Lieber, sehr verehrter André Müller! Liebe Damen, liebe Herren, verehrtes Publikum!
Wagen wir, bevor wir unseren Preisträger fröhlich feiern, einen Blick in das
Grauen. Auf jenes beklagenswerte Völkchen, das man die Journalisten nennt. Und
sagen wir sofort und am Anfang: Unser Preisträger, der Glückliche, ist keiner
von ihnen. Wie auch der unvergessene Ben Witter keiner von ihnen, keiner von
uns war. Niemals.
Die Zeitungsmacher machen ihre Zeitung. Tag für Tag oder Woche für Woche. Was
sie heute schreiben, wird morgen früh gelesen - oder auch nicht gelesen. Morgen
abend wird es weggeworfen, und übermorgen, spätestens, ist es dann vergessen.
Gewiss, beim Wochenblättchen arbeitet der Tod ein bisschen langsamer. Da bleibt
der Zeitung, bevor sie in der Mülltonne landet, eine ganze Woche, in der sie,
in einem verborgenen Winkel der Wohnung schlummernd, friedlich vergilben darf.
Wir sehen hieran, dass der angeblich aufregende Beruf des Journalisten ein
zutiefst trostloser ist. Ich schreibe, also werde ich vergessen. Und oft hat
das Vergessen und Vergessenwerden schon mit dem Schreiben begonnen.
Natürlich tut man alles, um dem unvermeidlichen Verhängnis, der Furie des
Verschwindens zu entkommen. Zeitungsschreiber haben, mehr noch als alle anderen
Schreiber, eine rührende, kindliche Sehnsucht nach der unvergesslichen Tat.
Nach der grandiosen Enthüllung. Der sensationellen Recherche. Oder, wenigstens
das: nach der unsterblichen Pointe. Es nützt zwar nichts, aber es hält einen
doch am Leben.
Der Preisredner hat ein Vierteljahrhundert an einem Hamburger Wochenblättchen
gewirkt. Er könnte nun mit Mannesstolz sagen: Alles vergessen! Das wäre die
Wahrheit, aber natürlich nicht die ganze. Man könnte schon ein Weilchen von den
alten Zeiten plaudern. Und man käme dabei, in allerlei Windungen, gemächlich
von den schönen Zeiten zu den schönsten - und von hier dann zu den
allerschönsten.
Und bei dieser, naturgemäß sentimentalen, Zeitreise rückwärts würde ein Name
bald und unvermeidlich fallen: der karge deutsche Name Müller. Und es fiele
einem wieder ein Satz des Dichters Peter Handke ein, aus einem Interview mit
André Müller: "Es gibt ja nichts anderes als die Schönheit, nichts, was
wirklicher wäre." Oder ein Satz des weiland Burgtheaterdirektors Claus
Peymann aus dem sagenhaften Peymann-Interview: "Ich möchte, dass etwas
Schönes entsteht." Das ist ihm mit dem ZEIT-Interview jedenfalls, mehr als
mit jeder seiner Inszenierungen, gelungen. Unvergesslich.
Es hat nicht viele Müller-Tage gegeben im friedlichen Jahreslauf unseres
Wochenblattes. Vier, vielleicht fünf, höchstens sechs Interviews, mehr nicht.
Mehr hätte der Interviewer nicht liefern können. Mehr auch hätte die
nervenschwache Redaktion nicht verkraften können. Denn Müllers Interviews waren
die Festspiele unseres Feuilletons - und auch die Höllenfahrten. Jede Kürzung
eine Mordtat. Jeder Druckfehler ein Weltuntergang. Die sogenannten Skandale,
die der Veröffentlichung gelegentlich folgten, waren, hiermit verglichen, eher
eine Erholung. Plötzlich war ein Umbruchstag keine müde oder auch vergnügte
Routineangelegenheit mehr. Sondern ein fiebriges Spektakel, nur einer
Theaterpremiere oder einem olympischen Endlauf vergleichbar. Müller in der
Ferne, in München, am Telephon - in unerbittlicher Panik. Die Redaktion in
Hamburg - in zunächst nervösem, dann aber zunehmend glückhaftem Aufruhr. Als
ginge es nicht um die bald vergilbende Zeitung, sondern tatsächlich um Leben
und Tod. Und als sei man am Ende des Tages tatsächlich gerettet. "Aber
natürlich", so Thomas Bernhard hierzu und zu schlechterdings allem,
"aber natürlich wird keiner gerettet".
Interviews sind Redestücke. Die Interviews, deren Autor wir heute abend feiern,
sind wahre Redekunststücke. Doch zur Redekunst gehört auch die Kunst des
Schweigens - und die Erschöpfung des Redners. "Ich habe es immer", so
André Müller in einem Vorwort 1979, "für eine lächerliche Einbildung
gehalten, wenn jemand glaubt, es könne auf irgendwelche Fragen irgendwelche
Antworten geben. Genauso lächerlich wie die Antworten erschienen mir natürlich
die Fragen. Es war ein Spiel, das ich gewinnen musste, sonst nichts, und der
Siegespreis war die durch die ausgestandene Angst vor dem Scheitern verursachte
Erschöpfung".
Es wird viel geredet auf der Welt. Und am meisten wird in den Journalen und auf
den Fernsehkanälen geredet. Immer mehr geschriebene Texte wirken heutzutage wie
geredete Texte - der Krampf der reinen Reflexion ist dem Dampf der puren
Rhetorik gewichen. Es regieren die Plappertaschen und Plauderflöten, und ihr Spektakel
heißt: Talk täglich. Ihr Kampfplatz ist das Sofa vor der Kamera, dort macht man
sichs zusammen gemütlich. Und es ist ziemlich egal, ob man hierbei über neue
literarische Phänomene oder neue erotische Praktiken redet. Sendezeit muss
gefüllt, Zeitungsseiten müssen vernichtet werden. Der Abend kommt, das Denken
geht, die Talkshow hat begonnen. Die Talkshow, das leichte Fräulein, das diese
graue Zwillingsschwester hat, wir alle kennen ihren Namen: Debatte.
Unmöglich, bei den Gesprächen André Müllers an ein Sofa zu denken, in welchem
die Sprechenden plaudernd versinken. Undenkbar jede Art von Gemütlichkeit.
Sucht man nach einem Gleichnis, einem Bild für diese Interviews, fällt einem
vielleicht ein Floß ein. Weit draußen auf dem Meer, von allen Ufern weit
entfernt. Zwei Passagiere nur: ich und du, der Interviewer und sein Fahrgast,
sein Gefährte. Zwei Untergeher beim Versuch, sich redend zu retten. Oder
wenigstens: auf unvergessliche Weise unterzugehen.
In Müllers besten Gesprächen ist jedes Wort ein letztes Wort. Und so ein
Interview ist eben keine entspannte Konversation von gestern, heute, morgen und
allezeit. Sondern die letzte, die einzige Chance, die man hat.
"Gedankenvernichtung" heißt das vielleicht persönlichste Prosastück
des Autors André Müller. Auch wenn er selber protestieren mag: Seine Interviews
sind, durch ihre absolute Konzentration, durch ihren heiligen und vielleicht
auch fürchterlichen Ernst, Projekte der anderen Art. Der Gedankenerrettung
durch Geschwätzvernichtung. Natürlich sind diese Gespräche wundervolle
Komödien. Aber sie sind es auch deshalb, weil ihr Autor, wie alle großen
Komiker, sie mit schier tragischer Gebärde bestreitet.
Er stelle, so behaupten die nicht wenigen Feinde Müllers, immer nur diese eine
Frage, vieltausendfach wiederholt und variiert. Die Frage: Warum leben Sie
denn, warum sterben Sie nicht lieber? Natürlich ist es nicht so. Müllers Fragen
sind, so noch einmal Peter Handke, ein wahres "Kunstwerk von Fragen".
"Jeder von uns wartet doch nur auf die Frage, bei der er endlich
durchatmen kann. Die richtigen Fragen zu stellen, ist wahrscheinlich die
höchste Intuition."
Aber selbst wenn es anders wäre, wenn alle Fragen wirklich nur die eine Frage
wären, muss man doch zugeben: Eine gute Frage ist das schon! Die Frage nach dem
"Nichtsein". Es ist ja nicht erst Müllers, es war ja schon Prinz
Hamlets Frage. An die man sich noch erinnern wird, wenn Shakespeare längst
vergessen ist.
Kehren wir noch einmal auf unser Floß im Meer zurück! Zwei Passagiere. Dem
einen ist es schlecht, er möchte nur noch sterben, schlafen. Der andere,
Fährmann Müller, lässt dies aber keineswegs zu. Er arbeitet, so grotesk das in
dieser endzeitlichen Situation auch sein mag, noch immer an der Errettung des
Gespräches. Am richtigen Denken, das erst dann anfangen kann, wenn das falsche
Denken vernichtet, im Meer versunken ist. Wie Hilfeschreie klingen nun seine
Fragen, wie verzweifelte Befehle. "Ich will Sie zum Denken bringen!",
ruft Müller. Doch Passagier Peymann sagt nur: "Das ist vergebliche Mühe."
"Sie könnten etwas mehr Ihren Verstand gebrauchen!", ruft flehend
Müller. Doch Frau Jelinek sagt nur: "Verstand habe ich wenig". Und
der Dichter Heiner Müller sagt sogar: Dichter müssen dumm sein, sonst sind sie
keine Dichter. In diesem Augenblick, dem schönsten, weil tragischsten der
Weltkomödie namens Interview, sieht man André Müller vom Floß in den Ozean
springen, kopfüber. Weil alles vollkommen sinnlos ist. Oder weil das Interview
vollkommen, das heißt vollkommen unvergesslich gelungen ist.
Niemand von uns (außer natürlich: unser Preisträger selber) war dabei, als all
diese grandiosen Zweipersonendramen entstanden. Natürlich wüsste man gerne,
"wie Müller es macht". Und natürlich stellen sich einige Leute
unseren Interviewkünstler als eine diabolische Figur vor. Als Großinquisitor,
als Peitschenmann, als Blutsauger. "Entblößungen" hat André Müller
selber eine seiner Interview-Sammlungen genannt.
Das mag ja alles so sein. Doch wenn man den hochvergnüglichen Auftrag hat,
diese Dialoge für eine Preisrede noch einmal zu lesen, gehen die Gedanken und
Gefühle des Lesers eher in die andere Himmelsrichtung. Es kommen einem die im
Interview Porträtierten weniger bloßgestellt als behütet und beglänzt vor. Denn
Müller ist nicht auf ihre kalte Vernichtung aus, sondern macht ihnen das
emphatischste Angebot: Mitzuspielen bei einem dramatischen Kunstwerk für zwei
Personen. 300, 500 oder auch 900 Zeilen Ewigkeit: Reden gegen das Gerede. Ob
das Ergebnis Kunst ist oder Wahrheit oder jene Wahrheit, die nur durch Kunst
entsteht, ist eine Frage aber bestimmt nicht die wichtigste. "Das
Gespräch das wir führen, ist künstlich!", rief einstmals Herr Müller, der
Interviewer. Doch Herr Minetti, der Schauspielkünstler, sagte hierzu nur:
"Das möchte ich nicht so sagen."
"Unter uns gesagt: Ich bin ein Klassiker", sagt Thomas Bernhards Herr
Bruscon, der Theatermacher. Unter uns gesagt, lieber André Müller: Das dürfen
Sie auch sagen, heute abend erst recht. Den Kleistpreis, den Büchnerpreis, den
Börnepreis bekommen Autoren jeglicher Art und Qualität. Der Ben-Witter-Preis
aber, wenn ich das Wirken seiner hochlöblichen Juroren richtig verstehe, ist
unbedingt ein Preis für Klassiker. Und damit, um noch einen anderen Klassiker
zu zitieren: Guten Abend allerseits!
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