Interview mit dem Schriftsteller Jonathan Littell  (14. Mai 2008)        



Es kommt nicht oft vor, daß ein Schriftsteller mit nur einem Werk in die schwindelnden Höhen des Weltruhms katapultiert und so von Anfang an der Notwendigkeit seiner Selbstvermarktung enthoben wird. Jonathan Littell, gebürtiger US-Amerikaner und durch seine Einbürgerung vor einem Jahr zusätzlich Franzose, hat sein bisher einziges Interview im deutschsprachigen Raum dem "Spiegel" gegeben. Auf seinen voluminösen (1380 Seiten) und, muß man sagen, skandalösen Roman über den nationalsozialistischen Horror, "Die Wohlgesinnten", der 2006 auf französisch und mittlerweile auch in siebenundzwanzig Übersetzungen erschien, reagierten Rezensenten und Leser entweder fasziniert oder angewidert. Ich las das Buch in einem Zug durch.

Also würde ich, so dachte ich, dem scheuen Autor, gelänge es mir, ihn für ein Gespräch zu gewinnen, nichts vorlügen müssen. Als ich Delf Schmidt, dem Cheflektor des Berlin-Verlags, mein Anliegen vortrug, sagte er gleich: "Unmöglich!" Nun begann die Verführung. Ich schickte Littell mein Interview mit dem Nazi-Bildhauer Arno Breker und schrieb ihm, ich hätte auch schon mit Elias Canetti, den er schätzt, und Ernst Jünger, der in seinem Buch vorkommt, gesprochen. Immerhin wollte er mich nun kennen lernen.

Die Gelegenheit dazu ergab sich anläßlich einer Podiumsdiskussion in Berlin*, die der Star geduldig wie ein Schüler, der gehorcht, absolvierte. "Ich bin ein guter Deutscher", sagte er mir tags darauf beim gemeinsamen Lunch in einem italienischen Restaurant, zu dem er nach durchzechter Nacht etwas verkatert erschien. Angereiste Journalisten hatte er sich, wie später zu lesen war, während des offiziösen Abendessens nach der Diskussion mit Ellbogenstößen vom Leib gehalten. Das Fernsehen und Fotografen waren nicht zugelassen.

Mir saß er nun gegenüber, dieser bleiche, vierzigjährige Jüngling mit Ohrring und fahlem Blick, dem man die Leidenschaft, die in ihm lodert, nicht ansieht. Wie schon abends zuvor trug er unter dem Sommeranzug ein T-Shirt mit dem berühmten Spruch aus Melvilles Erzählung "Bartleby": "I would prefer not to". Seine geradezu schamlose Offenheit überraschte mich. Sogar eine Tonbandaufzeichnung erlaubte er. Delf Schmidt, der, von gelegentlichen Lachkrämpfen geschüttelt, daneben saß, rief in regelmäßigen Abständen das Wort "absurd" in den Mittagshimmel.

Unsere Unterhaltung, die wir auf englisch führten, Littells erster Muttersprache, dauerte knapp zwei Stunden. Bevor er in das Taxi stieg, das ihn zum Flughafen brachte, rief mir der Schriftsteller noch zu, ich könne ihn zur Fortsetzung des Gesprächs in Barcelona, wo er wohnt, angeblich um dem Rummel um seine Person zu entgehen, gerne besuchen. Aber es war genug.

---------------------


Sie hassen Interviews.

JONATHAN LITTELL: Ja, man soll mein Buch lesen, das genügt. Wer sich für einen Schriftsteller interessiert, weil er sein Buch liebt, kommt mir vor wie jemand, der sich für Enten interessiert, nur weil er gern Stopfleber ißt. Es ist Unsinn.

Sie sind mit einem einzigen Buch zum Star der internationalen Literaturszene geworden.

LITTELL: Genau das ist das Problem. Ich weigere mich, ein Star zu sein. Ich interessiere mich für andere Menschen, aber ich hasse es, über mich zu sprechen. Mein schwedischer Verleger hat mir einen langen Brief geschrieben, in dem er mich bat, nach Schweden zu kommen, um Interviews zu geben, damit er mein Buch besser verkaufen kann. Ich habe das abgelehnt.

Sie haben auch 2006 den Prix Goncourt, den renommiertesten französischen Literaturpreis, abgelehnt.

LITTELL: Nein, den kann man nicht ablehnen. Ich bin nur nicht zur Verleihung gegangen.

Der Preis ist mit zehn Euro dotiert, kein großer Verlust.

LITTELL: Auf die zehn Euro warte ich noch immer vergeblich. Ich habe darum gebeten, mir den Scheck zuzuschicken. Aber bis heute habe ich ihn nicht bekommen. Als Julien Gracq 1951 den Prix Goncourt zurückwies, sagte die Jury, fuck you, und hat ihn ihm trotzdem verliehen. Ich finde alle Literaturpreise grotesk und lächerlich.

Sie haben das damit begründet, daß solche Preise viel mit Marketing, aber nichts mit Kunst zu tun hätten. Sie wollten in keinen Wettkampf mit anderen Schriftstellern treten.

LITTELL: Ich habe für meinen französischen Verlag eine Erklärung verfaßt, da stand auch noch anderes drin. Der Verleger hat aus dem Text nur die Stellen veröffentlicht, die ihm angenehm waren, das andere hat er weggelassen.

Würden Sie den Nobelpreis annehmen, der Ihnen über eine Million einbrächte?

LITTELL: Nein, denn ich habe jetzt genug Geld.

Genug für das ganze Leben?

LITTELL: Ja, absolut. Ich habe mein Geld gut angelegt. Ich habe vorgesorgt.

Das bedeutet, Sie bräuchten nichts mehr zu schreiben?

LITTELL: Im Prinzip nicht. Ich lebe sehr bescheiden. Ich brauche nicht viel. Aber seit ich berühmt bin, kann ich mit jeder Zeile Geld verdienen, sogar wenn ich etwas so Dummes veröffentliche wie meinen Essay "Le sec et l'humide“, "Das Trockene und das Feuchte", den ich vor meinem Roman geschrieben habe. Ich profitiere von meinem Ruhm, aber ich hasse ihn. Vor sechs Monaten habe ich zu meinem Agenten gesagt, ich werde eine "Endlösung", wie es auf deutsch heißt, für meine Berühmtheit finden. Er fragte mich, was ich damit meine. Ich antwortete, das werde er schon noch sehen.

Ein guter Anfang wäre es, würden Sie aufhö­ren, öffentlich aufzutreten wie kürzlich anläßlich einer Berliner Podiumsdiskussion, bei der sie sich von Historikern befragen ließen.

LITTELL: Das werde ich tun. Man hat mich mit viel Überredungskunst zu diesem Auftritt verleitet. Es war schrecklich. Man wiederholt sich dauernd. Eine Zeitlang fand ich es ganz akzeptabel, Kompromisse zu machen. Ich wollte nicht als jemand erscheinen, der sich versteckt wie Pynchon. Ich bin kein Einsiedler. Ich will nur nicht mit diesen langweiligen Leuten reden.

Ihr Kollege Houellebecq zog sich aus der Affäre, indem er für die Öffentlichkeit eine falsche Biografie erfand.

LITTELL: Das möchte ich nicht. Ich will nicht mit meiner Berühmtheit spielen. Mögen Sie Houellebecq?

Im Gespräch ist er recht amüsant und sehr fatalistisch.

LITTELL: Gefällt Ihnen, was er schreibt?

"Elementarteilchen" fand ich interessant. Und Sie?

LITTELI: Ich habe noch nichts von ihm gelesen.

Ihr Lieblingsautor ist Flaubert, richtig?

LITTELL: Einer meiner Lieblingsautoren. Flaubert ist wahrscheinlich der Autor, der mir das größte Vergnügen bereitet. Wenn ich ihn lese, denke ich, uuaaahh, diese pure Schönheit des Stoffes! Wer ist Ihr Lieblingsautor?

Proust.

LITTELL: Mit Proust wird es mir ergehen wie mit Flaubert, uuaahh. Den habe ich mir aufgespart für Regentage.

Was Sie mit Houellebecq verbindet, ist die Betonung des Sexuellen.

LITTELL: Darüber können wir gerne reden, solange es nicht persönlich wird.

In Ihrem Roman beschreiben Sie ausführlich die homosexuellen Praktiken der Hauptfigur, eines SS-Offiziers im Zweiten Weltkrieg. Ich habe mich gefragt, woher Sie Ihre Kenntnisse haben.

LITTELL: Darauf antworte ich nicht. Chacun sa merde, wie die Franzosen sagen. Das ist privat. Sie sollten mich nicht fragen, mit wem ich ficke. Ich frage Sie ja auch nicht, mit wem Sie ficken.

Ich ficke nicht.

LITTELL: Dann tun Sie mir leid. Mögen Sie Käse?

Käse?

LITTELL: Es gibt hier eine französische Käseplatte.

Ich teile alles mit Ihnen.

LITTELL: Eingeschlossen Ihre sexuellen Geschichten. Aber im Ernst, sind Sie wirklich nicht an Sex interessiert?

Es gibt ja verschiedene Arten von Sex.

LITTELL: Ich verstehe.

Darf ich aus Ihrem Buch zitieren?

LITTELL: Bitte!

Da heißt es auf Seite 701: "Mein Arsch öffnete sich für ihn wie eine Blüte, und als er endlich eindrang, wuchs eine Kugel aus weißem Licht am unteren Ende meines Rückgrats, kletterte mir langsam den Rücken hoch und löschte den Kopf aus." Das ist sehr poetisch.

LITTELL: Ja, aber ich werde Ihnen nicht die Motive erzählen, warum ich das schrieb.

Ich dachte, Sie haben diesen schwulen Ich-Erzähler gewählt, der außerdem noch mit seiner Schwester schläft und seine Mutter ermordet, um ein Gleichgewicht zur Perversität des Nationalsozialismus herzustellen.

LITTELL: Nein, das war nicht der Grund. Die Gründe sind persönlich. Ich habe meine Probleme, und ich arbeite an meinen Problemen auf meine Art. Das geht niemanden etwas an. Zu glauben, ein Autor wisse, warum er dies oder jenes schreibt, ist ein weit verbreiteter Irrtum in der Geschichte der Literaturkritik. Ich habe keine Schwester, und meine Mutter lebt. Ich habe zu ihr gesagt, die Tatsache, daß mein Romanheld seine Mutter ermordet, habe mit ihr nichts zu tun, das gebe es schon bei den alten Griechen, bei Aischylos, in der Orestie, blah blah blah...

Sie sind verheiratet und haben zwei Söhne ...

LITTELL: Ich bin nicht verheiratet.

Nicht?

LITTELL: Nein, ich lebe mit meiner Partnerin seit zehn Jahren zusammen, aber wir sind kein Ehepaar.

Dann steht in Ihrem Lebenslauf, den man überall lesen kann, etwas Falsches.

LITTELL: Über mich wird viel Falsches geschrieben.

Sie führen ein sozusagen normales Familienleben.

LITTELL: So ist es.

Kennen Sie Thomas Bernhard?

LITTELL: Ich schätze ihn sehr, aber in Ihrem Interview mit ihm kam er mir etwas seltsam vor.

"Jemand, der sowieso schon zum Ausgefallenen neigt", sagt er da, "wird letzten Endes immer versuchen, sich zu verstecken."

LITTELL: Vielleicht bin ich wie er.

Er vergleicht sich mit einer Feuerlilie, die versucht, "unter den Leberblümchen unterzutauchen, gleichzeitig aber stolz ist, daß sie diese Feuerlilie ist." Man wolle großartiger sein als die anderen, zugleich aber total geschützt.

LITTELL: Haben Sie schon einmal bei einer Amputation zugesehen?

Nein.

LITTELL: Wenn jemandem ein Bein oder ein anderer Körperteil amputiert wird, macht man eine Drainage, daß heißt, man legt einen Schlauch unter das Fleisch, damit der Eiter abfließt. Beim Schreiben macht man in gewissem Sinne das gleiche. Man reinigt sich.

Sie mußten dieses Buch schreiben. Es war ein innerer Zwang.

LITTELL: Ich glaube, daß alle Bücher, die es wert sind, gelesen zu werden, aus einem inneren Zwang entstehen.

Hätten Sie Ihren Roman über die nationalsozialistischen Greuel und einen perversen Täter, in dem Sie sich spiegeln, nicht geschrieben, wären Sie wahnsinnig geworden.

LITTELL: Das will ich nicht sagen.

In einem Interview mit dem Historiker Pierre Nora sagten Sie, von Anfang an habe Sie die "Frage nach den Motiven der Leute, die töten, gefesselt".

LITTELL: Ja, mich interessierten die Mörder, nicht die Opfer. Das hat manche erstaunt, weil ich Jude bin. Aber ich schrieb dieses Buch als Mensch, nicht als Jude. Man hat gesagt, von einem Nichtjuden hätte man so ein Buch nicht akzeptiert. Man hätte mich geprügelt, man hätte, verzeihen Sie den vulgären Ausdruck, "torn me a new asshole". Man hätte mich einen Antisemiten genannt. Aber weil ich jüdisch bin, sagte man, aha, er ist Jude und sogar Claude Lanzmann, der Autor von "Shoa", hat sein Okay gegeben. Also wurde ich unantastbar. Aber so dachte ich nicht, als ich schrieb. Im nachhinein war es vielleicht ein strategischer Vorteil, daß ich Jude bin, aber das hat nichts zu tun mit der Konzeption des Buches.

Fühlten Sie sich befreit, als der Roman fertig war?

LITTELL: Ich weiß nicht. Ich denke eher in ökonomischen Kategorien. Druck wird aufgebaut und abgebaut und dann wieder aufgebaut. Es ist nicht so, daß ich dachte, fein, jetzt hast du diesen Roman geschrieben, jetzt kannst du die nächsten vierzig Jahre lang Party machen.

Daß Sie nach so einem monströsen Buch einen weiteren Roman schreiben können, ist schwer vorstellbar.

LITTELL: On verra! Lassen Sie das meine Sorge sein und nicht die Sorge der Journalisten. Ich meine nicht Sie persönlich, aber ich sitze lieber in meinem Arbeitszimmer und schaue den Himmel an, als mich in Zeitungen über meine Projekte zu äußern. Wenn ich heute mein Buch von außen betrachte und die Wirkung, die es hatte, den ganzen Wirbel, stelle ich fest, daß, unabhängig davon, ob es gut oder mißlungen ist, eine Menge Energie darin steckt. Es ist eine Bombe voll Energie. Nun kann man fragen, wie diese Energie entsteht. Wenn man zu schreiben beginnt, weiß man nicht, was daraus wird. Man hat Ideen, man hat einen Impuls. Man setzt sich hin...

Könnten Sie ohne das Schreiben leben?

LITTELL: Ja, sehr gut sogar, wenn Sie das Schreiben auf die Arbeit am Schreibtisch beschränken. Von mir gibt es bisher, abgesehen von einem schlechten Science-fiction-Roman, den ich mit neunzehn schrieb, und einem theoretischen Aufsatz nur vier Kurzgeschichten, die "Etudes", für die ich nicht mehr als einige Stunden brauchte, und den Roman "Die Wohlgesinnten", für dessen Niederschrift ich exakt hundertzwölf Tage benötigte. Wenn Sie aber sagen, das Schreiben schließt auch die Notizen, das Denken, das Recherchieren, die ganze Vorbereitung ein, dann schreibe ich ununterbrochen. Ich bin wie ein Stierkämpfer, der sich für den Kampf präpariert. Wenn ich dem Stier dann gegenübertrete, kämpfe ich gegen die Sprache und die Grammatik, die mir widersteht und die ich besiegen muß.

Das Grausamste, beim Lesen kaum Erträgliche in Ihrem Roman ist die Beschreibung des 1941 von den Deutschen verübten Massakers von Babyn Jar, jener Schlucht bei Kiew, in der 33 000 Juden planmäßig erschossen wurden.

LITTELL: Ja, aber ich dachte beim Schreiben nicht an die Leichen, sondern ich ging vor wie ein Maler, der vor der Leinwand steht und überlegt, ob er da ein wenig Rot, ein kräftiges Grün oder Gelb oder Schwarz nehmen soll. Das Schreiben ist wie das Mischen von Farben. Man sucht den richtigen Ton.

Ich zitiere eine Stelle, an der Sie beschreiben, wie der Erzähler die von den ersten Salven nur Verwundeten endgültig exekutiert. Er steigt über die Leichenhaufen: "Das war entsetzlich glitschig, das weiche, weiße Fleisch verschob sich unter meinen Stiefeln, die trügerischen Knochen brachen unter meinen Schritten und ließen mich straucheln, ich versank bis zu den Knöcheln in Schlamm und Blut... " Was fühlten Sie, als Sie das schrieben?

LITTELL: Nichts. Ich denke, wenn ich schreibe, nur an die Wörter. Ich tue meine Arbeit, und wenn das Buch dann erscheint, muß der Leser die seine tun. Ich glaube sehr an die Arbeit des Lesers. Als ich den Roman "Absalom, Absalom!" von William Faulkner las, den ich unendlich bewundere, kam ich mir wie jemand vor, dessen Kopf immer wieder in einen Sumpf gedrückt und wieder herausgezogen und wieder hineingedrückt wird, so daß er glaubt zu ersticken. So etwas wollte ich auch erreichen. Deshalb habe ich sehr lange Absätze gewählt, die dem Leser nicht erlauben, sich zu erholen.

Die Welt, in der wir leben, ist für Sie ein einziger Schrecken.

LITTELL: Ja, sie ist ziemlich unerträglich. Sie ist ein Alptraum, beschissen, ein einziges Grauen, aber es gibt keinen Ausweg.

Man kann sich umbringen.

LITTELL: Der Selbstmord ist für mich keine Option. Ich denke wie Beckett, der sagt, er kann nicht mehr weitergehen, und dann doch weitergeht. Alle Schriftsteller, die ich liebe, dachten so, Blanchot, Bataille, Burroughs... Denn was ist die Alternative? Man kann ein Junkie werden, aber das kam für mich nie in Frage. Ich nehme auch keine Pillen. Ich trinke nur etwas viel Whiskey, aber nicht, um zu vergessen. Man muß den Scheiß durchstehen und weitermachen. Man muß wie Sokrates ein stoisches Konzept vom Leben entwerfen und so anständig wie möglich über die Runden kommen. Foucault hat das die "Selbstsorge" genannt. Man soll sein Vergnügen haben, so weit es geht, und möglichst niemandem schaden. Ich halte nichts von der Selbstzerfleischung durch das dauernde Denken.

Man muß sich ablenken...

LITTELL: Nein, im Gegenteil, man muß sich den Schrecken immer vor Augen halten, um das Schöne, das es trotzdem gibt, mehr zu genießen.

Haben Sie es je verflucht, geboren zu sein?

LITTELL: Ja, das kam vor, nicht jeden Tag, aber manchmal. Ich habe mehrere Jahre in Bosnien und Tschetschenien als Mitarbeiter der "Aktion gegen den Hunger" verbracht. Ich kenne den Krieg, und ich sage Ihnen, ich hatte auch eine Menge Spaß in dieser Zeit. Denn wenn man weiß, die nächsten dreißig Sekunden können die letzten im Leben sein, es braucht nur eine Granate einzuschlagen, und du bist weg, fühlt man den Augenblick intensiver als in einer Whiskey-Bar in New York oder dem Restaurant, in dem wir gerade sitzen. Das Gemeine am sogenannten Frieden ist, daß man an die Gefahr, in der man sich ständig befindet, nicht denkt. Wenn ich jetzt aufstehe und auf die Straße gehe, kann mich ein Auto überfahren, und ich bin tot. Dann bleiben "Die Wohlgesinnten" tatsächlich mein erster und letzter Roman... Haben Sie Kinder?

Nein.

LITTELL: Jedesmal, wenn ich meine Kinder sehe, denke ich: Sie gehen in die Schule und kommen vielleicht nicht mehr zurück. Es könnte sie jemand entführen und töten oder in einen Keller sperren wie dieser Verrückte aus Österreich**. Es ist ein schrecklicher Gedanke. Aber was kann man tun?

Wie erklären Sie Ihren Kindern den Sinn des Lebens?

LITTELL: Sie sind noch klein, sieben und fünf Jahre alt. Aber sie wissen alles. Der Ältere stellte mir, als er erst vier war, genau diese Frage: Warum sind wir hier, warum gibt es Restaurants, warum gibt es Morde? Warum, warum, warum... Er verstand damals schon, daß der Mensch nur lebt, weil er tötet. Er sagte, wenn du Fleisch ißt, tötest du Tiere. Er wollte nicht länger zu einer Familie gehören, die tötet. Eine Zeitlang war er dann Vegetarier.

Sind Sie religiös?

LITTELL: Nein. Die einzige Theologie, mit der ich sympathisiere, ist die Agnostik. Wenn es einen Gott gibt, dann ist er ein erbärmlicher Stümper, denn er hat Scheiße gebaut. Die Welt, die er erschaffen hat, ist ihm gründlich mißlungen. Wenn wir all die falschen Erklärungen, Gott, die Religionen, die Transzendenz, aus unserem Leben entfernen und einfach nur sehen, was um uns geschieht, was wir einander antun und wie wir alles zerstören, dann müssen wir sagen, es ist abscheulich, es ist grauenvoll, und man begreift es nicht.

Warum sind Sie freiwillig in Kriegsgebiete gegangen?

LITTELL: Einfach so, weil ich es wollte. Man könnte, wenn man es zynisch formuliert, sagen, die Leute meiner Generation, die sich im Frieden langweilen, können als Reporter oder Mitglied einer humanitären Organisation in diese Gebiete gehen, da haben Sie, ohne jemanden töten zu müssen, viel Spannung und ein paar nette Erlebnisse und tun sogar etwas Konstruktives. Vor hundert Jahren hätte ich mich vielleicht wie Ernst Jünger verhalten, der sich freiwillig zur Front meldete, um etwas Aufregung zu haben. Im Zweiten Weltkrieg ist er dann mit einem Glas Sekt auf das Dach eines Pariser Hotels gestiegen, während die Bomben fielen. Exakt das gleiche habe ich, bevor ich Jünger gelesen hatte, in Sarajewo gemacht, nur trank ich Whiskey statt Sekt und rauchte eine Zigarre. Man kann auch mit einer Frau schlafen, während die Bomben fallen.

Haben Sie das getan?

LITTEL: Ich spreche nicht von mir. Aber ich hatte eine bosnische Freundin, sechzehn Jahre alt, die mir eine wunderbare Geschichte erzählte. Jedesmal, wenn ihre Familie bei Alarm in den Keller lief, ging sie mit ihrem Freund zum Ficken in eine der leeren Wohnungen. Ich halte das für eine sehr gesunde Reaktion. Man muß sich, wenn gestorben wird, jedes Vergnügen gönnen. Die Liebe ist immer nahe am Tod.

Und erst der Krieg ermöglicht...

LITTELL: ... den Frieden.

Wenn man den Zynismus auf die Spitze treibt, könnte man meinen, daß wir die sechzig Jahre Frieden in Mitteleuropa Hitler verdanken.

LITTELL: Absolut, in gewisser Weise.

Salman Rushdie sagte, als ich ihn interviewte, wer so denke, gehöre zu den Verdammten.

LITTELL: Dann gehöre ich auch dazu.

Haben Sie die in Deutschland größtenteils negativen Rezensionen über Ihren Roman gekränkt?

LITTELL: Nein, gar nicht. Ich war von der hohen Qualität der deutschen Kritiken, auch wenn sie vernichtend waren, angenehm überrascht. Die Argumente waren meist dumm, aber man hat sich Mühe gegeben. Man hat zumindest das ganze Buch gelesen, während die französischen Kritiker es nur überflogen. Etwas merkwürdig fand ich bloß, daß ein Kritiker mein Judentum besonders hervorhob und es mit Kitsch und Pornographie in Verbindung brachte. Denn gerade in Deutschland ist doch diese Assoziation ein altes Klischee.

Was, glauben Sie, ist der Grund für die deutschen Verrisse?

LITTELL: Daniel Cohn-Bendit sagte mir, die Deutschen beanspruchen das Monopol, zu wissen, was es mit der Grausamkeit auf sich hat, wie übrigens auch die Juden, die sich als die einzigen Opfer gebärden, obwohl sie nicht die einzigen waren.

Sie glauben, die Deutschen wollen nicht, daß Ihnen ein Ausländer etwas über den Holocaust erzählt, den sie verschuldet haben?

LITTELL: Nein, ich glaube das nicht, aber falls es stimmt: Fuck them!

Die Rezensentin der "Zeit" nannte Sie einen "Idioten".

LITTEL: Nichts ist mir mehr gleichgültig als das.

Wenn man die Bezeichnung "Idiot" wie Peter Handke, der sie einmal auf sich anwandte, im griechischen Sinne versteht, bedeutet sie "Außenseiter". So gesehen ist sie ein Kompliment, keine Beleidigung.

LITTELL: Über Peter Handke will ich nicht sprechen. Ich habe ihn verehrt. Ich habe ihn geliebt. Aber seit er diesen Unsinn über den Krieg in Bosnien geschrieben hat, lese ich seine Bücher nicht mehr. Er hat, indem er sich mit den serbischen Mördern verbündete, einen schrecklichen Fehler begangen. Das ist unverzeihlich.

Er hat seinen Standpunkt, und Sie haben Ihren.

LITTELL: Es geht nicht um Standpunkte. Handke hat nie einen Fuß nach Bosnien gesetzt. Er betrachtet alles mit den Augen der Serben. Ich habe diesen Krieg von allen Seiten erlebt, ich war bei den verdammten Serben, den verdammten Kroaten und den verdammten Bosniern. Ich lag mit bosnischen Männern in den Schützengräben in Nedzarici und hörte die Schreie ihrer geschändeten Frauen, die wie eine Welle zu uns herüberdrangen. Wenn eine Familie in ihrem Haus in Foča sitzt, und plötzlich kommt jemand mit einem Maschinengewehr, kettet die Tochter an den Heizkörper und vergewaltigt sie vor den Augen der Eltern, dann ist das nicht lustig. Gut, man kann sagen, so ist die Welt. Aber man muß nicht hingehen und freundlich zu diesen Verbrechern sein und ihnen die Hände schütteln. Das ist obszön, und genau das hat Handke getan. Er sollte den Mund halten. Er mag als Künstler phantastisch sein, aber als Mensch ist er mein Feind. Man muß die Bereiche trennen. Man darf unmoralisch sein, solange man sich in der Kunst bewegt. Aber sobald man diesen Bereich verläßt und politisch spricht, gelten andere Regeln. Wenn Sie Handke mit Céline vergleichen, der ein Faschist war und antisemitische Pamphlete geschrieben hat, werden Sie verstehen, was ich meine. Céline war ein großartiger Dichter, und ich kann heute sagen, ich schätze ihn, weil er tot ist. Aber hätte ich in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts gelebt, hätte ich versucht, ihn zu töten.

Peter Handke tötet niemanden.

LITTELL: Okay, aber er ist ein Arsch.

Gehen Sie wählen?

LITTELL: Ja, ich gehe wählen wie jeder anständige Bürger. Ich war noch nicht lang genug Franzose, um gegen Sarkozy stimmen zu können, aber ich werde als Amerikaner Obama wählen. Obama wird der nächste Präsident der Vereinigten Staaten, da bin ich ganz sicher. Er wird zwar im Irak kaum etwas ändern können, aber im Inneren schon, denn er ist eine charismatische Persönlichkeit, und in einem politischen System, das charismatisch strukturiert ist wie das amerikanische, kann so jemand viel bewirken.

Wissen Sie immer, was gut und was böse ist?

LITTELL: Ja, das weiß ich. George Bush ist böse, und Dick Cheney noch mehr.

Ist im Leben nicht alles relativ?

LITTELL: Nein, nichts ist relativ. Ich kann das sagen, denn ich habe die wirkliche Welt gesehen. Das war kein Film. Mag sein, daß wir nicht die Wahl haben zwischen gut und böse, aber wir haben die Wahl zwischen dem Bösen und dem etwas weniger Bösen.

Jetzt sprechen Sie fast wie der Papst.

LITTELL: Der Papst ist der Schlimmste von allen. Er ist kriminell, denn er verbietet Kondome, während in Afrika die Menschen an Aids krepieren.

Ich dachte, Sie sind Fatalist.

LITTEL: Einerseits ja, denn ich stimme mit Beckett überein, der geschrieben hat, wir kriechen unser Leben lang im Morast. Wir essen, wir ficken, wir scheißen, wir versuchen, ein kleines Licht anzuzünden, und am Schluß sterben wir, das ist alles. Andererseits habe ich wie jeder, auch Sie, eine... Wie heißt das deutsche Wort? "Weltanschauung"? Auch die Nazis hatten eine "Weltanschauung". Jeder hat eine "Weltanschauung", weil wir ohne "Weltanschauung" nicht existieren können. Wir brauchen sie, so wie wir einen Automechaniker brauchen.

Hilft das im Notfall?

LITTEL: Manchmal schon. Sehen Sie, ich bin in Amerika während des Vietnamkrieges aufgewachsen, aber ich wollte nicht in diesen Krieg. Damals sagte mein Vater zu mir, sei unbesorgt, wenn Du volljährig bist, schicke ich Dich nach Schweden. Denn in Schweden gab es ein Gesetz, das es erlaubte, amerikanische Deserteure aufzunehmen.

Sie wollten nicht sterben.

LITTELL: Nein, falsch. Ich wollte nicht gezwungen werden, zu töten.

Ist Ihr Vater ein gläubiger Jude?

LITTELL: Absolut nicht. Schon meine Großeltern waren nicht gläubig. Sie waren Kommunisten.

Was dachten Sie, als Claude Lanzmann sagte, Sie hätten einen "richtig guten jüdischen Kopf"?

LITTELL: Ich fand es grotesk, und ich habe mich sehr deutlich dagegen gewehrt. Ich sagte zu ihm, was er da rede, sei Scheiße. Er hat mir auch einen Brief geschrieben, in dem stand, ich hätte wunderbar jüdische Kinder. Ich antwortete, ich hätte wunderbare, aber keine wunderbar jüdischen Kinder. Er ist besessen von diesem Thema.

Warum stört es Sie so, wenn man Sie jüdisch nennt?

LITTELL: Weil ich es ablehne, einer Gruppe anzugehören, welcher auch immer. Man soll zu mir auch nicht Amerikaner oder Franzose sagen, obwohl ich jetzt beides bin. Ich kann sehr gut ohne solche Benennungen leben. Okay, meine Wurzeln sind jüdisch, meine Vorfahren, und ich habe eine jüdische Physiognomie, wie Sie sehen (er wendet den Kopf zur Seite)... Ich habe eine jüdische Nase und jüdische Lippen. Das ist genetisch bedingt. Aber was soll's! Ich sage ja auch nicht zu Ihnen, Sie haben einen österreichischen Kopf, obwohl Sie ein neurotischer Wiener Journalist sind, der alles relativ findet und behauptet, er ficke nicht.

Das war gelogen.

LITTELL: Ich wußte es! Sie haben das nur gesagt, um mich zu provozieren.

-----------------

*) Diskussionsteilnehmer: Jörg Baberowski (Professor für Geschichte Osteuropas, Berlin), Raphael Gross (Direktor der Jüdischen Museums, Frankfurt), Anette Wieviorka (Professorin am Nationalen Forschungszentrum für Wissenschaft, Paris), Etienne Francois (Direktor des Frankreich-Zentrums der Freien Universität, Berlin)

**) Josef Fritzl (geboren 1935), hielt auf seinem Grundstück in Amstetten 24 Jahre lang eine seiner Töchter in einem Keller gefangen und zeugte mit ihr sieben Kinder, von denen drei bis zu ihrer Befreiung am 26. April 2008 ihr Leben ebenfalls in dem Verlies verbrachten.

------------------

Erschienen im Juni 2008 in der Züricher "Weltwoche", der "Frankfurter Rundschau" und dem Wiener "Falter"