, sogar den Hammer, ich stoße die Kugel und stemme jedes Gewicht." "Nun setzen Sie sich doch erst einmal!" "Ich breche für Sie sämtliche Weltrekorde." "Beruhigen Sie sich!"

"Ich will mich nicht beruhigen", sage ich. "Je verzweifelter ich die Ruhe suche, desto unruhiger werde ich. Kaum habe ich sie gefunden, schon werde ich aus ihr wieder hinausgeworfen. Denn die Ruhe, das wissen Sie so gut wie ich, gebiert die Unruhe, die Ordnung das Chaos, der Frieden den Krieg." Ich bräuchte der Frau das nicht zu erklären. Ich tue es nur, damit ein Gespräch entsteht. Aber sie schweigt. "Ich spreche mit Ihrer Stimme", sage ich. "Ich krieche in Sie hinein. Ich bringe Sie zum Verschwinden und bin nun wieder allein als mein Nachbar und meine Nachbarin... " Weiter komme ich nicht.

Denn die Frau hält mir den Mund zu und fragt: "Was sehen Sie jetzt?" Ha, denke ich, Vorsicht! Der Stuhl, auf dem ich vermutlich sitze ... Nein, keine Vermutungen! Das Wohnzimmer hat sich in ein Kino verwandelt. Der Film hat gerade begonnen. Entspannt lehne ich mich zurück, weil ich weiß: Ich spiele nicht mit, nein, diesmal nicht! Es wird geliebt und gemordet. Fast nicke ich ein vor Langeweile. Da erscheint hinter einer spiegelnden Fensterscheibe für einen Sekundenbruchteil schemenhaft mein Gesicht. Die Frau nimmt die Hand von meinem Mund. "Entsetzlich", flüstere ich. "Entsetzlich!"

"Was sehen Sie?" fragt sie wieder. "Nichts", antworte ich. "Es ist Nacht. Meine Augen müssen sich an die Dunkelheit erst gewöhnen." "Und jetzt?" insistiert sie. "Ich sehe Ihre Augen", sage ich, "ganz groß in der Finsternis, nur Ihre Augen, alles andere fehlt. Wenn Sie die Augen schließen, gibt es Sie nicht." "Ich mache uns Tee", sagt die Frau. "Gleich wird es hell." Ja, denke ich, der Film ist zu Ende. Das Pferd steht im Stall. Der Zug rollt in den Bahnhof. Der Seiltänzer zwinkert mir zu und stürzt in den Fluß. Die Wörter haben es gut in meinen Gedanken. So gut möchte ich es auch einmal haben.

Ach, sanftes Geplätscher, ratternde Fahrt! Eine Milchwolke sinkt in das dampfende Grau. Das Umrühren erübrigt sich aufgrund einer Entgleisung. Ich brauche weder zu trinken noch nachzulösen. Dem Schaffner fiel die Dienstkappe vom Kopf. Die Handtasche der Nachbarin treibt auf den Wellen. Stockenten umzingeln sie. Oder sind es Reptilien? Muß ich mir diese unsinnige Frage stellen, um die Sehnsucht nach Geborgenheit in mir abzutöten? Muß ich sie sogar bejahen angesichts des sich blutrot färbenden Wassers? Die Liebe zu einer Toten, denke ich, wird nicht strafrechtlich verfolgt.

Ich müßte mich selbst verklagen, damit ich mich verteidigen kann. Du hast in Gedanken getötet, würde ich sagen und mir zu meiner Entlastung erwidern, daß ich, so wie ich ungewollt lebe, auch ungewollt denke. Als mein Richter würde ich mich zur Freiheit verurteilen. Aber warum soll ich gegen mich prozessieren, da doch, obwohl ich meine Verfehlungen aufgedeckt, mich schamlos entblößt und bis zur Selbstaufgabe entäußert habe, kein Hahn nach mir kräht? Nur an Redewendungen kann ich mich noch ergötzen. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Mein Ziel ist das Ende aller Gedanken.

Aber die Schürfwunden heilen. Die Kruste fällt ab. Die Hämatome entfalten ihr Farbenspiel. In meiner Brust glimmt ein Gefühl. Ich lege nach, Scheit auf Scheit, daß es lodert. Ein Straßenmusikant fiedelt die Melodie, die ich mir wünsche, dazu. Wieder und wieder will ich sie hören, ein selbstvergessener König zwischen den Kauflustigen, bis ich fortgetragen werde ins Elysium meines Wahns. Mit anderen Worten: Ich weiß mit meinem Gefühl nichts anzufangen. Es strömt ins Leere. Es kann, erkenne ich, im Unendlichen an keine Grenze stoßen. Ich muß es umbenennen. Ich nenne es: Trug.

Auf den Straßen und Trottoirs liegt das eine und andere, das ich gebrauchen kann, ein Kamm, ein Schal, eine Münze, ein halbfauler Apfel. Ich schäme mich nicht, es aufzuheben. Noch bin ich nur ein Sammler wertloser Gegenstände. Doch schon morgen werden sie mir als Indizien meiner Genesung nicht mehr genügen. So werde ich zum Dieb und zum Räuber. Aus Habgier töte ich, nicht aus Liebe. Die Räume, die das Geraubte füllt, kann ich durchschreiten. An jedes Stück klebe ich seine Bezeichnung. Dann, Knall auf Fall, breche ich, wie man sagt, meine Zelte ab und beginne ein neues Leben.

Das wievielte es ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß: Ich bin dreizehn Jahre alt, männlich, und stolz auf mein erstes Schamhaar. Am Nacktbadestrand laufe ich trotzdem nicht nackt herum. Die Mädchen in meinem Alter tragen sogar, obwohl man ihre Brüste noch kaum erahnen kann, Büstenhalter. Ich spritze sie an und tauche sie unter, damit sie kreischen. Gern bin ich der Hahn im Korb. Mein Hang zu Redensarten ist bereits ausgeprägt, auch wenn ich sie nicht verstehe, sondern nur im Gedächtnis horte, als wüßte ich schon, daß ich später auf sie zurückgreifen werde in meiner Ausdrucksnot.

Denn der Kern meines ewigen Scheiterns, ich nenne ihn lustvoll des Pudels Kern, ist meine unzulängliche Sprache. Was denkt ein Kind? Ein einziger Kindergedanke würde mir eine Welt eröffnen, in der ich mich regeneriere. Da mir keiner einfällt, gebe ich mich dem in mir aufsteigenden Wortschwall hin. Ich könnte jetzt in einem fort reden. Aber wer hört mir zu? Ah, da sitzt jemand im Gras, mir den Rücken zukehrend. "Bitte drehen Sie sich nicht um!" sage ich. "Ich will Ihr Gesicht nicht sehen. Vielleicht haben Sie gar kein Gesicht. Vielleicht sind Sie nur eine Attrappe... "

Da hebt die Person beide Arme, verschränkt sie hinter dem Kopf und läßt sich nach hinten fallen. Der Mund ist ein schwarzes Loch, die Nase flachgedrückt unter lidlosen Augen. Entsetzt wende ich mich ab und sehe in das leuchtende Rosa eines blühenden Mandelbaums. Alles Abstoßende, sage ich mir, will ich für eine Weile vergessen, über die tagtäglichen Greuel den Mantel des Schweigens breiten zur Wiederherstellung der Balance zwischen dem Häßlichen und dem Schönen. Bitte, hier, diese Blütenpracht: schön, und hier, der Leib des Gefolterten: häßlich. Oder nicht? Hilft das Gebet?

Blutet der Mandelbaum? Erblüht der Todkranke, schwärenbedeckt? Ich brauche die Wörter nur umzustellen. Heilige Qual! Aschfahle Sonne! Ein Kind bin ich nun nicht mehr. Wahrscheinlich war ich es nie. Feierlich erkläre ich meine Bereitschaft zum Widerruf. Alles ist Irrtum. Ein bewußt Irrender bin ich, ein Umherirrender, vernarrt in den Doppelsinn. Doch wenn ich Wurzeln schlage, kann das nur eines bedeuten: Ich bin angekommen. Denn ein Mensch bleibe ich, daran halte ich fest und füge leichtfertig hinzu: ein Mann. In meinen Armen aber, rosenzart, katzenhaft ... Was ist das?

Es kann weder lachen noch weinen, nicht sprechen, nicht denken. Es ist etwas Weibliches, jedoch keine Frau, kein Mädchen, kein Tier. Es hat Gliedmaßen und einen Menschenkopf. Ich kann es streicheln und kosen. Es atmet. Es sieht mich an. Ich könnte es zur Befriedigung meiner Lust benutzen. Ich könnte ... Nein, denke ich angewidert. Der Konjunktiv offenbart die Unmöglichkeit. Das Unnennbare erregt mich nicht. Ein einsamer Gärtner bin ich in meiner Gedankenwüste, ihr abtrotzend, was ich zum Überleben brauche, Mondkohl und Rübengold, Schlafkresse und Traumsalat.

Als Wörtererfinder, mir selbst unverständlich, müßte ich nicht länger nach dem verborgenen Sinn meines Denkens forschen. Rabenschwer lichte ich über dem Abschlund. Gründend graut das Gemerk ... Nein, so geht es nicht! Flügellahm setze ich zur Notlandung an. Beim Aufschlag breche ich mir die Beine. Hier ist mein Blut und mein Boden. Wie ein Schwamm saugt er es auf. Nun aber muß ich mich, in der Einöde verloren, in einen unverletzten Verirrten verwandeln, um mich zu finden. Das darf ich ja noch. Da kommt er schon. "Ich bin abgestürzt", sage ich. Er blickt sich nach einem Fluggerät um.

"Nein", erkläre ich mit verlegenem Lächeln, "ich schwang mich aus eigener Kraft in die Lüfte. Sie werden es mir nicht glauben. Die Unvernunft enthob mich der Erdenschwere. Bin ich in Deutschland? Drücke ich mich verständlich aus?" "Warum fragst du", erwidert der Mann, "da wir doch ein und derselbe sind?" "Ja", sage ich, "du hast recht. Ich kann, konfus, wie ich bin, meinen Gedanken noch nicht ganz folgen." "Was hast du erlebt?" "Eine Welt ohne Frauen." "Das geht vorüber", beruhigt er mich. "Ich baue dich als Rippe in meinen Brustkorb ein und vollende dein Werk."

Gesagt, getan. Ich bin wieder allein und kann gehen und mich auf die Suche machen nach einer wohnlichen Bleibe. Denn ich will suchen. Ich will mir nicht wieder etwas herbeizaubern müssen. Ich will an Türen klopfen und eingelassen oder abgewiesen werden. Ich will die Menschen kennenlernen, die hilfsbereiten und die zugeknöpften, die ängstlichen und die geschäftstüchtigen, die geizigen und die freigiebigen, die verbohrten, die engstirnigen, die verstörten und die vom Schicksal begünstigten. Ich werde mir verbieten, zu behaupten: Das bin alles ich. Ich werde mein Wissen für mich behalten. Ich werde lügen.

Das sind meine Vorsätze. Eine Gelegenheit zu ihrer Verwirklichung ist nicht in Sicht. Ich kann weit blicken: kein Baum, kein Strauch, nicht die Spur einer Besiedelung, der Boden rissig, der Horizont ein mit mir wandernder Kreis. Ich bin der Mittelpunkt. Flugzeuge zeichnen kaum hörbar ihre Dunststreifen in den blaßblauen Himmel. Bin ich verflucht? Kann ich nicht wenigstens einmal eine Geschichte plausibel zu Ende bringen? Weitergehen kann ich jedenfalls nicht, keinen Schritt, denke ich. Da verwandelt sich eines der Flugzeuge in einen Vogel, der sich auf einen Dachfirst setzt. Das Haus steht leer. Die Tür ist unverschlossen.

Fröstelnd trete ich ein, eben noch in der Hitze schmachtend. Denn ich will es mir am Kamin gemütlich machen. Aber nicht, weil es kalt ist, friere ich, sondern die Hitze schlug, weil ich friere, in Kälte um. Der Wettersturz ist nicht die Ursache, sondern die Folge. Das sind die feinen Unterschiede, mit denen ich ankämpfe gegen den Überdruß, den mir mein Denken bereitet. Zähneklappernd hole ich von dem unter einem Vordach aufgeschichteten Holz ein paar Scheite. Ein Eiszapfen, der sich von der Dachrinne löst, verfehlt mich nur knapp. Das Glück ist mir hold. Doch wie lange?

Ich fürchte mich vor meinen Gedanken. Schon sehe ich, das Feuer entfachend, Menschen als lebende Fackeln durch brennende Städte laufen. So kann ich sie nicht unterscheiden. Ich sehe Kinder, lichterloh, ihrer kindlichen Neugier beraubt. Ich sehe brennendes Haar, verbrannte Haut. Ich weiß, ich brenne nicht. Mir tut nichts weh. Ich habe es warm. Der Kühlschrank ist gefüllt. Es fallen keine Bomben. Ich blättere nur im Bilderbuch der möglichen Schrecken. Warum ertrage ich den Anblick der Bilder nicht? Muß ich Benzin ins Feuer gießen, damit auch hier und jetzt das Mögliche geschieht?

Nein, denke ich, die Selbstverbrennung habe ich hinter mir. Die Erinnerung erspart mir die Wiederholung. Es knistert im Kamin. Dickflockiger Schnee füllt die von den Fensterkreuzen gebildeten Glasquadrate. Ich erwarte Besuch. Der Vater reitet auf einem Schimmel durch das verschneite Tal, links und rechts das steil Aufragende grüßend. Wir sind Verbündete. Alle Jahre wieder bekräftigen wir den Schwur. Er klopft ans Fenster. Ich lasse ihn ein. Er blickt mich an und nickt. Ja, das gefällt ihm: eisige Hitze, einvernehmlicher Haß. Ich schlage ihm ins Gesicht. Er schlägt zurück.

Dann geht er wieder. Der Sinn des Rituals bleibt unser Geheimnis. Manche glauben ihn zu verstehen. Sie sagen: "Aha, so ist das zwischen euch! Sehr interessant!" Sie stellen keine Fragen. Anläßlich einer Geburtstagsfeier erzählte ich unlängst, leicht angetrunken: "Ich wohne jetzt in der Wüste, da ist es winterlich. Der Schnee begräbt das Haus unter sich, so daß ein Hügel entsteht, den die Nomaden zum Rodeln benutzen." Niemand verwunderte sich. "Als mein Vater auf seiner Stute des Weges kam", fuhr ich fort, "hörte er unter den Rodlern mein teuflisches Lachen."

"Prost!" rief da der Jubilar und brach tot zusammen. An seiner Schläfe schlängelte sich das Blut. Das Glas zerbrach. Das fällige Entsetzen stellte sich ein. Ich aber fügte den letzten Stein in mein Gedankenpuzzle und begann heiter ein neues. In den durchwachten Nächten, dachte ich, schmilzt die mich schützende Hülle. Den Gefahren ausgesetzt, die ich brauche, um mich zu stählen, liege ich unter dem lächelnden Mond. Raubtiere lecken mir den Fieberschweiß vom Gesicht. Denn sie verschmähen das Kranke. Schattenhaft umschleichen sie mich, abmagernd, röchelnd verendend. Ja, so dachte ich.

Den Verstorbenen hatte man fortgebracht. Die scheelen Blicke der Gäste, die noch geblieben waren, schienen auf eine Erklärung zu warten. Ich sagte: "Die Krankheit besiegt den Tod. Den Aasgeiern habe ich ein festliches Mahl bereitet. So wandelt sich Schuld in Verdienst." "Genau!" stimmte der Wirt mir zu, der sich uns beigesellt hatte. Märchenhaft klang das Unwahrscheinliche aus. Ich durfte gesunden, zwischen den Zebras ein unnötiger Hüter der Herde. Die Achtsamkeit einte uns, nicht die Furcht. Scheinbar unbedroht grast, sich der Gefahr nicht bewußt, die Gazelle.

Eine einzige wird von den Löwen erbeutet. Der wissende Mensch aber tötet und opfert sich tausendfach. Lieber bleibe ich bei den Tieren. Nur den Wilderern gebe ich mich zu erkennen. "Halt!" rufe ich. "Mein Fleisch ist unverkäuflich. Mein Hoden macht impotent. Seht ihr an mir ein Horn oder verwertbares Elfenbein? Inspiriere ich euch zu einem Leopardenmantel?" Der Unverstand treibt sie in die Flucht. Ein zweifüßiges Tier, das spricht, ein Naturgeist, ein strafender Engel, ein Dämon: Auf so etwas schießt man nicht. Gott schütze Afrika! Ich bin sein Abgesandter mit meinem unnützen Denken.

Kein Flug, kein Feuer, kein Geburtstag und auch kein Fieber, das mich erhitzt, nur ein in meinem Kopf flackerndes Licht schenkt mir den lange ersehnten Schlaf. Man sagt, auch Träume seien Gedanken. Ich revidiere mich, wenn es beliebt. Die Kerze verlischt. Wer hat sie ausgeblasen? Ich träume von Wind und Wolken. Der rauschende Wald nimmt mich heimatlich auf. Knieend streiche ich über das feuchte Moos, atme den Pilzduft ein, der emporsteigt aus faulendem Laub, beiße vom Totholz die mürbe Rinde. Wie ein entlassener Sträfling nach dem erstbesten Weib giere ich nach der Heimaterde.

War ich so lange fort? Diesen Käfer da verspeise ich noch und diese Losung. Der Wiesengrund liegt schon im Schatten. Hoffentlich komme ich nicht zum Hochamt zu spät. Ich bin nämlich jetzt von Beruf, Gott weiß, warum, Bischof. In der Liebe, denke ich, habe ich tödlich versagt. Zärtlicher Berührung entwöhnt, erwürgte ich aus Versehen die Gespielin. Die Tat ist verjährt. Die Dauer meiner Abwesenheit ließe sich leicht eruieren. Das Wort "eruieren" aber ist mit vollem Mund schwer auszusprechen. Ich bin ein Bischof mit krimineller Vergangenheit, der sich von Rinde und Tierkot ernährt.

Was spricht dagegen? Der Weihrauch benebelt mich. Von den mit Stuck überladenen Wänden echot der Chorgesang. Mein goldgewappneter Körper erzittert. Lobet den Herrn! Lasset uns beten! Die Huldigung geht der Bitte voraus. Die Reihenfolge wird peinlich eingehalten. Zuerst die Narkose, dann die Entmannung! Die Spitzfindigen treffe der Bannstrahl des jeden durchschauenden Auges. Ich ordne meine Kohorten und halte die Monstranz wie ein Feldzeichen hoch. In meiner Residenz aber werfe ich mich auf das mit Brokat überzogene Bett, schluchzend, mich windend, gepeinigt vom Nachhall des Wortgeklingels.

Frieden finde ich nur in den Armen einer im Umgang mit psychisch Gestörten erfahrenen Prostituierten, die ich wöchentlich zweimal besuche. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit vertraue ich mich ihr an, hoffend, daß sie mich eines Tages verrät, damit ich, nein, nicht gekreuzigt, sondern zu einer neuen, weniger qualvollen Existenz gezwungen werde. Doch sie verrät mich nicht, die gute Seele. Ich muß mich selbst erlösen, denke ich und verwandle mich, meine Amtsenthebung umgehend, in einen unauffälligen Büßer. Ein abgängiger Bischof bin ich nun, von Brot und Wasser lebend, nicht von Insekten und Dung.

In Lumpen gehe ich. Mein Gesicht hat man sich nicht gemerkt. Kleider machen Leute. Aber warum kann ich nicht für eine längere Periode derselbe bleiben? Das frage ich mich und antworte mir: weil der Fragende nicht mit dem Befragten so wie der Unwissende nicht mit dem Wissenden identisch ist. "Wer bist du?" fragt der eine. "Ich bin ich", nuschelt der andere und entblößt lachend seinen zahnlosen Mund. Er sah bis auf die etwas eingefallenen Lippen vor seinem Lachausbruch ganz passabel aus, anständig gekleidet, rasiert, das Haar gescheitelt. Besonders die Hände gefielen mir.

Sie lagen, wie zur Besichtigung ausgebreitet, auf seinen Oberschenkeln. Gesprochen hatte er nicht, und auch jetzt, nach dem einen, das Lachen auslösenden Satz, schweigt er wieder. Ich aber entdecke Schuppen in seinem Haar, die, wenn er den Kopf bewegt, auf die Schultern rieseln, Schmutz unter den Fingernägeln, Bartstoppeln, Flecken auf Hemd und Hose. Natürlich, denke ich, natürlich. So ist das. Reg dich nicht auf! Leg das Geld auf die Theke und geh! Wasser hat sich in Bier verwandelt. Das Wortspiel mit dem Hamburger, der dir im Magen liegt, könntest du dir ersparen. Doch nun ist es zu spät dazu.

Verlange von dir nicht zu viel! Einen gedachten Gedanken kann niemand rückgängig machen. Wenn du denkst, der Himmel stürzt ein, dann geschieht es. Die Straßen werden gereinigt, aber du bist kein Straßenkehrer. Du bist in dieser frühen Morgenstunde buchstäblich ein Einzelgänger, obwohl du wankst, eine Schlangenlinie bildend, und in diesem Moment, so scheint es dir, mit einem zweiten Einzelgänger zusammenstößt. Eine Kollision zu Fuß wird nicht geahndet. Du bist jedoch, wie sich klirrend herausstellt, in das Schaufenster eines weltbekannten Modehauses hineingefallen.

Ein Mutwille liegt nicht vor, obwohl du dich willentlich angetrunken und somit deinen Sturz selbst, wenn auch nicht böswillig, verursacht hast. Ich behaupte: Du hast ihn dir sogar gewünscht, damit man sich um dich, zwar nicht liebevoll, aber immerhin sachgerecht kümmern muß. Die Sache, um die es geht, ist deine Bewußtlosigkeit. Man diagnostiziert eine Gehirnerschütterung. Außerdem hast du dir wieder einmal eine blutige Nase geschlagen, das heißt, sie wurde dir vom Schicksal, das es nicht gut mit dir meint, zugefügt. Es durch den Wunsch, zu stürzen, überlistet zu haben, ist dein Triumph.

Die im Rahmen deines Abtransports und der ärztlichen Versorgung nötigen Berührungen, die du nicht spürst, werden von deiner Haut, deinen Nerven als Zärtlichkeiten verbucht. Das Vorgefallene wird dir, nachdem du erwacht bist, bescheinigt. Auf dem Schein steht deine Anschrift. Du rufst ein Taxi und bist gespannt, wohin es dich bringt. Es nimmt dich, du hast es hellsichtig befürchtet, auf eine Zeitreise mit, an deren Ende du mit all deinem Wissen, deiner Bildung und deinen hochfahrenden Plänen als Höhlenmensch in einem Fellumhang dastehst, bewaffnet mit einer Keule.

Mit den anderen Höhlenmenschen lernst du dich durch Laute und Gesten rasch zu verständigen. Auch das Jagen und das Handhaben des Feuersteins beherrschst du im Nu. Sprichst du aus Zerstreutheit einen Gedanken aus, wirst du stumm angestaunt. Die tierische Lust am Geschlechtsverkehr brauchst du nur geschickt vorzuspielen. Das Kind aber, das du zeugst, ein wilder Knabe, spricht dir die Worte, die dir entschlüpfen, nach. Auf Schritt und Tritt verfolgt es dich mit seiner Wißbegier. Schließlich, um es vor der argwöhnischen Horde zu retten, trittst du mit ihm die Rückreise in die Gegenwart an.

 
So wie der Junge durch deine Schuld in der Urzeit ein Fremdling war, so ist er es jetzt durch das Erbteil der Mutter. Frühreif glänzt er durch formvollendete Sätze, dringt eloquent zu den ewigen Menschheitsfragen vom Sein und vom Nichtsein vor, verschlingt jedes Buch. Doch den Gebrauch von Besteck lehnt er ab. Ganze Stücke reißt er mit seinen kräftigen Zähnen aus dem aufgetragenen Fleisch. Auch jede Körperpflege verweigert er. Nur mit Gewalt kann er eingeseift und gewaschen werden. Ihm der­art zusetzen zu müssen, schmerzt dich so sehr, daß du ihn in ein Heim abschiebst.

 
Ihn dort zu besuchen, erträgst du nicht. Er ist aus deinem Leben verbannt, aber nicht aus deinen Gedanken. Tag und Nacht denkst du an ihn. Doch weder in deiner Er­innerung noch in den Träumen erkennst du ihn. Du weißt: Das ist mein Sohn. Doch du erkennst ihn nicht. Ich sage dir: Es hat diesen Sohn nie gegeben, so wie es dich und mich nie gegeben hat. Komm, laß uns vergessen, was es nie gab! Wir sind jetzt zu zweit. Wir sitzen vor dem Fernse­her und schauen uns das Weltgeschehen an. Es dauert nur eine Viertelstunde. Wir kommen nicht darin vor. Nach dem Fernsehen essen wir noch eine Kleinigkeit.

 
Ich schlage fünf Eier in eine Pfanne, gebe Salz und Pfeffer dazu und teile die Portion auf zwei Teller auf. Wir setzen uns an den Küchentisch. Aber du ißt ja nicht! Warum ißt Du nicht? Ich kann nicht allein fünf Rühreier essen. Du findest, ich sollte zurücknehmen, was ich dir zu deiner Beruhigung sagte? Gut, dann hör mir jetzt genau zu! Es war einmal ein Vater, der hatte einen mißratenen Sohn, der seine Gedanken, da sie ihn am Leben hinderten, zu schöpferischen Gedanken erklärte, indem er behauptete, die Welt existiere ausschließlich in seinem Kopf. Was ich nicht denke, sagte er sich, gibt es nicht.

So konnte er sich, bildlich gesprochen, eine geraume Zeit über Wasser halten, bis er vor Einsamkeit wahnsinnig wurde. Der Vater brachte ihn in ein Irrenhaus und nahm sich aus Verzweiflung das Leben. Der Sohn bin ich. Die Rühreier sind kalt. Ich esse sie trotzdem, zuerst die auf dem einen, dann die auf dem anderen Teller. Bist du nun zufrieden? Oder soll ich dir noch eine Geschichte erzählen? Dein Schweigen läßt mehrere Deutungen zu. Ich werde jetzt einen Spaziergang machen, und wenn ich zurückkomme, wirst du nicht mehr da sein. Unsere leeren Teller aber werden auf dem Küchentisch stehen.

Denn mein Zugeständnis an die Vernunft geht nicht so weit, daß ich dich gänzlich verleugne. Ich werde dich nie mehr wiedersehen. Aber du wirst dagewesen sein. Darauf bestehe ich im stillen Gespräch mit den Schatten der Bäume und Sträucher unter dem fast vollen Mond. Außer mir wohnt hier niemand. Die wenigen Häuser, einst prachtvolle Villen, sind dem Verfall preisgegeben, die Fenster zerschlagen, die Mauern von Kletterpflanzen gesprengt, die sich wie Schlangen durch hohle Augen ins Innere winden. Nur da und dort zeigt sich noch ein erstickender Rest der Bemühung um Ordnung.

Was ist geschehen? Aus Furcht vor dem Verlust meiner Gedankenkraft habe ich ausgeharrt in der Todeszone und lebe immer noch, verseucht, verstrahlt, vorschriftswidrig. Nicht trotz, sondern aufgrund des Verbots bin ich geblieben. Nur wo ich nicht existieren darf, existiere ich. Verließe ich das Sperrgebiet, wäre es aus mit mir. Die sogenannte gesunde Luft würde mich töten. Natürlich muß ich auf manche Annehmlichkeiten verzichten. Aber das bin ich ja aus der Steinzeit gewohnt. Ich liebe meine Tiere. Hin und wieder schlachte ich ein Huhn oder ein Schwein.

Kürzlich habe ich aus einem Fenster im ersten Stock einen Rehbock geschossen. Meine Hauptbeschäftigung ist nach wie vor das Sammeln von Wörtern. Nur achte ich inzwischen darauf, daß sich aus meinen Wortkombinationen ein allgemein verständlicher Sinn ergibt. Ausgerechnet hier, wo ich mich mit keinem Menschen außer mir selbst unterhalten kann, lege ich Wert darauf, mich klar auszudrücken. Zu meinen Schweinen sage ich: "Ich liebe euch, indem ich euch töte. Das Mästen ist das Vorspiel, das Schlachten der Höhepunkt. Steche ich zu, gebt ihr euch hin, quiekend vor Lust, blutend erlöst."

In Wahrheit spreche ich, auch wenn ich mit meinen Schweinen spreche, mit mir. Ich höre mir zu. Ich höre mich sogar denken. Mein Denken ist ein Sprechen mit versiegeltem Mund. Ich bin nicht allein, denke ich. Die Sau hat geworfen. Der Hahn kräht auf dem Mist. Nicht alle von den Hennen gelegten Eier verspeise ich. Ach, meine Küken! Die Milch bekomme ich von meinen Ziegen. Vor Hunden und Katzen kann ich mich kaum noch retten. Die hat man nicht evakuiert. Nur ich lebe hier illegal. Aber ich werde geduldet. Der Staat drückt ein Auge zu. Sähe er mich plötzlich mit beiden Augen an, wäre es um mich geschehen.

Ich würde zu Tode erschrecken, obwohl ich jeden Augenblick damit rechne. Gerade das Erwartete birgt die größte Gefahr. Ich male es mir aus, aber ich weiß: Wenn es eintrifft, bin ich verloren. Das Überraschende fürchte ich nicht. Als ich von meinem Spaziergang zurückkomme, ist mein Haus von einer mit Schnellfeuergewehren bewaffneten Spezialeinheit in Schutzanzügen umstellt. Wie lustig, denke ich, denn in dem Haus befindet sich niemand. Aber, oh Wunder, nun treten Menschen heraus, Frauen und Männer mit erhobenen Armen. Ich kann sie nicht zählen, so viele sind es. Dann knallen Schüsse.

Die Getroffenen sinken nieder. Ein Leichenhaufen entsteht. Es ist ein Massaker. Ich stürze auf einen der Schützen zu und frage: "Was machen Sie da? Warum erschießen Sie diese wehrlosen Leute?" "Sie haben ja keine Ahnung", schreit der Mann unter seinem auch das Gesicht umschließenden Helm. "Sie irren sich", schreie ich zurück. "Den Ahnungslosen spiele ich nur. Denn so wie ich mir das Blutbad ausgedacht habe, so könnte ich mir selbstverständlich auch darüber, wie es dazu kam, meine Gedanken machen." Da wendet sich der Behelmte kopfschüttelnd ab und schießt weiter.

Mir aber graut es vor meinen Geschichten. Ich will mir nichts mehr erzählen. Die Nacht ist ein blinder Spiegel, der Tag ein zerstörter Traum. Von Satz zu Satz schlittere ich auf dünnem Eis und breche ein. Hohnlachend komme ich mir zu Hilfe. Schadenfroh rette ich mich und schlüpfe, mich fachmännisch in Decken hüllend, aus meinem Schutzanzug. So wird die Wasserwacht zum Massenmörder. Das hätte ich ihr nicht zugetraut. Aber Befehl ist Befehl. Im nachhinein ist man immer klüger. Wer das nicht gutheißt, kann, wenn er logisch denkt, nur ein Ziel verfolgen: die Abschaffung der Zeit.

Er muß die Sommerferien in den Winter verlegen, als Säugling vergreisen oder, noch besser, schon vor der Geburt nach einem erfüllten Leben gestorben sein. Ich würde ihn dabei mit Herz und Hirn unterstützen, ja, auch mit dem Herzen. Denn der Verstand reicht nicht aus, sich eine heile Welt vorzustellen. "Ich will leben. Bitte geben Sie mir die Todesspritze!" haucht der vom Schmerz Berauschte dem Stabsarzt ins Ohr. "Schon gut", sagt der Arzt und wirft sich zu Boden. Der Verwundete aber, dessen Kopf ein blutiger Turban ziert, richtet sich auf und sieht im Feuerschein eine Tanzgesellschaft in Rokokokostümen.

"Rokokoko, rokokoko ... ", gackert er delirierend und erkämpft sich wortschöpfend den zweiten Platz in meiner Gunst. Stammelnd versterbend läßt er sogar den Seiltänzer hinter sich. Nur die Geliebte, die Wandelbare, die Unergründliche, überholt er nicht. Bezaubert von der Eleganz, mit der sie über die Bruchstelle gleitet, die mir zum Verhängnis wurde, entledige ich mich der Rollen, die ich eben noch spielte, und überlege, wie ich mich als Liebender zu verhalten habe. Schweigsam oder beredt? Werbend oder still auf ein Zeichen hoffend? Das beste wäre, ich brächte mich um und hinterließe eine Liebeserklärung als Abschiedsbrief.

Und das Zweitbeste? Ich darf mich ja nicht mehr töten. Ich darf nur von mir getötet werden. Oder ist das das gleiche? Vielleicht sollte ich einen Sprachwissenschaftler zu Rate ziehen. Dann müßte ich mich, kaum bin ich verliebt, schon wieder spalten und mir, um Fehler zu vermeiden, kritisch zur Seite stehen. Die Liebe aber ist das Zusammenfügende, sagt man, ihr Resultat die Vereinigung ... Ich will nicht so weiterdenken. Wie sehe ich aus? Wo ist ein Spiegel? Mich umblickend, stelle ich fest: Ich befinde mich in einem von Kristallüstern erleuchteten Spiegelsaal. Das nenne ich Übertreibung.

Obwohl ich allein bin, höre ich, als wäre der Saal voller Menschen, ein Stimmengewirr. In den Spiegeln sehe ich die nicht vorhandenen Menschen, mich jedoch nicht. Da somit der Grund, weshalb ich hier bin, entfällt, will ich den Saal schnellstens verlassen, kann aber nur humpeln. Offenbar bin ich aus meiner letzten Geschichte doch nicht ganz ungeschoren davongekommen. Ein livrierter Lakai bringt mir zwei Krücken. "Sie haben Glück gehabt, gnädiger Herr", sagt er, im Begriff, sich zu entfernen. "Warten Sie!" rufe ich. "Ich möchte Sie etwas fragen." Er verharrt in gebückter Haltung.

"Warum kann ich mich in den Spiegeln nicht sehen?" "Nur das Unwirkliche", antwortet er, "spiegelt sich, gnädiger Herr. Sie können es hören. Hören Sie? Neben Ihnen steht eine junge Dame." "Ja, ich höre sie. Ich höre ihre Stimme. Was spricht sie? Ich verstehe sie nicht. Ihr Spiegelbild ist so schön, daß es mich verlangt, sie zu berühren." "Und nun?" fragt der Livrierte. "Ich greife ins Leere." "Wollen Sie mit ihr tauschen?" "Ja, das will ich", sage ich und erblicke, verschwindend, im Spiegel einen alten, fast kahlköpfigen Mann, auf Krücken gestützt. Wie gut, daß ich das nicht wirklich bin!

Nicht wirklich, denke ich, aber nicht nicht. Was ist der Unterschied zwischen dem Unwirklichen und dem Nichts? Ein Kuß, den ich mir versage, setzt den Verzicht voraus. Auf einen unwirklichen Kuß brauche ich nicht zu verzichten. Ich küsse die Schöne. Sie spürt es ja nicht. So unbemerkt will ich lieben. Die Krücken entgleiten mir. Ich falle, aber ich falle nicht wirklich. Ich sterbe. Aber es ist kein wirklicher Tod. Der Saal ist jetzt leer. Die Spiegel an der Außenwand haben sich in Fenster verwandelt. Eines davon öffne ich und sehe spielende Knaben auf einem Fußballplatz. Nein, es sind Liliputaner!

"Mißgeburten!" rufe ich. "Meine Brüder! Euch sieht man die Verkrüppelung an. Ich aber, nur inwendig ungestalt, bleibe unerkannt. Meine Freude verfault. Meine Fleischeslust bildet Eiterherde. Meine Zuversicht hat das Verfallsdatum längst überschritten." Sie hören mich nicht. Neidisch beobachte ich, wie sie mit ihren zu kurzen Beinen und zu großen Köpfen dem Ball nachjagen. Auch einen Schiedsrichter haben sie. Er ist der Kleinste. Haben sie auch einen kleinwüchsigen Gott? Als göttlicher Krüppel, denke ich, wäre ich gut geeignet. Der Schlußpfiff ertönt. Die Sieger jubeln. Ich schließe das Fenster.

An der Wand gegenüber hängen anstelle der Spiegel Gemälde. Sie abschreitend, erkenne ich: Es sind überlebensgroße Porträts prunkvoll gekleideter Zwerge. Nun weiß ich: Ein fußballbegeisterter Liliputaner mit aristokratischem Stammbaum bewohnt dieses Schloß. Der Kuß, den ich mir erschlich, blieb nicht folgenlos. Liebestoll schwinge ich mich von Einfall zu Einfall wie ein Affe von Ast zu Ast. Der Baum wird gefällt. Der Affe, aus dem Vergleich befreit, stürzt auf den Urwaldboden und muß seine Freiheit mit dem Leben bezahlen. Scheinheilig bitte ich um Entschuldigung. Denn mir ist jeder Gedanke recht.

Der Affentod, der Kuß, das Fußballspiel... Ich hätte, sage ich mir, eine Pause verdient. Da treten die Ahnen des Schloßherrn aus den Gemälden und nähern sich mir, bedrohliche Riesenzwerge. Schreckensstarr erwarte ich die Strafe für meine ausufernde Phantasie. Sie aber betasten mich nur von oben bis unten und kehren dann langsamen Schrittes in ihre Bilder zurück. Ich blicke an mir hinunter. Mein nun wieder jugendlicher Körper ist nackt. Mit den Händen notdürftig meine Blöße bedeckend, flüchte ich aus der Geschichte. Wo falle ich nackt nicht auf? In einer Sauna, antworte ich mir.

Da sitze ich schon zwischen schweißtriefenden Leibern. Der Saunameister macht einen Aufguß und verteilt, ein Handtuch schwenkend, die heiße Luft. Sie einatmend, begleite ich sie gleichsam auf ihrem Weg in die Lunge, aus der ich ins Blut und mit dem Blut zu meinem Herzen gelange. Das pumpt und pumpt. Benommen hefte ich meine Augen auf die Frau, die mir gegenüber sitzt. Sie spreizt die Schenkel und züngelt mit dem Geschlecht. An ihrer Stirn klafft ein kirschgroßes Loch. Fort, denke ich, fort! An meinem Handgelenk hängt der Kabinenschlüssel. Ich sperre auf und falle mir als bekleidete Leiche entgegen.

Indem ich ihren Tod gegen mein Leben tausche, erspare ich mir den Kleiderraub. Man wird mich finden und, obwohl ich unschuldig bin, nach mir fahnden. So aufregend kann  nur das Unmögliche sein. Ich bin ja gern auf der Flucht. Mein Aussehen brauche ich nicht zu verändern. Man wird meine Identität feststellen und meine Spur aufnehmen und, wenn es mir gefällt, den Irrsinn auf die Spitze zu treiben, begreifen, daß man einen Toten verfolgt. Denn der Irrsinn ist die Bedingung für das Begreifen. Dem Umnachteten geht ein Licht auf. Doch bevor er den Mitmenschen davon berichten kann, ist es schon wieder erloschen.

In der Finsternis tappen die Suchenden. Stoßen sie auf das Gesuchte, halten sie es für ein Hindernis, das sie umgehen oder zur Seite schieben. "Hier bin ich", rufe ich, "und hier und hier und hier. Aber laßt euch nicht foppen! Geht einfach weiter, bis ihr einer der tausend Gefahren, die in der Dunkelheit lauern, zum Opfer fallt. Was euch bestimmt ist, könnt ihr nicht wählen." "Und wenn wir stehenbleiben?" fragt einer und faßt sich ans Herz. Es ist seine letzte Bewegung. Als Schauspieler müßte er jetzt einen Toten, der stürzt, darstellen.

Die Sprache unterscheidet nicht zwischen aktiver und passiver Bewegung. Ein Blatt bewegt sich, obwohl es bewegt wird, im Wind. Mein letztes Aufbäumen wird mit mir geschehen wie meine letzte Liebe. Vielleicht werde ich nie wieder nach Hause kommen. Vielleicht lächle ich soeben zum letztenmal. Aufzählend denke ich: der letzte Schlaf, das letzte Erwachen, der letzte Seufzer. Alles noch einmal tun. Alles noch einmal geschehen lassen. Ich parke im Halteverbot und eile zu meinem Arbeitsplatz. Meinen Terminplan rekapitulierend, vertraue ich mich der automatischen Drehtür an. Im Lift leuchten die Stockwerke auf. Die Sekretärin fragt, für wen ich zu sprechen bin.

"Für niemanden", antworte ich, "außer für mich." Sie stellt die Verbindung her. Ich schlage vor, daß ich bleibend verschwinde und bin, die Formulierung zu meinen Gunsten deutend, sofort mit mir handelseinig. Da sein und nicht sein zugleich: Einen besseren Vertragsabschluß gibt es nicht. Als verstorbener Besitzer des verboten geparkten Autos fahre ich heim zu meiner verwitweten Ehefrau. Mit ihrem Liebhaber bilden wir eine Ménage à trois, die sich durch einen zu spät entdeckten Gebärmutterkrebs in eine Tragödie verwandelt, der ich mich, ohne mich zu entfernen, entziehe.

Überall bin ich und nirgends, der nie geborene Sohn meiner Mutter, an mangelnden Erfahrungen reich, todesresistent, leblos vital. Nach Sätzen ringend, die den beglückenden Zustand verlängern, werde ich Zeuge einer kosmischen Katastrophe, die ich nur überdaure dank meines Nichtseins. Da stand ein Haus. Da schlief ein Kind. Das Haus hat das Kind unter sich begraben. Ich aber wünsche mir Zukunft. Ein Gärtner der Sprache will ich sein, Wörter mit Wörtern kreuzen, den Untergang leugnend. Über das brodelnde Magma breite ich einen Blütenteppich wie samtene Haut über heißes Verlangen.

Das Zarte besiegt die Gewalt. Der Bach fließt zur Quelle. Der Donner säuselt. Ich ernte die Früchte meiner Gedankenzucht. Doch der Unsinn hat Grenzen. Der Schöpfungsakt ist ein Spiel mit dem Feuer. Die Menschen mißlingen mir. Dem einen fehlen die Beine, einem anderen wächst eine Hand aus dem Kopf, ein dritter zieht sein Gedärm wie einen Schweif hinter sich her. Warum lasse ich nicht geschehen, was sich von selbst entwickelt, statt in den lauf der Dinge stümperhaft einzugreifen? Warum bin ich so ungeduldig? Ich antworte mir: Warum soll ich geduldig sein?

Die Nachteile wiegen die Vorteile auf. Eine Fahrt mit der Geisterbahn ist, gemessen an der Strecke, die sie zurücklegt, nicht billig. Ich habe den Schrecken umsonst. "Ihr seid der Kollateralschaden meiner Versuche", sage ich zu den Mißgestalten. "Der Übermensch der mir vorschwebt, wird das Weltall bevölkern, Wille mit Fatalismus paarend, das Glück erduldend, gelassen verzweifelt, bedürfnislos, aber nicht abgeneigt, wenn sich eine Gelegenheit bietet. An meinen Blumen würde er sich erfreuen, an euch seinen Blutdurst stillen." Leises Gelächter untermalt meine Worte.

Nun, da ich schweige, schwillt es zu raumfüllender Lautstärke an, von unsichtbaren Wänden zurückgeworfen, sich vervielfachend zu einem höhnischen Kanon. Wer lacht denn da? Ich muß weitersprechen. "Gott", sage ich. "Gott! Du bist es, der lacht. Rede ich, lachst du leise. Wie rücksichtsvoll! Das Gesprochene achtest du, das Gedachte nicht. Kaum verschweige ich einen Gedanken, gibst du deine Zurückhaltung auf. Der unendliche Raum verwandelt sich in eine von deinem Gelächter beschallte Kerkerzelle. Aber die Wahrheit ... Hörst du? Die Wahrheit offenbart sich nicht im Gesprochenen."

Ich schlage mir auf den Mund. Schmerz, denke ich, Schmerz. Wo ist ein Messer? Ich will mir die Zunge abschneiden. Aber man hat mir sämtliche Gegenstände, mit denen ich mich verletzten könnte, sogar meine Brille, abgenommen. Kaum bin ich ein Brillenträger, schon bin ich es nicht mehr. Lachhaft! Doch ein lachender Gott kommt in dieser Geschichte nicht vor. Auch sonst lacht niemand. Das Lachen ist nämlich verboten. Unterdrückt wird es zu einem anfangs lautlosen, dann hervorbrechenden Schreien. Habe ich zuvor meine Umgebung noch unscharf wahrgenommen, sehe ich jetzt überhaupt nichts mehr.

Das Schreien verschlingt alles Sichtbare. Das Ende der Welt wird ein nie endendes Schreien sein. Ich aber kehre verstummend in das Altbekannte zurück. Kaulquappen tummeln sich über dem schlammigen Grund eines Bachbetts. Rammler führen ungestört ihre Tänze auf. Zwischen Weidensträuchern hockt urinierend ein Mädchen. Unter dem gerafften Kleid sehe ich den funkelnden Strahl, der das gefallene Laub des Vorjahres näßt. Schützend stelle ich mich vor das Gebüsch, ein Wächter der Scham. Tiefflieger durchschneiden die Stille. Das Mädchen zieht verlegen sein Höschen hoch.

"Komm!" sage ich. "Komm! Siehst du die Brücke dort über dem Tal? Möchtest du fliegen? Der Tod ist ein ewiger Schlaf. Ich schenke dir jeden Traum, den du dir wünschst. Du brauchst mir deine Wünsche nicht zu verraten. Ich kenne sie. Ich bin dein Wunscherfüller." Das Mädchen nimmt meine Hand. Es trägt eine blaue Schleife im Haar. Ich fühle mich väterlich. Ich denke: Das wahrhaft Böse verfolgt keine Zweck. Die Schleife löst sich im Flug. Ein blauer Schmetterling flattert von Blüte zu Blüte. Ein Maler hat seine Staffelei aufgestellt und deckt die Leinwand mit schwarzer Farbe zu.

Im hellen Mittag malt er die Nacht. Ein blutiger Heiligenschein umrahmt das Gesicht des Mädchens. Ein Schatten huscht über die Brücke. Der Maler betrachtet sein Bild, das nichts verbirgt und nichts enthüllt. Nichts, denkt er, nichts. Ich trete von hinten an ihn heran und sage: "Jeder Tod ist ein Unfall. Jede Geburt ist ein Mord. Schuldlos zeugen die Schuldigen." Da greift er, ohne sich umzudrehen, zu seinem Pinsel und übermalt mit Deckweiß das Schwarz. "Können Sie singen?" frage ich. Nun dreht er sich um. "Oder darf ich Sie in einen Sänger verwandeln?" Ratlos sieht er mich an.

Ich sage: "Es ist sonst nicht meine Art, mich des Einverständnisses meiner Opfer zu vergewissern." "Vernichten Sie auch mein Werk?" fragt er und gibt, da ich verneine, zuerst eine Tenorarie, dann (als Frau) eine halsbrecherische Koloratur zum besten, bis nur die Stimme von ihm übrigbleibt, sich mit den Gesängen der Vögel mischend. Zutiefst ergriffen danke ich dem Teufel in mir für den Kunstgenuß. Ja, denke ich, alles ist künstlich, auch das sprießende Grün und der Windhauch, der meine Tränen trocknet. Der Sturz von der Brücke bleibt ungeklärt. Nach dem Maler wird man vergeblich suchen.

Die Wahrheit widersetzt sich der Kriminalistik. Ich kenne ein Land, da werden die abgetriebenen Föten als Vorspeise serviert. Als Hauptgang gibt es gepökeltes Skrotum und zum Dessert gesüßtes Ejakulat. Wohlklingend entströmen mir inhaltsschwere Gedanken. Wie Mücken umschwirren sie mich. Glüht mein Kopf? Leuchtet mein Haar in der Abendhitze? Ich werde die Nacht im Freien verbringen. Goldstaub rieselt aus dem Gezweig über mir. Vielleicht schlafe ich schon. Mir genügt die Behauptung. Die mich zu widerlegen versuchen, erkläre ich selbstherrlich zu Traumgestalten.

Schlafend hellwach, entkräfte ich ihre Beweise. Aus jedem Streitgespräch gehe ich siegreich hervor. Mich meiner Siege nicht freuend, hoffe ich auf ein böses Erwachen. Doch es geschieht das Gegenteil. Schönheit umgibt mich, ein Winterzauber, alternierend mit dem Farbenrausch südlicher Gärten. Habe ich eben noch das Widerwärtige sprachlich verklärt, so müßte ich nun das mich Berückende in ekelerregende Worte kleiden. Die Sprache aber kann nur verklären. Deshalb spreche ich denkend in einem fort, Bilder in Sätze verwandelnd. Denk, was du siehst, sage ich mir. Denk, was du fühlst!

Die Furcht vor dem Unaussprechlichen zwingt mich zu unaufhörlichem Denken. Nackte Angst, denke ich, blankes Entsetzen, und falle als Todeskandidat in ein Massengrab, wo ich, auf meine leblosen Mitkandidaten gebettet, erkenne: Ich bin durchgefallen. Ein Wortspiel hat mich gerettet. Mich über die noch warmen Leichen erhebend, kandidiere ich ein zweites, drittes und viertes Mal und so fort, bis die Schergen angesichts meiner Erfolglosigkeit resignieren. "Wir sind Totengräber", rufen sie mir, sich entfernend, zu. "Einen Lebenden begraben wir nicht!" Spitzfindig halten sie sich an ihre Berufsbezeichnung.

Ist mir der Tod auf ewig verwehrt? Unter meinen Füßen knacken die Knochen. Wie auf Luftkissen wanke ich über das zuckende Fleisch. Selbsttötung kommt nicht in Frage. Ohne jene letzte Zuwendung, die mir ein Mörder schenkt, will ich nicht sterben. Nur muß er sein Handwerk verstehen. Denn leicht bin ich nicht umzubringen. In mir schlagen zahllose Herzen. Mein Hirn ist gegen Schüsse immun. Zum Leben verdammt, sehne ich mich nach der Zärtlichkeit eines Messerstechers. Auch ein Würger oder Kopfzertrümmerer wäre mir recht. Aber bitte nehmt mich nicht ernst, ihr Gedankenleser!

Mir stockt der Atem vor Angst, wenn ich mir ausmale, meine Sehnsucht würde erfüllt. Ein Unbefriedigter will ich sein, nach Befriedigung lechzend, verkümmernd im Wartesaal eines aufgelassenen Bahnhofs, durch den die Züge der Glücklichen rauschen. Zöge einer die Notbremse, ich stiege nicht ein. "Kein Mitleid!" riefe ich. "Kein Erbarmen!" Zu sehr habe ich mich an das Warten gewöhnt. Standhaft ließe ich die Gelegenheit, es zu beenden, verstreichen. Mein Reiseproviant reicht für die Reisen, die ich nicht unternehme. Nun aber spielt auf, Musikanten! Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Geigenklänge verkürzen die Wartezeit. Die Widersprüche lösen sich auf. Ich darf an dieser Stelle sogar in der Ferne mein Fernweh heilen. Die Eisberge singen. Der Steppenwind entlockt dem Steppengras Flötentöne. Die Pauke signalisiert einen Erdrutsch. Vor Aufregung zitternd warte ich auf das Jawort des Cellos, damit wir uns zu wohltönender Klage vereinen. Denn geschrien habe ich schon genug. Jetzt will ich nur noch das Helle ein wenig verdunkeln, das Hohe mit dem Tiefen versöhnen, den Frohsinn trüben mit sanfter Mahnung. Aber wem gilt das Trompetengeschmetter?

Es wird etwas angekündigt, aber es trifft nichts ein. Die Erwartung wird unerträglich gesteigert, bis sie wie ein mißglücktes Soufflé in sich zusammenfällt, so daß ich wenigstens den Vergleich als Gewinn verbuchen kann. Wie jämmerlich! Ein Betrogener bin ich, ein Schlammfresser, denke ich, mich mutwillig erniedrigend, damit ich mich, angewidert von meiner Geistesarmut, zertreten kann und durch die Verschmelzung von Riese und Wurm zurückfinde zu jenem Mittelmaß, das mir erlaubt, wieder Mensch zu sein unter Menschen. Denn ich muß jetzt unbedingt mit jemandem reden.

Am liebsten wäre mir eine Frau mittleren Alters, lebenserfahren, aber nicht abgeklärt, weder häßlich noch schön, aufmerksam, aber mich nicht mit Fragen bedrängend. Allein ihre Gegenwart, nicht ihre Neugier, soll mir die Zunge lösen. Doch mein Mund ist voll Erde. Mich übergebend merke ich, daß ich auf Beinstümpfen stehe. Im Erbrochenen entdecke ich zwei meiner Zehen. Eine Dogge, kaum kleiner als ich, beschnuppert sie. Ihrem herbeieilenden Besitzer rufe ich zu: "Krüppelkotze!" Innehaltend sieht er mich an. "Sie haben das falsche Geschlecht", sage ich, während der Hund meine Zehen frißt.

Das erhoffte Gespräch war das nicht. Ich muß weiter warten. Die Beine sind dazu nicht erforderlich. Auch auf meine Arme könnte ich gut verzichten und eine Niere spenden. Hätte ich Medizin studiert, wüßte ich, was ich noch alles nicht brauche. Meine Unbildung erstreckt sich auf sämtliche Wissensgebiete, insbesondere auf die Mathematik und die Physik. "Müller!" herrschte mich, als ich die Sekunden bis zum Pausengong zählte, mein Physiklehrer an. "Wie geschwind ist das Licht?" Seelenruhig zählte ich weiter, bis die Unterrichtsstunde vorüber war. Immerhin weiß ich, was eine Wurzel ist.

Einen Bruch, haha, könnte ich mir armlos nicht heben. Gibt es ein müdes Schmunzeln? Was ist ein Schwarzes Loch? Verflucht, ich will aufstampfen können, denke ich nun und setze einen Finderlohn für meine Beine aus. Es meldet sich ein rüstiger Staatsbeamter und bietet mir, damit er eine Invalidenrente beziehen kann, die seinen samt Füßen und Zehen an. Als ich ihn nach dem Preis frage, antwortet er mit verächtlich geschürzten Lippen: "Geschenkt!" Kostspielig hingegen ist eine Gebißrenovierung. Wird sie sich lohnen? Zwar bin ich mit meinem nun strahlenden Lächeln ein überall gern gesehener Gast, aber eine als Gesprächspartnerin geeignete Frau finde ich nicht.

Die eine ist mir zu hübsch, einer anderen müßte ich eine Nasenoperation nahelegen, damit mich ihr hervorspringendes Riechorgan nicht von den Gedanken, die ich ihr offenbaren will, ablenkt. Um welche Gedanken es sich dabei handelt, weiß ich erst, wenn ich spreche, sage ich mir, schweigend lächelnd. Von den Damen und den Homosexuellen werde ich, da sie mich entweder für stumm oder für geheimnisvoll halten, umschwärmt, bis ich während eines Festessens mit vollem Mund, so daß das Halbzerkaute herausfällt, plötzlich die Wörter "Scheuklappen", "Menstruation" und "Schießbudenfigur" ausstoße.

Welche Erleichterung! Und dann: Welches Erschrecken über den Abscheu, der mir, dem, solange ich schwieg, allseits Beliebten, auf einmal entgegenschlägt! Ist es denn so schwer zu verstehen, was ich mit meinen Worten ausdrücken wollte? Gut, es fehlt der Zusammenhang. Aber muß denn alles zusammenhängen? Kann eine zierliche Birke nicht neben den Schandtaten, auf die ich, wenn sie mir einfallen, mein Augenmerk lenke, bestehen? Soll ich, wenn mir beim Kosen die nahezu vollständige Ausrottung des Buckelwals in den Sinn kommt, mit dem Liebesspiel fortfahren? Das kann ich nicht!

Ich kann Blut in Rotwein verwandeln und als Braut auf allen Hochzeiten, die gerade stattfinden, tanzen. Aber ich kann nicht, während ich an die millionenfache Vernichtung wehrloser Menschen denke, für Nachwuchs sorgen. Das Festessen wird ohne mich fortgesetzt. Der Appetit ist den Gästen nur vorübergehend vergangen. Ich kehre auf meinen Beobachtungsposten zurück und denke ausschließlich an das, was ich sehe. Ein Bartträger tut sich an einer Schweinshaxe gütlich. Den Bart schmücken glitzernde Speichelperlen. Es können auch Fettperlen sein. Die Nachbarin des Bärtigen hält sich die Hand vor den Mund.

Gähnt sie? Langweilt sie sich? Oder will sie in der irrigen Annahme, daß man nicht hört, was man nicht sieht, ein Rülpsen verbergen? In ihren Augen, bilde ich mir ein, schimmern Tränen. Drückt sie die Hand an den Mund? Schluckt sie Gift? Jetzt steht sie auf. Wankend verläßt sie den Raum. Wer sich auf das Schauen beschränkt, tappt im Dunkeln, denke ich, ihr in das angrenzende Schlafzimmer folgend. Mit einem Seufzer sinkt sie auf das zerwühlte Bett. Wie hingegossen liegt sie da, bleich und schön. Ich streiche ihr das Haar aus der Stirn und küsse die über den Rand des Bettes gleitende Hand.

"Ich sterbe", sagt sie. "Sie werden nie aufhören zu sterben", erwidere ich. "Sie werden sich erheben und wieder niedersinken. Sie werden sich im Spiegel betrachten. Sie werden Rouge auflegen und sich die Lippen schminken. Sie werden hinsinkend fühlen, wie Ihr Leben entschwindet. Aber Sie werden nie tot sein." "Das ist doch Unsinn", haucht sie, mir ihre Hand entziehend. "Natürlich!" stimme ich ihr begeistert zu. "Alles ist Unsinn. Aber der Unsinn geschieht. Sehen Sie, da!" Ich zeige zur Tür, die sich öffnet. Ein Gast nach dem anderen tritt herein und erschießt sich.

Zuletzt kommt der Gastgeber, nimmt militärische Hal­tung an und rapportiert: "Melde gehorsamst, Befehl ausgeführt!" Da rollt aus dem Stilleben, das über dem Kopfende des Bettes hängt, ein roter Apfel. Ich springe hin und fange ihn auf. "Er wäre auf Ihrem Kopf gelandet", sage ich und lege ihn auf das Bett, desgleichen die Waffen, nachdem ich sie den Händen der allesamt männlichen Toten entwunden habe. Frauen erschießen sich nicht. Das ist statistisch erwiesen. "Aus einem Bild fällt kein Apfel", sagt nun die Sterbende und erhebt sich, wie von mir prophezeit, um sich zu schminken.

"Endlich!" rufe ich "Endlich!" Das Sterbezimmer hat sich in einen Obstgarten verwandelt. Ein Sterbebett und ein Schminktisch in einem Obstgarten sind ungewöhnlich, doch das Ungewöhnliche ist nicht unmöglich. Wenigstens liegen keine Leichen herum. Auch der Gastgeber hat die Ortsveränderung nicht überstanden. Ich bin allein mit der Geliebten. "Du bist mein Schutzheiliger", sagt sie. "Aber jetzt geh! Als Heiliger brauchst du nicht anwesend zu sein." Demütig akzeptiere ich meine Vertreibung. Ein Blutzeuge bin ich, einer von vielen. Wir werden angerufen, nicht aufgerufen.

Das entsprechende Substantiv lautet "Anrufung", nicht "Anruf". Mein Martyrium berechtigt mich zu Kalauern, die ich mir nicht gestatten würde, wäre ich noch nie tot gewesen. Meine Tode sind ein Freibrief, der nicht freigemacht werden muß. Unfrankiert ermöglicht er mir, dem von der Geliebten Vertriebenen, das Totschlagen der Zeit bis zu meiner in alle Ewigkeit verschobenen Zeugenschaft. In Gedanken ein Großmaul, verspreche ich, frank und frei aufzutreten gegen mich, wissend, daß ich meine Verspätungen ... nein, meine Versprechungen nicht einhalten muß. Hätte ich den Satz ausgesprochen, wäre das ein Versprecher gewesen.

"Nun aber Schluß!" sage ich. "Hör mir zu, du Einfältiger! Mir ist gerade eingefallen, daß ich die Pistolen, da die Sterbende keinen Waffenschein besitzt, fortschaffen muß." Der Angesprochene rät mir: "Sei wieder du selbst!" Da sprudelt es aus mir heraus: "Versäumnis, Vergehen, Verleugnung, Vergebung." Das muß ich aufschreiben, denke ich und tauche den rechten Zeigefinger in den von mir soeben ausgeschiedenen Kot. Wie eine Obszönität kritzle ich die Wörter an die Abortwand. Nun will ich meine Hände in Unschuld waschen. "Es gibt keine Unschuldigen", rufe ich in das Rauschen der Spülung.

"Sie haben sich in der Tür geirrt", antwortet mir eine weibliche Stimme. Ich aber trete, den Schalk im Nacken, als Frau aus der Kabine. "An Ihrer Stelle würde ich nicht da hineingehen", sage ich, mir mit der sauberen Hand die Nase zuhaltend, und stöckle, an der mich entsetzt anstarrenden Geschlechtsgenossin vorbei, in den Waschraum. Unschuldige Seife! Unschuldiger Wasserstrahl! Von der Scheiße befreit, beginne ich tatenfroh mein neues Frauenleben. Plötzlich erscheint mir alles so leicht. Augenpaare erwarten mich, abschätzige, neidische, lüsterne oder verschämte Blicke.

 
Ich bin, was man in mir sieht, denke ich und lasse absichtlich meine Handtasche fallen. Zu dem hilfsbereit herbeistürzenden Kavalier sage ich: "Wie reizend von Ihnen! Es erregt mich, wenn Sie sich bücken. Doch kaum werden Sie sich aufgerichtet haben, wird mein Interesse verflogen sein." Er zögert kurz. "Ihr Nackenhaar über dem Kragen", fahre ich fort, "die lichte Stelle an Ihrem Hinterkopf ... Man müßte die Zeit anhalten können." Als er mir die Tasche reichen will, bin ich schon abgetaucht in dem auf Rolltreppen in den Untergrund gleitenden Menschenstrom, der zur Arbeit strebt.

 
Mein Ziel ist ein zum Abriß bestimmtes Bürogebäude am Stadtrand. Wie gewohnt grüße ich, es betretend, in die gläserne Pförtnerloge, in der umgehend, als Folge meines Grußes, der Pförtner erscheint. "Es ist niemand mehr da", spricht er in das Mikrophon hinter der Scheibe, "aber mit Ihnen kehrt das Leben zurück." Mit einem Lächeln bedanke ich mich für das Kompliment und gehe zum Lift, der mir von einem jungen Bürodiener offengehalten wird. Kaum sind wir allein, fällt er vor mir auf die Knie und preßt sein Gesicht an meinen Unterleib. "Ich flehe Sie an Ich beschwöre Sie ... Ich kann ohne Sie nicht leben… "

 
"Jetzt bin ich ja da", sage ich, schon im Begriff auszusteigen. Er muß eine Etage höher. Durch den Spalt der sich schließenden Tür ruft er noch: "Mittagspause!" An meinem Arbeitsplatz steht ein verlassener Schreibtisch, leer geräumt, mitleiderregend, denke ich. Denn ich fühle seit meiner Geschlechtsumwandlung mit den Gegenständen, nicht mit den Menschen. Eine vertrocknete Topfpflanze auf dem Fensterbrett streichle ich sogar, bevor ich sie gieße. Eine Kinderzeichung an der Wand rührt mich zu Tränen. Doch wehe, das Kind käme herein, um sie mir stolz zu zeigen! Ich bin eine Kinderhasserin.

Besonders die kerngesunden hasse ich, diese kleinen, vorlauten, unversehrten Geschöpfe. Ein Kind das mir etwas bedeuten soll, muß zumindest geistig behindert sein. Aus meinem Haß gewinne ich meine Lebenslust. Jetzt will ich gerufen werden. Sofort ertönt aus dem Nebenzimmer die Stimme des Prokuristen, den ich nicht hasse, sondern verachte. "Fräulein Jelinek!" ruft er. Ja, so heiße ich. Da ich nicht reagiere, ruft er ein zweites und drittes Mal. "Ich will Sie nicht sehen!" rufe ich schließlich zurück und werde wieder zum Mann. "Sie sind es nicht wert, in meinen Gedanken außer als ein Rufender vorzukommen."

So weit, so gut. Die Geschichte ist aber hier nicht zu Ende. Als Vater des Kindes, von dem die Zeichnung stammt, habe ich, denke ich, meine frühere Arbeitsstätte noch einmal aufgesucht, um das in der Eile vergessene Bild zu holen. Doch anstatt es vorsichtig von der Wand zu lösen, reiße ich es herunter und verbrenne es mit einem Feuerzeug, das ich der Schreibtischschublade entnommen habe. Der Hilfsbereite, der meine Handtasche aufhob, hat mich anhand der darin befindlichen Ausweispapiere ausfindig gemacht, kann mich aber nicht finden, da es die Frau namens Jelinek, die ich war, nicht mehr gibt. Ich bleibe vermißt, abwesend anwesend, wie wunderbar!

 
Ich war meine Mutter und meine Frau. Jetzt bin ich mein Vater und Sohn. Die verbrannte Zeichnung ist meine verlorene Kindheit. Ich habe Talent. Doch sobald mich der Kunstwille packt, schlage ich mir auf die Finger. Denn mein Beruf ist das Denken. Ich will keine Werke schaffen, keine Bilder und Bomben. Meine stummen Gebete hallen wider von den Wänden nie errichteter Kathedralen. Die von mir erdachten Paläste fallen nicht der Zerstörung, sondern dem Vergessen anheim. Auch das Bürogebäude, in dem ich mich noch immer befinde, wird, obwohl schon die Abrißbirne dagegenkracht, nicht abgerissen.

Das Zukünftige trifft nur als das Gegenwärtige ein. Wenn ich denke, morgen werde ich mich in einer blühenden Wiese wälzen, kann im nächsten Moment der eben noch morgige Tag schon der gestrige sein. Das Versäumte durch einen Ausflug in die Vergangenheit nachzuholen, erscheint mir, da ich es bereits dachte, überflüssig. Als ich mich zeugend empfing, war mir das nicht bewußt. Zwar führte ich Buch über meine fruchtbaren Tage, doch wann genau es geschah, ließ sich erst im nachhinein feststellen. Vergeblich bereite ich mich auf das Erdenkliche, indem ich es mir ausmale, vor.

Wenn das Undenkbare geschieht, denke ich: Du mußt es aushalten. Nichts dauert ewig. Es geht vorüber. Die Bewußtlosigkeit läßt sich nur durch Betäubung erzwingen. Der zur Folter Geschleppte beschwört seine Peiniger: "Bitte narkotisieren Sie mich, bevor Sie mich quälen!" Mir aber träumte, ich versänke in einem Meer von Blut. Wären alle Schrecknisse in die Träume verbannt, würde ich mich auf das Erwachen freuen. Warum greift die Wissenschaft hier nicht ordnend ein? Warum muß alles so sein, wie es ist? Niemand hört meine Fragen. Ich bin ja nur ein armer Irrer.

Mir wird bestimmt kein Nobelpreis verliehen. Doch mich totlachen, das kann ich. Von Lachkrämpfen geschüttelt, werde ich in Handschellen abgeführt, weil ich die Vernichtung des Gebäudes, aus dem ich nicht weichen will, sabotiere. "Nehmen Sie doch keine Rücksicht auf meine Wenigkeit!" sage ich. "Ich will nicht leben. Ich will vom Zug überfahren, von einem Ziegel erschlagen oder von einer Krankheit dahingerafft werden. Ich will ein Friedensopfer sein." Nun hält man mich für gemeingefährlich und weist mich in eine geschlossene Anstalt ein, wo mein scheinbar grundloses Lachen nicht auffällt.

Denn es haben hier alle eine besondere Eigenheit. Der eine, den man den Mathematiker nennt, doziert in einem fort über die Winkelfunktionen. Ein anderer streckt, sobald man ihn anblickt, die Zunge heraus oder entblößt sein Geschlecht. Eine Frau strickt und strickt. Ein junger Mann ohrfeigt sich, kaum hat er sich hingesetzt, steht auf und setzt sich wieder, während ihn eine Mitpatientin, mit den Armen wie mit Flügeln flatternd, hüpfend umkreist. Auch einen Astronomen gibt es, einen Apokalyptiker, ja sogar einen Hitler. Die völlig Apathischen nehmen daran keinen Anteil.

So entsteht aus den verschiedensten Verhaltenspartikeln ein Ganzes, als wäre das sogenannte Gesunde nur die Summe des Abartigen, das sich hier unverblümt zeigt. Ich habe die Saat ausgestreut, denke ich, und kehre heim mit reicher Ernte, lächelnd und tanzend, fortschreitend in ein mich verschlingendes Licht. Da will ich wohnen, keiner Nahrung bedürfend, schlaflos umschmeichelt von Sphärenklängen. Doch das Licht speit mich aus in die Finsternis. Ich strecke den Arm zur Seite. Da liegt jemand. Vorsichtig ertaste ich das Gesicht und lasse die Hand vom Kinn über den Hals zu den Schultern wandern.

Es ist eine Frau. Die Haut ist weich und kalt. Der anbrechende Tag erhellt den Raum. Mich aufsetzend, sehe ich, daß wir uns in einem Hotelzimmer befinden. Wir? Die Frau ist tot. Wie mit aufgerissenen Mäulern warten unsere leeren Koffer darauf, daß ich das Bett verlasse. Unsere Koffer? Muß ich nicht unterscheiden zwischen dem Meinigen, das mir gehört, und dem Ihrigen, über das sie als Leiche so wenig verfügen kann wie über ihren leblosen Körper, der in mir keine Erinnerung weckt? Ich stehe auf, klappe im Vorbeigehen die Koffer zu und werfe einen Blick aus dem Fenster.

Vor dem Hotel sind Soldaten postiert. Ich rufe die Rezeption an und ersuche mit Nachdruck, in meinen Überlegungen, ob sich ein Lebender in Gesellschaft einer Toten allein fühlen muß, nicht gestört zu werden. "Wollen Sie", fragt die Stimme am anderen Ende, "Ihr Frühstück auf das Zimmer bekommen?" "Kein Frühstück!" antworte ich schroff. "Keine Störung!" Kaum habe ich aufgelegt, höre ich, daß geschossen wird. Durch das geschlossene Fenster beobachte ich ein Feuergefecht zwischen den Uniformierten und einer Gruppe von Angreifern in Straßenkleidung, die sich hinter den Nachbarhäusern verschanzen.

Nach wenigen Minuten ist alles vorbei. Die Wörter "Scharmützel" und "Niederschlagung" fallen mir ein. Hier der Tod, denke ich, draußen die Todesgefahr. Aber so ist es ja nicht! Auf der Straße liegen Erschossene. An der Frau im Bett entdecke ich keine Spuren einer Gewaltanwendung. Ist sie an Liebeskummer gestorben? Darf ich an dieser Stelle das Wort "Liebestod" in die Debatte, die ich mit mir führe, werfen? Vielleicht hat man mir, während ich schlief, die bereits Tote gleichsam untergeschoben. Ich bin es gewohnt, auch als Alleinreisender ein Doppelzimmer zu buchen. Ich hasse Einzelbetten.

Ich muß auch diagonal liegen und mich, ohne aus dem Bett zu fallen, nach rechts und links rollen können. Ich brauche das Weiträumige. Denn ich kann in der Beengung nicht denken. Ich liebe das Grenzenlose. Absichtlich verliere ich mich in Abschweifungen, um der Geschichte, in die ich geraten bin, zu entfliehen. Ausschweifend wälze ich mich in riesigen Betten, die jedes normale Maß übersteigen. In ausgetrockneten Flußbetten erwarte ich das hereinbrechende Gletscherwasser, damit es mich fortspült zu neuen Gedanken, die mir die Rückbesinnung auf das Todeszimmer verwehren.

Gezwungen, mich selbst zu retten, werde ich fühllos gegenüber dem Schicksal der toten Unbekannten. Sie ist ja am Ziel, denke ich. Die Vorgeschichte kenne ich nicht. Mit jedem Stück Zukunft, das ich mir, nach Luft schnappend, erobere, wird die Erinnerung blasser. Ein Strudel, eine Stromschnelle, im blutigen Wasser ein umgestürzter, es wie eine Barriere durchschneidender Stamm ... Von Wort zu Wort kämpfe ich mich zu neuen Ufern, den lebensbedrohlichen Fluten entsteigend als der, der ich im Augenblick sein will: ein im Leben verankerter, zweimal geschiedener Bankdirektor.

Das Sorgerecht für meine noch minderjährigen Kinder wurde den Exgattinnen zugesprochen. Alle zwei Wochen verbringe ich einen vollen Tag mit den drei Söhnen. In meinen Träumen bade ich in einem Geldozean, gleißenden, klimpernden Münzenmassen, raschelnden, knisternden Scheinen, lächerlich wertlos für den, der nicht bedenkt, was man damit alles kaufen kann: eine unvorstellbare Warenmenge, Nahrung für sämtliche Hungernden, Grund und Boden, Liebesdienerinnen, die ganze Welt, aber Liebe? Nein, Liebe nicht, antworte ich mir, mit den Gemeinplätzen vertraut. Liebe kann man nicht kaufen.

Mein jüngster Sohn jagt eine lahme Taube, bis er begreift, daß sie ihm nicht entkommen kann. Das ihm unterlegene Tier reizt seine Jagdlust nicht. Wie lobenswert! Er sucht die Herausforderung. Er will sich messen. Er ist kein Sadist. In der Mitte des von Holzbänken gesäumten Rondells plätschert ein Brunnen. Ich lockere meine Krawatte und fächle mir mit einer gefalteten Zeitung die Stirn. So fremd war ich mir nie. Je sehnlicher ich mir eine Rolle wünsche, desto schwerer fällt es mir, sie zu verkörpern. Die älteren Söhne führen Kunststücke mit ihren Skateboards vor. Das klackende Geräusch mischt sich mit dem Geplätscher.

Ich höre es, aber ich sehe keine Bewegung. Das Wasser sprudelt nicht mehr. Die beiden Knaben erstarren wie auf einer Fotografie in ihren grotesken Verrenkungen. Bleib ruhig, sage ich mir, es ist nur ein Einfall. Hör nicht auf, zu fächeln! Schlag die Beine übereinander! Sprich mit dir selbst, aber befolge deine Befehle nicht! Jetzt bist du verrückt. Die Hälfte deines Weges liegt hinter dir. Mit jedem weiteren Schritt vergrößert sich die Summe des Überstandenen, während das Ausmaß des noch zu Überstehenden sich verringert. Die Furcht vor dem Ende hat sich in einen tröstlichen Gedanken verwandelt.

Die Hitze ist der Abendkühle gewichen. Ich lege die Zeitung beiseite. Der Platz hat sich geleert. Ich bin wieder kinderlos. Nur die aufsteigende und in das Becken herabfallende Brunnenfontäne ist aus der vorigen Episode geblieben. Vorgebeugt sitzend, die Arme auf beide Knie gestützt, warte ich darauf, daß ich das Wort an mich richte. "Steh auf", sage ich, "aber erhebe dich nicht! Riskiere das Unvereinbare ein letztesmal, um gerüstet zu sein für die Prüfungen, die dein Denken dir auferlegt!" Nun muß es geschehen. Ich habe es oft geübt. Die Geräusche verstummen. Das Wasserspiel hat man abgeschaltet.

Mich aufrichtend, stülpe ich mich aus mir heraus. Mir nachblickend, entferne ich mich, bis ich mich aus den Augen verliere und nur noch der Trennungsschmerz mich mit mir verbindet. Ein trauriger Clown bin ich. Das ist keine Berufsbezeichnung. Die Bank, auf der ich sitze, kann ich leiten, solange ich will. Von Lebensmitteln aller Art lebe ich. In Elendsvierteln wird mir Kaviar aufgetischt, in alarmgesicherten Villen verschimmeltes Brot. Als Bettler werfe ich mir eine milde Gabe zu. Oder habe ich mich jetzt falsch ausgedrückt? Muß ich mich, um meiner Enthauptung zu entgehen, sprachlich disziplinieren?

Da steht das Blutgerüst. Für die kleinste Verfehlung wird mir der Kopf abgeschlagen. Im Büßerhemd trete ich vor die Wächter über Kasus, Pronomen und Komparation, obwohl ich mich, da ich nichts aufschreibe, an kein Regelwerk halten müßte. Wie Unrat werfe ich die Sätze aus mir hinaus in ein Nichts, in dem sie verschwinden wie ein Hauch in der Luft. Nach jedem gedachten Punkt tritt eine mehr oder weniger lange Pause ein, je länger, desto quälender, denn das Hirn produziert ohne Unterlaß dieses Unnötige, das schon im Moment seines Entstehens Abfall ist, den ich entsorgen muß.

Eine monströse Gedankenentsorgungsanlage ist das All, denke ich. Einerseits will ich den Kopf verlieren, andererseits fürchte ich den Kontrollverlust. Indem ich die Wörter, bevor ich sie in die Freiheit entlasse, zu grammatikalisch einwandfreien Gebilden zusammensetze, sühne ich, verliebt in den Widersinn, eine untilgbare Schuld. Nun aber ist es an der Zeit für ein Bekenntnis zur Wiederholung. Ich kann immer nur, abgewandelt, das gleiche denken. Die Abwandlung ist meine Obsession. Mir fehlt der Glaube an das Niedagewesene. Dem Strafgericht knapp entronnen, liege ich mit ausgestreckten Armen und geschlossenen Beinen wie ein Kreuz unter dem Himmelsdach.

Den Kopf kann ich, ohne die Form zu zerstören, nach beiden Seiten drehen. Eine Biene läßt sich auf einer Kleeblüte nieder. Eine Feldgrille wagt sich aus ihrem Loch. Als sie zu zirpen beginnt, denke ich: Sie tut es für mich. Gerührt vergieße ich Tränen des Glücks. Wenn ich es teilen könnte, würde es sich, da in der Gefühlswelt die Mathematik versagt, verdoppeln. Die Glücksspenderin stelle ich mir als Spitze eines Glückskegels vor, dessen berechenbares Volumen in keinem Verhältnis zu der maßlosen Beglückung steht, die sie bewirkt. Mein guter Gott ist jetzt eine Grille.

Aber ich kann ja nicht ewig so liegen bleiben. Der
Schmetterling sprengt den Kokon, um sich zu kurzer Herrlichkeit zu entfalten. Der Lebenstrieb beendet den Glückszustand. Der kreuzförmige Abdruck meines Körpers im Gras wird bald verschwunden sein. “Ich will nach Hause”, sagt die demente Frau, durch die Gänge der Anstalt schlurfend. Ich sehe fern, doch sie ist mir so nah. Als ich umschalte, erscheint auf dem Bildschirm eine luxuriöse Hotelanlage mit Palmen und Swimmingpool. Ich wünsche mir, denke ich, einen Traumurlaub, damit ich mich vom Denken erhole, Tod inklusive.

Mein Urlaubswunsch ist ein Todeswunsch, obwohl ich nach allem, was ich erlitten habe, bezweifle, daß ich als Toter nicht denke. Nichts ist gewiß. Ich glaube zu leben. Ich denke, daß ich zu leben glaube. “Gehe ich recht in der Annahme, daß ich mich hier in einem Reisebüro befinde?” frage ich und füge, da ich keine Antwort erhalte, erläuternd hinzu: “Sie müssen wissen, daß ich eben noch in Gesellschaft einer göttlichen Grille vor dem Fernseher saß, nicht sicher, ob im Jenseits oder im Diesseits.” Nun wird mir ein Reisekatalog vorgelegt, den ich gewissenhaft durchblättere.

In meinem Kopf aber zirpt es schon wieder. Außerstande, mich zwischen den drei zur Wahl stehenden Orten Wiese, Wohnung und Reisebüro zu entscheiden, multipliziere ich die Zahl Drei mit Null und kann jetzt wieder von vorn anfangen. Der Zug rollt in den Bahnhof. Ich werde von mir erwartet. Die Enttäuschung über meine Einfallslosigkeit zeigt sich in einem maliziösen Lächeln. Soll ich mich auch noch umarmen und zur Begrüßung auf beide Wangen küssen? “Wie war die Fahrt?” “Frag nicht so blöd!” sage ich. "Gib endlich zu, daß ich dir gleichgültig bin!" “Du mir gleichgültig`” Ein Gelächter erhebt sich.

Die Angekommenen lachen, die zur Abfahrt Bereiten, die Bahnarbeiter, das Zugpersonal, die Imbiß- und Getränkeverkäufer, kurz, der ganze Bahnhof lacht: so wie man sagt, die Wüste lebt. Lieber als mich hier, wo so viele Menschen  sind, zum Gespött zu machen, würde ich mich in der Sahara vor dem Verdursten retten. Wo ist mein Koffer? Wo ist mein Arm, der ihn hinter sich herzieht wie einen störrischen Hund? Meine Gliedmaßen heben sich selbständig gemacht. Mein Kopf schwebt wie ein Luftballon über dem Rumpf, der ihnen nicht folgen kann. Der Spott schlägt in ein anerkennendes Staunen um.

Mit friedlichen Mitteln verschaffe ich mir Respekt. Zu Schaden kommt niemand, abgesehen von einigen Zartbesaiteten, die in Ohnmacht fallen, weil sie meine Zersplitterung für bare Münze nehmen. In der Stille der Abgeschiedenheit füge ich mich wieder zusammen. Doch lange halte ich es nicht ohne Publikum aus. Mein nächster Auftrittsort ist ein Restaurant. Als Horsd’oeuvre verspeise ich meine Ohren. Für den Hauptgang entnehme ich meiner Brust das pulsierende Herz. Zum Nachtisch gibt es Pudding aus Eigenblut. Gemessen an der Aufmerksamkeit der Restaurantbesucher, die ich genieße, fällt der temporäre Verlust meiner Lebendigkeit nicht ins Gewicht.

Kaum bin ich wieder allein, hänge ich, körperlich intakt, meinen Gedanken nach. Ich denke an das Geschehene. Ich muß es wiederkäuen und verdauen, um Platz zu schaffen für das Neue, auch wenn das nur das abgewandelte Alte ist. “Du hast mich betrogen”, sage ich. “Ich habe dir alles gegeben. Du hast es genommen. Du hast es nicht verschmäht. Du hast mich in dem Glauben gelassen, es würde dir etwas bedeuten. Doch als ich mir deiner Liebe sicher war, hast du es mir vor die Füße geworfen. Da liegt es nun und ist nichts. Es war, als ich es dir gab, alles, und nun ist es nichts.”

Der Spiegel, zu dem ich spreche, beschlägt sich. Ich hole das Glasreinigungsmittel und besprühe, als wäre die gesamte Wohnungseinrichtung aus Glas, den Wäscheschrank, die Kommode, den Tisch und die Stühle. Sogar die Bücher in den Regalen besprühe ich. In einem Glaspalast will ich wohnen, für alle sichtbar. Wie rätselhaft! Denn warum will ich mich den Blicken der Menschen aussetzen, obwohl ich mich nach dem Verschwinden sehne? Nachts soll mein Palast, damit auch die Dunkelheit mich nicht schützt, hell erleuchtet sein, denke ich. Es bleibt aber alles so wie es ist. Das falsche Putzmittel ändert nichts.

Nur ich schaue mir zu. Eine Hummel hat sich in meine Mansarde verirrt. Ich bin jetzt ein liebeskranker Student. Die Geliebte hat mich verlassen. Die Hummel scheuche ich durch das offene Fenster in die Freiheit zurück. Jung und unglücklich werde ich nun eine Weile bleiben. Zu den Kommilitonen, sowohl den weiblichen als auch den männlichen, halte ich Abstand, damit man mich gleich als Außenseiter erkennt. Während der Vorlesungen sehe ich nur ihre Hinterköpfe, die sich, wenn ich die Augen schließe, in Kohlköpfe verwandeln. Blutige Ernte, denke ich dann. Denn das Unglück zeugt Rachegedanken.

Die Frau, die mich verließ, und den Allmächtigen, der sie mir entriß, verschone ich. So unvernünftig ist der aus Schmerz geborene  Haß. Gegen alles Mögliche richtet er sich, auch gegen Geräusche und Gegenstände, nur nicht gegen die Schuldigen, auf die ich immer noch meine Hoffnungen setze. Schmerzfrei und hoffnungslos werde ich wieder ein Mensch ohne Geschlecht und Charakter sein, der sich, wie es ihm einfällt, selbst definiert. Ist es bereits so weit? Im dritten Stock hat sich ein Mann aus dem Fenster gestürzt. Oder wurde er aus dem Fenster gestoßen? Der Todesgedanke ist meine Beruhigungspille.

Mein Studienziel ist die Gelassenheit. In den Hörsälen vervollkommne ich mein Desinteresse. Weder die Naturwissenschaften noch die Kunst interessieren mich. Die Psychologie entwertet die Liebe. Die Philosophie ist ein Angstprodukt. Vater unser, der du bist im Himmel… Nutzlos verhallen die erlernten Gebete. Ich muß wieder töten. Das nächste Insekt, das sich in meine Wohnung verirrt, erschlage ich. Die Katze, deren nächtliches Maunzen ich für das Gewimmer eines gequälten Kindes hielt, bringe ich zum Verstummen. Und nun? Genügt mir der Katzenmord? Oder werde ich wieder zum Amokläufer?

Das Wort zerfällt in zwei Teile. Bekleidet mit einer Trainingshose und einer Trainingsjacke jogge ich im Morgengrauen durch den von dem Haus, in dem ich wohne, nur wenige Minuten entfernten Park, wo noch der Dunst über den Wiesen steht. Was ich sehe, sehe ich nur so nebenbei: ein Baumgerippe inmitten laubstrotzender Eichen, schwindende Nebelgestalten mit zum Schrei geöffneten Mündern, ein zerfleischtes Etwas, Mensch oder Tier, unter kalt schimmernden Heckenrosen. Getrieben von dem Wunsch zu vergessen, nähere ich mich dem Ziel der mir vorgezeichneten Strecke. Weiter, denke ich, weiter!

Schon mischt sich das Morgenrot in die Bläue. Du mußt durch die Flammen, um dir die Gleichgültigkeit zurückzuerobern, die dich kräftigt für den zu meisternden Tag. Ein schlüpfriges Auge auf deinem Schreibpult wirft dich nicht aus der Bahn. Es ist ja dein eigenes. Du setzt es dir wieder ein. Empfindungslos, traumentleert tust du das Nötige. Dein gebrochenes Herz wird kuriert. “Noch müssen wir es operativ wieder zusammenfügen”, erklärt der Chirurg. “Doch bald wird es gegen die Liebe ein Heilmittel in Tablettenform geben.” Der Mundschutz verbirgt sein wissendes Lächeln.

Er sagt noch: “Bitte erzählen Sie mir von Ihren Gefühlen!” Schon halb betäubt von der Narkose, bringe ich nur einzelne Wörter und Satzteile hervor: “Der Baum, die Pfirsichblüte, Sand unter den Klippen, der durch die Finger rieselt, Lippen, so rot… Nein, es sich Kirschen.” Dann, plötzlich, richte ich mich noch einmal auf und rufe: “Gefühle sind ungesund!” Als ich erwache, sehe ich über mir das junge Gesicht der toten Mutter. Der Tod hat sie verjüngt. So schön war sie vor meiner Geburt, denke ich. Mein Herz pocht im Innern der Nacht, die mich schützt vor den Gespenstern des Tags.

Was aber ereignet sich jenseits der bildhaften Gedanken, in die ich mich ängstlich flüchte? Gibt es da etwas, das ich zum Beweis meiner Existenz bannen muß durch die Beschreibung? Eiterndes Holz? Harzende Wunden? Widerwillig vertausche ich, mich dem herrschenden Sprachgebrauch unterwerfend, die Attribute und werde zu einem Vieraugengespräch eingeladen. Schon bei der Begrüßung kann ich das Lachen kaum unterdrücken. “Bitte entschuldigen Sie”, sage ich, mich mit Mühe bezähmend, “ich wußte nicht, daß wir zu dritt sein würden.” “Ja, da staunen Sie”, erwidert einer der Gesprächspartner stolz.

Triumphierend stimmt der andere ein: “Alles bedenken Sie. Aber dass man auch mit zwei Einäugigen ein anregendes Gespräch führen kann, haben Sie nicht bedacht.” Erblindend beende ich den lächerlichen Versuch, meine Verzweiflung durch einen Scherz aufzulockern. “Mir ist nicht zu helfen”, sage ich. “Nur gefesselt bin ich agil. Gelähmt überspringe ich jede Hürde. Hochstürzend falle ich in mein tödliches Glück, überschäumend, ausgezehrt, sinnenfroh. Mit Wörtern beschenke ich mich. Aufgespießt ergänzen sie meine Sammlung. Hier, ausgestanzt aus der Schwärze der Nacht, das neue Wort: Augenklappe!”

Zielsicher finde ich den Ausgang ins Freie und setze, gestärkt durch das Gespräch, meinen Feldzug fort. Hindernisse werden vom Chor meines Gefolges vernichtend benannt. Ich will damit sagen: Nur das Unbenennbare hält den Wissenden auf. Mauern zerbröseln. Gebirge versinken. Abgründe schließen sich. Von einem Blinden geführt, eilen die Sehenden von Sieg zu Sieg. Wer sich ihnen entgegenstellt, den nennen sie “Mensch”. Es ist ein Kampf ohne Waffen. Eigentlich geht es ganz friedlich zu. Doch wo soll das enden? Ich stelle die Frage in den Raum. Da kann sie nun aufgegriffen, diskutiert oder erörtert werden.

Noch lieber wäre mir, sie würde ergrünen oder verdorren oder sich mit sonst einem unpassenden Zeitwort verbinden, das sie ad absurdum führt. Denn Fragen sind, so behaupte ich, nicht dazu da, beantwortet zu werden. Ein Kind verlangt nach der Zärtlichkeit der göttlichen Mutter. Später wird man ihm beibringen, sich selbst zu berühren an Stirn, Brust und Schultern. Aber wer hat denn da in das Weihwasserbecken gespuckt? Das wollen wir nicht gesehen haben. Mit der Spucke eines Gottlosen hat das Kind sich bekreuzigt, mit Ketzerspucke, mit Teufelsschleim.

Nun ist es verdammt in alle Ewigkeit, denken die theologisch unbewanderten Eltern. Was nützt ihm jetzt unsere Liebe? Es muß doch alles, was wir tun, einen Nutzen haben, das Ackern und Düngen, das Besamen, das Melken, das Schlachten… Wir haben einander beigewohnt, damit dieses verfluchte Kind entsteht. Der Vater im Himmel, für den wir uns allsonntäglich in unser Festgewand kleiden, hat es so gewollt in seiner unerbittlichen Gnade, die wir nicht zu verstehen versuchen. Wir dürfen nicht fragen. Denn schon das Fragen ist sündig. Nur die Ungläubigen fragen in einem fort: Warum?

“Habt Mitleid mit ihnen!” sage ich. “Tragt eure Überlegenheit nicht zur Schau!” Meinen Besuch habe ich wohlweislich nicht angekündigt. Neben dem Ziehbrunnen steht meine Ente. “Ja, stellt euch vor, dieses Gefährt nennt man Ente!” Ich bin der Neffe der Bäurin und folglich der Vetter ihres verteufelten Sohns, mit dem mich eine heimliche Freundschaft verbindet. Da ich unangemeldet kam, hat man ihn nicht rechtzeitig wegsperren können. Er ist jetzt fünfzehn und verfaßt Haßgedichte, die er mir, wenn wir allein sind, auswendig vorträgt. Nichts außer mir ist sicher vor seinem Haß.

Ich aber erkläre ihm: “Den Freund mußt du hassen. Nur, wenn es dir gelingt, den Freund zu hassen, wirst du deinen inneren Frieden finden.” Die Frage, ob es mir gleichgültig wäre, von ihm gehaßt zu werden, muß ich natürlich verneinen. Aus Zuneigung lüge ich. Nach dem Abendbrot fahre ich zurück in die Stadt. Ich bin, obwohl es mich immer in das Ländliche gezogen hat, ein Stadtmensch, denke ich. Über jeden kleinen Fleck Natur in der Stadt freue ich mich, aber ich war nie ein Naturmensch. So riskant es ist, Aussagen über mich in der Vergangenheitsform zu treffen, so sicher bin ich mir in diesem Fall.

Alles an mir ist gekünstelt. Ich nehme meinen Feinden den Wind aus den Segeln. Ja, ich bin gefühlskalt. Jawohl, ichbezogen! Die Personen, die meine Gedanken bevölkern, gibt es nur, weil es mich gibt. Vor mir selbst entblöße ich mich, mir mißgünstig oder zugetan, je nach Laune. Jetzt winke ich mir gerade zu, mich in der Menge meiner Ebenbilder erspähend. Man muß sich das so vorstellen: Umgeben von meinesgleichen, stelle ich mich auf die Zehenspitzen und recke den Arm, so hoch ich kann, um mich mir bemerkbar zu machen, und tatsächlich heben nun Dutzende oder Hunderte, ich zähle sie nicht, ebenfalls den Arm, da sie nicht umhin können, sich von mir gemeint zu fühlen.

Wir sind eine große Einheit. Winkt einer, dann winken alle. Ruft einer “hurra”, dann rufen alle “hurra”. Stößt einer seinen Nebenmann um, so wird er umgehend selbst umgestoßen und so fort. Es gibt den Gleichklang und die Kettenreaktion. Frauen kommen nicht vor in dieser Szene, doch in der nächsten treten sie massenhaft auf, so daß ich mir wie Paris, der Trojaner, eine auswählen kann. Wäre ich doch nur blind geblieben! Die mir Zulächelnden sondere ich als erstes aus, dann die Alten und die Gebrechlichen, denn ich wünsche mir eine schöne Irre, eine aufgrund ihres Irrsinns mich Bezaubernde.

Sie muß mir den Rücken zuwenden und sich langsam, mit tänzelnden Schritten, entfernen, wissend, daß wir ein und dasselbe sind: eine in uns selbst verliebte Erscheinung. Diese da, frohlocke ich, könnte die Richtige sein! Aber nein, schon dreht sie sich um, als müßte sie mir ihr Gesicht präsentieren, das ich doch wie mein eigenes kenne. Eine Hoffnung nach der anderen schwindet. Unbeweibt ziehe ich mich zurück in mein fruchtloses Dasein. Einer polizeilichen Vorladung folgend, gerate ich in Erklärungsnot, als man mir den Zweck des Massenaufgebots an Männern und Frauen entlocken will.

Umsturzpläne werden mir unterstellt, Aufruhr gegen die Staatsgewalt. “Sie werden meine Beweggründe nicht aus mir herausprügeln können, da ich mich selbst nicht begreife”, sage ich. “Einerseits widerstrebt es mir, von Ihnen so schamlos verhört zu werden, andererseits fühle ich mich geschmeichelt, daß Sie sich so eingehend mit mir beschäftigen. Jeder einzelnen Ihrer Vermutungen stimme ich zu. Nur kann ich keiner den Vorzug geben. Im Grunde ist doch alles, was wir tun, rein privat, eine Grille, wenn Sie so wollen, aber möglicherweise verbirgt sich gerade hinter dem Privatesten das Revolutionäre.”

Mit der Auflage, die Stadt nicht zu verlassen, entläßt man mich. Ich stehe unter Beobachtung, weiß jedoch nicht, durch welche Handlungen ich mich verdächtig mache. Als ich in einem Freibad als Mann unter- und als Frau wieder auftauche, wähnt man mich flüchtig. Meine Mansarde wird aufgebrochen. Doch naturgemäß wohne ich da nicht mehr, sondern als Industriellentochter in einem Einfamilienhaus, etwas abgelegen. Meiner Entführung und Erdrosselung beuge ich vor, indem ich mit meinem älteren Bruder, der sich zu einem Golfturnier in Kalifornien aufhält, die Rollen tausche.

Als mich beim Einlochen die Nachricht der Mordtat erreicht, breche ich das Spiel sofort ab, um heimzukehren. Offenbar kann ich mich, nachdem ich mein Studium aufgeben mußte, nur schwer entscheiden, welche Art Mensch ich nun sein will: jung, alt, reich, arm, weiblich, männlich? Die Geschichte aber geht ihren Gang. Die Täter, zwei schmächtige Burschen, werden gefaßt und angeklagt. Als Pflichtverteidiger plädiere ich mit folgenden Argumenten auf Freispruch: Die beiden seien nur Marionetten eines Drahtziehers im Hintergrund, ferngelenkt und deshalb unschuldig wie alle Menschen. 

“Auch Sie sind unschuldig, Herr Staatsanwalt”, sage ich, “und Sie, Herr Richter, und die Zeugen und alle sonst noch Anwesenden und Nichtanwesenden, und auch der Bruder der Toten ist unschuldig, obwohl er seine Hand im Spiel hatte, als er den Golfball schlug. Den aber, der die Fäden hält, kennen wir nicht. Wir tun, was er sich ausgedacht hat. Die Worte, die wir sprechen, hat er uns in den Mund gelegt. Auch ich spreche jetzt seine Worte. Er fordert Bestrafung und gleichzeitig die Abschaffung jeglicher Strafe, ausgenommen die Todesstrafe. Denn wir sind, indem wir leben, gestraft genug.”

So gedankenlos, denke ich, habe ich noch nie gesprochen, so überhastet, damit sich kein Gedanke einschleichen kann, der mir das Gesprochene zu Bewußtsein bringt. Sogar das Atmen habe ich unterlassen, so daß ich in meiner Benommenheit zunächst nur mein Ringen nach Luft wahrnehme. Ist es still, oder ist ein Tumult ausgebrochen? Ich höre nichts. Es stellt sich heraus: Die Prozeßbeteiligten sowie die Zuschauer sind Wachsfiguren, denen ich Leben einzuhauchen vergessen habe. Halbherzig beginne ich etwas. Nichts vollende ich. Immerhin kann ich hier ungestört sitzen bleiben.

Da sehe ich: Der Gerichtssaal hat keine Fenster und Türen. Wenn ich nichts unternehme, bin ich verloren. Ich müßte ein Erdbeben herbeiführen, eine Explosion, einen Bombentreffer. Vielleicht genügt schon ein Unwetter. Ich kann doch alles! Ich kann einen Krieg anzetteln. Ich kann Stürme entfachen. Ich kann künstliches in natürliches Licht verwandeln. Warum mache ich keinen Gebrauch von meinen Fähigkeiten? Das Wichtigste ist jetzt ein kühler Kopf. Der Sauerstoff reicht noch für Monate. Der Saal ist groß. Da ich mich nicht von Wachs ernähren kann, werde ich meine Glieder abnagen.

Mich verzehrend überlebe ich, bis ich erkenne: Es ist ein Traum. Mit angebissenen Fingern erwache ich in meinem blutbesudelten Bett. So werden Träume wahr, denke ich bitter. Aber das glaubt mir kein Arzt. Notdürftig verbinde ich meine verstümmelten Hände, die bis auf weiteres zu nichts nütze sind, auch nicht zum Onanieren, der einzigen Ablenkung vom quälenden Denken. Soll ich zu Huren gehen oder mein Heil wieder in der Verweiblichung suchen? Ich bin der Ausflüchte müde. “Kastriert mich! Laßt mich verhungern!” rufe ich den Schimären, die mich verfolgen, pathetisch zu.

Tatsächlich gestaltet sich so wie die sexuelle Befriedigung auch die Nahrungsaufnahme schwierig. Das Dichterroß scharrt mit den Hufen. Wäre es eine Eselin… Nein, so tief sinke ich nicht. Man kann auch Brot ficken, ich weiß. Es gibt für alles Notlösungen. Das Paradoxon der lustlosen Lustabfuhr ist mir geläufig. Erst der Tod läßt die Erektion unter dem Lendentuch des Erlösers erschlaffen. Auf eine Pollution hoffe ich nicht. In der Vorratskammer blitzen die Konservendosen, die Einmachgläser und bunten Tuben. Bin ich schon in den Lüften? Die Dosen und Gläser und Tuben kann ich nicht öffnen.

Doch das Manna vom Himmel schnappe ich auf. Ungezügelt entführt mich mein Pegasus aus den Niederungen eines wohlgeordneten Haushalts in die Höhen der Wortkunst. Golden schimmert das Spülmittel im Morgenlicht. Wie ein Riesenfalter hängt der Putzlappen vom Wasserhahn. Über gischtendem Blau wölbt sich der Lampenschirm. Von funkelnden Planeten umkreist, prunkt die Karaffe in der Vitrine. Bestickte Kissen mit Hamsterohren zieren das Sofa. Das Faxgerät streckt seine Papierzunge heraus. Vom Hibiskus fällt eine Blüte. Geduldig wartet der Bildschirm auf die Erlaubnis, zu leuchten.

Das Bett aber zeigt noch die Spuren des Kampfes. Darf ich das Ritual nun vollziehen? Durch Sprache geweiht, entferne ich mit meinen Knochenhänden das blutige Linnen. Außer Haus trage ich Glacéhandschuhe zu Frack und Zylinder, als wäre ich zu einer Festlichkeit unterwegs. Wie froh ich bin, bei dieser Gelegenheit das Wort “Frackzwang”, das ich wie kaum ein anderes liebe, einflechten zu können! Wahrscheinlich benutze ich es hier zum ersten und letzten Mal. Wie ein Irrlicht strahlt es über dem Sumpf der Wiederholungen. Ist nicht das ganze Leben ein Fest? “Ich bin frei”, sage ich plötzlich, von einigen Passanten in Hörweite mürrisch beäugt.

Ich brauche keinen Champagner und keine Stretchlimousine. Ich muß nur möglichst viele Wörter wenigstens einmal gedacht haben, damit ich glücklich sterbe. Ist das Maß voll? Mir wird so schwach. Mit letzter Kraft schleppe ich mich in ein Möbelgeschäft und lege mich auf eines der käuflichen Betten. Noch nie, denke ich, hat sich ein Mann im Frack in einem Möbelgeschäft auf ein Bett gelegt. Aufsehen jedoch errege ich erst, als ich, halbwegs erholt, ein Kaninchen aus dem Zylinder zaubere. Sowohl die Kunden als auch das Geschäftspersonal applaudieren. Ich werfe Tauben in die Luft.

Mein Kopf verschwindet. Mich fortzaubernd, lasse ich die leere Hülle meiner Verkleidung zurück und suche an einem Nudistenstrand nach einem geeigneten Opfer für meine nächste Verwandlung. Dieser sportliche Blonde dort, der sich kühn in die Wogen wirft, muß leider zu Tode kommen, damit ich seine Stelle einnehmen kann. Obwohl anwesend, darf ich mich nun einen Verschollenen nennen. Wahrheitsgemäß informiere ich die schlanke Nackte neben mir, die sich, auf dem Bauch liegend, sonnt: “Ich bin ertrunken.” “Das habe ich mir gedacht”, murmelt sie schläfrig. “Wieso du?” frage ich.

Ich kenne dich gut genug”, antwortet sie. “Wahrscheinlich hat dich ein Hai verschlungen. Oder hast du vor, dich als Wasserleiche in einem Fischernetz zu verfangen?” “Wir denken das gleiche”, flüstere ich ihr ins Ohr. “Du bist die Frau, die ich seit jeher suche.” “Ich bin keine Frau”, sagt sie, sich auf den Rücken drehend. Ich sehe die festen Brüste, den zarten Strich der rasierten Scham. Aber ich will nicht streiten. Sie hat das letzte Wort. Schweigend lieben wir uns. Als ich mich am nächsten Morgen im Spiegel betrachte, denke ich: Das sind nicht meine Augen, nicht meine Lippen.

Das Muttermal unter dem rechten Schlüsselbein fehlt, ganz abgesehen davon, daß auch manches nicht stimmt, das ich ohne Zuhilfenahme eines Spiegels an mir feststellen kann. Ich bin nicht beschnitten! Ich war es nicht. “Toter Nacktbader geborgen”, berichten die Zeitungen. Auf dem Foto, das den Bericht illustriert, erkenne ich mich sofort. Die Liebe, sage ich mir, hat mich verändert. Die Liebe kann Berge versetzen. Das weiß doch jeder. Das kommt doch in jedem Schlager vor. Nicht das Einzigartige, sondern das Alltägliche bringt mich weiter. Sterben darf ich, so oft ich will, aber nicht auferstehen.

Hier, dieser Tote bin ich und dieser und dieser und dieser. Das sind keine Entschlafenen. Soll ich erzählen, wie es dazu kam, dass sie so aufgereiht daliegen im schlammigen Straßengraben? Nein, lieber lasse ich mir das Hotelfrühstück bringen. Die Frau ist fort. Ich bin wieder allein mit meinen Erinnerungen, aus denen nur kurz das eine und andere Wort aufblinkt, so kurz, daß es mir, kaum gedacht, schon entfällt. Auf dem Balkon hängen an einer Leine, mit Wäscheklammern befestigt, zwei Hemden, mehrere Socken und drei Unterhosen zum Trocknen.

Kleidung besitze ich nun genug, außerdem ein Rückflugticket, ein Bankkonto und sogar eine Familie, die mich erwartet. Doch anstatt mich in einer sicheren Existenz einzurichten, suche ich in der Zeitung nach einem neuen Leben, für das es sich lohnt, jenes aufzugeben. Das achtjährige Mädchen, das ein Wanderer vergewaltigt und ermordet in einem Waldstück fand, will ich sein. Das wird eine schwere Wiedergeburt, denke ich. Als die Mutter im Kinderbett das Gesicht der Tochter auf dem rosafarbenen Kissen sieht, schreit sie auf und stürzt aus dem Kinderzimmer. Ich folge ihr in meinem geblümten Nachthemd.

Sie kniet sich vor mir auf den Boden. “Wir dürfen es niemandem sagen, hörst du? Es ist unser Geheimnis. Du gehst in dein Zimmer zurück. Du brauchst nicht in die Schule zu gehen. Du brauchst nie mehr in die Schule zu gehen. Du bleibst in deinem Zimmer, hörst du?” Sie streichelt mich. Sie umarmt mich. “Ich bringe dir Schokolade. Du darfst Schokolade essen, so viel du willst. Du darfst den ganzen Tag spielen, weil du tost bist.” “Früher hast du mich nie gestreichelt”, sage ich. Sie bedeckt mich mit Küssen. “Früher warst du nicht tot. Jetzt bist du tot, verstehst du?” Ich habe sie in den Wahnsinn getrieben.

Von nun an streichelt sie jedes Kind, das ihr begegnet, aber auch Tiere und Pflanzen, mit glockenhellem Sopran den Verlust eines blonden, blauäugigen Jünglings, wohlgemerkt, nicht den ihrer Tochter, beklagend. Aus tiefem Wissen entwirrt sie mein verworrenes Denken, so daß ich mich neuen Aufgaben widmen kann. Wo, bitte, ist Not am Mann? Oder soll ich mich als Quotenfrau nützlich machen? Ich bin geschlechtlich flexibel, obwohl mich das Wort “Quotenfrau” im Gegensatz zu dem Wort “Frackzwang” geradezu abstößt. Ich muß nicht jedes Wort lieben. Ich sammle nicht nur, was mir gefällt.

Ich nehme alles, was sich mir bietet. Zum Papst gewählt, defäkiere ich, das Konklave schockierend, in die Tiara. Zuverlässig findet die Suchfunktion in meinem Gehirn das Besondere. Hinter den Mauern des Vatikan ergebe ich mich vollends meiner Vokabelsucht. Kein Wort dringt nach draußen. In einem geheimen Archiv bewahre ich, über jede Logik erhaben, das Undenkbare auf. Welche Verstiegenheit! Doch wie sanft falle ich aus meinem Höhenrausch! “Tisch”, denke ich, “Stuhl”, “Liegestatt”. Immer noch hängen an der Wäscheleine die Hemden, Socken und Unterhosen.

“Löchrige Socken”, denke ich, “Fersensporn”, “Stopfpilz”. Das Wasser steigt mir in die Augen. So kann ich den Faden nicht in das Nadelöhr schieben. Weißer Rauch wölkt aus dem Schornstein. Die Gläubigen feiern den neuen Hirten. Der Vorgänger liegt in der Gruft. Sein Ableben habe ich übersprungen. Nichts an mir erinnert an ihn. Nur Junggeselle bin ich geblieben, kein eingefleischter, sondern gut konserviert. Es ist eine Freude, die Gedanken so durcheinanderzuwirbeln. Noch werfe ich nicht die Flinte ins Korn. Die Jagdsaison steht kurz bevor. Von meinem gepolsterten Hochsitz überblicke ich das Revier. Der Sommerwind trocknet die Tränen.

Der Wildhüter hegt, was er töten will. Der Untote ernährt sich nur im Notfall von Tierblut. Als Papst, der ich war, entsteige ich nachts meiner Gruft und gehe auf Brautschau. In dem Doppelleben, das ich jetzt führe, bleibt für Schlaf keine Zeit. Erschöpft beiße ich zu. Wenn die Kiefermuskeln erlahmen, nützen mir die messerscharfen Eckzähne nichts. Ich muß mich entscheiden. Als Vampir verdurstend, zu zittrig zum Zielen, gebe ich den Beruf des Jägers auf und beschränke mich auf das Leben als Leiche. Tagsüber tot, versuche ich, auf meinen nächtlichen Streifzügen der Einsamkeit zu entfliehen.

Bluttrunken wanke ich, bevor der Morgen graut, zu meiner Ruhestätte zurück. Aber wen interessiert denn das? Eine Umfrage ergibt, daß es die Menschen langweilt, mich an Frauenhälsen saugen zu sehen. Also sauge ich wieder an Flaschenhälsen. Haha, wie komisch! Einerseits distanziere ich mich von meinem dürftigen Wortspiel, andererseits kann ich nicht leugnen, daß es mich davor bewahrt, mich in die Idee des Vampirismus als der mir gemäßen Liebesart zu verrennen. Ich muß ja deshalb nicht gleich Alkoholiker werden, zumal der geübte Trinker an der Flasche nicht saugt, sondern deren Inhalt mit nur leicht angesetzten Lippen in sich hineingluckern läßt.

Ein Säufer ist kein Säugling, ein Hahn ist kein Huhn. Ich darf mich meiner Gedanken nicht schämen. Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten, sofern Gebäude, Berge oder Bäume vorhanden sind. Ich zische in der Wüste ein kühles Bier und freue mich über die mutige Wortwahl. Die Klapperschlange vergräbt sich im Sand, um sich abzukühlen. Aber sie klappert nicht, sondern rasselt. Ich spanne den Sonnenschirm auf und lasse das Gift der Melancholie in mir wirken. Überschwenglich begrüßt sich das Storchenpaar. Vom stahlblauen Himmel rieseln wie Schnee Mitlaute herab. Nach den Selbstlauten sucht das Kind in der Buchstabensuppe vergeblich.

So schmeckt sie ihm nicht. Da es den Grund für seine Essensverweigerung nicht verrät, wird ihm die Suppe, während die Eltern es wie einen Hund, der eine Spritze bekommt, niederhalten, buchstäblich eingetrichtert. Zwangsernährt, muß es das Schrrgt und Kwlnz und Pfrmpf schlucken. Aber der Tag der Rache wird kommen. Meine Verwandlungskunst ist dazu nicht nötig. Der Halbwüchsige darf im örtlichen Schützenverein das Schießen erlernen. In der Wüste wird er sein Können nicht demonstrieren. Denn wer schießt auf Schlangen? Die Wehmut hat man ihm nicht beigebracht.

Mörderisch ersetzt er durch die Tat die ihm fehlenden Worte. Kein Instrument, auch nicht die Pauke, kann das einzige ihn besänftigende Geräusch erzeugen. Wo sogar die Musik versagt, muß getötet werden. In Wald und Flur warten die Demonstrationsobjekte. Der zur Menschenjagd Ausgebildete aber verschmäht das Wild. Kein Halali wird geblasen. Die Katze umschleicht den heißen Brei. Das Wesentliche wird ausgespart. Mit meinen Umschreibungen vertreibe ich mir die Zeit, das heißt, ich fülle sie aus. Ich fülle das Halbgeviert zwischen meinem ersten und letzten Gedanken.

Nur die Höhe und Breite werde ich, da mein Denken mit mir untergeht, nicht erfahren. Oder überzeugt mich jemand vom Gegenteil? Der Hirntote, sagt man, blickt von oben auf sich herab. Der Erhängte sieht sich erhängt. Der Gelynchte kann, ins Leben zurückgerufen, beschreiben, wie er sich leblos im Staub liegen sah. Woran aber, frage ich mich und zünde mir eine Zigarette an, würde der Enthauptete sich erinnern, könnte man ihn reparieren wie eine geköpfte Puppe? Ich sollte es wissen. Doch ich weiß ja nicht einmal, wie es kam, daß ich rauchend an dieser Theke sitze.

Offenbar habe ich eine Flasche Champagner bestellt. Gibt es etwas zu feiern? Außer dem Barkeeper und mir ist niemand da. “Trinken Sie ein Glas mit mir”, sage ich. “Immerhin sind wir zu zweit. Aber bringen Sie als Lockmittel noch ein drittes Glas, und wenn die Methode funktioniert, noch ein viertes! Den Champagner kann man nicht aus der Flasche trinken. Je mehr Gläser Sie bringen, desto mehr Champagnertrinker werden sich einstellen. Glauben Sie mir! Ich bin im Anlocken geübt. Es gab Zeiten, da genügte es, daß ich dachte, ich sei in Gesellschaft, schon war ich nicht mehr allein.”

Der Mann teilt den Flascheninhalt geschickt auf sechs Flöten auf, und noch bevor der Schaum sich verflüchtigt, bin ich von einer mir zuprostenden Runde umgeben. “Laßt uns aus Tulpen den Lebensnektar schlürfen”, rufe ich außer mir, “damit der Todeskelch an uns vorübergeht!” Darauf folgt ein Stimmungsumschwung, wie er selbst mich, den an Umschwünge Gewöhnten, erschreckt. Aus den Gläsern der Zechkumpane recken sich Krakenarme und schlingen sich um ihre Hälse. Machtlos gegen mein Denken, hasple ich Entschuldigungen hervor, während einer nach dem anderen würgend vom Hocker fällt.

Auch der Barkeeper wird nicht verschont. Fünf Leichen liegen nun auf dem Boden. Schrumpfend ziehen sich die Ungeheuer in die Kelche zurück und verschwinden. Wie konnte mir nur so etwas einfallen, da ich doch gerade so fröhlich war? Die Corpora delicti, in denen wieder Champagner funkelt, können mich, da ich sie nicht angefaßt habe, nicht verraten. Nur das eigene Glas nehme ich, mich aus dem Staub machend, mit. Gebranntes Kind, das ich bin, meide ich vorerst jede Geselligkeit und versenke mich in meiner von Büchern überquellenden Wohnung in eine wissenschaftliche Abhandlung über Lippenblütler.

Das durch die Lektüre hervorgerufene Schmatzgeräusch in der Luft ignoriere ich. Es stört, aber ich muß, so wie es momentan um mich steht, damit rechnen, dass alles, was ich tue, mehr oder weniger mißliche Folgen zeitigt. Immerhin werde ich nicht von den Melissen, Drachenköpfen und Löwenohren verschlungen. Bräche ich die Lektüre ab, fürchte ich, würde der Gedanke, sie abgebrochen zu haben, das Schmatzen nur noch verstärken. Also lese ich weiter, bis mir die Zeilen vor den Augen verschwimmen und auf der Leinwand in meinem Kopf ein Film beginnt.

Ein Zug rollt in den Bahnhof. Ich steige ein und setze mich in ein leeres Abteil. Auf dem Bahnsteig steht eine berühmte Schauspielerin. Ich habe nur eine Komparsenrolle. Der Hauptdarsteller sitzt im Nebenabteil. Die berühmte Schauspielerin kämpft mit den Tränen. Aber sie spielt es nicht. Während sie im Film über den Abschied von ihrem Geliebten, den der Hauptdarsteller spielt, weint, weint sie in Wahrheit über die Liebe, die anfing, als sich unsere Blicke zufällig, im Drehbuch nicht vorgesehen, durch das Waggonfenster, in dem sich ihr Gesicht spiegelt, trafen. Der Anfang ist schon das Ende. Das Buch über die Lippenblütler entgleitet mir.

Sitzend schlafe ich ein. Oder träumt mir, ich schliefe? Glockenblumen neigen sich über mich, blaue Laternen. In dem aus ihnen tropfenden Licht, das nach einem kurzen Aufleuchten zerstiebt, kann ich die bekritzelten Wände einer Gefängniszelle erkennen. Die vor mir hier Schmachtenden haben sich verewigt. Nein, nicht verewigt! Sie haben ihrem Mitteilungsdrang nicht widerstanden, doch bis auf einige Buchstaben ohne Zusammenhang nur Zahlen und Striche in die Mauer geritzt. Die Striche sind durchgestrichen. Ich drehe die Zeit zurück und bin nun ein Häftling kurz vor der Entlassung.

Die Zellentür wird entriegelt. Aber wohin soll ich gehen? “Sie sind frei”, sagt der Gefängniswärter. “Ist die Freiheit der Tod?” frage ich. “Das liegt an Ihnen.” Wie recht er hat! Wie gut er mich kennt! Fast wäre ich ihm um den Hals gefallen. Beglückt trete ich durch das Gefängnistor, von einer johlenden Menge empfangen, und werde im selben Moment, noch vor dem ersten Schritt, von einem Fausthieb zu Boden geworfen. Das kann nur bedeuten: Ich habe meine Inhaftierung ohne Umschweife mit einem Boxkampf vertauscht. Als der Ringrichter zu zählen beginnt, schnelle ich wie eine Sprungfeder hoch und umtänzle den Gegner.

“Du mußt schlagen!” brüllt mich mein Coach in der Pause an. Der Cutman versorgt eine Platzwunde über der linken Braue. Die nächste Runde wird eingeläutet. Ich aber schlage nicht, sondern tanze und werde wegen Passivität disqualifiziert. Reporter umlagern mich. Jemand sagt: “Nichtstun.” Das ist mein Stichwort. “Der Mensch tut nicht nichts, solange er atmet”, philosophiere ich ins Mikrophon. “Der Tanz ist die Krönung des Tuns. Würde sich die Menschheit zu Tode tanzen, gäbe es keine Kriege. Statt auf Schlachtfeldern würden wir auf Tanzböden unseren Geist aushauchen.”

“Aber warum sind Sie denn in den Boxring gestiegen?” fragt einer der Journalisten. “Schreiben Sie ‘Tanzring’!” erwidere ich. “Schreiben Sie, der Geschlagene hat uns ein neues Wort geschenkt. Verbreiten Sie es in Ihren Zeitungen! Initiieren Sie mit diesem neuen, herrlichen Wort eine Weltrevolution! Setzen Sie sich ein für das Sterben vor Glück! Kämpfen Sie, damit das Töten ein Ende hat, für den Tanztod im Ring!” So rede ich mich in Begeisterung. Die Boxarena verwandelt sich in ein Zirkuszelt. Ein Seil wird herabgelassen, an dem ich hochklettere, um eine Trapeznummer vorzuführen.

Nun blicken alle nach oben. Der Clou aber ist mein wohlvorbereiteter Absturz aus dem Traum in die Wirklichkeit. Ich nenne ihn “Selbsterweckung”. Träumend beschließe ich aufzuwachen. Bewußtlos bekehre ich mich zum Glauben an das, was ich, sobald die Finsternis weicht, sehen werde. Schon hellt es sich auf. Ich glaube an das verblaßte Tapetenmuster, an den halb geöffneten Kleiderschrank, in dem meine Anzüge hängen, an das zitternde Laub hinter der Tüllgardine und die verschrumpelten Quitten in der Obstschale auf der Kommode. Ich glaube an das, was ich mir einbilde zu sehen, weil ich es denke.

Die Kringel auf der Tapete verfließen zu grinsenden Fratzen. Aus dem Kleiderschrank treten die Anzüge heraus und postieren sich um das Bett wie Häscher, beauftragt, mich abzuholen. Kichernd hüpfen in der Obstschale die Quitten. Das Laub hinter der Gardine verfärbt sich schwarz. Ich darf jetzt die Augen nicht schließen. Die Fratzen werden sich mit den Anzügen verbünden, bis schwarzes Blut aus ihren Mündern quillt. Der Tüll wird das Licht verschlucken. Ich aber werde erglühen. Mein Körper wird brennen. Doch er wird nicht zu Asche werden. Denn das Wunderbare, nicht das Erklärliche, ist das Verbreitete.

“Glaubt nicht an die Wissenschaft!” verkünde ich tauben Ohren. “Seht, wie ich lodernd vor euch stehe, ewige Flamme! Hört, wie ich mein Denken, diese einzige mich am Leben erhaltende Quelle, in Schwingung versetze, damit es weitersprudelt!” Während ich spreche, erfüllt sich die Prophezeiung. Ich bin aus dem Bett aufgestanden, das Zimmer erleuchtend. Der Spuk, den ich mir ausgedacht habe, erreicht seinen Höhepunkt und verschwindet. Zufrieden notiere ich das Wort “Ende” auf einen Zettel und hefte ihn an das Pinboard über dem Schreibtisch, auf dem mein Computer steht.

Mein Hirn ist jetzt leer, denke ich, erkenne aber sofort, daß das ein falscher Gedanke ist. Würden meine Denkfehler benotet, hätte ich schlechte Karten. Was ich so ambitioniert begann, mit dem fanatischen Willen zur Präzision, hat sich zu einem gedanklichen Fiasko entwickelt. Geistesschleim, denke ich, Geistesverkrüppelung. Lustvoll beschimpfe ich mich: “Du Hohlkopf! Du Wurst!” Grummelnd stimmt der Computer ein: “Du Tölpel! Du Trottellumme!” Vom Stuhl auf die Kniee sinkend, flehe ich, die zu einer Faust geschlossenen Hände nach oben reckend:

“Sprich weiter! Sprich noch ein Wort, nur ein einziges, im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!” Doch der Computer schweigt. Ich hole eine Axt aus dem Keller und zertrümmere ihn. Was mich nicht erhört, wird zerstört. “Fenster, öffne dich!” sage ich und zerschlage die Scheiben. “Vogel, sing!” befehle ich meinem Wellensittich und lasse ihn frei, damit er zugrunde geht. In meinem Wunderglauben enttäuscht, wüte ich gegen mich selbst. Es ist kalt. Der Vogel fehlt mir. Ich werde ihn durch einen neuen ersetzen, so wie ich die Fensterscheiben und den Computer ersetzen werde. Die Vernunft wird siegen.

Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Das wärmt. Ich bin nicht unempfindlich. Ich will nur nicht mehr so übertreiben. Es kann schon eine Tasse Tee Wunder wirken, sofern ich mir nicht die Zunge verbrenne. Schweigen ist Gold. Ich will mich wieder verheiraten und meiner Frau einen goldenen Käfig bauen. Es knistert in mir. Die Funken sprühen. Doch kein Laut dringt nach außen, kein A und O, obwohl ich der Weisheit letzten Schluß kenne, diese eine Antwort auf alle Fragen, die mit “warum” beginnen. Sie ist den Schlafenden ins Gesicht geschrieben. Ich will meiner Frau zusehen, wenn sie schläft.

Ich will warten, bis sie erwacht und mir ihre Träume erzählt. Dann will ich sie töten, nein, vögeln! Ich habe die Wörter verwechselt. Es liegt an dem “ö” und dem “e”. Es hat nichts zu bedeuten. Ein Lapsus, kein Beinbruch! Ich bin voll einsatzfähig. Die Brandwunde hindert mich nicht an meiner Gratwanderung. Schon sehe ich den Leuchtturm im Ehehafen. Er ragt aus dem Nebelmeer. Ist das plausibel? Das Maßhalten gelingt mir nicht. Der Ozean, behaupte ich unbelehrbar, umspült das Felsgebirge. Mein Jawort ist in den Wind gesprochen. Er kühlt mir die heiße Stirn. Ich denke: Mein Herz zerspringt.

Doch es ist ja ganz gleich, was ich denke. Vom Glauben abgefallen, schalte ich einen Gang zurück und fahre, von Kurve zu Kurve, die Bergstraße zu Tal. Neben mir sitzt ein Junge, für den ich Verantwortung trage. Da ich nicht weiß, was uns sonst noch verbindet, überlege ich, welche unverfängliche Frage ich stellen könnte. Es fallen mir aber nur Fragen ein, die er für absonderlich halten müßte: Wer bist du? Wer bin ich? Wo sind wir? Wohin fahren wir? Erst in der Ebene kann ich, ohne uns zu gefährden, vom Fahrersitz kurz zur Seite blicken. Gespannt verfolgt mein Begleiter das Straßengeschehen.

“Warum überholst du den Fiat nicht?” fragt er plötzlich. “Weil wir Zeit haben”, sage ich. “Zeit ist langweilig”, murrt er zurück und öffnet, mit der Innenausstattung des Fahrzeugs offenbar bestens vertraut, das Handschuhfach, in dem sich zu meinem Schrecken eine Pistole befindet. Wie grotesk, denke ich, mir meine Unwissenheit vorzuspielen! Denn natürlich weiß ich: Es ist eine Spritzpistole. Der Junge, den ich kurzerhand Karl nenne, bespritzt nun die Windschutzscheibe, so daß ich, um einen Unfall zu vermeiden, scharf bremsen und auf dem Seitenstreifen anhalten muß.

Es folgt eine sanfte Ermahnung: “Karl, das darfst du nicht. Wir hätten sterben können. Ich müßte dir böse sein. Ich müßte dich vielleicht sogar züchtigen, obwohl das ungerecht wäre. Denn du bist an dem, was mir in den Sinn kommt, genauso unschuldig wie ich. Wir sind beide unschuldig. Es gibt keine Schuld. Das mußt du dir für dein Leben merken, damit du glücklich wirst.” Kaum habe ich ausgesprochen, spritzt er mir ins Gesicht und stößt unter Schluchzen hervor: “Ich heiße nicht Karl.” Als ich ihn nach seinem richtigen Namen frage,  läuft er auf die Fahrbahn und wird überrollt.

Ich aber begehe, sprachlich unkorrekt, Fahrerflucht. Mir ist es jetzt gleichgültig, wenn ich mich falsch ausdrücke. Die Sonne steht über der Autobahn. Der Himmel ist ein rötlicher Glassturz. Ich rase, bis der Tank leer ist, der sinkenden Glut entgegen, setze meine Flucht zu Fuß, einen Abhang hinabstürzend, fort, überschlage mich und werde von einem mir unbekannten Strauchgewächs aufgefangen. Ginster, denke ich, Hagebutte, Wacholder! Die Pflanzennamen beruhigen mich. Kuhschelle, Hahnenfuß, Edelweiß! Heimische Flora! Eisenhut! Wegwarte! Natternkopf! Heimat an so vielen Orten!

Nachtschatten, Knabenkraut, Augentrost! Ich kann nicht genug bekommen. Dornen ritzen mir Wangen uns Stirn. Goldrute! Knöterich! Süßer Schmerz!  Mich aufrichtend, biete ich mich den himmlischen Pfeilschützen dar. Ein Warndreieck habe ich nicht aufgestellt. Was nun geschieht, sage ich mir, wird erst in tausend Jahren geschehen. Das Wort "Massenkarambolage" gibt es noch nicht. Doch warum werde ich als Verkehrssünder gesalbt und gekrönt statt durchbohrt? Wo ist mein Herrschersitz? Wenn mich nicht alles täuscht, muß ich nach Norden.

Die Entourage wird schon ungeduldig. Ich bitte, obwohl ich befehlen sollte, einen der Domestiken, er möge mir ein Wörterbuch bringen. In aussichtsloser Lage hilft nur noch die Entpersönlichung. “Unter dem Kutschbock finden Sie ein Geheimfach”, rufe ich. Es sind meine letzten Worte in dieser kurzen Szene. Die nächste spielt am Fuße des Anhangs. Ich bin weiter abgerutscht. In unerreichbarer Höhe sehe ich noch die Prunkkarosse. Acht schwarze Rappen sind vorgespannt. Aber das ist Vergangenheit. Die Gegenwart: unten. Die Vergangenheit: oben. Und die Zukunft? Ich neige dazu, sie als inhaltslos zu betrachten.

Sage ich, es wird morgen regnen, fülle ich dadurch die leere Hülse nicht. Trifft meine Vorhersage ein, ist sie Gegenwart. Ich greife in meine Hosentasche, ziehe ein Bündel Banknoten heraus und stecke es wieder ein, lasse aber aus Furcht vor Taschendieben, obwohl weit und breit niemand zu sehen ist, die Hand in der Hose. Ich will mich fürchten. Ich will mich lieber zu Tode ängstigen, als einem Raubmord zum Opfer zu fallen. Die Luft ist lau, der Himmel sternenklar. Ich will im Freien schlafen. Doch da kommt jemand, ein kleiner Mensch. Erst aus der Nähe erkenne ich ihn. Er sagt: “Ich heiße Sebastian.”

Nun sind wir wieder vereint. Ich frage: “Was machen wir jetzt?” Er antwortet: “Wir gehen in die Stadt, und du kaufst mir ein Eis.” “Ja, das tun wir”, sage ich. “Wir werfen das Geld zum Fenster hinaus.” Er fragt: “Welchem Fenster?” “Das ist nur ein Sprichwort”, sage ich. “Komm!” Da beginnt er zu laufen. Ich kann ihm nicht folgen. Als er meinen Blicken entschwunden ist, denke ich: Er wird wiederkommen. Es kann Jahre dauern, Jahrzehnte. Aber er wird wiederkommen und im hohen Gras meine Knochen finden neben dem vermoderten Geld. Sterbend schlüpfe ich in seinen kleinen Körper.

Altklug von Tod und Verwandlung redend, bringe ich seine Eltern, die nun meine Eltern sind, zur Verzweiflung. “Woher hat er denn das?” fragen sie. “Von uns hat er es nicht.” Der Kinderpsychologe will Genaueres wissen. “Unlängst”, so berichtet der Vater, “erzählte er beim Mittagessen, er habe sich, indem er sich zerstückelte, in sich selbst verwandelt. Gut, dachten wir, das hat er irgendwo aufgeschnappt. Aber dann beschrieb er in allen Einzelheiten, wie er seine Augen, die Zunge und das Gehirn aus seinem Kopf entfernte und durch Augen, Zunge und Hirn des anderen, der er selbst war, ersetzte.”

Der Psychologe macht sich Notizen. “Er habe sich geschlachtet und zerlegt”, fährt der Vater fort. “Die Arme und Beine habe er sich abgehackt, von den Armen und Beinen die Hände und Füße und von den Händen und Füßen dann auch noch die Finger und Zehen. Jede einzelne Rippe habe er sich aus der Brust gerissen, danach das Herz und die Lunge.” “Aus dem Bauch”, ergänzt, mit den Tränen kämpfend, die Mutter, “habe er die Leber, die Galle, den Darm und die Milz herausgenommen…” Sie kann nicht weitersprechen. “Ihr Sohn hat sich ausgetauscht”, erklärt, scheinbar unbeeindruckt, der Psychologe.

Er spürt, daß ich anwesend bin, doch er muß es sich, da das Übersinnliche in seinem Fachwissen nicht vorkommt, verhehlen. “Bringen Sie ihn das nächste Mal mit”, sagt er und zerreißt den Zettel mit den Notizen. “Aber vergessen Sie nicht die Augen und Rippen und Finger und Zehen et cetera! Bringen Sie ihn mir als Ganzes mit sämtlichen Innereien, mit Herz und Hirn und Geschlecht! Vergessen Sie vor allem nicht das Geschlecht!” In den Gesichtern der Eltern spiegelt sich ungläubiges Staunen. Die Stimme des Psychologen hat sich in eine Kinderstimme verwandelt. Ich bin in ihn gefahren.

Befreit fahre ich aus ihm wieder aus und kehre in mein altes Leben zurück. Ich war tot, und ich war ein Kind, aber ein totes Kind war ich nicht. Das Meer ist nah. Ich kann es hören. Mein nächstes Ziel ist eine im Mondlicht gespenstisch aufragende Bauruine. Das hätte wohl ein Hotel werden sollen, eine Bettenburg, denke ich. Das Gerippe ist fertig. Ich steige die Treppe hinauf und werfe die Geldscheine aus einem der obersten Fensterlöcher. Unten haben sich, damit ich mich als Wohltäter fühlen kann, die Notleidenden der Umgebung versammelt, auf die als ein Geschenk des Himmels der Geldsegen rieselt.

Doch was muß ich sehen? Die Stärkeren lösen sich aus dem Menschenknäuel, die Schwächeren bleiben erschlagen, erstochen oder schwer verletzt liegen. Das habe ich nicht gewollt. Es muß, sage ich mir, über mir noch einen Schöpfer geben und über diesem einen noch höheren und über jenem noch einen und so fort bis in die höchste Höhe. Es kann aber, denke ich, auch die tiefste Tiefe, die fernste Ferne oder die nächste Nähe sein. Das Göttliche ist die Kombination des Superlativs eines Adjektivs mit dessen Substantivierung. Begeistert rufe ich aus der Fensterhöhle: “Ich habe die Lösung gefunden!”

Sonnenhell strahlt nun der Mond. Tag und Nacht wechseln in Windeseile. Der Bau vollendet sich. Das Fenster kann man jetzt öffnen und schließen. Aus dem Badezimmer höre ich eine mir fremde Stimme die Melodie eines Schlagers trällern. Als die Person in einem Bademantel, dessen Kapuze das Gesicht halb verdeckt, in der Tür erscheint, beginnt sie sofort zu sprechen: “Du brauchst nicht zu grübeln. Ich bin in deinem Denken noch nicht vorgekommen. Aber nun bin ich da. Du kannst das Hotel einstürzen lassen. Du kannst mich töten. Doch selbst, wenn du mich sang- und klanglos verschwinden läßt, wirst du mich nicht aus deinem Gedächtnis streichen können.”

“Bist du eine Frau oder ein Mann?” frage ich. “Das überlasse ich dir”, antwortet mit einem kaum merklichen Lächeln die fremde Person. “Nein”, sage ich, “du entscheidest! Freiwillig gebe ich die Macht über mein Denken ab. Aber wenn ich den Blick von dir wende und über das Meer schweifen lasse, süchtig nach Trost, den das Vergessen gewährt, wirst du dich in ein Trugbild verwandeln, das in meiner Erinnerung wie alles Unwirkliche, und sei es noch so eindrucksvoll, rasch verblaßt.” “Zu spät!” sagt die Person und löst sich, mir zuvorkommend, auf, so daß der Bademantel in sich zusammenfällt.

Geistesgegenwärtig hebe ich ihn auf und schlüpfe hinein, damit es rückblickend so aussieht, als sei ich mir selbst erschienen. Denn das kann ich mir leicht erklären. Dem Unerklärlichen gehe ich nach Möglichkeit aus dem Weg. Ich suche nicht das Geheimnis. Mir genügt schon die Wirrnis, in die ich  ungewollt stürze. Jetzt will ich mir erst einmal das Hotel ansehen. Doch als ich in den Flur hinaustrete, trete ich zugleich aus dem gegenüberliegenden Zimmer und folge mir. Bei jeder Tür, an der ich vorbeikomme, wiederholt sich der Vorgang. Nichts besonderes, denke ich, offenbar bin ich der einzige Gast.

Achtmal muß ich den Liftknopf drücken, achtmal den Knopf für das Erdgeschoß und, als der Aufzug zwischen zwei Stockwerken stecken bleibt, achtmal den Notrufknopf. Um das bedrückende Schweigen zu brechen, frage ich: “Sind Sie zum ersten Mal hier?” “Aber das wissen Sie doch”, antworte ich mir achtstimmig im Chor und schmunzle über das in einem Selbstgespräch unübliche Siezen. Notgedrungen mit mir Bekanntschaft schließend, füge ich hinzu: “Sie haben durch Ihre Anwesenheit die Vollendung des Hotelbaus erzwungen. Gäbe es Sie nicht, gäbe es auch nicht diesen Fahrstuhl, in dem Sie gefangen sind.”

“Ja, natürlich”, pflichte ich mir bei, “immer bin ich an allem schuld. Fahre ich mit dem Auto, verschulde ich eine Massenkarambolage. Verliebe ich mich in ein Kind, wird es verrückt. Werfe ich Geld aus dem Fenster, löse ich ein Gemetzel aus.” “Und was soll nun geschehen?” “Was sein wird, wird sein”, sage ich. “Nicht, was sein soll, geschieht. Ist das verständlich? Habe ich mich präzise genug ausgedrückt? Verstanden zu werden, ist mir das Wichtigste. Nur aufgrund der unablässigen Verfeinerung meiner Ausdrucksweise darf ich hoffen, mich zu verstehen.” “Aber was hilft Ihnen das?”

“Nichts! Ich werde mich, da ich über kurz oder lang wie jeder Mensch sterben muß, völlig umsonst verstanden haben”, erwidere ich in heiterem Ton und setze, zum “Du” übergehend, das Gespräch mit mir in Gedanken fort. Du stirbst. Du stirbst nicht. Du erstickst. Nein, deine Brust weitet sich. Du atmest die Salzluft ein. Du setzt dich auf den Boden und wunderst dich, dass er sandig ist. Du streckst deine Beine aus, damit das Meer sie umspült. Du weißt jetzt: Die Person im Bademantel war eine Frau. Du summst das Lied, das sie trällerte, und wirst wieder eins mit dir.

Du denkst: Ich bleibe hier so lange sitzen, bis sie sich neben mich setzt. Zuerst werde ich ihre bloßen Füße sehen. In die feingliedrigen Zehen, den sich sanft wölbenden Spann und die zierlichen Knöchel werde ich mich verlieben und es dabei bewenden lassen aus Furcht, dass das übrige, das außerhalb meines Blickfelds liegt, fehlt. Mein Herzklopfen wird sich zu einem Herzrasen steigern. Noch halte ich es für möglich, daß alles anders kommt als ich denke… Doch nun geschieht es. Eine Welle schwappt über den feuchten Sand und reißt das Geliebte wie morsches Strandholz mit sich.

Beschämt stecken die imaginären Zweifler, die mich umlauern, die Spottpfeile in ihre Köcher zurück. Denn meine Furcht war berechtigt. Es gibt, behaupte ich, gar keine unberechtigte Furcht, so wie es auch keine unberechtigte Hoffnung gibt. Nichts fürchte ich mehr als das Erhoffte. Entthront unterwerfe ich mich meinem Denken. Das Hotel hat sich in eine Ruine zurückverwandelt. Eine Banknote fliegt durch die Luft. Ich zähle die Toten. Ein Hund mit einem Knochen im Maul läuft auf mich zu und legt ihn vor mir auf den Boden. Schwanzwedelnd jault er mich an, bis ich ihn apportieren lasse.

Mein Hund, denke ich, mein Kamerad, mein buntes Haus. Die Nachbarin grüßt über den Gartenzaun. Die Haustür ist himmelblau. In der Diele stehen ein, zwei, drei vier Paar Gummistiefel. Über meinem Kopf schwebt eine leere Sprechblase wie eine weiße Wolke. Ich fülle den Futternapf. In der weißen Wolke, die jetzt eine Denkblase ist, erscheinen wie fettgedruckt und mit Ausrufezeichen die Worte: Hier bleibst du! Aber da ist kein Tisch, kein Stuhl, kein Schrank und kein Fenster. Warum ist es trotzdem so hell? Dringt das Licht durch die Wände? Es war doch schon dunkel draußen.

Wo ist der Freßnapf? Wo ist der Hund? Nicht einmal das bereits Gedachte hält stand. Verzweifelt versuche ich, mich zu betasten, und spüre nichts. Erst als ich mich, an das Wort “Bahnhof” denkend, demütig zum Glauben an den ewigen Stillstand bekenne, kann ich wieder sehen und hören und fühlen. Die Zugtüren öffnen sich. Die Frau, die jetzt einen Pelzmantel trägt, steigt als einzige aus und geht, ohne mich zu beachten, durch die Halle zum Ausgang. Dabei läßt sie ihre linke Hand, an der ein Brillantring steckt, fallen. Ich hebe sie auf und werfe sie in den nächsten Abfallkorb. Wir verstehen einander.

Wir brauchen dazu keine Worte. Unsere Begegnungen werden mich ermutigen, meine Denkarbeit gegen alle Anfechtungen fortzusetzen. Habe ich früher mein Denken als eine Last empfunden, so betrachte ich es nun als eine sinnlose, aber angenehme Beschäftigung. Auf der Bahnhofstoilette wasche ich mir das Gesicht und die Hände. Fließendes Wasser strömt meerwärts oder aus einem Wasserhahn. Stünde ich im Regen, wäre es unsinnig, mich abzutrocknen. Sinnlos ist alles, unsinnig nicht. Habe ich die Wahl zwischen einem Handtuchautomaten und einem Heißlufttrockner, entscheide ich mich für das erstere.

Aus Ungeduld ziehe ich die zeitsparende Variante vor. Für das Abtrocknen des Gesichts kommt der Lufttrockner nicht in Frage. Am liebsten sind mir Papierhandtücher, die ich, da ich nicht wie bei der Handtuchrolle warten muß, bis mir der Mechanismus das Weiterdrehen erlaubt, verschwenderisch zu benutzen pflege, denke ich, obwohl ich außerhalb meines Denkens, wie ich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich betonen möchte, nicht existiere. Meine von mir als Gedanke erfundene Ungeduld zeigt sich besonders an stark frequentierten Orten. In Gaststätten kann ich das Servieren der Speisen oft nicht erwarten.

Bestelle ich etwas, kann es sein, daß ich das Restaurant, so als hätte ich es nur zum Zwecke der Bestellung aufgesucht, schon im nächsten Augenblick wieder verlasse, um in einem anderen, gewissermaßen einem Ersatzrestaurant, auf das Bestellte zu warten. Das Warten auf etwas, das nie eintreffen wird, bereitet mir keine Schwierigkeiten. Zur Bedienung sage ich, die Speisekarte studierend, ich hätte mich noch nicht entschieden. So gewinne ich Zeit oder, anders ausgedrückt, ein kleines Stück Ewigkeit. Ewiges Warten ist vergebliches Warten, das ich geduldig ertrage. Aber verhungern werde ich nicht.

Mein nächster Tod wird kein Hungertod sein. Das Unerwartete macht mir einen Strich durch die Rechnung, die ich mir  ausstellen ließe, würde ich dadurch nicht in die Gefahr geraten, mich in Sprachspielereien zu verlieren, statt zu berichten, was gerade geschieht: Ich bin mit nassem Gesicht von der Bahnhofstoilette in die Bahnhofsgaststätte gegangen, wo mir die Kellnerin ein nicht bestelltes Kalbsgulasch bringt, dazu einen gemischten Salat und ein Glas Bier. Auf meinen fragenden Blick erwidert sie: “Ich kann Männer nicht weinen sehen.” Essen und trinken, aus- und verschieden muß der Mensch.

“You must not pay”, sagt die Kellnerin. Da ich bereits zu essen begonnen habe, nicke ich nur. What will be, will be, denke ich kauend und wische mir mit der Papierserviette über die Wangen. Als ich mit dem Essen fertig bin, gehe ich zu einem der Fahrkartenschalter und sage: “Eine Fahrkarte bitte.” “Wohin?” fragt der Mann hinter der Scheibe. “Das ist, da ich nicht vorhabe zu verreisen, vollkommen gleichgültig”, antworte ich. “Das Reiseziel können Sie bestimmen.” Vor dem Schalter hat sich eine Schlange gebildet, deren Kopf ich bin, den man, damit er nachwachsen kann, abschlagen müßte.

Doch das begreift niemand. Gefangen im Kerker meines Denkens, das mich hervorbringt, danke ich im stillen der barmherzigen Kellnerin, deren auf einem Irrtum beruhende, aber nichtsdestoweniger gute Tat es mir ermöglicht, noch eine Weile durchzuhalten. Ich bin satt. Ich darbe nicht. Der Schalterbeamte telefoniert. Zwei Polizisten erscheinen und ersuchen mich mit der ihnen antrainierten Höflichkeit, ihnen zu folgen. Auf der Bahnhofswache werde ich, schon weniger höflich, aufgefordert, mich auszuweisen, führe aber stattdessen trotz meines dazu ungeeigneten Schuhwerks einen improvisierten Steptanz vor.

Die Polizisten zeigen ihre vermeintliche Überlegenheit, indem sie wie in Zeitlupe, der eine drei-, der andere viermal, in die Hände klatschen. Während ich mich mit einer ausladenden Armbewegung so tief, daß sie sekundenlang nur meinen Hinterkopf sehen, verbeuge, verwandle ich mich in einen Chinesen, das heißt, ich verwandle nur mein Gesicht. Das übrige lasse ich unverändert, denn ich will meine Zauberkraft nicht vergeuden. Habe ich mich ihrer früher bei jeder Gelegenheit sorglos bedient, so tendiere ich neuerdings dazu, sie als eine Ressource zu betrachten, mit der ich haushalten muß.

Als Mischwesen stehe ich nun vor den sprachlosen Ordnungshütern. “Die Kunst”, sage ich, “ist mein Ausweis. Noch ist er nicht abgelaufen. Doch der Moment rückt näher, da mir kein Tanz und keine Verwandlung mehr helfen werden. Der Totenschein wird dann mein Ausweis sein.” Tief ergriffen von meinen Worten, verlasse ich die Wachstube wie eine Bühne und falle in ein Gedankenloch. Was soll nach so einem Auftritt noch kommen? Ein Einkaufsbummel? Eine Stadtrundfahrt? Zwar darf ich mich mit meinem Chinesengesicht hier buchstäblich exotisch fühlen. Aber dieses Gefühl kenne ich längst. Es langweilt mich.

Spontan einen Blumenladen betretend, rufe ich schon an der Eingangstür: “Ich bin kein Chinese! Ich bin auch kein chinesischer Deutscher!” Schreckensblaß taucht die Verkäuferin zwischen den Blumen auf. “Wieviele Rosen haben Sie hier?” frage ich. “Wieviele rote und gelbe und weiße und champagnerfarbene und so fort? Ich kaufe sie alle. Aber ich muß wissen, wie viele es sind. Bitte zählen Sie! Erweisen Sie mir diesen Liebesdienst! Nur mit der Zahl, die Sie mir nennen, werde ich den Tresor öffnen können, in dem ich mein Innerstes aufbewahre.” Da betritt ein neuer Kunde den Laden.

“Bitte, Sie zuerst!” sage ich und trete endgültig ab. Die Maske fällt. Eine weitere Zugabe wäre zuviel des Guten. Der Äquilibrist muß die Balance halten. Er darf sich nicht überschätzen. Die Rosen werden konfisziert, die Fahrkartenschalter geschlossen. Der Bahnhof leert sich und wird gesprengt. Ich darf mich nicht umdrehen, denke ich. Langsam, Schritt für Schritt, gehe ich weiter. Wer kein Ziel hat, ist, ganz gleich, welche Richtung er einschlägt, auf dem richtigen Weg. An dieser bröckelnden Mauerecke bin ich schon einmal vorbeigegangen. In dieses Schaufenster habe ich einen flüchtigen Blick geworfen.

An dieser Ampel bin ich, da sie Rot zeigte, links abgebogen. Jetzt zeigt sie Grün. Auch in meiner Phantasiewelt halte ich mich an die Verkehrsvorschriften. Ein Zebra kann nicht gesattelt, ein Fußgängerübergang nicht beritten werden. Ich denke das nicht zu meinem Vergnügen. Die Streifen verrutschen. Der Asphalt wölbt sich und bricht. Aus einem Gully am Straßenrand steigt blubbernd das Abwasser hoch. Künstlicher Schnee täuscht einen Temperatursturz vor. Ein Schlangenbeschwörer packt seine Flöte ein. Dressierte Ratten fallen über die Kobra her. Nur jetzt nicht stehenbleiben!

Zu einem Jungen mit aufgeschlagenen Knien sage ich im Vorübergehen: “So schrei doch nicht so! Es ist Kunstblut.” Dann, endlich, liegt die Stadt hinter mir und vor mir das Umland, wogende Ähren, nur da und dort noch ein Haus, Walmdächer, weidendes Vieh und in der Ferne das bewaldete Hügelgrab eines Riesen. Der war ich einmal. Jetzt würde mich schon sein Schenkelknochen, in die Erde gerammt, turmhoch überragen. Winzig stehe ich da mit meiner Geistesgröße, alles umfassend, ein Nichts, denke ich. Aber das stimmt ja nicht. Das Nichts ist nicht winzig. Das Kleine kann wachsen.

Querfeldein stapfe ich auf den Hügel zu. Eben noch ziellos, weiß ich nun ganz genau, was ich will. Es muß aber schnell geschehen. Mich vervielfachend, rode ich den Wald und trage das Erdreich ab, um mir auf dem Schulterblatt, das vor Jahrtausenden meines war, ein Nachtlager zu richten. Noch nie, denke ich, mich auf der Bettstatt streckend, habe ich mich so geborgen gefühlt. Durch die Riesenrippen säuselt der Wind. Der Mond träufelt mir Wörter ins Ohr. Das Denken läßt sich nicht zügeln. Ein Freiheitskampf war dazu nicht nötig. Weltferne, denke ich, Heimsuchung, Bewährung.

Auf weitere Prüfungen bin ich gefaßt. Was steht als nächstes bevor? Fallen die Sterne vom Himmel? Vergeblich verbiete ich mir, zu denken: Ein Meteorit schlägt ein. Mit meinem Gefühl kämpfe ich gegen mein Denken. Ich denke, ich bin vernichtet, aber ich fühle, ich bin es nicht. Ich denke, daß ich es fühle. Das gedachte Gefühl rettet mich. Jetzt will ich träumen. Denn ich habe mir diesen Schlafplatz nicht ausgesucht, um die ganze Nacht wach zu liegen. Lämmer brauche ich nicht zu zählen. Unter den geschlossenen Lidern senkt sich das Firmament wie ein schützendes Dach über die Grabungsstätte.

Von der Morgensonne versengt, wache ich auf. Das Grabungsteam findet mich in der Kieferhöhle. Ich muß wohl unruhig geschlafen haben. Meine Schrullen werden mir als berufsbedingt nachgesehen. Mein Assistent scherzt: “Der Herr Archäologe kann sich von seinen Knochen nicht trennen.” “So ist es, Kunz”, sage ich. “Es sind meine und Ihre Knochen. Wir haben uns selbst ausgegraben. Aber das wissen Sie ja.” “Sie nennen mich Kunz?” “Ich nenne Sie Hinz und Kunz, damit Sie nicht größenwahnsinnig werden. Doch jetzt an die Arbeit!”

Der zerstörte Grabhügel verwandelt sich in einen zerstörten Ameisenhaufen und wird von seinen Bewohnern, einer eigens dazu erfundenen Gattung von Monsterameisen, im Nu wieder aufgehäuft und sogar aufgeforstet. Denn warum soll es in meiner Welt keine Ameisen geben, die Bäume pflanzen? Es gibt ja auch sprechende Pferde. Ich unterhalte mich gerade mit einem, das mir ein verlockendes Angebot macht. “Steig auf!” sagt es. “Ich zeige Dir einen Ort, an dem du das Unvorstellbare siehst und hörst, bevor du es denkst.” “Verrate es mir!” sage ich. “Aber ich kenne es doch selbst noch nicht”, sagt das Pferd.

Da packt mich die Neugier. In wildem Ritt durchqueren wir Kontinente, überspringen Gebirge und Schluchten, fliegen über die Meere. Dann, plötzlich, sehe ich es: trockenes Naß, eisiges Feuer, nachtschwarzes Licht. Ich denke, daß ich es sehe. In tiefer Höhe leuchtet die Dunkelheit. Ein Wasserfall facht einen zu riesigen Flammen gefrierenden Brandherd an. Lautlos tönt aus ferner Nähe das berückende Sirren unsichtbarer Insektenschwärme. Ich denke, daß ich es höre. “Keinen Schritt weiter!” befehle ich. Das Roß wirft mich, sich aufbäumend, ab und galoppiert mit wieherndem Gelächter in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind.

Das Unvorstellbare hat keine Ausdehnung und folglich auch keine Grenze. Ich habe falsch gedacht und wurde ausgelacht. Das ist in Ordnung. Es reimt sich sogar. Ein unbeabsichtigter Reim, denke ich, ist das Höchste, das mir gelingen kann, obwohl ein Gelingen nur denkbar ist als ein von Erfolg gekröntes Bemühen. Verletzt bin ich nicht, denn ich habe mich geschickt abgerollt. Wäre ich ins Bodenlose gestürzt, hätte ich mich mit den Konsequenzen einer nun, da es nicht geschah, irrelevanten Eventualität befassen müssen. Solange ich denke, sage ich mir, stellt sich für jedes Problem eine Lösung ein.

Ich brauche mich nicht zu bemühen. Wie ein Staubkorn im Wind den Denkbewegungen hingegeben, schwebe ich durch die Unbilden des Seins. Es ist eine Lust! Ich schlürfe das trockene Naß, steige hinauf in die Tiefe und lausche dem lautlosen Sirren. Mein Haar fängt Feuer. Als fröhliche Fackel werde ich, damit ich verlösche, auf den Namen meines himmlischen Paten getauft. Die Wunden werden heilen. Mein Lockenkopf wird mich entzücken. Noch vieles möchte ich ausprobieren und zugleich darauf verzichten. Dunkel sind die Worte, die ich mir sage, um mich zu bezwingen. Unbezwinglich aber ist meine Lebensgier.

Unter wimmelndem Gewürm blitzt ein entblößtes Gebiß hervor. So lächeln, denke ich, meine verflossenen Liebsten. Sie können nicht aufhören zu lächeln. Bin ich in einem Horrorfilm? Nichts ist so schaurig wie die unablässige Freundlichkeit dieser Toten. Seite an Seite liegen sie im grünen Gras. Der Pleonasmus ist mir nicht unterlaufen. Ich kenne auch blaues und rotes Gras. Das Normale ist die Ausnahme. So weit ist es gekommen. Ich sage nicht, daß mich das bestürzt. Ich stelle nur fest: Im ausnahmsweise grünen Gras wird Mahlzeit gehalten, damit die Verwesung ihr Werk beginnt.

Unsterblich verschmelzen die Gedanken in sich wandelnden Körpern. Arglos tritt aus der Waldeinsamkeit ein Reh in die Lichtung. Verzaubert erlaube ich mir, die Genehmigungsprozedur überspringend, es als Bock zu umwerben. Teilnahmslos paaren wir uns neben den Menschenleichen. Äsend verschmähen wir Aas. Aus dem Grauen ins Märchen gerettet,  erliege ich dem Klang meiner Sätze, als könnte mir die Sprache, sinnentleert, die Musik ersetzen. Denn das Komponieren ist mir versagt. Ich kann ja nicht einmal Noten lesen. Die Sprache wurde mir aufgezwungen, nicht aber das Flötenspiel oder ein Zeichenkurs.

Auf jedem Blatt Papier, das man mir hinschob, feierte ich Hochzeit mit mir, König und Königin, begabt nur zur Flucht aus der Enge mit der schmucklosen Mutter, mich zeugend als Bastard edlen Geblüts, lernfaul, so als wüßte ich schon zu viel. Hast du dazu eine Meinung, mein Reh? Deine Wimpern sehen so künstlich aus. Du kannst nur staunen. Selbst im Todeskampf blickst du verwundert. Ich aber sehe die Zeichen der Zeit. Es sind immer die gleichen. Nichts ändert sich. Auf einem wie mit dem Zirkel gezogenen Kreis glauben wir vorwärts zu schreiten. Mich in Platitüden ergehend, warte ich auf deine Widerrede.

Vergeblich! So ist es gut. Entzaubert melde ich meinen grausigen Fund. Der Abendschau entnehme ich, daß man mich sucht. Trächtig spähst du zwischen den Säulen der Waldkathedrale hervor, ein letzter Ansporn, meine Scheu vor der Wortschöpfung abzulegen. Denn da, wo ich jetzt bin, ist mir alles vertraut. Nur bei der Mülltrennung ergeben sich Zweifelsfälle: eine Flasche mit Etikett, ein eingeschweißtes Journal, Zigarettenkippen. Spitzfindig erzeuge ich offene Fragen, weil nichts geschieht, das mich zum Handeln zwingt. Den Fernseher brauche ich nicht auszuschalten. Die Müdigkeit überfällt mich.

Der Hunger befriedigt sich selbst, bis ich mich endlich zum Abmagern entschließe. Du ißt und trinkst nichts, befehle ich mir, du stehst nicht auf, du öffnest nicht, wenn es klingelt. Einzig im Widerstand gegen das Tun bleibe ich tätig, ein Hungerkünstler, beweglich gelähmt, von einer ans Bett gefesselten Menschheit träumend. “Haben Sie eine Utopie?” fragt mich der Pfleger nach meiner Einlieferung in ein Krankenhaus. “Aber das sehen Sie doch, Sie Kriegsdienstverweigerer! Warum verweigern Sie nicht den Friedensdienst? Wo liegt der Unterschied?” In meinen zum Sprechen geöffneten Mund schiebt der junge Mann einen Löffel Brühe hinein.

Da sowohl das Ausspucken als auch das Schlucken gegen meine Prinzipien verstößt, verleitet er mich, indem er weitere Fragen stellt, zu einer Kurzschlußhandlung. “Wie raffiniert Sie sind!” sage ich. “Alle Achtung!” Unser Verhältnis wird freundschaftlich. Wohlgenährt kehre ich heim und freue mich auf seine Besuche. Die Mahlzeiten nehmen wir nun gemeinsam ein. Ich koche sogar, spiele Schach und finde Gefallen am Wandern. Er liebt die Berge. Mein welker Körper blüht auf durch die Bewegung in der Natur. Mein Freund denkt: Das Welke kann nicht erblühen. Er braucht es nicht auszusprechen.

Denn wir sind eine gedankliche Einheit. Das oft Wiederholte wird selbstverständlich. Zugleich jung und alt, behütet und unbehütet, rastlos erschöpft, kann ich mich nicht von mir trennen, es sei denn durch einen tödlichen Absturz, denke ich und beschließe, den Gedanken, indem ich, mir vorauseilend, eine Felsnadel erklettere, in die Tat umzusetzen. Auf die Frage nach der Absturzursache antworte ich, daß ich um mich habe trauern wollen. Der Korrekturfilter siebt die Denkfehler aus und läßt keinen einzigen Satz meiner Erzählung übrig. Das amüsiert mich. Beileid erwarte ich nicht.

In meiner Vereinzelung, die ich mir wie alles selbst zuschreiben muß, versuche ich, den mit dem Krankenpfleger geübten Lebensstil noch eine Weile fortzuführen. Ich koche für mich, proste dem Fernsehapparat zu, spiele Schach mit mir und unternehme einsame Wanderungen, die allerdings immer kürzer werden. Zuletzt umrunde ich nur noch mit gesenktem Blick, um mir nicht zu begegnen, den Häuserblock. Ein Rückfall in meine Lebensfeindlichkeit scheint unvermeidlich. Da stoße ich auf dem Trottoir mit einer jungen Schönen, die ich für tot hielt, zusammen. Ich kann nichts dafür.

Ein Reh verirrt sich nicht in die Stadt. Das angenehmste Mögliche in einer Liebesgeschichte, behaupte ich, ist aus Sicht des Mannes, der Frauen liebt, das Zusammentreffen mit einer vermeintlich Verstorbenen, die ihm alles war. “Entschuldige”, sage ich, “ich dachte, du wärst längst in die ewigen Jagdgründe eingegangen.” “Idiot!” faucht die beinahe zu Fall Gebrachte. “Wird denn da drüben”, frage ich, um die Peinlichkeit durch einen Scherz zu entschärfen, “zwecks Auferstehung auf Tote geschossen?” Da ohrfeigt sie mich. Ich schlage zurück. Der Kampf der Geschlechter hat unsere Wangen gerötet.

Wir unterbrechen ihn durch einen leidenschaftlichen Kuß und entblößen auf offener Straße die zum Koitieren nötigen Körperteile. Es ist ein Skandal. Ich habe so etwas bisher nur im Kino gesehen. An eine Hauswand gedrückt, stöhnt die Frau und sagt mehrmals “ja” und “weiter” und wieder “ja”. Ich aber denke: Was für ein schlechter Film! Das Denken verhindert den körperlichen Genuß. Ich hauche: “Doris!” Die Frau schreit auf. “Ich bin nicht Doris!” Sie kann nicht verstehen, wie unwichtig das ist, da sie doch ausschließlich in meiner Phantasie existiert.

Oder besser: Sie versteht es nicht, obwohl sie es weiß. Sie widersetzt sich dem Wissen. Ist es möglich, daß sie sich zu einem eigenständigen Wesen entwickelt hat? Ich meine das nicht wie ein Romanschreiber es meint, der, mit seiner Ohnmacht kokettierend, erklärt, die von ihm erfundenen Figuren gewännen ein Eigenleben. Er habe geplant, daß sich sein Held erdolcht. Der aber habe dann nur seinen Kater erstechen wollen. Nein, bei Gott, so meine ich es nicht! Denn ich verfolge keine Absichten, die jemand durchkreuzen könnte. Ich will nur ewig leben, und das gelingt mir in manchen Augenblicken.

“Reg dich doch nicht so auf!” sage ich. “Namen sind Schall und Rauch. Ich heiße Friedhelm, haha.” “Ist denn am hellichten Tag in einer Einkaufsstraße niemand da außer uns?” fragt die Frau. “Du achtest doch sonst so darauf, daß der Unsinn, den du dir ausdenkst, plausibel erscheint. Das Unmögliche gestattest du dir, das Unwahrscheinliche nicht.” “Du hast recht”, stimme ich zu. “Ich danke dir. Einerseits hast du meine Nachlässigkeit ausgelöst, andererseits machst du mich auf sie aufmerksam.” Die Straße belebt sich. Doch niemand nimmt Notiz von unserem Treiben.

Entweder wir sind unsichtbar, denke ich, oder in einer Zeit gelandet, in der es Usus ist, in aller Öffentlichkeit zu vögeln. “Ist es so richtig?” frage ich. “Ich verabscheue dich”, erwidert die Frau und wird zu einem zweidimensionalen Bild an der Wand, als hätte es ein Graffitikünstler da aufgespritzt. Tatsächlich halte ich nun in der rechten Hand eine Farbsprühdose und muß sehen, wie ich der aufgebrachten Menge entkomme, in deren Augen die Sachbeschädigung offenbar schwerer wiegt als ein öffentlicher Geschlechtsverkehr und die anschließende Verwandlung der Sexualpartnerin in ein Graffito.

War es Mord? Ja, was denn sonst? Ich klage mich an, aber ich lasse nicht zu, dass andere, auch wenn es nur Doppelgänger sind, mich beschuldigen. Ich verurteile und begnadige mich. Denn mir liegt sehr daran, meine Schuld mit mir herumzutragen. Eine Begnadigung ist kein Freispruch. Ich muß nur aufpassen, daß ich nicht wieder die gesamte Menschheits- oder zumindest Männerschuld auf mich nehme, um als Erlöser zum Objekt meiner Anbetung zu werden. Zum Beweis meiner Inferiorität besprühe ich mich nun selbst von oben bis unten und nütze den Überraschungseffekt zur Flucht.

Vor dem Schrankspiegel in meiner Wohnung breche ich in Gelächter aus. So blau hätte mich niemand gekreuzigt. Meine Reinwaschung nimmt Stunden in Anspruch. Indem ich mein Unvermögen, mich dichterisch auszudrücken, als Vorsatz tarne, erschließe ich mir ein probates Mittel, die Phasen, in denen mein Hirn keine Poesie produziert, zu überbrücken. Fehlt mir die Not oder das Glück oder beides? Kann es sein, dass ich es mir in einer mittleren Gefühlslage behaglich mache, in der mit nur Geistloses einfällt? Braucht mein Denken als Nahrung den Überschwang? Wie viele Fragen will ich noch stellen?

Unter den Zehen- und Fingernägeln läßt sich die Farbe am schwersten entfernen. Ich sage mir, Angriff ist die beste Verteidigung, und lackiere die Nägel mit Pink. Irgendeine Verflossene hat ihren Nagellack bei mir vergessen. Um nicht als Frauenheld dazustehen, füge ich in mein Männerdasein, ich weiß nicht, zum wievielten Mal, ein weibliches Intermezzo ein, so kurz, daß ich es kaum bemerke. Jedenfalls kann ich an mir danach keine Verunreinigung mehr entdecken und bin nun mit einem jungen, faltenlosen Gesicht ausgestattet. Mein übriger Körper aber ist alt und runzlig.

Zu einer öffentlichen Entblößung darf ich mich in diesem Zustand nicht hinreißen lassen. Am besten, ich bleibe zu Hause und behalte, damit mein Denken mir keinen Streich spielt, die Wände, den Plafond und sämtliche in der Wohnung befindlichen Gegenstände im Auge. Nein, das Porzellanpferd auf der Kommode springt nicht. Es hat zum Sprung angesetzt, doch es springt nicht. Die Schubladen öffnen sich nicht. Die Lampe brennt nur, wenn ich den Lichtschalter betätige. Zur Verrichtung der Notdurft müßte ich die Toilette aufsuchen. Der Stuhl, auf dem ich sitze, wird sich nicht in ein Klosett verwandeln.

Aber natürlich kann ich meine Augen nicht überall haben. Gehe ich aus dem Zimmer, um die Gießkanne zu holen, kann aus der Azalee auf dem Fensterbrett in meiner Abwesenheit eine Zyklame werden. Was also tun? “Gottvertrauen!” rufe ich mir zu. Wortmächtig war ich. Und jetzt? Das Pferd springt! Die Azalee treibt faustgroße Köpfe statt Blüten. Ein Kichern hallt von den Wänden. Ich muß gar nichts tun. Mir fliegen zwar keine gebratenen Tauben ins Maul, aber von der Decke hängt eine Weinranke herab. Ich brauche nur nach den Trauben zu schnappen. Das Telefon spricht: “Ich bin dein Zeuge.”

Ich habe nicht abgehoben. Was hinter meinem Rücken geschieht, weiß ich nicht und werde ich auch nie wissen, es sei denn, ich nehme einen Spiegel zu Hilfe oder verwandle mich in ein surrealistisches Augenmonster. Vielleicht später, denke ich. Mein Leben ist zur Zeit aufregend genug. Einerseits übe ich mich in Bescheidenheit, andererseits bin ich zu egoistisch, um mir etwas mich Langweilendes vorzustellen. Über meinen Egoismus ließe sich gut diskutieren. Das Telefon sagt: “So fang doch an!” Ich frage: “Wie kann jemand, wenn es außer ihm niemanden und auch ihn bloß als Gedanke gibt, egoistisch sein?”

“Gute Frage”, antwortet das Telefon, “aber du sollst nicht fragen.” “Okay”, sage ich, “ich bin kein Egoist. Ich kann keiner sein, aber ich vertrete, mich bezichtigend, zugleich die Gegenmeinung.” “Eine Bezichtigung ist kein Diskussionsbeitrag”, sagt das Telefon. Die Azalee flötet: “Schlag mir die Köpfe ab!” Das Porzellanpferd ist umgefallen und greint wie ein Kind. Fürsorglich soll ich sein, gleichzeitig zerstörerisch. Die Weinranke breitet sich aus und umschlingt meinen Hals. Soll ich nun auch noch um mein Leben kämpfen? “Hör auf damit!” befehle ich mir. “Denk etwas anderes!” Ja, aber was?

Das Telefon schweigt. Ich denke: Ein Telefon kann nicht schweigen. Eine Azalee kann nicht Köpfe statt Blüten treiben. Ein Porzellanpferd kann umfallen, aber es kann nicht greinen. Aus der Zimmerdecke kann keine Weinranke sprießen. Ich war eine junge Frau. Die Rückverwandlung ist mir nur teilweise gelungen. Sollte ich mich wieder verlieben, werde ich die Auserwählte nicht von meinen Gefühlen in Kenntnis setzen. Denn warum mit der Tür ins Haus fallen, wenn man sie abschließen kann? Meine nächste Geliebte wird meine Gefangene sein, so wie auch ich mein Gefangener bin.

Ja, so denke ich, um mich in die Gesellschaft, die ausschließlich aus mir besteht, einzugliedern. Ein Verführungskünstler will ich sein, ein Verführungsstratege. Denn Kunst ist Kampf, und Liebe ist Krieg. Wer das bestreitet, möge sich bei mir melden, damit ich ein interessantes Selbstgespräch mit ihm führen kann. “Mut!” rufe ich. “Mut!” Mein Gesprächspartner nimmt auf dem Sofa Platz. Unsere Standpunkte brauchen wir einander nicht zu erläutern. “Entehrt”, sage ich und spreize die Finger, “alterslos, klebrig.” “Geteert und gefedert”, sagt mein Besucher.

“Und alterslos”, ergänze ich. Er zieht die Schultern hoch. Stunde um Stunde vergeht. Über die Kunst und die Liebe sprechen wir nicht. Er formuliert es abschließend so: “Über das zu Besprechende haben wir kein Wort verloren.” Ich bin entzückt. Die Wortverschwendung begrüßen wir. Den Wortverlust lehnen wir ab. Zum Abschied sage ich: “Sie werden schon sehen, wer uns, wenn Sie wiederkommen, den Tee serviert.” Es ist Mitternacht. Höchste Zeit, denke ich, auf die Pirsch zu gehen. Der Pfeifhase hat für die kalte Jahreszeit Vorrat gesammelt. Der Igel hält Winterschlaf.

Der Uhu, wie ich nachtaktiv, muß sich eine andere Beute suchen. Der Übermut geht mit mir durch. Ich traue mir sogar zu, die Wohnung, während ich um die Häuser ziehe, nicht zu verlassen. Ist mir das Jagdglück nicht hold, kehre ich trotzdem zufrieden zu mir zurück. Denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Wie alter Wein reifen im Keller meines Bewußtseins die Spruchweisheiten. Ich bin ja nicht nur der letzte Mensch. Ich war auch der erste. Mein Hirn war anfangs noch kleiner. Aber ich trug es schon oben, sofern ich nicht lag oder mich bückte oder meine Artverwandten durch einen Kopfstand zu beeindrucken suchte.

Sprechen konnte ich damals noch nicht und daher auch nicht in Worten denken. Mit einer Äffin kreuzte ich mich. Die erste Träne leckte ich mir von den Fingern. Mich in einer Wasserlache erkennend, sagte ich, mir auf die Brust schlagend: “Uuhaa!” Denn (siebe oben!) “ich” konnte ich noch nicht sagen. Meine Gedanken bilden eine Linie nach unten. Der Igel reduziert seine Herzschläge im Winter auf neun bis zwei pro Minute. Nein, er tut es nicht, es geschieht, so wie mein von Wort zu Wort abfallendes Denken ohne mein Zutun geschieht. Es fließt, und zwar naturgemäß abwärts, obwohl der erste und also höchste Gedanke vielleicht schon der tiefste war.

Die Sprache stürzt mich in immer neue Schlünde. Ich will wieder Affe sein. Verboten! Das Wollen erlaube ich mir, aber nicht das Gewollte. Verbohrt stricke ich weiter an meiner Wortwurst, die zu nichts zu gebrauchen ist. Die Nacht ist kühl. Ich bin zu luftig gekleidet. Die alte Frau unter der Brücke, zu der ich mich lege, beruhige ich mit dem Satz: "Meine Züge täuschen." Sie läßt mich unter ihre zerschlissene Decke und drückt mein Gesicht, damit es altert, an ihre Brust. Ich entlohne sie mit allem, was ich an Bargeld bei mir habe. Zu Hause wartet mein Sohn. Er fragt: "Wo warst du?"

"Ich habe mir", antworte ich, "den Tod geholt." Fünf Tage und Nächte fiebere ich. Dann trete ich, friedlich entschlummernd, meine Nachfolge an. So reibungslos ist mir das Sterben noch nie geglückt. Obwohl nichts von mir übrigbleibt, bin ich unübersehbar vorhanden, ein Bild von einem Mann, keine Abbildung, sondern ein stattliches Mannsbild, für diesen einen Gedanken wohnhaft in einer süddeutschen Stadt, wo ich die Mundart beherrsche. Doch natürlich denke ich hochdeutsch. Vergehen wollte ich und bin nun kräftiger als je zuvor. Kraftstrotzend bin ich, aber wozu? Kein Gegner stellt sich mir, mit dem ich mich messen könnte.

Nur zu geistigem Austausch werde ich eingeladen. Um­sonst hat sich der Vater geopfert. Niemand zahlt es mir heim. Die Schonung wird eingezäunt, damit das Wild die Triebe nicht schädigt. Die Karten werden nach jedem Spiel neu gemischt. Doch kein Tee wird gereicht. Meinen Ankündigungen ist nicht zu trauen. Bedenkenlos enttäusche ich alle Erwartungen. Schonungslos decke ich mein Versagen auf. Ungeschützt folge ich meinen Trieben. Kein Pflänzling ist vor mir sicher. Es muß doch, damit ich mich in meinem Denken gut untergebracht fühlen kann, noch so vie­les Erwähnung finden.

Aus dunklen Tiefen steigt das Unbewußte zur Oberfläche, wo es einen Moment lang, vom Licht beglänzt, leuchtet, bevor es für immer verlöscht. Wer den Moment verpaßt, erkennt sich nie. Aber vielleicht ist es ein Glück, sich nicht zu erkennen. Inwendig blind will ich sein, da­mit ich das Äußere sehe. Staunen will ich, nicht denken, obwohl ich weiß, daß ich nicht wollen soll, was ich nicht kann. In mir: das Licht oder die Finsternis. Außen: das nicht zu Benennende, weder hell noch dunkel, inhaltslos, nichtendes Nichts. Wie die Samen der Wüste, die der lang ersehnte Regen zu kurzer Entfaltung erweckt, keimen die Wörter in meinem Hirn.

Rissige Erde birgt die erlösende Pracht. Blumenteppiche werden mir zur Begutachtung vorgelegt. Ich nehme sie alle und schmücke mit ihnen das Penthouse meiner Erinnerung. Denn ich mache, indem ich die Seele baumeln lasse, gerade Ferien vom Ich. Aus dem Kuchen der Vergangenheit klaube ich mir die Rosinen heraus, brauche sie jedoch nicht zu essen. Panisch schlage ich sprachliche Kapriolen, um mir den Todessprung zu ersparen. Warum habe ich mir denn nur diese Luxuswohnung im großen Apfel gekauft, statt mich ebenerdig hinter dem Mond anzusiedeln?

Der Aufzug streikt. Für den Brandfall gibt es die Feuerleiter. Aber es brennt ja nicht. Ich muß die Treppe benutzen. Stufe für Stufe vergrößere ich den Niveauverlust. Pestizide werden gegen mich nicht eingesetzt. Unten angekommen, könnte ich mich vor ein Auto werfen oder mich als von mir selbst gedungener Killer erschießen. Viel Aufwand für eine Made, denke ich und kann mich doch kindisch freuen über den nun möglichen Satz: Ich dinge mich. Den habe ich bestimmt noch nicht gedacht. Den lasse ich mir patentieren, um aus der Wiederholung ein lukratives Geschäft zu machen.

Ach, ich liebe Amerika! Hier braucht man nur eine gute Idee zu haben, schon wird man zum Krösus. Bitte, was kostet es, mich einfrieren zu lassen? In der Kühltruhe bleibe ich frisch. Erst nach Jahrhunderten werde ich aufgetaut. Mit Schußwaffen wird nun nicht mehr getötet, sondern mit Blicken. Da ich die neue Methode noch nicht beherrsche, vermeide ich es, mir in die Augen zu schauen. Denn versehentlich will ich nicht sterben. Das könnte ich mir, obwohl ich nicht nachtragend bin, schwer verzeihen. Gibt es noch Festland? Ich stehe auf schwankendem Boden. Schwimmen die Städte?

An die Wörter "Erderwärmung" und "Klimakatastrophe" kann ich mich gut erinnern. Hat man die Wale gerettet? Wie kann ich nur so dumm fragen, war ich doch, obwohl eingefroren, zugleich um Heil und Zerstörung bemüht! Das hielt sich die Waage. Man sagt auch: Die Gewichte werden gerecht verteilt. Sonne und Wind, Räder und Kollektoren ... Was krame ich denn da alles hervor? Herr Kapitän, wohin steuern wir? Ich kann nicht Schritt halten mit dem von mir beschworenen Zeitgeist. Die Gedanken sind aus meinem Hirn ausgebrochen. Mit einem Schmetterlingsnetz kann ich sie nicht einfangen.

Vielleicht sollte ich einmal aufzählen, was ich alles nicht kann. Gibt es noch die katholische Kirche? Wie heißt denn der aktuelle Papst? Fragen kann ich, antworten nicht. Da hilft nur noch Beten. Lieber Gott, flüstere mir ein Wort ins Ohr, auf das ich bauen kann! Liebe? Habe ich richtig gehört? Ich soll mich lieben? Da kann ich nur lachen. Ja, das Lachen gelingt mir. Man nennt es sardonisch. Es schmeckt, so viel ich weiß, bitter. Oder habe ich einen Blutsturz? Heute rot, morgen tot, denke ich und wanke zum Telefon. Mit erstickender Stimme kann ich gerade noch den Notdienst verständigen.

Zwei Sanitäter kommen. "Hier", sage ich, aus mir her­austretend, "dieser arme Tor kann seine Bitterkeit nicht vom Blutgeschmack unterscheiden." "Dafür sind wir nicht zuständig", erklärt der eine. "Mit solchem Unfug stehlen Sie uns die Zeit." "Ja, ein Zeitdieb bin ich!" juble ich. "Das haben Sie wunderbar ausgedrückt! Jede Sekunde, die Sie geruhen, in meinem gastlichen Haus zu verweilen, vergrößert mein Diebesgut oder, wenn Sie mir gestatten, die von Ihnen gewählte Formulierung noch weiter auszuspinnen, mein Zeitkapital, das ich gut verzinst angelegt habe, da­mit eine Ewigkeit daraus wird."

Wie unnötige Engel stehen die Männer in ihrer weißen Montur nun da. "Bitte nehmen Sie uns mit!" sage ich. "Nehmen Sie mich und diesen krampfhaft Lächelnden zu meinen Füßen in den Himmel Ihrer Zuständigkeit auf! Sie müssen es ja nicht Festnahme nennen. Nennen Sie es Verstehen! Es gibt, glauben Sie mir, ein blutiges Lächeln. Es gibt die Blutleere und das blutvolle Leben. Es gibt den Blutkuchen und den Blutzucker, aber kein süßes Blut. Reservieren Sie uns einen Platz in Ihrem Herzen, ja, einer genügt. Denn sprachlos bin ich mein Sprachrohr, namenlos sprechend in meinem Namen. Aber jetzt ... "

Ich wollte sagen: Jetzt reicht es! Jetzt gehen Sie! Jetzt schauen Sie, daß Sie weiterkommen! Doch außer mir ist niemand mehr da. Meine Mißgunst richtet sich gegen mich selbst, sich zum Selbstekel steigernd. Wie widerwärtig ich mir bin, wenn ich rede! Der Mund läuft mir über. Logorrhoe! Sprechdurchfall! "Du elendes Plappermaul!" beschimpfe ich mich. "Dummschwätzer! Dampfplauderer! Anus!" Aber warum sage ich nicht das gebräuchliche Wort? Warum flüchte ich aus dem Unflätigen ins Lateinische? Fürchte ich, mich in diese verborgenste Körperöffnung, rosettengeschmückt, zu verwandeln, sobald ich ihre Bezeichnung, derb formuliert, auf mich anwende?

Furchtlos nenne ich mich "Mund", "Nasenloch", "Ohr", oder "Harnausgang", wohl wissend, daß aus letzterem auch das Sperma spritzt. Wechsle ich das Geschlecht, habe ich keine Bedenken, mich als "Geburtskanal" oder "Vagina" zu titulieren. Nur die Wörter "Fotze" und "Arschloch" kommen mir nicht über die Lippen, es sei denn, ich erniedrige mich zu brünstiger Lust. Ja, brünstig! Ja, Erniedrigung! So sehe ich das. Aus dunklem Gestein schlage ich, mich besudelnd, das schimmernde Erz, bis mich das Erdinnere ausspuckt, damit ich mich ihm entfremde wie ein Kind sich der Mutter entfremdet.

Oh Fluch der Begierde! In jeder Frau suche ich meinen Ursprung. Mein Psychoanalytiker äußert sich dazu nicht. Ist er eingenickt? Schläft er im Sitzen? Ich lache in mich hinein, bis meine Augen überfließen. Das Kissen, das ich mir ausbat, um auch im Liegen den eingerüsteten Kirchturm vor dem Fenster zu sehen, saugt meine Tränen auf. Der Psychoanalytiker fällt tot vom Stuhl. Der Kirchturm stürzt in sich zusammen. Der Muttermund öffnet sich. Die Nabelschnur legt sich um meinen zarten Hals wie die unvergeßliche Ranke. Ist das nicht komisch? Mich aus mir hinausschiebend, erwürge ich mich.

Die Turmuhr hat noch dreimal geschlagen. Die Fensterscheiben erblinden. Der eingetrockneten Tränenspur an meiner Schläfe folgend, verlasse ich das Sterbezimmer, das kurz ein Kreißsaal war, und steige hinab in den Staub. Tote sind zu beklagen, hier wie dort, doch niemand klagt. Die Schaulustigen werden durch eine Absperrung zurückgehalten. Das Berühren der Erschlagenen ist verboten. Beim Abtransport zähle ich sie und zähle die drei aus der Therapiestunde dazu, den Analytiker, die Frau mit der blutenden Scheide und ihr erdrosseltes Kind. Leichen pflastern meinen Weg, denke ich, aber welchen?

Wohin soll denn das alles führen? Ich sehe in meinen Terminkalender und stelle fest, daß ich verabredet bin. "16 Uhr", steht da, "Fritz, Hauptportal." Doch wer ist oder wer war dieser Fritz? Wüßte ich es, und wüßte ich, er ist unter den Opfern, könnte ich um ihn trauern. Ich trauere gern. Ich will nicht schon wieder im Weltschmerz versinken. Ich will um einen Freund, einen Blutsfreund, einen Blutsbruder, trauern. Aber ich kann nicht zu jedem Namen, der mir einfällt, ein Leben erfinden. Ruhe sanft, Friedrich, wer du auch seist! Oder geh deiner Wege! Gräme dich nicht über meine Unpünktlichkeit!

Kennst du das Spiel "Stadt, Land, Fluß"? Mit dem Ypsilon kommen wir beide nicht weiter. Ich steige jetzt in mein Auto und falle dem Blitzeis zum Opfer, damit du siehst: Es gibt nur Verlierer. Wie oft habe ich schon ins Gras beißen müssen! Obwohl: Zur Zeit ist die Landschaft ein Wintermärchen. Die Kühe sind in den Ställen. Sie kauen und kauen. Sei guten Muts! Bei Nacht und Nebel stelle ich ein Holzkreuz neben dem Unfallort auf. Darauf steht dein Name. Frag nicht, warum! Nicht alle mir aufgegebenen Rätsel sind lösbar. Ich schmücke das Kreuz mit Rosen. Im Schnee: unser Blut.

Das Auto hat Totalschaden. Das Wrack wird verschrottet. Die Rosen erfrieren. Den Unfallfahrer findet man nie. Zu unstet geistere ich durch meine Gedanken. Sogar als vermißt habe ich mich schon gemeldet. Flüchtig war ich, spurlos verschwunden. Nun aber bitte ich mich herein in die gute Stube, verschwistert und verschwägert, um mich mit mir zu verbrüdern. "Die Wildkaninchen im Schloßpark, den ich so liebe", sagt die Schwester, "sind zu einer regelrechten Plage geworden." "Wie in Australien die Känguruhs", ergänzt der Gemahl. Wie in meinem vergeudeten Dasein die Menschen, denke ich.

Aus dem Napfkuchen steigt ein Atompilz auf. Die Spielzeuglokomotive des Neffen springt aus der Weiche. Er schreit wie am Spieß und zertrampelt den Bahnhof. Es folgt ein Tobsuchtsanfall des Schwagers. Der Pilz wächst zum Plafond und durchstößt ihn. Nichts Gutes kommt da von oben, giftiger Regen. Das Konfekt kann seinen Inhalt nicht offenbaren. Holprig reime ich mit Marzipan Eisenbahn und mit Nougat die Tat. Doch warum bleibe ich in dieser Komödie so ernst? Lachmuskelstarre! Der Tod hat angefangen und endet erst mit dem Aktschluß. Die nächste Szene spielt in einem schummrigen Rotlichtviertel.

Ein Transsexueller stöckelt hinter mir her. "Nicht so schnell, Kleiner! Ich will doch nur Feuer." Zu nervös für ausschweifendes Denken, mache ich ihm den Garaus und überschütte ihn mit Benzin. Die Feuerpolizei ist damit nicht einverstanden. Die Probe wird abgebrochen. Mir wir es zu eng in der Kunst. Ein Feuerteufel will ich sein und sämtliche Kunsttempel niederbrennen. Wer gibt mir die Sporen? Wer gibt mir eine Beruhigungsspritze? Das ist ei explosives Gemisch. Ich lege die Lunte an. Doch, ach, nur meine Lunge entzündet sich. Es ist eine Schande, daß ich von meinen Flausen nicht lassen kann.

Fast hätten mich meine sprachlichen Eskapaden in eine tödliche Krankheit getrieben. Zum Glück habe ich das Penicillin erfunden. Wann war denn das? Wie hieß ich denn damals? Da steht es schon in meinem digitalen Lieblingslexikon, das ich zu Rate ziehe, um mich zu erinnern, was ich, nicht nur auf dem Gebiet der Heilkunst, in den Jahrtausenden meines Daseins alles zuwege brachte. Momentan arbeite ich an der Erfindung eines geräuschlosen Rasenmähers, obwohl ich nichts so sehr liebe wie zur Freude des Holzbocks barfuß durch hohes Gras zu schlendern. Es gibt viel zu tun.

Die Ewigkeit reicht nicht aus, um ein neuer Mensch zu werden. Ich war Buddhist. Ich war Kommunist. Ich habe alle Religionen und Ideologien ausprobiert. Doch ich bekomme in ungeeigneter Fußbekleidung immer noch Hühneraugen, und mein Kopf will zerspringen, wenn ich an das Loch im Kopf des schwarzhäutigen Knaben denke, aus dem das Hirn austrat. Eigentlich war es gar kein Loch. Der Schädel war offen. Das heraussprudelnde Blut hob sich von der Hautfarbe kaum ab. Nur das Weiß in den Augen strahlte noch kurz, bevor es zerrann. Es tröstet mich nicht, daß ich dieser Junge war.

Tollwütig möchte ich sein, aber dagegen bin ich geimpft. Ich speichle nicht, Gott bewahre! Das wäre ja unappetitlich. Ich will eine appetitliche Leiche sein. Wie im Schlaf liege ich da mit gekreuzten Armen, an der Wand über mir das Röntgenbild meiner Brust. Es zeigt das durchleuchtete Schattenreich meines Innern, über das ich vergeblich zu herrschen versuche. Die Schlafzimmertür wird geöffnet. Ich bin wach, denke ich. Warum stellt man neben mein Bett eine Totenkerze? Wer sind diese Leute? Es gibt sie nicht. Ich bin es, der neben mir steht. Ich zünde die Kerze an und nenne sie Lebenslicht.

Der Kissenbezug ist durchnäßt, aber nicht von Spucke. Ich werde das Bett frisch beziehen oder, besser, mich gleich delogieren. In einer mit dem Tod infizierten Wohnung kann ich nicht auf die Zukunft bauen. Indem ich mein Denksystem, vom Datenmüll befreit, neu installiere, vergrößere ich die Speicherkapazität für das Ungeahnte, dem ich furchtlos entgegenblicke. Denn ein Hasenfuß bin ich nicht. In einer zur Werkstatt umfunktionierten Garage erfülle ich mir meinen Traum von einer geräuschlosen Welt. Der Rasenmäher war nur der Anfang. Ich kann jetzt geräuschlos hämmern und bohren.

Ich kann tonlos brüllen und mir lautlose Musik anhören, so viel ich will. Aber das Wichtigste: Ich halte mir in einem Käfig je ein Exemplar sämtlicher Menschenrassen. Die können das alle auch, das heißt, sie können nicht anders. Sie bleiben stumm, wenn sie reden oder um ihre Befreiung flehen oder, verrückt vor Verzweiflung, Schreie ausstoßen, die, vernähme man sie, markerschütternd und herzzerreißend wären. Nur an ihrer Mimik erkenne ich die Qualen, die ich ihnen bereite, ein in die Stille verliebter Frankenstein. Bestrafung brauche ich nicht zu fürchten, denn ich quäle ja nur mich selbst.

Es ist das alte Lied. Ich singe es immer wieder. Der Refrain lautet: Ich bin du, Müllers Kuh. Ich lerne nichts mehr dazu. Ich bleibe bei meiner Überzeugung, daß alles eitel ist, obwohl ich keine Modenschauen besuche und mir, wenn es mir einfällt, sogar die Haut abziehe, um aus ihr einen Lampenschirm herzustellen, der das Licht auf meinem Nachttisch dämpft. Denn ich will es schön haben mit mir. Ich will, denke ich, meine Ruhe haben. Da nähert sich meinem linken Ohr eine sirrende Gelse. Mein Experiment ist gescheitert. Ich lasse sie stechen. Verstummend trinkt sie mein Blut.

Könnte ich die Finsternis zu einem pechschwarzen Quader zusammenpressen und sie von außen betrachten, würde ich in sie eindringen wollen wie in einen Raum, den man betreten und wieder verlassen kann. Einerseits sehne ich mich nach einem Verlies, in dem ich verschmachte, andererseits will ich jederzeit frei sein können. Der Quader ist ein Symbol für meine Zerrissenheit. In Wirklichkeit aber ist er nur ein Eiswürfelbehälter. Denn ich bin aus meiner Einsamkeit in eine Nachtbar geflüchtet und sehe dem Barkeeper bei seiner Arbeit zu. Damit er den Kasten öffnet, bestelle ich einen Gin Fizz mit Eis.

Dann lege ich Geld auf die Theke und gehe, noch bevor er mir das Glas hingestellt hat. "Das ist die Wahrheit", sage ich, als müßte ich mich in einem Prozeß verantworten, den ich gegen mich führe, füge aber korrigierend hinzu: "die erfundene Wahrheit". Ich war nicht in dieser Bar. Ich war auch sonst nirgendwo. Mich hat keine Gelse gestochen. Ein Satz nach dem anderen erweist sich als unhaltbar. Das Feuer der Auslöschung frißt sich durch die Erinnerung. Das Brachland, das es zurückläßt, brauche ich nicht zu düngen. Die neuen Gedanken sprießen von selbst hervor. Hier ein neuer Tod, dort ein neues Leben.

So schnell kann ich nicht denken. Ein letztes Zucken durchschüttelt den Körper eines schon vor Minuten Verstorbenen. Ich halte seine noch warme Hand. Er liegt auf der Straße. Es war eine Zufallsbegegnung. Wir grüßten einander. Da sank er zu Boden. Während ich mich zu entsinnen versuche, woher ich ihn kenne, schieben sich Bilder aus der Vergangenheit vor mein inneres Auge, so daß ich mich nicht konzentrieren kann, flackernde Kerzen auf einer Geburtstagstorte, schäumender Sekt am Bug eines Kreuzfahrtschiffs, eine zielgenau anrollende Bowlingkugel und das Umstürzen der Pins.

Ich muß eine Wahl treffen und entscheide mich für den Geburtstag. Der eben noch Tote sitzt in einem Ohrensessel, auf dem Schoß eine schnurrende Katze. Seine Frau hält in der Hand schon das Tortenmesser. Ich werde aufgefordert, die Kerzen auszublasen, doch statt zu verlöschen fallen sie um. Unter der schmelzenden Glasur kommt ein Fötus zum Vorschein. Ich habe mich falsch entschieden. Die Matrosen werfen ihre Köpfe über die Reling. Zu "Kegel" fällt mir nur "Kind" ein. In meiner Gedankenkette fehlen einzelne Glieder. Die Ferne, denke ich, in die es mich zieht, stößt mich zurück.

Das Spiel "Vater, Mutter, Kind" will ich nicht spielen. Eine illustre Gesellschaft hat sich zum Tontaubenschießen versammelt. Ich nutze die Gelegenheit, um mich, wie man sagt, neu zu sortieren. Jeder Schuß ein Treffer. Ich werde beglückwünscht. Ich sage: "Beim Schießen erhole ich mich. Aber müssen es Tonscheiben sein?" Die Reichen und Schönen finden das amüsant. Ich nehme sie, einen nach dem anderen, ins Visier und drücke ab, damit ihnen das Lachen vergeht. Der Schnitter stellt im Stoppelfeld die mannshohen Garben auf. Sie halten Wacht mit ihren langen Schatten. Eine Nachtigall singt.

Meine ornithologischen Kenntnisse reichen aus, um zu wissen, daß ihr Gesang zur Erntezeit so nutzlos ist wie mein Denken. Nur Idioten halten an Nutzlosem fest, einsame Vögel. Der Mensch kann den Freitod wählen, die Nachtigall nicht. Das Schöne ist immer idiotisch. Ich nehme mir vor, ein paar Grundsätze aufzustellen. Da werden die Wächter in Marsch gesetzt, die Bäume und Häuser und Berge. Sie nähern sich mir in feindlicher Absicht. "Haltet ein!" rufe ich und laufe zu ihnen über. So feige bin ich. Mit dem jeweils Stärkeren kollaborierend, entziehe ich mich dem Lebenskampf.

Ein Waldgänger bin ich, ein Stubenhocker, ein Bergfex, und doch allerorten ein Fremdling trotz meiner Anbiederung. Die Kiefernwurzel spaltet das Felsgestein. Mein Chalet am Hang schützt mich nicht. Ich habe es günstig erworben. Jetzt ist es gar nichts mehr wert. Ich muß schon froh sein, wenn mich der Suchhund wittert. Allerdings stünde ich als Geretteter, da das Haus nicht versichert ist, ohne alles da, sofern mir nicht die von einem Dachbalken zerschmetterten Beine amputiert werden müßten. Denn ohne Beine, denke ich haarspalterisch, kann ich nicht stehen.

Besser, ich berge mich tot, um mein nichtsnutziges Dasein gegen einen im Katastrophenfall nützlichen Beruf einzutauschen, sage ich mir und werfe mein Ideal einer katastrophenfreien Welt über Bord wie einen Matrosenkopf, den ein zur Schiffstaufe geladener Ehrengast auffängt. Der Hund findet mich leblos. Die Dorfbevölkerung ist, damit sich das ineinander Verschachtelte rundet, mit Kind und Kegel erschienen. Die Helden, zu denen ich mich nun zählen darf, verbergen ihre Enttäuschung hinter gefaßten Mienen. Sie haben getan, was sie konnten, und werden dafür am Monatsende entlohnt.

Eine Erfolgsprämie gibt es nicht. Sonst hätten sie sich vielleicht noch mehr angestrengt. Ich weiß, wozu der Mensch fähig ist, im Guten wie im Schlechten, seit ich mich mir aus den Armen riß und meinen Kopf solange gegen eine Wand schlug, bis er zerplatzte. Ja, das habe ich getan. Wollte ich mit dem Kopf durch die Wand? Tat ich es willenlos? Warum fällt mir in diesem Zusammenhang ein mit Reißnägeln übersäter Tanzsaal ein, an dessen geöffneten Türen sich nackte Leiber drängen, Frauen und Männer? Sie sträuben sich, die Schwelle zu überschreiten, bis sie dem Druck der ahnungslos Nachdrängenden nicht länger standhalten können.

In den hell erleuchteten Saal förmlich hineingepreßt, tanzen sie um ihr Leben. Ich sehe es. Ich bin sicher, es hat nie stattgefunden. Aber ich sehe es. Ich sehe mich mit blutenden Sohlen tanzen. Hat man den Stapellauf abgesagt? Wurden die hingemetzelten Tontaubenschützen entdeckt? Was ist das für ein Held, der sich nicht helfen kann? Ich werde ausgemustert. Man sagt mir: "Du taugst nicht für die Geschichten, die du dir ausdenkst. Kaum nimmst du etwas in Angriff, scheust du davor zurück. Ein ewiger Anfänger bist du. Wir aber brauchen einen, der Nägel mit Köpfen macht."

"Haben Reißnägel denn keine Köpfe?" frage ich. "Da seht! Das Schiff sticht in See. Die entkräfteten Tänzer brechen zusammen. Genügt euch das nicht?" Erst jetzt erkenne ich, mit wem ich rede. Es sind Greise, sogenannte Sachverständige, die über mein künftiges Schicksal entscheiden sollen. Irritiert ziehen sie sich zur Beratung zurück. Doch kaum ergreift einer das Wort, tun es die anderen auch, so als zwänge sie eine Fehlschaltung in ihren Gehirnen zum gleichzeitigen Sprechen. Nach mehreren Anläufen, bei denen sich das Phänomen jedesmal wiederholt, geben sie auf.

Keiner wagt mehr ein Wort. Ich klopfe an die Tür des Beratungszimmers. "Herein!" rufen sie unisono. Arme Tröpfe, denke ich, ohne einzutreten. Die Rache ist süß. Mit der Kuchenform, in die ich sie metaphorisch fülle, kröne ich meinen Sieg. Denn niemand kann mir das Recht streitig machen, zu denken, was ich denken will, weil ich es denken muß. Die Gegenstimmen habe ich zum Schweigen gebracht. Hurtig folge ich nun meinen Gedanken in das nächste Desaster. Es handelt sich um eine Privatangelegenheit, die nur mich etwas angeht. Ich habe soeben mein letztes Geld verspielt.

Die Spielsucht hat mich in den Ruin getrieben. Mit leerem Blick starre ich die abgebildeten Bananen, Äpfel und Birnen an, die keine gewinnbringende Reihe bilden. Im Alkohol kann ich mein Unglück, da ich nicht flüssig bin. nicht ertränken, aber ein schwaches Lächeln gelingt mir noch, als ich mir vorstelle, daß ich, wäre ich liquid, das Getränk des Glücklichen, der an dem Automaten neben mir steht, mit mir panschen könnte. Rasselnd spuckt der einarmige Bandit die Münzflut aus. "Kein Glück heute?" fragt, sie einsackend, der Mann. "Ach!" sage ich und löse, indem ich die Identität mit ihm tausche, mein finanzielles Problem.

Wo ist das nächste Elend? Aus der Spielhölle in die Welthölle, denke ich. Aber die Straßen sind hier so sauber. Keine Körperteile liegen herum, kein Blut tropft von den Dächern. Als Handelsvertreter bringe ich den Menschen, sie in einen Kaufrausch versetzend, den Tod ins Haus. "An diesem Allzweckreiniger werden Sie Ihre Freude haben", sage ich, "an dieser Wunderwaffe gegen den Lebensschmutz. Hier, bitte, wisch und weg! Greifen Sie zu! So preiswert bekommen Sie das nie wieder." Der Mensch als Kunde unterschreibt seine Erlösung. Mich aber treibt eine innere Unruhe zurück in die Nacht meiner Angst.

Die Hände unter der Stirn zu einer Schale geformt, liege ich in meinem Bett auf dem Bauch und sehe mich als Winzling durch das Labyrinth meiner Gehirnwindungen hasten. Den Ausgang, sage ich mir, finde ich nur, wenn ich nicht aufhöre zu laufen. Das Ziel meiner Wünsche erkenne ich erst im Moment der Erfüllung. Dann werde ich schlafen. Erwachend werde ich eine Traumvergangenheit haben, die ich beliebig verlängern kann. Denn ich werde gestorben sein. Zuerst tot, dann lebendig, nicht umgekehrt, denke ich und öffne, mich auf den Rücken drehend, die Augen.

Nichts hat sich verändert. Das Stilleben hängt immer noch an der Wand. Der Zimmerefeu verdeckt das Bücherregal. Ich werde ihn vom Staub befreien, Blatt für Blatt, und dann die Bücher, den Sophokles, den Pascal, den Hölderlin und natürlich den Proust, den Kierkegaard und den Wittgenstein und den Kafka, den ich nach dem Abstauben mit einer Träne benetzen werde. Dann werde ich mich auf meinen Hometrainer schwingen und in die Pedale treten, bis auf dem Display die Zahlen 60, 30 und 2000 erscheinen. Und dann? Ich könnte lesen oder ins Kino gehen oder mich auf dem Dachboden erhängen.

Das fände ich witzig: täglich ein neuer Tod, 365 Tode im Jahr, 365 Kreuze über meinem Namen, den ich nicht kenne, und jedesmal ein neues Zitat aus meinen heiligen Schriften, bis nichts mehr übrig ist für die anläßlich meines Ablebens verschickten Partezettel. Ja, ich will über mich lachen. Ich will mich als eigens für mich engagierter Comedian mit jeder Bewegung und mit jedem Satz, den ich spreche, zum Lachen bringen. Ich will ein König des Gelächters sein. Wenn ich lache, müssen alle im Saal mit mir lachen. Das Glück im Spiel hat mich nicht froh gemacht. Nur mein Unglück erheitert mich.

Ich habe mir zu einem Spottpreis den Tod verkauft. Nun sterbe ich lachend in einem fort. Im Schlaglicht der aufsteigenden Sonne wirbelt der Staub. Ich sollte mich sammeln, denke ich. Ich sollte meine Gedanken in eine tabellarische Ordnung bringen, damit ich die wichtigen von den weniger wichtigen unterscheiden kann. An der Tabellenspitze stünde der Todesgedanke, der mich von morgens bis abends beherrscht, von den kurzen Unterbrechungen abgesehen, in denen ich ihn auf dem Wege der Zerstreuung gleichsam entschärfe. Er ist dann als Grundton immer noch da. Ich spreche ihn sogar aus.

Indem ich ihn ausspreche, halte ich ihn im Zaum. Ich sage mitten in einer Unterhaltung, zum Beispiel über das Wirtschaftswachstum oder die Arbeitslosigkeit, plötzlich: "Tod". Man überhört es. Mir aber ermöglicht das scheinbar unpassende Einflechten des Wortes "Tod", die mich langweilende Unterhaltung fortzusetzen. An der zweiten Stelle meiner Rangliste stünde der Liebesgedanke, denke ich und beschließe, dem Wettstreit der beiden Gedanken an einem dafür geeigneten Austragungsort beizuwohnen. Meine Wahl fällt auf einen Waschsalon, in dem eine Frau unbestimmten Alters, die, vor ihrer rotierenden Wäsche sitzend, dumpf vor sich hinblickt, meine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

"Langweilig, oder?" frage ich, mich neben sie setzend. Verwundert sieht sie mich an. "Ich will damit nicht sagen, daß Sie sich langweilen", füge ich rasch hinzu. "Ich meine nur, daß Sie sich, könnten Sie sich nicht gedanklich beschäftigen, langweilen würden. Vielleicht denken Sie an den ersten, zweiten und dritten Waschgang, an den Schleudergang und das anschließende Leeren der Trommel. Die Wörter finden Sie spannend, nicht aber den Vorgang, den sie beschreiben. Doch es gibt Ausnahmen. Denken Sie an das Wort 'Liebe'! Wie nichtssagend! Denken Sie an das Wort 'Tod'!"

Da beginnt die Frau, sich abwendend, leise zu schluchzen. Offenbar schämt sie sich ihrer Tränen. Wenn ich sie jetzt berühre, denke ich, vergrößere ich ihre Scham. Ich muß nur als Zeuge ihres Schmerzes neben ihr sitzen bleiben, bis sie aus eigenem Antrieb spricht. Als die Waschtrommel zum Stillstand kommt, reiche ich ihr ein Papiertaschentuch. Es annehmend, sagt sie: "Nun ist es gut. Es ist nichts, aber nun ist es gut." Das sind die Sätze, die ich hören wollte. Das Nichts ist das Gute. Der Schleim in der Stirnhöhle löst sich. In das beim Schneuzen erzeugte Geräusch hinein sage ich:

"Sie haben Ihren Liebsten verloren, und Sie haben in Ihrer Not, ohne sich dessen bewußt zu sein, das Papiertaschentuch als ein Geschenk von mir angenommen. Ein Stofftaschentuch hätten Sie als nur geliehen betrachten und mir retournieren können. Das Papiertaschentuch aber ist, da Sie es benutzt haben, in Ihren Besitz übergegangen." Da bricht die Frau von neuem in Tränen aus. Diskret lege ich sämtliche Papiertaschentücher, die ich bei mir habe, auf ihren Schoß und entferne mich. Wasser schlägt Feuer, denke ich, die Schere schneidet Papier, der Stein fällt in den Brunnen.

Die Liebe zu meinen Geschöpfen jedoch endet nie. Mein Heimweg führt durch den Friedhof. Mein Blick schweift über die blumengeschmückten Gräber. Die Schritte knirschen. Da ist das Tor. Da ist die Schule. Die Erstkläßler werden von ihren Müttern abgeholt. Ein Dachziegel zerschellt vor meinen Füßen. Im Rinnstein liegt eine tote Taube. Ein Schweinskopf lächelt mir zu. Ein Rettungsauto bahnt sich den Weg durch den Stoßverkehr. Der Fleischer nimmt die Nase aus seinem Gesicht. Es ist nicht möglich. Jetzt legt er sie auf die Waage. "Ist es so recht?" Ich gehe weiter zur Käsetheke.

"Diesen Brie", sage ich, "diesen Roquefort und dieses Ungemach." Die Augen der Verkäuferin schmelzen. Ihr Mund verrutscht. Kerzengerade steht sie da, über dem Kopf die Flamme. Als ich vor Jahren die todkranke Mutter fragte, was sie den ganzen Tag tue, sagte sie: "Warten." Das Leben sei dazu da, um es auszuhalten. Jeder überstandene Tag brächte sie dem Ende des Wartens näher. Ja, so dachte sie, die erste meiner zahllosen Mütter. Ich ging zu anderen. Die eine sagte: "Sei glücklich!" Die zweite: "Sei gut!" Die dritte: "Sei gottgefällig!" Da kehrte ich zu meiner ersten Mutter zurück und wartete, bis sie starb.

Sie hatte zuletzt nichts mehr zu sich genommen. Ich sehe ihren abgemagerten Körper brennen, während ich den Einkaufswagen, vorbei an den gefüllten Regalen, zum Ausgang schiebe. "Ich habe nichts!" rufe ich der Kassiererin zu. Ich habe nichts, und ich denke nichts. Ich denke, daß ich nichts denke. Aber ich weiß, die nächste Gedankenflucht kommt bestimmt. Dann werde ich aus der Unmenge der mich bedrängenden Bilder wieder nur das eine und andere erhaschen und meiner Sprachwut unterwerfen können. Denn alles muß Sprache werden. Gefällt dir das, Gott?

Gefällt dir der lüsterne Seelenhirte, der wie eine Schutzmantelmadonna seinen Lieblingsknaben, der ihm gerade bis zur Hüfte reicht, unter der schwarzen Soutane birgt? Gefallen dir die Worte, in die ich das Skandalöse kleide? Ich stelle dir hinterhältige Fragen. Dir muß doch alles gefallen, damit du richten kannst. Ich will sein wie du. Ich will mich als Richter über jedes Verbrechen freuen, als Straßenkehrer über jede weggeworfene Kippe, als Kardiologe über jedes beschädigte Herz. Aber ich bin ja selbst der Verbrecher, der Herzkranke, der Straßenbeschmutzer. Ich bin der Arzt und der Patient.

Ich fälle das Urteil über mich und kehre vor meiner eigenen Tür. Mein Sündenregister beginnt mit der Freude über die Schöpfung, so wie sie ist. Mir die Beichte abnehmend, erteile ich mir die Absolution. Ein Kindersarg wird gezimmert, die Krebszellen wuchern, zwölfmal sticht der Lustmörder zu. So soll es sein, denke ich mit als Entsetzen getarnter Begeisterung. Der Entsetzte ist meine Paraderolle. Ich spiele sie, wann immer ich will, vor dem Bildschirm in meinem Kopf. Der Ton ist ausgeschaltet. Ich muß nach Hause. Es wird ein Gewitter kommen. Es wird ein Krieg kommen. Ich brauche heute kein Publikum.

Es genügt, wenn ich mir selbst zuschaue, wie ich dasitze in der Stille und aufstehe und auf und ab gehe und mich wieder hinsetze und wieder aufstehe und auf und ab gehe und so fort, bis ich mich endlich zum Einnehmen einer Schlaftablette entschließe. Im Traum werde ich ein anderer sein. Der will ich bleiben. Schläfrig koste ich die Aussicht auf meine Verwandlung aus. Im Schilf liege ich, auf stoppligem Boden. Vom Himmel senkt sich das porzellanzarte Gesicht einer Frau. Heimtückisch warte ich, bis ich ihren Atem spüre. Dann beiße ich in die kirschroten Lippen, beiße mich fest wie ein hungriger Wolf.

Wohltuend rinnt das warme Blut über mein Kinn und die Wangen. Nur jetzt nicht erwachen, niemals erwachen! Ein ekliger Geruch steigt mir in die Nase. So riecht Erbrochenes. Nicht alles Erträumte erfüllt sich. Doch im Schilf, denke ich, liege ich wirklich. Benommen stehe ich auf und stapfe auf sumpfigem Grund durch das Dickicht zu einem schon halbmorschen Steg, der in ein moordunkles Gewässer führt. Wer würde mir glauben, wenn ich erzählte, daß ich in meinem Bett eingeschlafen und in einem Moor aufgewacht bin? Ich nicht, also niemand! Aber ich erzähle ja nichts. Ich denke nur.

Meine durchfeuchteten Schuhe, denke ich. mein besudeltes Hemd. Austrocknen will ich, um als Knochenfund zum Objekt meiner Selbsterforschung zu werden, oder im Moor versinken und mich als Moorleiche finden. Was vermag Menschenwille? Was ist Geschick? Während die eine Sonne im Westen verglimmt, steht über dem östlichen Horizont schon eine zweite. Die Nacht wird zum Tag. Denn ich will, daß es schnell geht. Auf brüchigen Brettern gebe ich mich dem astronomischen Wunder der Sonnenverdopplung hin. Doch mein Schlaf ist kein Tod. Mir träumt, eine Kröte küsse mich wach.

Schlafend geweckt, gleite ich von Traum zu Traum. Der Holzsteg verrottet. Ich aber falle nach oben, ein Junggeselle in der Blüte dar Jahre, wohlsituiert, mit luxuriöser Heimstatt, in gehobener Position. "Stellen Sie sich vor", sage ich zu meiner Vorzimmerdame, "ich wollte im Sumpf versinken oder wie eine Pflanze unter der brennenden Sonne verdorren. Beinahe hätte mich mein verrückter Einfall dahingerafft. Der Kuß einer Kröte hat mich gerettet." Ich schlage mir auf die Schenkel. "Ein Krötenkuß! Nehmen Sie das in Ihren Wortschatz auf! Notieren Sie es, damit Sie es nicht vergessen! Notieren Sie: Krötenkuß!"

So außer mir, mich in meinem vor Schweiß und Blut und Kotze starrenden Bettzeug wälzend, war ich noch nie. Sei ruhig, befehle ich mir, sei ruhig! Mit klarem Kopf mußt du deine dir vorbestimmte Zukunft gestalten. Es ist Samstag. Du frühstückst und machst deine Morgengymnastik. Dann duschst du kalt, kleidest dich an und holst deine Tochter, die mit dem Nachtzug aus Rom kommt, vom Bahnhof ab. Die Zugtüren werden sich öffnen. Du wirst auf dem Bahnsteig stehen. Sie wird lächeln, wenn sie dich sieht. Es wird alles ganz einfach sein. Sie heißt Iris. Sie ist achtzehn Jahre alt.

Du hast sie nach der Scheidung von der Mutter allein erzogen. Sie liebt dich. Sie hat einen festen Freund, der dir sympathisch ist. Du brauchst keine Angst zu haben. Die Bücher im Regal tuscheln nicht. Deine Anzüge hängen reglos im Schrank. Kein Apfel rollt aus dem Stilleben über dem Bett. Das Problem ist nur: Du hast gar keine Tochter. Wirst du nun trotzdem zum Bahnhof fahren? Ich sehe, wie deine Lippen zittern. Du willst etwas sagen. Du willst deine Entscheidung davon abhängig machen, ob sich das Gleisbett in ein Flußbett verwandelt hat. Du willst auf dem Seil über dem Fluß deine Kunst vorführen.

Wie lächerlich! Komm, steh auf, suche dir eine Partnerin und vermehre dich! Betreibe die Vielweiberei, damit keines deiner Spermien verloren geht! Zeugen sollst du, begatten! Schwängernd sollst du die Leere deiner verödeten Geisteswelt füllen. Unzählige Töchter wirst du dann haben, unzählige Söhne. Hier, mit dieser Rippe aus meiner Brust, beginnen wir unser Werk. Denn wir sind jetzt ein Team. Ich bin der Organisator. Du mußt nur ficken. Eine Fickmaschine sollst du sein, aber natürlich auch eine Gebärmaschine. An meinem Prinzip der Einheit halte ich trotz x-facher Spaltung fest.

Der Kindersegen schließt die dem einzelnen Individuum gebührende Zuwendung nicht aus. Der Nachwuchs wird in Gesunde und Kranke, hoch und minder Begabte gegliedert. Selbstverständlich gibt es auch Totgeburten sowie komplett Unbegabte. Für die körperlich oder geistig Behinderten sind spezielle Einrichtungen vorgesehen, in denen sie ihrem Zustand gemäß behandelt werden. Oberstes Gebot ist die Menschenwürde. "Würdig leben und würdig sterben!" sage ich. "Denn würde die Würde verletzt, könnte ich mich an diesem nur, wenn man es groß schreibt, bedeutsamen Wort nicht erfreuen."

Meine Zuhörer sind handverlesen. Meine gesellschaftspolitischen Ausführungen wären dem sogenannten kleinen Mann gänzlich unverständlich. Der exklusive Zirkel, dem ich sie vortrage, hat den Vater- und Mutter-Freuden aus freien Stücken entsagt. Zwar werden in diesem Kreis alle möglichen Themen, so auch der Zusammenhang zwischen geschlechtlicher Lust und Fortpflanzung, lebhaft diskutiert, aber die praktische Umsetzung überläßt man der Unterschicht. Mit den Worten "würdelos, klein, Hochwürden, groß geschrieben" beschließe ich zur allgemeinen Erheiterung meinen Vortrag.

Ein Adagio von Bach, gespielt von einer jungen Violinistin, rundet die Veranstaltung ab. Nachdem sie den Beifall entgegengenommen und das Instrument in ihrem Geigenkasten verstaut hat, nähere ich mich ihr. "Sie waren wunderbar!" "Die Kunst", sagt sie, ohne auf mein Kompliment einzugehen, "die Musik, das Unvergängliche, nichts sonst! Das Staccato, das Glissando, das Ritardando und das Accelerando, das Flageolett, das Crescendo und das Diminuendo!" Eine Verrückte, denke ich, an ihren Lippen hängend, endlich eine Verrückte! Plötzlich läßt sie sich auf die Knie fallen und kriecht, bellende Laute von sich gebend, zwischen den Beinen der Gäste zur Tür hinaus.

Da das außer mir niemandem aufzufallen scheint, muß ich mich fragen, ob ich unabsichtlich eine wahrnehmungsgestörte Menschheitselite erschaffen habe. Zur Probe trete ich einem älteren Herren mit Monokel, der neben mir steht, mit aller Kraft gegen das Schienbein und zwicke ihn, als er darauf nicht reagiert, auch noch ins Hinterteil. "Bemühen Sie sich nicht", sagt er lächelnd, "ich fühle nichts." "Haben Sie denn nicht gesehen", frage ich, "daß die Geigerin auf allen Vieren kläffend den Raum verließ?" "Die junge Dame hat sich in eine Hündin verwandelt", erwidert er. "So etwas kommt alle Tage vor."

"Aber es ist verboten", sage ich. "Uns nicht", sagt der ältere Herr und läßt, indem er die rechte Braue hebt, das mit einem goldenen Kettchen am Revers seines Sakkos befestigte Einglas fallen. "Wir dürfen uns nach Belieben in Tiere, Pflanzen und sogar in leblose Gegenstände verwandeln. Uns über das Verbot hinwegsetzend, geben wir auch Ihnen die Freiheit zurück, der zu sein, der Sie sind." "Wer bin ich denn?" "Na, einer von uns. Sonst wären Sie doch nicht hier." Aha, denke ich, so ist das also! Man geruht, mich in das von mir selbst Geschaffene zu integrieren. Man spottet meiner. Ich fühle mich auf einmal so klein. Jemand ruft: "Da, seht! Eine Maus!"

Im selben Moment stürmt ein Killerkommando den Saal und bereitet den Usurpatoren, die es wagten, sich über mich, der sie erschuf, zu erheben, ein blutiges Ende. Ich beobachte die Strafaktion aus einer Mauerritze. Als die Luft rein ist, kehrt die Hündin zurück. "Wir sind die einzigen Überlebenden", piepse ich, mich wieder vermenschlichend. Sie tut es mir gleich, nimmt aus dem unversehrten Geigenkasten die Violine und spielt inmitten der ausblutenden Leichen, betörender als zuvor, noch einmal, doch diesmal nur für mich, das Adagio. Ich darf mich in sie, denke ich, nicht verlieben.

Ich muß sie, noch während ich sie, ihrem Spiel lauschend, vor mir sehe, vergessen. Ich sehe, wie sie die Stirn in Falten zieht. Ich sehe über der Kinnstütze die schmalen Lippen. Ich sehe, wie sie nach dem letzten Ton den Bogen absetzt und den Arm langsam sinken läßt. Aber ich sage mir: Es hat diese Frau nie gegeben. Ich sehe sie. Aber es gibt sie nicht. Sie ist ein Phantom. Wir teilen ein Schicksal. Wir sind unzertrennlich. Wir steigen über die Toten und durchschreiten die Nacht, als wäre sie ein Gebiet, an dessen Grenze der Tag beginnt. Wir brauchen uns nicht miteinander abzustimmen.

Es ist Frühling, denkt sie, denke ich, berauscht vom Duft der Magnolien, einen Fuß vor den anderen setzend, auf dem Weg ins Licht. Wenn es uns dort nicht gefällt, kehren wir heim in die Finsternis. Ich werde nicht warten, bis die Buschwindröschen sich schließen und Tau die Gräser benetzt. Wir werden nicht warten. Schon blühen die Linden. Der Balzgesang der Vögel verstummt. Rasch wechseln die Jahreszeiten. Ich rieche und höre es. Aber ich sehe nichts, geblendet von der Erinnerung an den Anblick der Geigerin, die so wie ich nicht existiert. Immer wieder spielt sie das gleiche Stück.

Ich werde sie nicht vergessen. Ich kann es nicht, denke ich. Herbststürme fegen über das Land. Fallendes Laub streift meine Wangen. "Du bist der Sturm", sagt eine Stimme. "Du bist das Laub. Du bist der Frost, der dich erstarren läßt." Neugierig, wer da spricht, gewinne ich meine Sehkraft zurück. Flamingos stolzieren behutsam in seichtem Gewässer unter dem im Blau des Lavendels, das sich dahinter bis zum besonnten Geklüft schneeweißer Berge erstreckt, wie gespiegelten Himmel, ach, und davor das prangende Gelb und das Grün, so tröstlich, so heimatlich, mich einladend zu friedlicher Rast.

Denn der Sprechende war ich selbst. Wer sonst? Im Erdichteten ruhe ich aus. Aber, oh weh, eine lärmende Kinderschar wirft mich zurück ins Prosaische. Ein Hund kackt in die Idylle. Ein Kampfjet stürzt in Sichtweite ab und fügt meiner Farbpalette das Rot hinzu, das ich bewußt vermied. Noch liegt den Störungen keine Vernichtungsabsicht zugrunde. Doch die Armee, die alles niedertrampeln wird, was ich mir ausmalte, um im Schönen zu schwelgen, steht schon bereit. Ich werde sie jubelnd begrüßen, dankbar für die Ernüchterung. Schwarzes Gewölk wird das Gebirg verdunkeln.

Nur die alles verklärende Sprache, mein schimmernder Panzer, wird weiter strahlen. Im gefrorenen Schlamm ergibt sich der Gefallene der Natur, seiner Feindin. Erst, wenn es taut, lebt er ein letztes Mal auf. Solidarisch lege ich mich neben den faulenden Körper. Man nennt so etwas "Probeliegen". Ich übe den Tod, obwohl ich unsterblich bin. Das muß ich mir jetzt immer häufiger sagen, damit ich es glaube. Die ständige Wiederholung beweist, daß ich schwanke. Ich will sterben, ich will, daß es endgültig ist, und hoffe zugleich, daß sich mein Wunsch nicht erfüllt.

Beim nächsten Zug, denke ich, bin ich schachmatt. Ihn hinauszögernd, bereite ich mich auf mein neues Leben vor. Es wird wie jedes Leben mit einem Schrei beginnen, der still in mir anschwillt, bis ich ihn nicht mehr verhindern kann. Denn nur das Unausweichliche akzeptiere ich, kein Gejammer, kein grundloses Klagen. Geduldig erwarte ich meine Geburt. Jetzt der letzte Atemzug, jetzt der Schrei... Mein Leben aushauchend, gebäre ich mich, muß aber diesmal kein anderer werden, sondern schreie mich gleichsam aus mir heraus und kann danach, vor dem leeren Spielbrett, den Toten an meiner Seite gelassen beneiden.

Er ist nicht der einzige. Da liegt noch einer und da und da und da. Tausendfach bin ich gestorben, nur das eine Mal, auf das es ankommt, nicht. Was fängt an, ohne zu enden? Richtig! Die Ewigkeit. Sie setzt ein mit dem Wort, das sie bezeichnet. Der Schüler wird vom Lehrer gelobt. Bei den Klassenkameraden jedoch macht er sich durch seine Denkschärfe unbeliebt. Am Reck hängt er wie eine nasse Unterhose. Den Bock hat er noch nie überwunden. Beim Handballspiel fällt er um, statt zu fangen. Sein Körper ist ihm eine Last. Seinen Kopf stellt er sich als Glühbirne wie auf einem Bild von De Chirico vor.

Die Malerei ist ihm die teuerste unter den Künsten. Er geht gern in Museen. Vor Kandinskys schwarzen Sonnen und den Äpfeln von Cézanne muß er weinen. "Tintenblaue See", sagt er beim Strandspaziergang zu seiner jungfräulichen Freundin, "salzweißer Fels, räudiges Glück." Sie hat es aufgegeben, seine Einfälle zu korrigieren. Sie hofft, daß er sie im Überschwang seines Redens versehentlich küßt. Sie liebt ihn. Denn wie so oft habe ich die Selbstliebe, damit sie nicht offen zutage tritt, auf zwei Personen verteilt. Jetzt nehme ich mich an der Hand. Jetzt überkommt es mich.

Mit einem Ruck werfe ich mich in den Sand und presse, während ich mir die Zunge in den Mund schiebe, mein in der Hose erstarkendes Glied gegen das Schampolster unter dem hervorspringenden Becken. Wie linkisch, denke ich, wie gespielt ungestüm! Die Leidenschaft war nur ein kurzer Anfall. Die Ferien sind vorbei. Doch in die Schule kehre ich nicht zurück. Lernbegierig meide ich die Lehranstalt, damit mich das Wissen hinterrücks überfalle. Nicht das Gesuchte, sage ich mir, ist das Einprägsame. Ein Fernfahrer bin ich jetzt. Vom Rückspiegel in meinem Fahrerhaus hängt eine Barbiepuppe.

Hoch throne ich über den Straßen, mit riskanten Überholmanövern ankämpfend gegen die Müdigkeit. Denn einschlafen darf ich nicht. Der Schlaf, denke ich, ist eine Frau, die ich besiegen muß. Sie will meine Sinne benebeln. Sie träufelt Gift in mein Blut. Ein Vagabund wollte ich sein, ein zielloser Steuermann. Ein Kämpfer gegen den Schlaf bin ich geworden, ein Sklave der Last, die ich auf vorgegebenen Routen von da nach dort transportiere. An den Raststätten, an denen sich die Trucks spätnachts versammeln wie Elefanten an einer Wasserstelle, räche ich mich für die Enttäuschung.

Als Hurenmörder träume ich mich in meiner Schlafkabine. Leidlich erfrischt wache ich auf, starte und zähle die Kilometer, bis mich das Weibliche wieder zu übermannen droht: Tag für Tag der immer gleiche Kampf, Nacht für Nacht der immer gleiche Traum. Gelangweilt beende ich, indem ich mit explosiver Ladung gegen die Leitplanke fahre, mein Truckerleben und werde Pilot. Kindisch stelle ich mir das Fliegen abenteuerlich vor. Es fallen mir dazu aber nur einzelne Wörter ein: Abheben, Höhengewinn, Luftweg, Turbulenzen, unsanfte Landung. So kann es nicht weitergehen.

Ich muß ganze Sätze denken. Im Ried liege ich wieder, beseligt von Geigenklängen. Ein Reiherpaar führt mir graziös die Begattung vor. Die Versöhnung von Kunst und Natur bringt mich auf die Idee, den Himmel einzuschwärzen. Ich übermale die Lichtquelle. Wie aufregend! Endlich! Das volle Orchester löst das Violinsolo ab. Nun decke ich auch die Reiher, das Röhricht und schließlich mich selbst mit Schwärze zu. Die Musik aber bleibt, die Finsternis ausfüllend, zart oder stürmisch, mich sieghaft beglückend. Das neue Bild, das sie in mir aus dem Nichts erzeugt, zeigt eine Tropfsteinhöhle aus purem Gold.

Ob es sich dabei um ein Naturwunder oder ein Kunstwerk handelt, muß mir gleichgültig sein. Denn die Sprache des Führers, der es mir erklärt, verstehe ich nicht. Beim Verlassen der elektrisch beleuchteten Höhle erscheinen mir die Souvenirläden, die Menschentrauben und die dahinter sich ausbreitende Landschaft wie in einen milchigen Nebel getaucht. Statt sich aufzulösen, verdichtet er sich, bis ich gar nichts mehr sehe. Die Musik aber tönt weiter. Beethoven, Schubert, Liszt, Schostakowitsch, denke ich und stelle die Übereinstimmung von Klang und Raum durch einen Konzertbesuch her.

Nun bin ich am richtigen Ort. Es gibt ein Programm. Es gibt eine Pause. Ich weiß, was gespielt wird. Es gibt einen Dirigenten und leibhaftige Musiker, und es gibt das Publikum, dem ich angehöre. Doch die Ordnung währt nur einen Augenblick. In der Reihe vor mir grinst ein Hinterkopf. Aus dem perlengeschmückten Ohr einer Besucherin schlüpft eine Natter. Im fast kahlen Schädel ihres Begleiters steckt über dem Haarkranz wie eine Indianerfeder ein Messer. Sieht denn das außer mir niemand? Die neugeborene Natter kriecht von Schulter zu Schulter, dann den Hals des Mannes hinauf und ringelt sich um das Messer.

Das Grinsen wandert von Kopf zu Kopf. Die Bögen der Streicher verwandeln sich in Gewehre. Ich höre Schüsse. Ich sehe den Dirigenten fallen. Ich allein, sage ich mir, sehe und höre das Wirkliche. Nur scheinbar wird das Konzert fortgesetzt. Sich verbeugend, nimmt der Erschossene nach dem Schlußakkord den Applaus entgegen. Die Schützen erheben sich auf sein Zeichen. Ich schließe mich den zu den Garderoben drängenden Menschen an und hole mir meine vergangene Zukunft ab, einen ausgemusterten Mantel nach der neuesten Mode. Im Ärmel: mein Seidenschal. Und da: der breitkrempige Hut, den ich so liebe.

Wenn ich mich recht erinnere, hat es geschneit. Ich will in der Stadt, in der ich jung war, den Schnee mit meinen Tränen schmelzen. Ich will die Gebäude streicheln und die erleuchteten Schaufenster küssen. Ich will den Schlüssel in meiner Manteltasche an jeder Tür, bis er paßt, ausprobieren. Vom Eingang des Konzertgebäudes führt eine Treppe zum Gehsteig hinunter. Zuerst sind es nur ein paar Stufen, die sich aber, während ich hinabsteige, ständig vermehren. Es ist eine endlose Treppe, denke ich und gebe die Hoffnung auf, je unten anzukommen. Die Rückkehr in meine Jugend ist mir verwehrt.

Ein alter Mann bin ich, getäuscht von der Erinnerung. Fragte mich jemand, was ich für das Unglaublichste hielte, das mir je widerfuhr, antwortetet ich: daß ich jung war, leichtfertig die Zeit vergeudend, als wäre sie ein unerschöpfliches Reservoir an Glück und Verzweiflung, an Liebessehnsucht und Liebesschmerz, an Aufbruch und Scheitern, an Siegen und Niederlagen und immer wieder neuen Versuchen, das flüchtige Schöne festzuhalten, als könnte ich dessen Dauer erzwingen. Es fragt aber niemand. Unsterblich steige ich von der letzten Stufe auf ein von Gras überwuchertes Kopfsteinpflaster.

Die Natur hat die Stadt fast zur Gänze zurückerobert. Nur Mauerreste sind übrig: da ein zwecklos gewordenes Tor, hohle Fenster, durch die ich den Nachthimmel sehe. Was hat die Bewohner vertrieben? Ein Krieg? Eine Seuche? Ich frage nicht weiter, sondern überlasse mich der durch das Wissen, daß ich hier vor Jahrhunderten lebte, ins Extrem gesteigerten Melancholie. Nichts stört mein Gefühl, kein Tier, kein Laut, keine Bewegung der Luft. Allein durch sich selbst verwandelt es sich und wird, wie durch einen Schatten getrübt, Traurigkeit und im nächsten Moment, als verflöge der Schatten, unbändige Freude.

So schnell wechseln die Empfindungen, die mich nun grundlos durchströmen, daß ich sie nicht mehr benennen kann. Ich bin ein Gefühlsagglomerat, denke ich. Das Wort entschädigt mich für die Wörter, die mir nicht einfallen. Jedes Mißlingen, sage ich mir, muß ausgeglichen werden durch einen unverhofften Erfolg. Denn ich will lebensfroh bleiben. Ich will mich nicht vergeblich nach der ewigen Ruhe sehnen. Ich fürchte die Sehnsucht. Jetzt weiß ich es wieder. An einen Atlanten gelehnt, der nichts mehr trägt, spreche ich es aus: "Ich fürchte die Sehnsucht." Ein Blitzlicht erhellt die Szene.

Aufblickend sehe ich mich mit Hut und Mantel hinter einer halb eingestürzten Fassade verschwinden. Mir nachlaufend erleide ich einen Herzinfarkt und hebe meine Verdopplung auf, indem ich das Zeitliche segne. Es soll mich nur einmal geben. Ich will einmalig sein. Ich will mir nie wieder entfliehen und mich nie wieder verfolgen. Das Foto beweist: Ich bin in dieser zerstörten Stadt gewesen. Ich stelle es gerahmt auf meinen Schreibtisch, an den ich mich gesetzt habe, um einen Roman zu beginnen. "Ich bin tot", tippe ich in den Computer. "Ich weiß es, aber ich glaube es nicht."

Meine Finger erlahmen. Ich stütze den rechten Ellbogen auf und lege die Stirn in die geöffnete Hand. Der Ritus wird vorbereitet. Wie eine strahlende Festung leuchtet der Lichttempel inmitten der Finsternis. In einer goldenen Schale biete ich mein Gehirn als Opfergabe dar. Doch sie wird abgelehnt. Die Chorknaben warten vergeblich auf ihren Einsatz. Ich bin tot, denke ich, ich weiß es. Aber wer soll mir glauben, wenn ich mir selbst nicht glaube? Warum habe ich mich nicht als Leiche fotografiert? Jetzt stehe ich da mit leeren Händen. Nein! Ich halte ja noch immer die Schale!

Krähen machen sich über das zurückgewiesene Opfer her. Mein Ersatzhirn funktioniert noch nicht richtig. Daß ich etwas weiß, das ich nicht glaube, will mir nicht in den Kopf. Ich lösche den zweiten Satz auf dem Monitor. Nur, daß ich tot bin, bleibt übrig. Es muß ja nicht stimmen. Es ist Fiktion. Der Tote, denke ich, könnte sich in eine Person, die lebt, verlieben. Um sich mit ihr zu vereinen, müßte er ihren Tod herbeiführen. Das wäre spannend: ein Liebesroman und zugleich ein Krimi. Da fällt mir Nietzsche ein. Gott ist tot. Der tote Gott tötet. Nein, das wird nichts!

Aus meinem Rücken wächst eine Agave. Ich wage es nicht, mich, indem ich mich zurücklehne, zu vergewissern, ob auch dieser Einfall nur dem Zweck dient, mich von meinem literarischen Vorhaben abzubringen. Ich will, sage ich mir, diesen Roman gar nicht schreiben, sondern mich als Toter tatsächlich verlieben. Meine Nachbarin ist unglücklich verheiratet. Der Ehemann hält sich beruflich im Ausland auf. Seit langem habe ich auf die nach landläufigem Geschmack eher unansehnliche Frau ein Auge geworfen. Sie öffnet sofort, als ich klingle. "Ich bin tot", zitiere ich mich. Darauf sie: "Bitte, kommen Sie doch herein!"

Das Kind, aufgeweckt, achtjährig, männlich, wird zum Fußballspielen geschickt, die Liebe nach vorheriger Strangulierung, die letal endet, vollzogen. Wie banal, denke ich. Doch nun ist es geschehen. Eine Gerichtsbarkeit gibt es im Totenreich nicht, denn die Toten sind schon gerichtet. Auf Leben steht Tod. Mir liegt daran, es an dieser Stelle noch einmal unmißverständlich zu formulieren: Auf Geburt steht die Todesstrafe. Ich gehe in meine Wohnung zurück und ersetze den Satz "Ich bin tot" durch den Satz "Ich habe getötet." Die Agave hat sich in ein Paar Flügel verwandelt.

"Das Töten", schreibe ich, "beflügelt mich." Aber fliegen kann ich nicht. Dazu ist mein Körper zu schwer. Ein fluguntauglicher Engel bin ich. Federleicht möchte ich sein, obwohl ich weiß, daß ich, wäre ich es, die Nachbarin nicht hätte töten können. Einerseits hindert mich mein Körper am Fliegen, andererseits brauche ich ihn für das mich beflügelnde Töten. Im Dilemma zwischen Wunsch und Notwendigkeit gebe ich mein Romanprojekt auf. Bevor ich den Computer ausschalte, tippe ich noch das Wort "Ende" ein und lösche danach das Geschriebene. Nie wieder schreiben, denke ich.

Nicht alle Engel sind Mörder. Auf meinem Pfühl liegend, warte ich, daß es zu Erde werde und die Zimmerdecke sich in einen azurblauen Himmel verwandle. Sie braucht nicht einzustürzen. Keine Zerstörung, sage ich mir, nur friedliches Warten, den Schmerz des Verlangens ertragend! Das Wimmern erlaube ich mir. Still muß ich nicht leiden, nur standhalten, um den Augenblick, da ich mich öffne zu kurzer Pracht, nicht zu verpassen. Wie eine Blüte, denke ich, wie eine Wunde. Die Sonne fügt sie mir zu. Ihr zum Trotze verwelkend, setze ich danach meinen Weg in die Unendlichkeit fort.

Wer oder was bin ich nun? Ein Kopf? Ein Leib? Ein Gedanke? Das Widersinnige erwächst nicht aus der Bemühung. Immateriell dringe ich vor in das Unaussprechliche. Die Wörter "Licht", "Klarheit", "Erleuchtung" fallen mir ein. Obwohl es die falschen sind, klammere ich mich an sie. Besser falsche Wörter als gar keine! Ein weißes Bett steht im Wald. Da gehört es nicht hin. Als könnte ich die Erscheinung so zum Verschwinden bringen, lege ich mich ins modrige Laub. Jetzt erst sehe ich: In dem Bett liegt ein Mensch. Er greift nach den Zweigen einer sich über ihn neigenden Birke.

"So helfen Sie mir doch, mich aufzurichten!" ruft er mit fordernder Stimme. "Wer so spricht". sage ich. "braucht keine Hilfe. Sie müßten mich mit verlöschender Stimme um Hilfe bitten. Ich müßte gezwungen sein, mich Ihnen, um Sie zu verstehen, zu nähern. Wäre ich erst einmal aufgestanden, bedürfte es nur noch eines kleinen Zuwachses an Mitleid, Ihnen die Hilfe, die Sie einfordern, als hätten Sie ein Recht darauf, zu gewähren. Sie müßten den Kraftlosen spielen. Obwohl Sie tatsächlich zu schwach sind, sich aufzurichten, müßten Sie zusätzlich so tun, als wären Sie es."

Der Mann sinkt in die Daunen zurück. "Ja, so!" bestärke ich ihn, gehe zu ihm hinüber und fühle den Puls. Der Mann ist tot. Ich sehe: Das Bett hat Räder. Es ist ein Krankenbett. Ich habe es mir für meinen Einfall geliehen, muß es aber nun, da ich es nicht zurückerstatte, als entwendet betrachten. Einen Krankenbettdiebstahl hat es bestimmt schon gegeben. Aber daß der Dieb das Bett in den Wald schob, um es unter einer Birke in ein Sterbebett zu verwandeln, geschah, behaupte ich, soeben zum erstenmal. Nur solange ich Einmaliges denke, bin ich immun gegen den Tod.

Kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn und perlt kitzelnd zwischen den Brauen hinab zu den Nasenflügeln. "Du hältst es aus", sage ich. "Du wirfst den Verstorbenen aus dem Sterbebett und bedeckst ihn mit Laub. Du nimmst dir vor, es zu tun, aber du tust es nicht. Du wirst nicht aufhören zu sprechen, bis ich dir die Hand auf die Schulter lege und dir zuflüstere: Es ist überstanden. Und jetzt wiederhole den Satz, damit keine Sprechpause eintritt, und erkenne im selben Moment, daß es nicht nötig ist! Fühlst du die sanfte Berührung? Antworte nicht! Du bist es, der dich berührt."

Aus einem Riß in der Birkenrinde sickert mein Blut. Dein Blut, mein Blut, denke ich und annulliere die mir auferlegten Verbote. Meine zerbrechliche Mutter, die königliche, hat mir nichts untersagt. Sie zerbrach an der Sorge. Fast hätte ich sie (die Sorge) nicht überlebt. Nur das ohnehin Deutliche muß ich verdeutlichen. Die blutende Birke überdacht mein Haupt wie ein Baldachin. Das Bild zieht mich in seinen Bann. Ich fürchte, ich kann mich nicht davon lösen. Die Blätter blinken. Damit ich weiterdenke, verwandle ich mich in eine Trauerweide. Jetzt sehe ich nur noch das Grün.

In der Verdichtung wird alles zu Farbe: Wellen aus Blau und Weiß, abends, wenn es der Zufall will, rötlich, nachts bei Neumond und Windstille schwarz. Nein, keine Gischt, kein Gewoge! Die Tänzer, schon gewöhnt an den Alarm, harren noch aus. Den letzten Tanz krönt die Vernichtung. Ich denke es so. Ich fache die Sprachglut an und resümiere: gestorben und auferstanden im Farbenrausch, nun aber wieder die Formen: der Kelch, darüber die Hand und die Oblate, mein anderes Ich, das ich zu mir nehme, bevor man hämisch über mich spottet: Er ist nicht mehr bei sich.

Zappelnd verschwinden im gefräßigen Maul des egomanischen Schöpfers seine Geschöpfe, Mensch oder Wurm. Nur von ihm selbst Hervorgebrachtes dient ihm als Nahrung. Das Ausgespieene schlürft er, um es erneut zu erbrechen. Ich aber will an dieser Stelle meines Denkens die Saat ausbringen und mich bis zur nächsten Ernte mit der Erwartung begnügen. Das Rapsgelb wird mich zu Tränen rühren. Ich weiß es. Ich kann meine Gefühle getrost prognostizieren. Sie überfallen mich nicht. Sie sind das Amen am Schluß eines jeden Gebets. So will ich es ausdrücken. Aus einem Tulpenfeld winkt mir ein Mann mit breitkrempigem Strohhut zu.

Mich beglückt dieses Winken. Es raubt mir den Atem. Ich ersticke, während der Mann mit dem Hut schon wieder die Tulpen schneidet. Denn das Rettende ist die Arbeit. Tulpen, gezählt und in Kisten verpackt, verschicke ich nun in die bunten Oasen der Großstädte, damit sie mich hinwegtäuschen über die Unfähigkeit, mich zu freuen. Oh, welche Freude, denke ich, oh welche Lust! Die Wörter bekommen einen hohen Stellenwert in diesen mit einer Interjektion eingeleiteten Sätzen und stürzen, kaum gedacht, in eine so schwarze Tiefe, daß es mir graut. Ich will diese Wörter nie wieder denken.

Ich will sie zertrümmern und aus ihren Bestandteilen unsinnige Buchstabenkombinationen bilden, die keine Emotion in mir wecken. Ich will sie unschädlich machen. "Stirb, du Wort!" sage ich. "Stirb! Stirb, du Lust, und keime nie wieder auf in mir! Stirb, du Freude!" "Sie sprechen ja mit den Blumen", sagt die Floristin. "Das erlebe ich oft, daß Kunden statt mit mir mit der Ware sprechen. Dich will ich, du Rose, sagen sie, oder dich, du im Licht schimmernde Alstromerie!" Es gibt unzerstörbare Wörter, denke ich und verlasse, von meiner Kauflust kuriert, den Blumenladen.

Ohne Brautstrauß aber tritt die kapriziöse Braut nicht vor den Altar. Die Ehe scheitert. bevor sie begann, könnte man sagen. Es gibt nichts, das man nicht sagen kann. Ich sage: "Ich leide." Mich schmerzt mein Kopf und mein Darm. Die schwarz wie Kohlen auf mich gerichteten Augen klage ich an: Warum brennt ihr den Schmerz nicht aus mir heraus? Ein Schnitter ist der Tod. Er heilt nicht mit Feuer. "Geh mir aus den Augen!" befehle ich dem schwarzäugigen Mädchen. "Ich will mich im Spiegel sehen in meiner Erbärmlichkeit. Ich will die Schnittwunden zählen, mit denen ich mich schmücke."

Das Messer ritzt meine Haut, ohne einzudringen. Es ist eine Performance, sage ich mir. Ich probe den Ernstfall, der stattfinden wird, sobald ich aufhöre, ihn zu verschieben. Man wird mit Fingern auf mich zeigen. Da will einer verfließen wie die Zeit, lächerlich! Das kennen wir schon! Das haben wir doch schon im Fernsehen gesehen! Da fiel das Schwert, und aus dem Rumpf sprudelte diese rote Flüssigkeit und bildete auf dem Sandplatz eine sternförmige Lache. Der Kopf rollte noch ein paar Meter. Das Gesicht bewahrte sekundenlang den Ausdruck des Schreckens, bevor sich der Frieden darüber ausbreitete.

Die Vereinbarung, die ihn gestiftet hatte, flog als Gekritzel auf einem schmutzigen Blatt Papier, das eine Windbö davontrug, wie ein Vogel vom Richtplatz auf. Der Wind, das Tröstliche, denke ich. Er weht dem Papierfetzen eine Sandwolke nach. Aus meinem Mund aber qualmt es. Ich bin jetzt Kettenraucher und warte auf jemanden, der mich im Rahmen eines Geplauders, wie es sich unter Einsamen ergibt, mit einem Vulkan vergleicht, damit ich ihm scherzend entgegnen kann: "Feuer spucke ich nicht. Meine Tristesse wird sich in keinen Jahrmarkt verwandeln, so daß ich aus meinem Laster keinen Gewinn ziehen kann."

"Sie müssen", würde mein Gesprächspartner, stelle ich mir vor, darauf sagen, "scheinbar unabsichtlich, etwa beim Abklopfen der Zigarettenasche, das halbvolle Glas umstoßen und sich dann unter ausufernden Entschuldigungen beim Reinigen des Tisches beteiligen, bevor Sie sich vom Wirt oder vom Kellner ein neues, volles Glas bringen lassen. Es muß vor Ihnen, damit Sie nicht mutlos werden, immer ein volles Glas stehen." "Sie meinen", frage ich mit gespielter Naivität, "ich müsse mir einbilden, aus dem vollen zu schöpfen? Ich muß weitertrinken, bis mein Kopf auf die Tischplatte fällt?"

"Ja", sagt der Mann. "Sie müssen trinken, bis Sie, zunächst noch einige Male hochschnellend aus der Bewußtlosigkeit, in bleiernen Schlummer sinken. Ich werde Ihren Schlaf hüten. Ich werde dafür sorgen, daß man meinen Respekt vor dem Heiligsten teilt. Denn der Schlaf macht uns zu Kindern. Ein Kind wirft man nicht auf die Straße. Diese hypnotische Wirkung der Stimme, denke ich, nun bin ich ein wohlfeiles Ziel für jedes Mitgefühl und jeden Messerstich. Das Meer aber teilt sich. Ich schreite hindurch zwischen den aufragenden Wasserwänden. Es muß jetzt geschwind eins auf das andere folgen.

Fliegender Wechsel! Das Spiel wird nicht unterbrochen. Ratata! Ratata! Von den Geleisen sprühen die Funken. Ich habe meine letzte Reise angetreten, die, da sie kein Ziel hat, nie endet. An den Haltestellen steigt niemand aus oder ein. Ich bin der einzige Passagier. Ein Vogelzug über mir gibt die Richtung vor. Ich sage nicht, es sind Totenvögel. Ich brauche diese Symbolik nicht. Ich sitze in einem alten Zug mit noch zu öffnenden Fenstern und werfe von Zeit zu Zeit einen Teil meines Körpers hinaus, der aber sofort wieder nachwächst, ein Auge, eine Zehe, einen Arm ...

Entlang der Strecke laufen die Feldarbeiter herbei und sammeln das Wertvollste auf, das ich zu geben habe, obwohl es mich nichts als eine wegwerfende Geste kostet. Ich würde es auch ersatzlos verschenken. Ich bin jetzt bereit dazu. Aber das blaue Auge wird unverzüglich durch ein noch blaueres substituiert. Ich habe keine Gewalt über mich. Es gelingt nicht, mich fortzugeben, um, endgültig aufgelöst, nur noch ein inhaltsloser Gedanke zu sein, ein auch mit dem Wort "Leere" nicht zureichend zu benennender Zustand. Ich muß immer noch an Materie denken, an Fleisch und Blut und wie das alles heißt, das ich als Humus meiner Geistestätigkeit nicht entbehren kann.

Öffne ich das Zugfenster nicht, schmeißt man es ein. So unverschämt fordert man, da ich den kleinen Finger gab, nun die ganze Hand. Maßlos wird der Mensch, tut man ihm Gutes. Geknechtet will er sein, niedergehalten wie ein Ochse im Joch. Das ist meine Überzeugung, mein politisches Statement, mein pessimistisches Weltbild, das sich tagtäglich aufs neue bestätigt und nur durch hanebüchene Hoffnungen entschärft werden könnte, die alles Klare in eine eklige, schleimige Brühe verwandeln. Ein verseuchter Brunnen ist meine Hoffnung. Lieber verdurste ich.

Auf den Wiesen tollen die Hasen, flattern Rebhühner auf. Aber die Jäger gieren nach Menschenfleisch. "Gib mir ein Schenkelstück! Gib mir die Niere oder die Milz oder dein Herz! Ausgehöhlt wirst du ein begnadeter Organspender sein, den wir demütig als unsere Gottheit anerkennen." Aber, ach, wie ist mir das Göttliche zuwider geworden! Ich bin es leid, mich zu verehren. Gegen meinen Willen regeneriere ich mich. Das Transportmittel, das ich gegen keine feste Bleibe mehr tauschen werde, bringt mich ins Nirgendwo. An Komfort mangelt es nicht. Ich kann die Sitze ausziehen und mich zum Schlafen legen.

Ich suche mir kein Haus mehr und keine Wohnung. Bin ich hungrig, beiße ich mir einen Finger ab. Dürstet mich, sauge ich das Blut aus dem Stumpf. Meine manisch-depressive Veranlagung garantiert mir eine spannende Fahrt. Die Bodenhaftung aber verliere ich nicht. Ein Flug wird nicht aus meiner Reise. Ratata! Ratata! Wie lange habe ich mich nach einem stetigen Geräusch, das mich beruhigt, gesehnt. Nun gelingt mir sogar die phonetische Wiedergabe, so daß ich es notfalls, zum Beispiel, wenn der Zug hält, selbst erzeugen kann. An den kleinen, verlassenen Bahnhöfen ist die Versuchung, sie, indem ich aussteige, wieder mit Leben zu füllen, am größten.

Aber ich bleibe sitze
n und ziehe, damit ich nicht der Verlockung erliege, die Vorhänge zu.

 

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Der Text ist als Fragment angelegt und endet mit dem Tod des krebskranken Autors. Solang wie möglich wird er fortgesetzt. Die Ergänzungen werden jeweils halbjährlich angefügt.

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Erschienen als E-Book und Hörbuch bei Mcpublish (www.mcpublish.com)