Preisede zur Verleihung des Ben-Witter-Preises am 6. Oktober 2000 in Hamburg

Von Benjamin Henrichs

 

Lieber, sehr verehrter André Müller! Liebe Damen, liebe Herren, verehrtes Publikum!


Wagen wir, bevor wir unseren Preisträger fröhlich feiern, einen Blick in das Grauen. Auf jenes beklagenswerte Völkchen, das man die Journalisten nennt. Und sagen wir sofort und am Anfang: Unser Preisträger, der Glückliche, ist keiner von ihnen. Wie auch der unvergessene Ben Witter keiner von ihnen, keiner von uns war. Niemals.

Die Zeitungsmacher machen ihre Zeitung. Tag für Tag oder Woche für Woche. Was sie heute schreiben, wird morgen früh gelesen - oder auch nicht gelesen. Morgen abend wird es weggeworfen, und übermorgen, spätestens, ist es dann vergessen. Gewiss, beim Wochenblättchen arbeitet der Tod ein bisschen langsamer. Da bleibt der Zeitung, bevor sie in der Mülltonne landet, eine ganze Woche, in der sie, in einem verborgenen Winkel der Wohnung schlummernd, friedlich vergilben darf.

Wir sehen hieran, dass der angeblich aufregende Beruf des Journalisten ein zutiefst trostloser ist. Ich schreibe, also werde ich vergessen. Und oft hat das Vergessen und Vergessenwerden schon mit dem Schreiben begonnen.

Natürlich tut man alles, um dem unvermeidlichen Verhängnis, der Furie des Verschwindens zu entkommen. Zeitungsschreiber haben, mehr noch als alle anderen Schreiber, eine rührende, kindliche Sehnsucht nach der unvergesslichen Tat. Nach der grandiosen Enthüllung. Der sensationellen Recherche. Oder, wenigstens das: nach der unsterblichen Pointe. Es nützt zwar nichts, aber es hält einen doch am Leben.

Der Preisredner hat ein Vierteljahrhundert an einem Hamburger Wochenblättchen gewirkt. Er könnte nun mit Mannesstolz sagen: Alles vergessen! Das wäre die Wahrheit, aber natürlich nicht die ganze. Man könnte schon ein Weilchen von den alten Zeiten plaudern. Und man käme dabei, in allerlei Windungen, gemächlich von den schönen Zeiten zu den schönsten - und von hier dann zu den allerschönsten.


Und bei dieser, naturgemäß sentimentalen, Zeitreise rückwärts würde ein Name bald und unvermeidlich fallen: der karge deutsche Name Müller. Und es fiele einem wieder ein Satz des Dichters Peter Handke ein, aus einem Interview mit André Müller: "Es gibt ja nichts anderes als die Schönheit, nichts, was wirklicher wäre." Oder ein Satz des weiland Burgtheaterdirektors Claus Peymann aus dem sagenhaften Peymann-Interview: "Ich möchte, dass etwas Schönes entsteht." Das ist ihm mit dem ZEIT-Interview jedenfalls, mehr als mit jeder seiner Inszenierungen, gelungen. Unvergesslich.

Es hat nicht viele Müller-Tage gegeben im friedlichen Jahreslauf unseres Wochenblattes. Vier, vielleicht fünf, höchstens sechs Interviews, mehr nicht. Mehr hätte der Interviewer nicht liefern können. Mehr auch hätte die nervenschwache Redaktion nicht verkraften können. Denn Müllers Interviews waren die Festspiele unseres Feuilletons - und auch die Höllenfahrten. Jede Kürzung eine Mordtat. Jeder Druckfehler ein Weltuntergang. Die sogenannten Skandale, die der Veröffentlichung gelegentlich folgten, waren, hiermit verglichen, eher eine Erholung. Plötzlich war ein Umbruchstag keine müde oder auch vergnügte Routineangelegenheit mehr. Sondern ein fiebriges Spektakel, nur einer Theaterpremiere oder einem olympischen Endlauf vergleichbar. Müller in der Ferne, in München, am Telephon - in unerbittlicher Panik. Die Redaktion in Hamburg - in zunächst nervösem, dann aber zunehmend glückhaftem Aufruhr. Als ginge es nicht um die bald vergilbende Zeitung, sondern tatsächlich um Leben und Tod. Und als sei man am Ende des Tages tatsächlich gerettet. "Aber natürlich", so Thomas Bernhard hierzu und zu schlechterdings allem, "aber natürlich wird keiner gerettet".

Interviews sind Redestücke. Die Interviews, deren Autor wir heute abend feiern, sind wahre Redekunststücke. Doch zur Redekunst gehört auch die Kunst des Schweigens - und die Erschöpfung des Redners. "Ich habe es immer", so André Müller in einem Vorwort 1979, "für eine lächerliche Einbildung gehalten, wenn jemand glaubt, es könne auf irgendwelche Fragen irgendwelche Antworten geben. Genauso lächerlich wie die Antworten erschienen mir natürlich die Fragen. Es war ein Spiel, das ich gewinnen musste, sonst nichts, und der Siegespreis war die durch die ausgestandene Angst vor dem Scheitern verursachte Erschöpfung".

Es wird viel geredet auf der Welt. Und am meisten wird in den Journalen und auf den Fernsehkanälen geredet. Immer mehr geschriebene Texte wirken heutzutage wie geredete Texte - der Krampf der reinen Reflexion ist dem Dampf der puren Rhetorik gewichen. Es regieren die Plappertaschen und Plauderflöten, und ihr Spektakel heißt: Talk täglich. Ihr Kampfplatz ist das Sofa vor der Kamera, dort macht man sichs zusammen gemütlich. Und es ist ziemlich egal, ob man hierbei über neue literarische Phänomene oder neue erotische Praktiken redet. Sendezeit muss gefüllt, Zeitungsseiten müssen vernichtet werden. Der Abend kommt, das Denken geht, die Talkshow hat begonnen. Die Talkshow, das leichte Fräulein, das diese graue Zwillingsschwester hat, wir alle kennen ihren Namen: Debatte.

Unmöglich, bei den Gesprächen André Müllers an ein Sofa zu denken, in welchem die Sprechenden plaudernd versinken. Undenkbar jede Art von Gemütlichkeit. Sucht man nach einem Gleichnis, einem Bild für diese Interviews, fällt einem vielleicht ein Floß ein. Weit draußen auf dem Meer, von allen Ufern weit entfernt. Zwei Passagiere nur: ich und du, der Interviewer und sein Fahrgast, sein Gefährte. Zwei Untergeher beim Versuch, sich redend zu retten. Oder wenigstens: auf unvergessliche Weise unterzugehen.

In Müllers besten Gesprächen ist jedes Wort ein letztes Wort. Und so ein Interview ist eben keine entspannte Konversation von gestern, heute, morgen und allezeit. Sondern die letzte, die einzige Chance, die man hat.

"Gedankenvernichtung" heißt das vielleicht persönlichste Prosastück des Autors André Müller. Auch wenn er selber protestieren mag: Seine Interviews sind, durch ihre absolute Konzentration, durch ihren heiligen und vielleicht auch fürchterlichen Ernst, Projekte der anderen Art. Der Gedankenerrettung durch Geschwätzvernichtung. Natürlich sind diese Gespräche wundervolle Komödien. Aber sie sind es auch deshalb, weil ihr Autor, wie alle großen Komiker, sie mit schier tragischer Gebärde bestreitet.


Er stelle, so behaupten die nicht wenigen Feinde Müllers, immer nur diese eine Frage, vieltausendfach wiederholt und variiert. Die Frage: Warum leben Sie denn, warum sterben Sie nicht lieber? Natürlich ist es nicht so. Müllers Fragen sind, so noch einmal Peter Handke, ein wahres "Kunstwerk von Fragen". "Jeder von uns wartet doch nur auf die Frage, bei der er endlich durchatmen kann. Die richtigen Fragen zu stellen, ist wahrscheinlich die höchste Intuition."

Aber selbst wenn es anders wäre, wenn alle Fragen wirklich nur die eine Frage wären, muss man doch zugeben: Eine gute Frage ist das schon! Die Frage nach dem "Nichtsein". Es ist ja nicht erst Müllers, es war ja schon Prinz Hamlets Frage. An die man sich noch erinnern wird, wenn Shakespeare längst vergessen ist.

Kehren wir noch einmal auf unser Floß im Meer zurück! Zwei Passagiere. Dem einen ist es schlecht, er möchte nur noch sterben, schlafen. Der andere, Fährmann Müller, lässt dies aber keineswegs zu. Er arbeitet, so grotesk das in dieser endzeitlichen Situation auch sein mag, noch immer an der Errettung des Gespräches. Am richtigen Denken, das erst dann anfangen kann, wenn das falsche Denken vernichtet, im Meer versunken ist. Wie Hilfeschreie klingen nun seine Fragen, wie verzweifelte Befehle. "Ich will Sie zum Denken bringen!", ruft Müller. Doch Passagier Peymann sagt nur: "Das ist vergebliche Mühe." "Sie könnten etwas mehr Ihren Verstand gebrauchen!", ruft flehend Müller. Doch Frau Jelinek sagt nur: "Verstand habe ich wenig". Und der Dichter Heiner Müller sagt sogar: Dichter müssen dumm sein, sonst sind sie keine Dichter. In diesem Augenblick, dem schönsten, weil tragischsten der Weltkomödie namens Interview, sieht man André Müller vom Floß in den Ozean springen, kopfüber. Weil alles vollkommen sinnlos ist. Oder weil das Interview vollkommen, das heißt vollkommen unvergesslich gelungen ist.

Niemand von uns (außer natürlich: unser Preisträger selber) war dabei, als all diese grandiosen Zweipersonendramen entstanden. Natürlich wüsste man gerne, "wie Müller es macht". Und natürlich stellen sich einige Leute unseren Interviewkünstler als eine diabolische Figur vor. Als Großinquisitor, als Peitschenmann, als Blutsauger. "Entblößungen" hat André Müller selber eine seiner Interview-Sammlungen genannt.


Das mag ja alles so sein. Doch wenn man den hochvergnüglichen Auftrag hat, diese Dialoge für eine Preisrede noch einmal zu lesen, gehen die Gedanken und Gefühle des Lesers eher in die andere Himmelsrichtung. Es kommen einem die im Interview Porträtierten weniger bloßgestellt als behütet und beglänzt vor. Denn Müller ist nicht auf ihre kalte Vernichtung aus, sondern macht ihnen das emphatischste Angebot: Mitzuspielen bei einem dramatischen Kunstwerk für zwei Personen. 300, 500 oder auch 900 Zeilen Ewigkeit: Reden gegen das Gerede. Ob das Ergebnis Kunst ist oder Wahrheit oder jene Wahrheit, die nur durch Kunst entsteht, ist eine Frage ­ aber bestimmt nicht die wichtigste. "Das Gespräch das wir führen, ist künstlich!", rief einstmals Herr Müller, der Interviewer. Doch Herr Minetti, der Schauspielkünstler, sagte hierzu nur: "Das möchte ich nicht so sagen."

"Unter uns gesagt: Ich bin ein Klassiker", sagt Thomas Bernhards Herr Bruscon, der Theatermacher. Unter uns gesagt, lieber André Müller: Das dürfen Sie auch sagen, heute abend erst recht. Den Kleistpreis, den Büchnerpreis, den Börnepreis bekommen Autoren jeglicher Art und Qualität. Der Ben-Witter-Preis aber, wenn ich das Wirken seiner hochlöblichen Juroren richtig verstehe, ist unbedingt ein Preis für Klassiker. Und damit, um noch einen anderen Klassiker zu zitieren: Guten Abend allerseits!

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